Lectio Divina 1. Barmherzig wie der Vater Das Wort Gottes … wird gehört [Jesus sagte:] Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf. Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen. Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land und es ging ihm sehr schlecht. Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab ihm davon. Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen und ich komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner. Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein. Mach mich zu einem deiner Tagelöhner. Der Vater aber sagte zu seinen Dienern: Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand und zieht ihm Schuhe an. Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein 44 97837966_16808_barm_feiern.indd 44 06.11.15 17:06 Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern. Sein älterer Sohn war unterdessen auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Tanz. Da rief er einen der Diener und fragte, was das bedeuten solle. Der Diener antwortete: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund wiederbekommen hat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu. Doch er erwiderte dem Vater: So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Lukas 15,11–32 … wird meditiert Das jüdische Erbgesetz (vgl. z. B. Dtn 21,17) sieht vor, dass der Erstgeborene doppelt so viel erben soll wie jeder andere Sohn, also im Fall von nur zwei Söhnen zwei Drittel des Familienvermögens. Der Vater gibt dem jüngeren Sohn den Teil, der ihm zusteht, ohne sich zu widersetzen. Während der jüngere seinen Teil des Erbes in einem zügellosen Leben in einem fernen Land verschwendet, ist der andere Teil des Familienbesitzes in Sicherheit und wird vom älteren Sohn verwaltet. Nach einer Denkweise, die gerecht ist und von den gleichbehandelt, 45 97837966_16808_barm_feiern.indd 45 06.11.15 17:06 hätte der jüngere Sohn, wenn und falls er nach Hause zurückkäme, keinerlei Recht gegenüber dem Vater und dem älteren Bruder. Die schwere Schuld des jüngeren Sohnes könnte höchstens vergeben werden, aber nicht vergessen! Selbst wenn der Vater diese traurige Episode vergessen würde, der ältere Sohn würde ihn immer prompt daran erinnern. So würde das Gesetz der gerechten Vergeltung beobachtet: der Lohn des Guten für den, der das Gute tut, und der Lohn des Bösen für den, der Böses tut. In Wirklichkeit missachtet das Gleichnis komplett das Gesetz der Besitzverteilung und enthüllt die überströmende Liebe des Vaters. Der Vater bleibt nicht Innern des Hauses, um dort auf die beiden Söhne zu warten; er überprüft nicht, ob der jüngere sein Tun wirklich bereut; er fragt nicht, wo sein Erbteil hingekommen ist, sondern organisiert ein Fest mit Musik und Tanz. Unvorstellbar ist auch, wie der Vater sich dem älteren Sohn gegenüber verhält: Er wartet weder darauf, dass dieser vom Feld zurückkommt, wo er für die Familie arbeitet, noch fragt er nach dessen Meinung, wie man mit dem jüngeren umgehen solle. Das Gleichnis offenbart das allermenschlichste Antlitz Gottes, zeigt es mit Übertreibung und nicht mit Untertreibung: Gott fehlt die Menschlichkeit nicht, er besitzt sie im Übermaß! Im Kontrast zum Vater, der sich über das Gesetz der Erbverteilung hinwegsetzt, trauen sich die beiden Brüder nicht, anders als jener Logik entsprechend zu denken, nach der man geben muss, um etwas zu erhalten. Der jüngere Sohn erhält den Teil des Erbes, der ihm zusteht, bringt ihn in einem verschwenderischen Leben durch (nach der Anschuldigung seines Bruders mit Dirnen), und als er am Ende seiner Kräfte angekommen ist, beschließt er, nach Hause zurückzukehren. 46 97837966_16808_barm_feiern.indd 46 06.11.15 17:06 Der jüngere Sohn kehrt nicht zum Vater zurück, weil er sein Handeln bereut, sondern weil er keinen anderen Ausweg mehr sieht. Das Höchste, das er sich in dieser Situation vorzustellen wagt, ist, wie einer der Tagelöhner im Haus des Vaters behandelt zu werden; und was ihn bewegt, ist nicht die Reue, sondern der Hunger! Der Kontext von Belohnung oder Vergeltung betrifft auch den älteren Sohn: Er hat dem Vater jahrelang gedient, hat niemals auch nur einen seiner Befehle missachtet und hatte eigentlich erwartet, dass der Vater ihm einmal ein Ziegenböckchen geben würde, damit er mit seinen Freunden feiern könnte. Angesichts des Mitleids des Vaters beschuldigt der ältere Sohn ihn, den Grundsatz der gerechten Entlohnung oder Vergeltung zu missachten. Er ringt sich nicht einmal dazu durch, den anderen Sohn seines Vaters seinen Bruder zu nennen, sondern definiert ihn als „dieser dein Sohn“. Den Vater in die Schublade von Vergeltung und Entlohnung zu schieben macht es dem Älteren unmöglich, dessen Vatersein und das Brudersein des Jüngeren anzuerkennen. Aus der pastoralen Handreichung für das Jubiläum: Gleichnisse der Barmherzigkeit … wird gebetet Psalm 51 3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! 4 Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! 47 97837966_16808_barm_feiern.indd 47 06.11.15 17:06 5 Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. 6 Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt. So behältst du recht mit deinem Urteil, rein stehst du da als Richter. […] 10 Sättige mich mit Entzücken und Freude! Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast. 11 Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge all meine Frevel! 12 Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist! 13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir! 14 Mach mich wieder froh mit deinem Heil mit einem willigen Geist rüste mich aus! 15 Dann lehre ich Abtrünnige deine Wege und die Sünder kehren um zu dir. Psalm 25 Dalet 4 Zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine Pfade! He 5 Führe mich in deiner Treue und lehre mich; denn du bist der Gott meines Heiles. Vav Auf dich hoffe ich allezeit. Zajin 6 Denk an dein Erbarmen, Herr, und an die Taten deiner Huld; denn sie bestehen seit Ewigkeit. Chet 7 Denk nicht an meine Jugendsünden 48 97837966_16808_barm_feiern.indd 48 06.11.15 17:06 und meine Frevel! In deiner Huld denk an mich, Herr, denn du bist gütig. 49 97837966_16808_barm_feiern.indd 49 06.11.15 17:06
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