Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Ich spiele nicht nur Klavier“
Komponistinnen: Nadia und Lili
Boulanger (4)
Von Ulla Zierau
Sendung:
Donnerstag, 18.08. 2016 9.05 – 10.00 Uhr
Redaktion:
Ulla Zierau
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Musikstunde“ mit Ulla Zierau
„Ich spiele nicht nur Klavier“
Komponistinnen: Nadia und Lili Boulanger
SWR2 15. bis 19. August 2016 9h05 – 10h00
Teil 4 – Komponistinnen: Nadia und Lili Boulanger
Signet
Dazu begrüßt Sie Ulla Zierau
„Ich spiele nicht nur Klavier“ – wir haben in dieser Woche schon ein
komponierendes Schwesternpaar kennengelernt, die beiden preußischen
Prinzessinnen Wilhelmine und Anna Amalie, die allerdings wegen ihres großen
Altersunterschieds kein inniges Verhältnis zueinander hatten, ganz anders ist es
bei Nadia und Lili Boulanger, die uns durch die heutige SWR2 Musikstunde
begleiten werden.
Titelmusik
Nadia und Lili Boulanger, zwei ungleiche Schwestern. Die jüngere, Lili,
hochbegabt, zart, zerbrechlich, immer kränkelnd. Früh gelangt sie in ihrem kurzen
Leben zu künstlerischer Reife, erhält als erste Frau den begehrten Prix de Rome
mit zweijährigem Stipendium in Rom. Als anerkannte Komponistin stirbt Lili
Boulanger viel zu jung, mit erst 24. Um ihr musikalisches Erbe kümmert sich ihre
Schwester Nadia, die ebenfalls früh musiziert und komponiert. Sie erlangt als erste
Frau immerhin einen zweiten Preis beim Prix de Rome. Nach dem Tod ihrer
Schwester komponiert sie nicht mehr. Auf die Frage, warum sie aufgehört habe,
antwortet sie später: „Ich habe kein Talent. Meine Schwester Lili, das war die
Komponistin. Sie war schon eine bedeutende Komponistin als sie mit 24 starb. Sie
war sechs Jahre jünger als ich und sie brachte mich zum Unterrichten“
So ist Nadia Boulanger eine der bedeutendsten Musikerpersönlichkeiten und
Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts geworden. „Mir ist es am liebsten“, sagt sie,
„wenn man mich in folgender Reihenfolge sieht: 1. Musikerin, 2. Lehrerin, 3.
Dirigentin und 4. als Frau“. (1’15)
Musik 1
Nadia Boulanger: Stücke Nr.2 für Violoncello und Klavier
Sans vitesse et à l'aise a-Moll
Maximilian Hornung und Milana Tschernjawska
M0268091 015, 1‘52
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Maximilian Hornung und Milana Tschernjawska mit dem Stück Nr.2 für Cello und
Klavier von Nadia Boulanger.
Nadia ist selbstbewusst, zielstrebig und ehrgeizig. Das lernt sie von ihrer Mutter,
einer russischen Aristokratin, die mit 19 ihren Gesangslehrer, den 62 jährigen Ernest
Boulanger heiratet. Er ist Komponist und Rompreisträger. Die ganze Familie
Boulanger ist seit Generationen fest im Pariser Musikleben verankert. Der
Großvater Cellist, die Großmutter Sopranistin. „Jeder in dem Hause machte Musik;
die Musik war Ausgangspunkt und Zentrum unserer Existenz“, schreibt Nadia. Im
Hause der Eltern verkehren die geistigen Größen des fin de Siècle, darunter die
Komponisten, Charles Gounod, Jules Massenet, Camille Saint-Saëns. Mit zehn
Jahren besucht Nadia das Pariser Konservatorium und studiert bei Gabriel Fauré
Komposition.
Als der Vater stirbt ist Nadia gerade mal 12 Jahre alt, ein Schock für das junge
Mädchen und zugleich Ansporn, schnell selbständig zu werden. Mit 17 fängt sie
bereits an zu unterrichten, Gruppenkurse in Harmonie, Klavierbegleitung und
Partiturspiel.
Zweimal nimmt Nadia Boulanger am renommierten Prix des Rome teil, ein
Refugium, das seit dem 17. Jahrhundert nur Männern vorbehalten war. Beim
zweiten Anlauf erhält sie einen Zweiten Preis.
