taz.die tageszeitung

Olympia-Begeisterung: #BlackGirlMagic
Der Jubel über Erfolge von Schwarzen US-Amerikanerinnen wie Simone Biles ▶ Rio.taz Seite 18
AUSGABE BERLIN | NR. 11099 | 33. WOCHE | 38. JAHRGANG
DONNERSTAG, 18. AUGUST 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
SAMMLUNG Das Buch
des ­Kulturjournalisten
Jens Balzer über
„Pop“ – ein neues
­Standardwerk? ▶ SEITE 14
SPANNUNG Neue
Belastungen für das
deutsch-türkische
­Verhältnis ▶ SEITE 2, 10, 11
Antifa ist Handarbeit
HOFFNUNG Rot-Grün
SPD Klares Zeichen gegen rechts: Vizekanzler Sigmar Gabriel zeigt Nazis den
oder R2G? Michael
Müller wünscht sich
was vor der Berlin-Wahl
▶ SEITE 3, 10, 21, 22
Stinkefinger, bekommt dafür Kritik von der AfD, aber auch viel Beifall ▶ SEITE 6
Fotos oben: Sven Marquardt, ap
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Kleiner verboten-Wunschzettel:
Wem Sigmar Gabriel noch alles
den Stinkefinger zeigen sollte:
– Merkel
– Erdogan
– Böhmermann
– Ceta
– TTIP
– VW
– Diesel
– seinem Nagelstudio
– Kaiser’s
– Tengelmann
und natürlich:
Edeka
Siggi wird Pop: Die Reaktion des SPD-Chefs auf „Volksverräter“-Rufe von schwarz-rot-gold vermummten „Jungen Nationaldemokraten“ in Salzgitter Screenshot: Antifa/facebook
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KOMMENTAR VON DANIEL BAX ZU SIGMAR GABRIELS LETZTEM REST PROLETARISCHEN BEWUSSTSEINS
S
In guter sozialdemokratischer Tradition
igmar Gabriel, seines Zeichens SPDChef und Vizekanzler, hat einem
Häuflein Neonazis, die ihn im niedersächsischen Salzgitter als „Volksverräter“ beschimpften – und dabei sogar persönlich wurden, indem sie Gabriels NaziVater ins Spiel brachten –, beherzt den
Mittelfinger entgegengereckt. Mal abgesehen davon, dass sich die rechtsradikalen Pöbler diese spontane Antwort ehrlich verdient haben, führt Gabriel damit
fast schon eine alte sozialdemokratische
Tradition fort. Denn niemand zeigt seinen Gegnern so häufig den Stinkefinger
wie SPD-Spitzengenossen.
Bisher machten aber eher solche So­
zialdemokraten, die zum wirtschaftsliberalen Flügel der Partei zählten, durch
einen erigierten Mittelfinger auf sich
aufmerksam.
Exwirtschaftsminister
Wolfgang Clement beleidigte so einst
eine Gruppe Jugendlicher, die ihm auf
der Hannover-Messe irgendwie ungelegen kam. Und Peer Steinbrück posierte
vor drei Jahren mit ausgestrecktem Mittelfinger sogar als Kanzlerkandidat für
das SZ-Magazin. Das Problem dabei war:
Ein Teil der potenziellen Wähler, die diese
Genossen mit ihrer Politik vor den Kopf
stießen, konnte sich mit der herausfordernden Geste durchaus gemeint fühlen.
Woher rührt der Hang der Genossen
zur obszönen Geste? Der Stinkefinger
zeugt vom letzten Rest proletarischen Bewusstseins, das sich selbst in den höheren Rängen der einstigen Arbeiterpartei
noch gehalten zu haben scheint. Wenigstens habituell setzt man sich damit von
der CDU ab, der man sich inhaltlich zwar
weitgehend angenähert hat, die sich zumindest in ihren Umgangsformen aber
noch immer als eine „bürgerliche“ Partei versteht, ihrer rustikalen Schwesterpartei in Bayern zum Trotz.
Nun also Sigmar Gabriel. Doch bei ihm
liegen die Dinge anders. Schon mit seiner „Pack“-Äußerung hat er gezeigt, dass
Woher rührt der Hang zur
obszönen Geste, gerade
von Spitzengenossen?
er nicht vor drastischen Mitteln zurückschreckt – und seien sie nur sprachlicher
Art – ,wenn es gegen rechtsradikale Gesinnungen geht. Das ist eine Frage der Überzeugung. Und da er, anders als Clement
und Steinbrück, tatsächlich aus sehr einfachen Verhältnissen stammt, wirkt die
Geste bei ihm sogar authentisch.
