1 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Vision oder Sparmodell

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Vision oder Sparmodell
Inklusion in der Schule
AutorIn:
Barbara Zillmann
Redaktion:
Nadja Odeh
Regie:
Maria Ohmer
Sendung:
Freitag, 26.08.2016 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
O- Ton 1 Frau Schüler Lernbegleiterin
Ich sehe bei Leni, dass diese Schule genau das Richtige für sie ist, weil sie eben auf
vielen Ebenen ansprechbar ist, und ganz viele Situationen mit dem ganz normalen
Schulalltag mit einer Klasse mit etwa 20 Kindern hat,
Erzählerin
Leni ist gerade 11 geworden und geht in die 4. Klasse einer inklusiven Grundschule.
O-Ton 2
- es ist ja doch nochmal ein Unterschied, ob ich mit ner Kleingruppe lerne, wie es in
den Förderzentren oft ist, oder ob ich in einer großen Schulklasse oder auf einem
Schulhof mit 600 Schülern mich bewegen muss und mich auch äußern muss oder
bemerkbar machen muss, also insofern denk ich, wird sie hier gestärkt.
O-Ton 3 Mutter 2
Ich war auf jeden Fall Anhängerin der Integration oder wie man heute so sagt
Inklusion, (Vater:) wir beide auf alle Fälle, - (Mutter) und es ist einfach nur so, dass
die Kinder sich sehr schnell dann irgendwann auseinanderentwickeln.
Erzählerin
Nina ging, bis sie 14 war, zunächst ebenfalls in eine inklusive Schule. Inzwischen
nicht mehr.
O-Ton 5 Mutter 2
Insgesamt war das eben nach unserm Empfinden nicht das Richtige für unsere
Tochter mit dem Älterwerden, mit dem Erwachsenwerden, und darüber sind wir dann
eben zu dem Entschluss gekommen, sie an diese Förderschule zu geben.
Erzählerin
Zwei Mädchen in unterschiedlichen Schulformen. Förderschule oder Inklusion: ein
schwieriger Entscheidungsprozess für Eltern. Ein Kind mit Handicap so normal wie
möglich aufwachsen zu sehen, ist natürlich die Wunschvorstellung der meisten.
Was aber ist das Beste für das Kind selbst? Zwei Skizzen aus dem Berliner
Schulalltag zeigen, welche Auswirkungen Inklusion haben kann.
Atmo Schulklasse
Erzählerin
Mathematikunterricht in der 4. Klasse. Leni sitzt im Rollstuhl. Sie wirkt zart und
zerbrechlich. Aber ihr Blick ist hellwach. Sie hat schwache Muskeln und fällt
manchmal vornüber. Dann richtet sie sich wieder auf und strahlt in die Runde. Leni
hat viele Handicaps, sie ist schwerstmehrfachbehindert, wie es offiziell heißt. Sie
kann kaum sprechen und laufen und nur mit Mühe gestikulieren. Dennoch macht sie
in einer normalen Schulklasse mit. Meistens jedenfalls.
Atmo Schulklasse
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Heute ist es laut in der Klasse und Leni fährt mit ihrem Rollstuhl lieber in den
Nebenraum. Zusammen mit Frau Schüler, der Lernbegleiterin oder auch
pädagogischen Mitarbeiterin. Frau Schüler hat Übungsblätter extra für Leni mit dabei.
Denn die kann nur bis 10 rechnen, die anderen Kinder schon bis zu einer Million.
Atmo Schulklasse klingt im Hintergrund leise aus Nebenraum
Atmo O-Ton 6 Lernbegleiterin Frau Schüler
So meine Maus, du hast jetzt hier wunderbar geschrieben - was hast du denn da
geschrieben Erzählerin
Auf dem Übungsblatt hat Leni langsam und mit einem dicken Filzer Zahlen unter
Bildchen gemalt. Es geht darum, wie viele Käse die Maus Mimmi im Laufe eines
Tages verdrückt hat.