Strawinsky wird eine wichtige Figur in ihrem künstlerischen Leben. Nach dem
aufregend- einschneidenden Ereignis, der Uraufführung des Feuervogels, lernt sie
den Komponisten persönlich kennen und es entsteht eine Freundschaft.
Im privaten Kreis machen die beiden Musik und glaubt man den Erinnerungen
der Witwe Milhaud, so soll Nadia beim gemeinsamen Klavierspiel, dem Kollegen
zugerufen haben „zählen Igor“.
Eine weitere wichtige Person in Nadia Boulangers Leben wird die Princesse de
Polignac, die wohlhabende Erbin des amerikanischen Nähmaschinenfabrikanten
Singer, die in Paris, in den Jahren zwischen den Weltkriegen eine bedeutende
Kunstmäzenin ist. In ihrem Musiksalon veranstaltet sie Konzerte, in denen sie Nadia
Boulanger fördert. Sie ermöglicht ihr Auftritte als Dirigentin, in dem sie z. B: das
Royal Philharmonic Orchestra engagiert, das Nadia dann dirigieren darf. Einige
ihrer Konzerte werden in Radio France übertragen. Ein Besucher schreibt über
Nadia Boulanger: „Es war genauso interessant, ihr zuzusehen, wie ihr zuzuhören. In
der kleinen Geste, welche Intelligenz, welches Feuer.“ (2’45)
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Musik 2
Nadia Boulanger: Stück Nr.3 für Cello und Klavier
Julian Steckel, Paul Rivinius
M0294862 012, 2‘25
Vite et nerveusement rythmé – schnell und unruhig rhythmisiert, so hat Nadia
Boulanger dieses Stück für Cello und Klavier überschrieben, wir hörten in der
SWR2 Musikstunde Julian Steckel und Paul Rivinius.
„Wenn es etwas gibt, über das ich mir ganz sicher bin, dann ist es die Tatsache,
dass ich aufgehört habe zu komponieren. Ich habe unnütze Musik geschrieben.
Ich bin streng genug mit anderen Komponisten, daher sollte ich so selbstkritisch
mir selbst gegenüber sein“, bekennt Nadia Boulanger.
Komponieren nein, Lehren ja, das mit großer Begeisterung und großer Begabung,
sechzig Jahre lang. Nadia Boulanger unterrichtet an vielen Schulen,
Konservatorien und bei Meisterkursen in Frankreich und in England. Sie lehrt an
der Sommerakademie in Fontainebleau, wo vorwiegend amerikanische
Studenten teilnehmen. An der Royal Academy of Music übernimmt sie die
Kompositionsklasse von Paul Dukas und unterrichtet in London am Royal College
und an der Yehudi Menuhin School.
„Als Pädagogin besteht mein ganzes Leben darin, andere zu verstehen und
nicht, andere dazu zu bringen, mich zu verstehen. Was ein Student denkt, was er
tun will – das ist wichtig. Ich muss versuchen, ihn dazu zu bringen, sich selbst
auszudrücken, ihn darauf vorzubereiten, das zu tun, was er am besten kann.“
Sagt Nadia Boulanger.
Copland, Piazzolla, Glass, Francaix, Bernstein, Barenboim, sie alle zählen zu ihren
Schülern. Berühmt ihr Anraunzen Piazzollas, der auf der Suche nach seiner Musik
ihr ganz viel vorspielt, am Ende auch einen Tango und sie sagt: „Du Idiot! Merkst
Du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? … Dein Tango ist
die neue Musik und sie ist ehrlich“.
Über 60 Jahre ist sie der Mittelpunkt ihrer „Boulangerie“, ihrer Pariser Wohnung, wo
sich Musiker, Komponisten, Profis und Dilettanten treffen, austauschen und
begierig lernen. „Meine Mutter empfing jeden Mittwoch um fünf Uhr ihre Freunde.