Bürgerliche Wähler wird er damit
kaum für sich gewinnen, so sympathisch
sein antifaschistischer Reflex auch sein
mag. Doch auf Schulhöfen und Fußballplätzen, an sozialdemokratischen
Stammtischen und unter Freunden des
Gangsta-Rap – also überall dort, wo man
ein klares Wort zu schätzen weiß – wird
sich Gabriel mit seiner rustikalen Art sicher Respekt verschaffen.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
KRAN KEN KASSEN BEITRÄGE
SPAN I EN
Höherer Arbeitgeberanteil gefordert
Mehr Schulden als
Wirtschaftsleistung
BERLIN | Politiker von SPD und
Das strahlende Lieblingskind des
Schicksals: Robert Redford Foto: dpa
Der ewige
Sonnyboy
S
ich Robert Redford als alten Mann vorzustellen, ist
selbst jetzt, wo er achtzig
wird, außerordentlich schwierig.
Er bleibt jugendlich, das strahlende Lieblingskind des Schicksals, als das er ins Gedächtnis
besonders jener eingegangen
ist, die das Hollywoodkino der
späten Sechziger und der Siebziger lieben. Das war seine ganz
große Zeit. Nach dem Erfolg von
„Zwei Banditen“ und „Der Clou“
gehörte er zu den bestbezahlten Stars der Welt, und in „Die
Unbestechlichen“ verschmolzen der größte Polit­skan­dal der
70er Jahre mitsamt seiner Aufklärung durch die Reporter der
Washington Post und das Gesicht
des Stars zu einer Legende, von
der der angeschlagene PrintJournalismus bis heute zehrt.
Wie wenig strahlend Redfords Anfänge waren, ist vergessen. Beinahe wäre er Baseballspieler geworden, geriet durch
den Tod seiner Mutter aus der
Bahn, ging zum Kunststudium
nach Europa, schlug sich als
Straßenmaler durch. Er kehrte
zurück, entdeckte die Schauspielerei, spielte kleinere und
größere Rollen, am Broadway,
im Fernsehen, in teils großartigen Filmen wie Arthur Penns
„Ein Mann wird gejagt“, bevor ihm 1967 mit der Komödie
„Barfuß im Park“ der Durchbruch gelang. Erstaunlicher
noch als die Karriere als Darsteller ist, wie er seit den Achtzigern seine Schwerpunkte verlagerte. Als Schauspieler machte
er sich rar, versuchte sich als Regisseur und gewann gleich für
den ersten Film, „Eine ganz normale Familie“, den Regie-Oscar.
Und dann ist da Sundance,
das von ihm gegründete Festival
in Utah, auf dem sich jährlich
das Independent-Kino versammelt. Eine mehr als erfolgreiche
Marke, der man höchstens vorwerfen kann, was Redford gelegentlich nicht ganz zu Unrecht
vorgeworfen wird: Der Mut zur
ästhetischen Radikalität hat immer gefehlt, nur selten hat Redford entschieden, mal eine Rolle
gegen sein Sonnyboy-Image zu
spielen. Andererseits haut er einen mit einem Solo in J. C. Chandors tollem Der-alte-Mann-unddas-Meer-Film „All is Lost“ von
2013 doch wieder um. Er nimmt
darin ein letztes Mal den Kampf
gegen elementare Gewalten
auf. Den kann auch ein Redford
nicht gewinnen – ebenso wenig
wie den Kampf gegen das Alter.
Aber verdammt nah dran ist er
EKKEHARD KNÖRER
doch.
Der Tag
DON N ERSTAG, 18. AUGUST 2016
Grünen dringen darauf, die Arbeitgeber wieder stärker an der
Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung zu beteiligen. „Die SPD will, dass die Krankenkassenbeiträge wieder zur
Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmer getragen werden“,
sagte Parteichef Sigmar Ga­briel
der. Die Parität müsse auch bei
den Zusatzbeiträgen gelten. „Ich
verstehe nicht, dass sich die
Union dem bislang verweigert“,
kritisierte er angesichts von
Prognosen, wonach die allein
von den Arbeitnehmern getragenen Zusatzbeiträge deutlich
steigen werden. Auch die NRWGesundheitsministerin Barbara
Steffens (Grüne) und Verdi forderten eine Rückkehr zur Parität. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums sagte
hingegen zu den Vorstößen, es
gebe dazu keine Pläne.