Atmo O-Ton 7 Lernbegleiterin Frau Schüler
Also ein Käse zum Frühstück + 3 Käse hat die Maus zum Mittag gegessen, und
abends noch einmal zwei Käse. Wieviele Käse warn es dann insgesamt? Du musst
die Käsescheiben hier oben zählen ...
Atmo: Frau Schüler zählt mit Worten 1 - 2 - 3 - 4 , darüber:
Erzählerin
An den Fingern zählt das Kind langsam, aber entschieden die Portionen ab. Man hört
nur ein leises Atmen. Zum Sprechen fehlt Leni die Kraft.
Atmo O-Ton 8 Lernbegleiterin Frau Schüler
- 5 - 6. Sechs Käse hat Mimi gegessen? Da kriegt sie doch bestimmt
Bauchschmerzen. Dann kannst du hier die 6 nochmal hinschreiben. (Atmer)
Erzählerin
Leni hat richtig gezählt, ein stolzes Lächeln geht über ihr Gesicht. Mit vier Jahren war
sie ein fast normales Kind und redete viel. Sie hatte aber epileptische Anfälle und
musste Medikamente einnehmen. Damit einhergehend, so die Vermutung, bekam sie
eine rätselhafte Stoffwechselkrankheit, zunehmende körperliche Schwäche und
Konzentrationsprobleme. Irgendwann konnte sie nicht mehr sprechen. Doch Leni
versteht bis heute alles. Und kann sich mit verschiedenen Hilfsmitteln auch
ausdrücken. Zum Beispiel mit ihrem "Talker", das ist ein Tablet-Computer mit
Touchscreen für sogenannte "unterstützte Kommunikation", zum Sprechen und
Schreiben. Stofftier Leo, ein Löwe, sitzt immer dabei.
Atmo Kinderstimme aus dem Computer
Erzählerin
Das blonde Mädchen führt seinen Talker vor. Die Sätze und dazugehörigen Bilder,
die Leni nur anzuklicken braucht, hat die Mutter eingespeichert. Als aktuellen
Wortschatz sozusagen. Der Computer hilft Leni auch im Deutschunterricht. Da macht
sie - und zwar in der Klasse - auf ihrem Niveau das gleiche wie die anderen Kinder,
zum Beispiel eine Vorgangsbeschreibung. Frau Schüler, Lenis Lernbegleiterin, ist
neben der Klassenlehrerin immer dabei.
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O-Ton 9 Frau Schüler
Leni soll beschreiben, wie man einen Obstsalat macht. Dazu habe ich ihr einen Text
vorbereitet, der völlig durcheinander gewürfelt ist - sie muss die Sätze in die richtige
Reihenfolge bringen und danach den Text mithilfe des Computers abschreiben. Sie
schreibt beispielsweise (Schulklingel! ) ...: Zuerst waschen wir die Äpfel, die Birnen
und die Pflaumen unter dem Wasserhahn ab und so weiter, ... bis zu dem letzten
Absatz "Guten Appetit!"
Leni schreibt seit zwei Jahren etwa mit der Tastatur... hat besonders große Tasten
und braucht sehr viel Zeit dafür, ist ne hohe Konzentrationsleistung für sie.
Erzählerin
Aber jetzt ist erst mal Pause. Hanna, Lenis beste Freundin, steht schon in der Tür
und möchte Leni mit auf den Pausenhof nehmen.
Atmo O-Ton Frau Schüler: Tschüss Leni.
Erzählerin
Leni kann mit ihrem E-Rolli auch alleine fahren, aber sie stößt oft irgendwo an. Weil
sie Kopf und Oberkörper nicht gut aufrecht halten kann, ist das nicht ungefährlich.
Leni darf auch nicht geschubst werden. Eine Verantwortung auch für die anderen
Kinder, sagt die Klassenlehrerin.