Nachdem ich mit dem Studium fertig war, entschloss ich mich, an diesem Tag
auch meine Schüler hier zu empfangen. Ich habe es so beibehalten, bin noch in
derselben Wohnung und habe das Gefühl, dass auch sie immer dabei ist.“
Während des zweiten Weltkrieges setzt sich Nadia Boulanger nach Amerika ab,
konzertiert, dirigiert und lehrt an der Juilliard School in New York. Als erste Frau
überhaupt dirigiert sie die New Yorker Philharmoniker. Ein amerikanischer Kritiker
5
schreibt: „Das in allen Orchestermusikern so tief verankerte Vorurteil gegen
Dirigentinnen verschwindet in dem Augenblick, in dem die Meisterschaft von
Mademoiselle Boulanger sich offenbart.“
In New York und in London führt sie das Requiem ihres geschätzten Lehrers
Gabriel Fauré auf. (2’45)
Musik 3
Gabriel Fauré: Requiem, Pie Jesu
Janet Price, Sopran
BBC Symphony Orchestra London
Leitung: Nadia Boulanger
1947310 007, 4’10
„Pie Jesu“ aus Gabriel Faurés Requiem mit Janet Price und dem BBC Symphony
Orchestra unter der Leitung von Nadia Boulanger, eine live Aufnahme aus
London von 1968.
Mitte der 30er Jahre tritt Boulanger in London zum ersten Mal als Dirigentin auf,
was schon eine mittlere Sensation bedeutet, darauf angesprochen erwidert sie:
„Dirigieren ist ein Beruf wie jeder andere, ich glaube nicht, dass das Geschlecht
dabei eine große Rolle spielt. Vergessen wir, dass ich eine Frau bin und sprechen
wir über Musik“. Beide Schwestern, Nadia und Lili Boulanger, nennen sich nie
„Compositrice“, Komponistin, sondern immer compositeur, allenfalls femme
compositeur. Beide sind der Meinung: „Der Künstler schöpft ein vom Schöpfer
und Betrachter unabhängiges Objekt. Es ist das Objekt, das wichtig ist.“
Ob das auch auf Lili Boulanger zutrifft, die in vielen Werken ihr Leben, ihre
Krankheit, die Nähe des Todes verarbeitet hat? Bis heute wird darüber diskutiert,
ob eine isolierte Betrachtung von Komponistinnen der Sache dient oder sie im
Gegenteil noch mehr in eine Sonderstellung führt oder ob man gar nicht umhin
kommt, das Werk einer Komponistin im Kontext ihrer Person und ihres Lebens zu
betrachten, da Frauen bis ins 20. Jahrhundert in ihren Entfaltungsmöglichkeiten
eingeschränkt waren. Sie hatten eben nicht dieselben Möglichkeiten wir ihre
männlichen Kollegen. Die Schwestern Boulanger, vor allem Nadia wollen davon
nichts wissen: „Oublions que je suis une femme et parlons musique.“ – Vergessen
wir dass ich eine Frau bin und sprechen wir von Musik. (1’40)
Musik 4
Lili Boulanger: Cortège
Yehudi Menuhin, Violine / Clifford Curzon, Klavier
M0014418 031, 1’30
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Yehudi Menuhin und Clifford Curzon mit der Ersteinspielung der Cortège von Lili
Boulanger. Menuhin, ein Freund Nadias war auch Mitglied in der Gesellschaft
„Les Amis de Lili Boulanger“.
Lili, getauft auf den Namen Marie-Juliette Olga, wegen ihrer Zierlichkeit immer
schon Lili genannt, ist sechs Jahre jünger als Nadia. Die ältere Schwester
übernimmt schnell die Fürsorge. Nadia über ihre Beziehung zu Lili: „Wir waren uns
außergewöhnlich nahe und verbunden, aber wir blieben absolut unabhängig“.
Mit zwei Jahren erkrankt Lili Boulanger an einem chronischen Lungenleiden, das
sie ihr kurzes Leben lang schwächt. Sie reist von Kurort zu Sanatorium, ein
normales Zusammensein mit anderen Kindern ist so gut wie nie möglich. Nicht
selten wird sie wegen ihres zurückhaltenden Verhaltens als arrogant, später in der
Villa Medici als „verzärtelte Simulantin“ bezeichnet.
Der amerikanische Geiger Albert Spalding erinnert sich an einen Besuch bei den
Boulangers: „Die Töchter waren beide sehr anmutig. Nadia hochgewachsen und
schlank, mit großen durchdringenden Augen, glänzte durch findige, disziplinierte
Intelligenz. Lili, schmächtig, blond und zerbrechlich, wirkte neben Nadias
gesunder Vitalität wie die verlorene Prinzessin aus einem Stück von Maeterlinck.
Es war schon damals offensichtlich, dass ihr herausragendes Talent ihre
schwachen physischen Reserven bald überfordern würde.“ So ein Freund der
Familie.
