A 082/2016 Berücksichtigung familiärer Belange des Arbeitnehmers

ARBEITS-, SOZIAL- UND TARIFRECHT
A 082/2016 vom 18.08.2016
Berücksichtigung familiärer Belange des Arbeitnehmers
bei Ausspruch einer Kündigung
LAG Köln, Urteil vom 27. Februar 2015, Az.: 9 SA 696/14
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann bei der Ausübung des Direktionsrechts und der Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung wegen einer sog. Pflichtenkollision von Bedeutung sein. Mit einem Urteil vom 27.02.2015, Az.: 9 Sa 696/14, hat sich das LAG Köln
mit der Berücksichtigung familiärer Belange des Arbeitnehmers bei
Ausspruch einer Kündigung befasst. Das LAG Köln hat dabei die Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen einer derartigen Pflichtenkollision
für unwirksam erklärt. Das LAG Köln hatte in seiner Entscheidung folgende Frage zu beantworten:
Wie weit muss der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Direktionsrechts betreffend die Arbeitszeit familiäre Belange des Arbeitnehmers
berücksichtigen?
Sind familiäre Belange ggf. auch im Rahmen der Interessenabwägung
für die Frage der sozialen Rechtfertigung einer verhaltensbedingten
Kündigung wegen Unpünktlichkeit zu berücksichtigen?
Die Klägerin war zuletzt zwischen 08:00 Uhr und 12:00 Uhr bei der Beklagten tätig. Die Beklagte setzte die Klägerin infolge Kündigung einer
anderen Arbeitnehmerin sodann für die Frühannahme für Fahrzeuge
zwischen 07:00 Uhr und 11:00 Uhr ein. Die Klägerin teilte mit, dass sie
die Arbeit aufgrund der Betreuung ihrer Kinder frühestens um 07:45 Uhr
antreten können.
Nach mehrmaliger Unpünktlichkeit (Arbeitsbeginn: 07:24 Uhr, 07:30
Uhr, 07:20 Uhr etc.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis nach
Anhörung des Betriebsrates, der keine Stellungnahme abgab, ordentlich.
Die Klägerin macht im Rahmen ihrer Kündigungsschutzklage geltend,
der Arbeitsbeginn um 07:00 Uhr sei ihr in mehrfacher Hinsicht unmöglich (keine verfügbare Tagesmutter für die zwei Kinder, keine Hilfe
durch ihren Vater oder Ehemann etc.).
Die Kündigung ist ungerechtfertigt.
Es kann offen bleiben, ob die Klägerin Vertragspflichten verletzt hat.
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Die erhebliche Änderung der Umstände, unter denen die Klägerin ihre
Tätigkeit in der Frühannahme ausüben sollte, könnte eine mitbestimmungspflichtige Versetzung mit der Folge sein, dass die Klägerin infolge fehlender Beteiligung des Betriebsrats nicht zur Arbeitsaufnahme
um 07:00 Uhr verpflichtet war.
Offen bleiben könne, ob die Beklagte die Anordnung der Arbeitszeit ab
07:00 Uhr billiges Ermessen im Sinne des § 106 GewO ausreichend
berücksichtigt hatte.
Es sei anerkannt, dass sich ein Arbeitnehmer gegenüber der bestehenden Arbeitspflicht auf eine Pflichtenkollision wegen der Personensorge
für sein Kind und damit auf ein Leistungsverweigerungsrecht oder eine
Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung berufen kann,
wenn unabhängig von der in jedem Fall notwendigen Abwägung der zu
berücksichtigenden schutzwürdigen Interessen beider Parteien eine
unverschuldete Zwangslage vorliegt (BAG vom 21.05.1992, Az.: 2 AZR
10/92).
Vorliegend könne nicht von einer schuldhaften und beharrlichen Pflichtverletzung der Klägerin ausgegangen werden. Die Klägerin habe ausreichend dargetan, dass eine Betreuung der Kinder - im Alter von 4 und
6 Jahren - weder durch ihren Vater noch durch den Ehemann möglich
war. In Bezug auf den Großvater bedurfte es keiner weiteren Ausführungen, da dieser ohnehin nicht zur Kindesbetreuung verpflichtet sei.
Der Klägerin sei es nicht möglich gewesen, ihre beiden Kindern vor
07:00 Uhr in den Kindergarten und die Schule zu bringen.
Die bei jeder verhaltensbedingten Kündigung anzustellende Interessenabwägung habe jedenfalls zugunsten der Klägerin ausgehen müssen (Betriebszugehörigkeit, ungestörter Verlauf des Arbeitsverhältnisses etc.).
Praxishinweis:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewinnt zunehmend mehr an
Bedeutung. Dies schlägt sich zum einen in einer Reihe neuer bzw. novellierter Gesetze nieder (Teilzeitanspruch gem. § 8 TzBfG, PflegezeitFamilienpflegezeitgesetz). Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
kann aber auch bei Ausübung des Direktionsrechts und der Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung wegen sog. Pflichtenkollision von Bedeutung sein.
Vor jeder Ausübung des Direktionsrechts, welche nach „billigem Ermessen“ (§ 106 GewO) zu erfolgen hat, sowie jeder Interessenabwägung, z.B. bei einer verhaltensbedingten Kündigung, sind auch familiäre Belange, die beim Arbeitnehmer zu einer Pflichtenkollision führen
können, zwingend seitens des Arbeitgebers zu berücksichtigen.