O-Ton 10 Klassenlehrerin
Die Kinder haben die Aufgabe, jeweils in den großen Pausen mit Leni gemeinsam zu
spielen oder sie hinaus auf den Hof zu begleiten und sie dort in das Hofszenario mit
zu integrieren, das klappt mal zuverlässig und mal weniger zuverlässig, und da muss
man dann ein bisschen nachhelfen beim Erinnern.
Atmo Schulhof /Schulflur/Schritte,
Erzählerin
"600 Schüler, 58 Nationen, 36 Sprachen", steht an der Hauswand. Die Fläming
Grundschule in Berlin Schöneberg hat eine lange Integrationsgeschichte und
verstand darunter immer schon auch die Einbeziehung behinderter Kinder. Über
zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler haben hier ein Handicap, es gibt
mehrere im Rollstuhl, Kinder mit Down-Syndrom, andere mit emotionalen Störungen.
Erzählerin
Leni ist in ihrer Klasse beliebt, weil sie fröhlich ist. Sie liest mit den anderen Gedichte,
Geschichten, fährt mit auf Klassenfahrt oder zur Besichtigung der Reichstagskuppel.
Gerade ist ihre Mutter gekommen, um sie abzuholen. Sie hat ein sogenanntes "IchBuch" mitgebracht, das sie zusammen mit der Tochter erstellt hat. Neben
Telefonnummern und medizinischen Informationen enthält es Vorlieben und
Gewohnheiten von Leni, die das Kind nicht artikulieren kann.
O-Ton 12 Mutter 1
In diesem Ich-Buch sind zum Beispiel auch Gesten abgebildet zum Beispiel auch von
Leni, wenn Leni Durst hat, Hunger hat oder wenn sie auf Toilette muss oder dass
Leni zum Beispiel alles versteht, was gesagt wird.
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Wenn sie nicht gefahren werden möchte, dann zieht sie einfach die Bremsen an.
Dann haben die andern gar keine Chance sie durch die Gegend zu schieben und mit
dem neuen E-Rolli ist es sowieso gar kein Problem. Da fährt sie ganz allein irgendwo
hin und wenn jemand im Weg steht, dann hupt sie.
Erzählerin
Leni hat noch eine jüngere Schwester, die in die zweite Klasse der wohnortnahen
Grundschule geht. Bei Leni war die Entscheidung nicht so einfach.
O-Ton 13 Mutter 1
Wir haben uns sehr schwer getan: ja, sollte es ein Förderzentrum sein? Sollte es
eine inklusive Grundschule sein? Dann haben wir uns verschiedenste Sachen
angeschaut, wir haben sogar eine Lehrerin von einem Förderzentrum eingeladen zu
uns, um einfach nochmal ne Meinung auch zu hören von einer
Förderzentrumslehrerin - so: wäre Leni ne mögliche Kandidatin für ne Inklusion? Und
sie hatte nur gesagt: Leni kann das, und dann haben wir uns verschiedene Schulen
angeguckt.
Und für uns ist eigentlich wichtig, dass es eine Schule ist - dass Leni nicht wie eine
Außerirdische angestarrt wird, sondern ganz normal, ohne Angst so "O Gott o Gott,
was ist das denn?" - und das war eigentlich auf der Fläming Grundschule die einzige
Grundschule, wo die Kinder so reagiert haben und hab sie gefragt, was ist denn für
dich wichtig, wenn du auf die Schule kommst? "Ich möchte auch andere Rolli-Kinder
haben". Das hat sie mir damals noch mit den Wörtern sozusagen, mit ihrem eigenen
Sprechen mitgeteilt. Leni ist auch stolz wie Bolle natürlich mit ihrer Schultüte auf den
Schulhof gefahren und sie hatte gleich bei der Einschulungsveranstaltung ihre jetzige
beste Freundin kennengelernt, und sie waren von Anfang an zusammen. Und das
war einer der schönsten Momente dieses Foto damals, - das ist kein behindertes
Kind.