Lili ist ein Wunderkind, mit drei soll sie schon intonationssicher Lieder gesungen
haben, von Fauré am Klavier begleitet. Sie lernt Klavier, Orgel, Cello und Harfe
und notiert früh erste Kompositionen in ihre Skizzenbücher, die sie später alle
vernichtet.
Unter dem Tod des Vaters leidet sie ebenso wie Nadia. Beide Schwestern fliehen
in eine orthodoxe Frömmigkeit. Die Mutter als Kosmopolitin wendet sich der
östlichen Kultur zu, Lili reagiert auf exotische Texte und Klänge besonders
empfänglich. Mit sieben bekommt sie von einer Freundin der Familie eine
Übersetzung eines buddhistischen Gebets geschenkt. Sie bewahrt es sorgfältig
auf und vertont es in ihrem letzten Lebensjahr.
Diese Meditation über universale Liebe befasst sich intensiv mit Werten wie
Frieden und Glück. Der Chor beginnt mit den Zeilen:
„Möge alles, was atmet, / ohne Feinde, ohne Hindernisse, / während es den
Schmerz überwindet / und die Glückseligkeit erreicht, / sich frei bewegen
können, / ein jedes auf dem Weg, / der ihm vorbestimmt ist.“ (2’40)
Musik 5
Lili Boulanger: Vieille prière bouddique
Julian Podger, Tenor, Monteverdi Choir / London Symphony Orchestra / John Eliot
Gardiner
3378672 003, 8’27
7
Julian Podger, Tenor, der Monteverdi Choir und das London Symphony Orchestra
unter der Leitung von John Eliot Gardiner mit „Vieille prière bouddique“, dem
„Alten buddhistischen Gebet“ von Lili Boulanger. Das musikalische Zwischenspiel
mit der Soloflöte erinnerte an Debussys l’après-midi d’un faune“.
Mit acht tritt Lili Boulanger zum ersten Mal öffentlich als Geigerin auf. Mit elf
Jahren gibt sie ihr erstes Recital als Pianistin. Gabriel Fauré ist ihr Mentor, er studiert
mit ihr die französischen Barockmeister, ebenso Bach, Mozart und Wagner.
Gelegentlich darf sie in seine Kompositions-Klasse hinein schnuppern, dann sitzt
sie mit Casella, Koechlin und Enescu in einer Bank. Doch meist ist sie zu schwach
dafür, dann liegt sie zu Hause und liest Shakespeare, Pascal, Poe, Tolstoi und die
französischen Symbolisten. Maeterlincks Drama „Princesse Maleine“ geht ihr
besonders zu Herzen, wie verzaubert ist sie von der Melancholie der Prinzessin. Sie
wird nach Maeterlincks Stück eine Oper schreiben.
Mit hohem Kraftaufwand und Unterstützung der Familie beginnt Lili ein Studium
am Pariser Konservatorium. Dort atmet sie bald künstlerische Freiheit, löst sich von
Formen, überschreitet das tonale Denken. (1’20)
Musik 6
Lili Boulanger:
„Renouveau“, für Sopran-, Alt- und Tenor-Solo, gemischten Chor und Klavier
Sabine Eberspächer, Klavier
Heidelberger Madrigalchor / Leitung: Gerald Kegelmann
M0016058 002, 1‘37
Der Beginn aus „Renouveau“ / „Frühling“. Mit diesem Vokalstück debütiert die 19jährige Lili Boulanger als Komponistin in der Öffentlichkeit. Im Monde Musical
schreibt ein Kritiker: „Aber die Sensation des Abends war das Debüt der „kleinen
Schwester“ Lili Boulanger, deren Chor der Sirenen bereits solide Technik zeigt und
deren Vokalquartett „Renouveau“ voller Frischer und Inspiration ist“. Gerald
Kegelmann leitete in der SWR2 Musikstunde den Heidelberger Madrigalchor und
Sabine Eberspächer am Klavier.
Lili ist nicht zu halten, trotz körperlicher Schwäche möchte sie am Rompreis
teilnehmen. Traditionell müssen die jungen Komponisten unter strenger Klausur
eine Kantate schreiben. Lilis Körper hält nicht durch, sie muss abrechen, kommt in
ein Sanatorium, lässt sich aber unter all den Kranken nicht entmutigen. Sie will es
noch einmal versuchen und bewirbt sich im nächsten Jahr erneut um den Prix de
Rome. Diesmal schreibt sie die Kantate „Faust et Hélène“. Charpentier, Fauré,
Saint-Saëns sitzen in der Jury und Lilis Werk überragt alle.