Erzählerin
Nach dem jüngsten Bildungsbericht der Bundesregierung werden 44 Prozent aller
Kinder mit Beeinträchtigungen bereits in Regelschulen unterrichtet. Die Zahl spiegelt
einen Prozess, der in den letzten Jahren zu einem Umbau des Schulsystems geführt
hat. Immer mehr Förderzentren, Sonderschulen oder Hilfsschulen, wie sie früher
hießen, wurden aufgelöst, und immer mehr behinderte Kinder sollen an normale
Schulen gehen, so das politische Programm. Eltern haben sogar einen gesetzlichen
Anspruch darauf. Sonderschullehrer sollen an den Regelschulen aushelfen, und es
gibt einen besseren Personalschlüssel für inklusive Schulen. Aber das reicht nicht,
damit es gut läuft, meint Lenis Mutter. Wenn zum Beispiel Frau Schüler, die
Lernbegleiterin krank ist, geht gar nichts mehr.
O-Ton 14 Mutter
Das ist so - von oben wird sehr viel bestimmt, es wird bestimmt, wie viel Lehrer pro
Kind sag ich mal dann da sein sollen, das ist immer ganz toll, aber im Alltag schaut
das ganz anders aus. Also ich fänd‘s toll wenn einfach noch mehr Personal da wär..
Früher war das kein Problem, aber heute ist einfach zu wenig Personal da, um für
Leni ne Vertretungskraft zur Verfügung zu stellen.
Erzählerin
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Fachleute die Inklusion in vielen Fällen für ein
moralisch legitimiertes Sparprogramm halten. In der Tat hat sich allein in Berlin die
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Gesamtzahl der Förderstunden für integrative Maßnahmen, sprich für die Betreuung
behinderter Kinder, in den letzten zehn Jahren deutlich reduziert, teilweise halbiert.
Der Bedarf ist aber durch den Inklusionsanspruch eher gestiegen.
O-Ton 15 Mutter
Und Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif, muss man ganz klar sagen. Inklusion kostet
ganz viel. An Engagement, an personellem Einsatz und einfach auch an
Unterrichtsmaterialien.
O-Ton 16 Fred Ziebarth
Ich bin noch gar nicht mal nur beim Finanziellen. Wir brauchen ne ganz andere Form
des Bewusstseins.
Wir brauchen das ganze sonderpädagogische Wissen natürlich auch dann in der
allgemeinen Schule, das heißt, ... wir müssen sicherstellen, dass es den Kindern, die
irgendwelche Besonderheiten haben, in der allgemeinen Schule mindestens
genauso gut geht wie in der Förderschule, oder in der Sonderschule, wo sie
entsprechende Ressourcen bekommen, wo entsprechende Materialien und
kompetente Menschen sind.
Erzählerin
Fred Ziebarth ist Koordinator für Inklusion an der Fläming Grundschule und berät
auch andere Lehrer. Er weiß, viele Kollegen fühlen sich überfordert, manche haben
auch ein emotionales Problem mit behinderten Kindern, etwa wenn sie ihnen den
Speichel abwischen sollen. Und die ganz normalen Konflikte im Schulalltag werden
auch nicht weniger, ganz im Gegenteil:
O- Ton 17 Ziebarth
Natürlich verschärfen die sich - ich kann ja sagen, ich hab drei sprachbehinderte
Kinder, die machen überhaupt kein Problem, und ich hab aber ein sehr sehr
aggressives Kind, der macht mir große Probleme. Und wenn ich n geistig
behindertes Kind habe, das ist dann vielleicht auch noch hyperaktiv und aggressiv
ist, dann hab ich n Riesenproblem.
Erzählerin
Einfach mitlaufen können diese Kinder nämlich nicht. Kooperation und Absprachen
sind wichtig, Supervision, ein gutes Team, individueller Unterricht, aber auch mehr
Hilfe durch Sozialarbeiter und Psychologen sowie Unterrichtshelfer.
Voraussetzungen, die fast überall fehlen.
In der Lehrerausbildung beginnt man gerade erst zu reagieren. In Berlin sind
Beratungs- und Unterstützungszentren entstanden, die bei Bedarf Hilfe anbieten.
O-Ton 18 Ziebarth
Da sitzen irgendwo ein zwei drei Leute im Bezirk, die kann man dann anrufen, wenn
man Probleme hat, die kommen dann vielleicht in vier Wochen, wir brauchen die
Hilfe vor Ort, wir brauchen kompetente Leute in den Institutionen, die schnell zur
Verfügung stehen, die schnell mit den Kindern agieren können, die die Erwachsenen
unterstützen, egal obs jetzt die Pädagogen oder die Eltern sind. Das brauchen wir.
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Erzählerin
Fred Ziebarth hat zudem erlebt, dass sich Eltern Illusionen machten, wenn sie das
Stichwort "Inklusion" hörten.
O-Ton 19 Ziebarth
... dass sie gedacht hatten, jetzt ist mein behindertes Kind in der Integration, jetzt
wird alles gut, und eigentlich meinten sie, dass irgendwann die Behinderung weg ist.
Ja, aus solchen Missverständnissen entstehen große Konflikte, die dann in
Vorwürfen enden.
Erzählerin
Noch läuft vieles nicht gut in Sachen Inklusion. Wie steht es um das ehrgeizige
Vorhaben aus Sicht der sonderpädagogischen Einrichtungen, denen vielfach die
Schließung droht? Christiane Horndasch leitet ein Förderzentrum für geistig
behinderte Kinder verschiedenen Alters.
Spezialisten für viele Formen der Behinderung sind vor Ort, ein hoher
Personalschlüssel und gebündelte Erfahrung ermöglichen ein ruhiges Lernklima.
O-Ton 21 Horndasch
Ich halte das für schlimm, dass wirklich diese Synergien dann zerstückelt werden, wir
haben an unserer Schule ungefähr 120 Schüler, davon haben wir 70 verschiedene
Syndrome. Das bedeutet, wir müssen in ganz ganz intimer Kenntnis des einzelnen
Syndroms sein, um überhaupt Lernprozesse planen zu können. Wenn man das nicht
ist und nicht weiß, dass die Verarbeitungsschwäche da und da liegt, behandele ich
dieses Kind falsch.
Erzählerin
Geistige Behinderung etwa bedeutet nicht allein, dass Kinder nicht gut rechnen,
schreiben oder sprechen können, sagt die Schulleiterin. Sie haben vielmehr eine
andere Wahrnehmung ihrer Umwelt und eine andere Reizverarbeitung als gesunde
Kinder. Christiane Horndasch ist nicht grundsätzlich gegen Inklusion, bei
Lernbehinderung aus sozialen Gründen oder bei einer Körperbehinderung sei die
Regelschule auf jeden Fall eine gute Wahl. Aber für "ihre" Kinder sieht sie auch eine
Gefahr: sie könnten (in der Experimentierphase) an den Regelschulen untergehen.
O-Ton 23 Ziebarth
So schlecht, wie Inklusion im Moment ausgestattet ist, so schlecht wie vieles läuft,
sind viele Förderzentren natürlich ne Oase für die Menschen, die sich da denn
aufgehoben fühlen, weil sie in ner Teilhabegesellschaft eben sich nicht gut
angenommen fühlen.
Atmo O-Ton 24 Nina
Jetzt geht‘s los. Erzähl ich nochmal von meiner Schule. Die Schule ist sehr groß, sind
echt gute Partner für meine Klasse, und meine Freunde - alle von meiner Schule sind
meine Freunde.
Erzählerin
Nina zeigt mir ihre Schule. Sie ist 16, ein großes, sportliches Mädchen mit langen
braunen Haaren. Wir sind zu Fuß gegangen. Nina kann das, während die meisten
anderen Kinder mit einem Behindertentransport gebracht werden. Nina freut sich
heute besonders auf die Musikstunde mit der Schul-Band.