In einem Bericht heißt es:
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„Fräulein Lili Boulanger hat soeben über alle ihre männlichen Konkurrenten
gesiegt und den großen ersten Preis mit einer Überlegenheit, Leichtigkeit und
Geschwindigkeit davongetragen, die die anderen Kandidaten ernstlich verstören
musste… Dabei war es keineswegs die Galanterie der Juroren, die ihr den Sieg
erleichtert hat: im Gegenteil: man kann sagen, dass sie mit diesem
neunzehnjährigen jungen Mädchen härter umsprangen als mir ihren Rivalen“.
Abschließend nennt der Rezensent noch die Gründe, die im Protokoll der
Académie des Beaux Arts für den ersten Preis aufgeführt sind:
1.
Die intelligente Behandlung des Gegenstands
2.
Die Korrektheit der Deklamation
3.
Sensibilität und Wärme
4.
Poetisches Gefühl
5.
Die kluge und farbenreiche Orchestrierung
Und hören Sie mal, das dicht gewobene Vorspiel trägt Wagner’sche Züge. (2’00)
Musik 7
Lili Boulanger: „Faust et Hélène“
BBC Philharmonic / Yan Pascal Tortelier
M0023287 002, 2‘33
Das Vorspiel zur Kantate „Faust et Hélène“ von Lili Boulanger mit dem BBC
Philharmonic unter der Leitung von Yan Pascal Tortelier. Dafür geht der Rompreis
1913 zum ersten Mal an eine Frau, das ist eine Sensation, die weltweit die Runde
macht. Seitdem trägt Lili Boulanger offiziell die Bezeichnung Komponistin. Andere
Preise folgen und ein Vertrag mit dem renommierten Verlagshaus Ricordi in
Mailand, mit einem festgelegten Jahresgehalt. Erste Publikation: die Kantete
„Faust et Hélène“.
Zum Rompreis gehört ein Stipendium in Rom. Mit ihrer Mutter reist Lili nach Italien.
Bewohnt auf eigenen Wunsch ein Turmzimmer der Villa Medici, das sie wegen
ihrer Atemnot nur selten verlassen kann. Sie sitzt in einer Art Isolation und
komponiert, zwei impressionistische Klavierstücke in farbenreichen Tönen. Im
Ganzen wird der Aufenthalt in Rom zu einem Desaster. Lili verträgt die Hitze nicht,
sie kommt kaum in Kontakt zu den anderen Stipendiaten, der Direktor des Hauses
hält sie psychisch gestört, zudem gerät die Welt ins Wanken, der erste Weltkrieg
bricht aus. Die Boulangers fahren vorzeitig nach Hause. Was für eine bittere
Enttäuschung dieses so heiß und lang ersehnten Zieles. Einzig erfreuliches Resultat
– die Klavierstücke: „D’un jardin clair“. (1’20)
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Musik 8
Lili Boulanger: „D’un jardin clair“
Solveig Funseth, Klavier
M0011274 022, 2‘20
Solveig Funseth mit „D’un jardin clair“ von Lili Boulanger.
Wieder zurück in Paris kümmert sich Lili mit ihrer Schwester um Musikstudenten, die
zum Kriegsdienst eingezogen werden. Zum Komponieren bleibt kaum Zeit. Im
Februar 1916 kehrt Lili Boulanger noch einmal nach Rom in die Villa Medici
zurück, diesmal mit ihrer Schwester Nadia. Sie arbeitet an ihrer Oper nach
Maeterlincks „Prinzessin Maleine“. Der Dichter schickt ihr eine Textausgabe mit
der Widmung:
„Meiner lieben kleinen Mitarbeiterin Lili Boulanger, die, nach dem Willen der
Götter, der Musik und des Schicksals, der Prinzessin Maleine die Seele geben wird,
auf die sie immer gewartet hat.“
Der Arzt gibt Lili noch maximal zwei Jahre. Es wird ein Kampf gegen die Zeit. Ein
Freund schreibt: „Sie arbeitete in fieberhafter Eile. … Wenn die Schwäche es ihr
nicht erlaubte, selbst zu schreiben, war sie fähig die ungeschrieben Musik ins
Leben zu rufen, indem sie sie nahezu ohne Zögern diktierte“.