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O-Ton 25
Da trommeln wir schönes ...
Erzählerin
Anders als Leni mit dem Rollstuhl sieht man ihr die Beeinträchtigung nicht an. Seit
gut einem Jahr geht sie in ein Förderzentrum für geistige Behinderung. Jetzt kommen
auch die anderen Kinder.
Atmo Autos kommen, Türen klappen, Begrüßung
Erzählerin
Nina begrüßt ihre Mitschüler und stellt mich vor.
O-Ton 26
Das ist mein Freund, hey, komm her, keine Angst, die tut nix!
(Morgen - Morgen ...)
Erzählerin
Warum ging es ihr an der anderen Schule, einer Gesamtschule, nicht gut? Obwohl
man sich auch dort um Inklusion bemühte?
O-Ton 27 Nina
Da wurd ich gehänselt von Freunden oder keine Freunden und hier ist es viel besser
und ruhiger und schöner ...
Erzählerin
Nina wurde in ihrer vorherigen Schule, einer ganz normalen Gesamtschule,
gedemütigt und ausgenutzt, erzählen die Eltern. Klassenkameraden machten sich
über sie lustig und forderten sie auf, sich auszuziehen. Und Nina wollte nicht länger
Außenseiterin sein.
O-Ton 28 Mutter
Das war eben sehr schwierig, weil sie sich dagegen nicht wehren konnte, also das ist
das Problem, dass sie den andern gefallen möchte und dann eben tut, was andere
ihr sagen. Dass sie sich entblößen soll zum Beispiel und solche Dinge, und die sind
auch vorgefallen.
Erzählerin
Nina durchschaute nicht, was die anderen mit ihr vorhatten. Ein behinderter Junge
war auch noch in der Klasse - aber sie als Mädchen traf es besonders.
O-Ton 29 Mutter 2
Weil sie eben den andern gefallen wollte und weil sie unbedingt dazugehören wollte.
Und das eben auf andere Art und Weise nicht zeigen konnte. Dass sie eben Dinge
getan hat, die sie vielleicht sonst nicht getan hätte, auch mit mehr Selbstvertrauen
dann.
O-Ton 30 Vater
Das wurde dann auch besprochen, wir haben auch versucht mit unserer Tochter
darüber zu reden, dass sie es nicht mehr macht, die Lehrer haben dann mit den
anderen Schülern gesprochen, haben bisschen drauf aufgepasst.
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Erzählerin
Doch Nina erzählt zuhause einfach nichts mehr. Auch nicht vom Unterricht.
O- Ton 31 Vater
Wir wussten von Elterngesprächen, was sie geplant haben und was durchgeführt
wird, aber von ihr kam gar nichts. Also wir konnten überhaupt nicht wissen, was sie
heute gemacht hat, also sie ist nachhause gekommen, hat zugemacht, sehr wenig
mit uns darüber gesprochen und dann wurde uns auch gesagt dass .. sie zuhause
bisschen Ruhe haben soll, in der Schule lernt sie dann weiter, also ich hab nichts
erfahren was gemacht wird und wie viel. Und Von Nina kam nichts, also auch nicht
... wenn irgendwas Schlechtes passiert ist, man konnte es vielleicht ahnen, aber man
hats nicht rausgekriegt.
O-Ton 32 Mutter Naja, sie hat mit mir - ich bin ja die Mama - schon ein bisschen mehr gesprochen
dann, aber es war immer schwierig - also man hat ihr angemerkt, dass was nicht
stimmt. Und dann musste man nachhaken und gucken, was passiert ist, und dann
sind halt solche Dinge zum Beispiel, sind eben rausgekommen.
O-Ton 33 Vater
Also wir hatten das Gefühl, dass es sich nicht weiterentwickelt. Dass sie irgendwo
stagniert, dass nicht viel passiert, und dass sie dadurch sehr unzufrieden ist, und das
große Problem warn diese sozialen Kontakte, die sie jetzt kaum noch hatte.
Erzählerin
Die Lehrer gaben sich Mühe, aber Nina igelte sich ein.
Die Interessen der anderen Kinder entwickelten sich ohnehin in eine andere
Richtung, sie nahmen Nina nicht ernst und behandelten sie bestenfalls wie eine
kleine Schwester. Auch das war für ihr Selbstvertrauen nicht gut. Die Eltern
entschieden sich daher, das Experiment mit der inklusiven Schule abzubrechen. Ein
Rückschritt?
O-Ton 34 Mutter
Ich mein, sie geht jetzt anderthalb Jahre auf diese Schule, die Förderschule - und es
ist einfach n anderer Austausch zwischen den Kindern. Und das sieht man eben, sie
hat auch mehr Kontakte zu Kindern und gleiche Interessen.
Erzählerin
Die Kinder auf Ninas neuer Schule gehen fast liebevoll miteinander um. Im Unterricht
passiert es jedem mal, nicht weiter zu wissen, nicht die richtigen Worte zu finden.
Alle, so scheint es, erleben das gleiche langsame Tempo, das gleiche Bemühen,
niemand lacht. Zum Beispiel in Mathe, wenn es um Gewichte geht. Eine
lebenspraktische Anwendung mit verschiedenen Tüten Spaghetti, Zucker, Mehl oder
Äpfeln ist heute dran: Wie viel von diesen Lebensmitteln wiegt ein Kilo? Nina löst die
Aufgabe, indem sie einen Apfel nach dem anderen in eine Tüte packt, die auf einer
Waage steht.
Atmo knisternde Tüten, Apfelzählen
9
Pädagogin
Wir wiegen unsere Äpfel - 1 Kilo! Nina:
Ein Apfel, zwei Äpfel ... sechs Äpfel
Pädagogin
Nimm das Gewicht in die andere Hand und schätz - was glaubst du, ist es ein Kilo?
Schau mal auf den Zeiger, steht der auf der 1? - Nee. - Dann musst du noch mehr
reintun. ....
Erzählerin
Im Unterricht ist Nina heute eher schüchtern. Sonst scherzt sie gern.
O-Ton 36 Mutter
Das ist anders. Sie ist sehr lustig, sie ist spontan, sie hat unglaublich viel Energie,
und das wird von den andern eben auch dankend aufgenommen. Das ist halt mehr
ein Geben und Nehmen, sie will natürlich den anderen gefallen, sie macht noch
häufig das, was man ihr sagt, von den andern Kindern - auf der anderen Seite kann
sie aber auch Impulse geben. Das wird dann auch mit aufgenommen, und das ist
dann schon was anderes. Und ich glaube darüber wird sie auch mehr
Selbstvertrauen gewinnen und Verantwortung übernehmen können und vielleicht
auch, wie soll ich das sagen - weniger dieses Bedürfnis haben, das zu tun was
andere sagen, sondern sich durchzusetzen.
Erzählerin
Auch wenn es Nina im Schutzraum der Förderschule jetzt besser geht, hat die Zeit
auf der inklusiven Schule vielleicht auch etwas Positives bewirkt?
O- Ton 37 Mutter
Ich denke schon, dass es für sie auch wichtig war mit diesem normalen in
Anführungsstrichen Umfeld umgehen zu lernen und auch Teil dessen zu sein. Und
ich glaube, dass gerade die Regelkinder und deren Eltern unglaublich viel profitiert
haben davon. Ich glaube, dass das für geistig behinderte Kinder schwieriger ist. Da
muss unglaublich viel schon da sein an Kraft und Durchsetzungsvermögen, dass sie
sich da durchbeißen können. Und ich denk, dass man das wirklich individuell von
Kind zu Kind betrachten muss.
Erzählerin:
Nina jedenfalls, da sind sich ihre Eltern einig, hat der Wechsel zurück auf die
Förderschule auf jeden Fall besser getan.