In dieser Zeit vertont Lili Boulanger ein Gedicht von Madame Galeron de Calone,
einer gehörlosen Dichterin, die Lili in Paris kennengelernt hat und von der sie
zutiefst beeindruckt ist. „Dans l’immense tristesse“ – „In unendlicher Traurigkeit“.
Die Zeilen beschreiben eine subtile Szene auf einem Friedhof. Eine Frau
beobachtet ein Kind, das auf dem Grab seiner Mutter kauert. Die kleine Seele ist
müde des Stöhnens, während es dasitzt und sich an das Verschwinden der
Mutter einnert, scheint es, als singe seine Mutter es in den Schlaf. Dunkle Akkorde
reflektieren den Tod und sie reflektieren auch Lilis Gemütslage.
Musik 9
Lili Boulanger: Dans l'immense tristesse, Lied
Janina Baechle, Mezzosopran / Charles Spencer, Klavier
M0094512 014, 5‘00
Janina Baechle und Charles Spencer mit dem Lied „Dans l'immense tristesse“ von
Lili Boulanger, 1916, anderthalb Jahre vor ihrem Tod komponiert.
Lili gibt nicht auf. Unter größter Anstrengung und unter Schmerzen arbeitet sie an
ihrer Oper, doch sie wird ein Fragment bleiben. Mit Hilfe der Schwester schreibt
sie ihre letzte Komposition „Pie Jésu“ für Stimme, Streichquartett, Harfe und Orgel.
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Am 15. März 1918 stirbt Lili Boulanger an Morbus Crohn (einer chronischentzündlichen Darmerkrankung) fünf Monate vor ihrem 25. Geburtstag. Sie wird
auf dem Friedhof Montmatre beigesetzt. Ihr früher Tod schockiert die
europäische Musikwelt.
Nadia setzt sich unmittelbar nach Lilis Tod für das Schaffen ihrer Schwester ein. Sie
dirigiert ihre Werke und verbreitet die Noten unter namhaften Dirigenten, so zum
Beispiel Walter Damrosch. Der veranstaltet Konzerte mit Lilis Werken in Frankfurt
und New York. In Boston gründet Nadia einen Lili Boulanger Memorial Fund und in
Paris die Gesellschaft „Les Amis de Lili Boulanger“ mit der Intention, ihre Musik
populär zu machen und junge Nachwuchskomponisten zu unterstützen.
1960 hat das Orchestre de Lamoureux unter der Leitung von Igor Markevitch die
späten Werke Boulangers auf Schallplatte eingespielt. Ein Rezensent schreibt
darüber: „Wann endlich werden wir das Vergnügen haben, Lili Boulangers Musik
regelmäßig zu hören? Eine komponierende Frau unseres eigenen Jahrhunderts,
fast gänzlich unbekannt, vor langer Zeit gestorben? … Lasst uns mehr von ihr
hören! Lasst uns wissen, was wir verpasst haben?“
Der Apell verweht im Wind, es scheint ein Kampf gegen Windmühlen zu sein,
noch heute sind viele Werke Lili Boulangers weitgehend unbekannt und wird ihre
Musik viel zu selten gespielt.
Der Dirigent Markevitsch sagt: „Als Freund Frankreichs möchte ich mein Erstaunen
darüber zum Ausdruck bringen, dass Lili Boulanger nicht als die Persönlichkeit
angesehen wird, die sie in Wirklichkeit ist; nämlich die größte Komponistin der
Musikgeschichte!, die im Übrigen alles in sich vereinigt, um die gefühlvollsten
Eindrücke hervorzurufen. Das Œuvre von Lili Boulanger vermag viel besser, als ich
es tun könnte, ihren Stellenwert in der Kulturgeschichte Frankreichs zu
unterstreichen, so Igor Markevitch. (2’30)
Musik 10
Lili Boulanger: Psalm 24 für Tenor, Chor, Blechbläser, Pauken, Harfe und Orgel
Neil MacKenzie, Tenor City of Birmingham Symphony Chorus / BBC Philharmonic
Leitung: Yan Pascal Tortelier
M0023287 001, 3‘20
Dissonant und doch prunkvoll die Vertonung des Psalms 24 von Lili Boulanger.
Neil MacKenzie, Tenor, Yan Pascal Tortelier leitete den City of Birmingham
Symphony Chorus und das BBC Philharmonic.
Morgen in unserem letzten Teil der Komponistinnen-Reihe geht es um Josephine
Lang, Luise Adolpha Le Beau und Amy Beach. (0’30)