O-Ton 38 Vater
Das kann man schwer erklären, wie viel offener sie geworden ist und wie viel
selbständiger. Und vor allem wie viel Feedback wir jetzt kriegen im Vergleich dazu,
wie es auf der andern Schule war.
O-Ton 39 Mutter
Sie geht mit Freude morgens aus dem Haus, und es ist für sie total wichtig, dass sie
zur Schule geht, weil sie da ihre Freunde trifft. Weil sie da die Menschen trifft, mit
denen sie sich treffen möchte, mit denen sie sich austauschen möchte.
(Tür klingelt)
10
Erzählerin
Nina kommt nach einem aufregenden Schultag nachhause. Sie hat ein Interview
gegeben, viel von sich und ihren Freunden gezeigt, und nur kurze Zeit später übt sie
noch in einer Band, die demnächst beim Schulfest auftreten wird. Mit einem
Trommelstückchen und kleinen Soloeinlagen der Kinder.
Atmo Musik, Einstimmen mit Gitarre, dann "Hey was geht bei dir"
Erzählerin
Komm wach auf, ich zähl bis zehn,
das Leben will einen ausgeben, und das will ich sehn,
lass uns endlich aufstehen, das Radio aufdrehen,
das wird unser Tag, lass uns endlich rausgehen so heißt der Refrain dieses Rap-Stückchens. Aber: was kann man an einem tollen
Tag denn so machen? Die Musiklehrerin geht mit dem Mikrofon herum und fragt
jedes einzelne Kind:
Atmo
Hey was geht bei dir? - Einfach nur die Ruhe genießen - Und bei dir? Wir wollen Eis
essen - Und bei dir? entspannen - Und bei dir? Pizza essen gehen
O-Ton 40 Vater
Ich wollte noch sagen, das was der Nina richtig gut tut, ist, dass sie sich hier
aufgenommen fühlt, also sie ist hier richtig integriert, Und ich wünsche ihr, dass sie
irgendwann mal selber ihr Leben führen kann, sie wird immer abhängig sein, aber
dass diese Abhängigkeit so niedrig ist, dass sie sich fühlt, dass sie alles allein
schafft, also das ist mein größter Wunsch für sie.
Erzählerin
Auch Ninas Mutter ist froh, dass ihre Tochter jetzt einen guten Ort für sich gefunden
hat. Sie sieht das Modell der Inklusion in der Regelschule unter den gegebenen
Bedingungen skeptisch. Auf die Lehrer dort lässt sie aber nichts kommen.
O-Ton 41 Mutter
Sie versuchen das, was sie können, mit den Mitteln, die da sind. Die Kinder werden
ja auf der Regelschule dann ja auch in Teilgruppen beschult. Aber das ist für mich
eben auch nicht Inklusion. Das ist wieder Teilung.
Ich finde die Idee der Inklusion toll, traumhaft, aber mit den gegenwärtigen Mitteln
und vielleicht auch in der Gesellschaft, in der wir leben, halt ich das für illusorisch.
Zumindest momentan.
Erzählerin
Auch die Mutter von Leni ist sich nicht sicher, ob ihre Tochter nach der Grundschule
weiter auf eine inklusive Schule gehen wird. Noch finden die anderen Kinder Lenis
Sprechcomputer und ihren Elektro-Rolli vielleicht spannend, aber in der Pubertät
driften die Lebenswelten vermutlich weit auseinander. Zwei Mütter mit einer
ähnlichen Bilanz:
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O- Ton 42 Mutter
Ich sag ja, also beides muss existieren, sowohl Förderzentrum als auch inklusive
Schulen, .. Man muss nach dem Kind gehen und nicht nach dem, ja, was dann sein
soll - ob dann Förderzentrum oder inklusive Schule - man muss nach dem Kind
gehen und sich das Kind anschauen, und dann weiß man eigentlich auch, ok,
das Kind würd sich besser auf ner inklusiven Schule wohlfühlen, oder es wär besser
auf ner Förderschule aufgehoben, weil es da viel besser gefördert werden kann.
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