Die Krankenkassenbeiträge
wurden von 1951 bis 2005 paritätisch von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern gezahlt. Derzeit zahlen beide zwar den Beitragssatz von 14,6 Prozent je zur
Hälfte. Mehrkosten werden jedoch mit Zusatzbeiträgen ausschließlich von den Arbeitnehmern finanziert. (epd)
MADRID | Der Schuldenberg
Spaniens ist auf ein Rekordniveau angewachsen. Mit einer
Summe von 1,1 Billionen Euro
ist er mittlerweile höher als die
Wirtschaftsleistung, wie die Regierung in Madrid gestern mitteilte. Die sogenannte Schuldenstandsquote lag im Juni exakt
bei 100,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Madrid
peilt einen Rückgang auf 99,1
Prozent zum Jahresende an. Spanien ist wegen einer zu großen
Haushaltslücke ins Visier der
EU-Kommission geraten, die auf
eine Konsolidierung dringt. (rtr)
GROS­SES KI NO
ANTI-TERROR-AKTION
Große Ki­no­strei­fen, klei­ne Per­len,
Flops und Os­car­kan­di­da­ten sowie
In­ter­views mit Re­gis­seu­ren und
Schau­spie­lern:
Alles nach­zu­le­sen auf taz.de/film
Re­zen­sio­nen
Film­tipps
In­ter­views
www.taz.de
Verdächtige in Sankt
Petersburg getötet
MOSKAU | Eine Spezialeinheit
der russischen Polizei hat nach
offiziellen Angaben gestern in
Sankt Petersburg vier Extremisten bei einer Anti-TerrorAktion getötet. Nach den Männern aus dem Nordkaukasus sei
gefahndet worden, teilte die Nationale Ermittlungsbehörde auf
ihrer Webseite mit. Die Getöteten sollen Mitglieder einer militanten Gruppe der Region gewesen sein. Die Polizisten stürmten
den Angaben zufolge eine Wohnung, in der sich die Männer
versteckt hatten. Es habe keine
weiteren Toten gegeben. (rtr)
Bundesregierung verplappert sich
TÜRKEI In einem offiziellen Dokument nennt das Innenministerium die Türkei eine „Aktionsplattform für
islamistische Gruppierungen“. Diese Einschätzung war allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt
AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE
Das Büroversehen kostet Steffen Seibert am Mittwoch
1 Stunde, 2 Minuten und 36 Sekunden. Der Regierungssprecher sitzt am Nachmittag mit
seinen Kollegen aus den Ministerien in der Bundespressekonferenz und muss erklären, was
es mit der Türkei-Sache auf sich
hat. Eigentlich kein komplizierter Fall, die Angelegenheit wäre
in zwei Minuten erzählt, aber
Seibert spielt heute mit verschärften Regeln: Was er zu sagen hat, muss er sagen, ohne es
zu sagen.
Ist die Türkei im Syrien-Krieg
noch Teil der Lösung oder schon
Teil des Problems? „Die Frage bezieht sich auf Teile der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage, die vertraulich
eingestuft ist. Insofern kann ich
nicht Stellung nehmen.“
Steht die Regierung noch zu
dieser Antwort ans Parlament?
„Ich bin nicht in der Lage, mich
über die Vertraulichkeit hinwegzusetzen.“
Stimmt die Bundeskanzlerin
der Antwort zu? „Ich kann es nur
wiederholen: Ich habe keine Beurteilung vorzunehmen.“
Am Ende, nach über einer
Stunde und etlichen Ausflüchten, stehen unterm Strich zwei
Erkenntnisse. Erstens: Ihre Aussage, die Türkei sei ein Hotspot
für Islamisten, hat die Regierung nicht ganz so gemeint.
Zweitens: Konsequenzen für
Ankara zieht sie nicht in Erwägung – der Flüchtlingsdeal mit
der Türkei bleibt bestehen.
Auslöser der Debatte war die
Antwort des Innenministeriums auf eine Bundestags-Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen, in der es
unter anderem um Verbindungen der türkischen Regierung zu
Islamisten geht. Die Türkei habe
sich ab 2011 „zur zentralen Aktionsplattform für islamistische
Gruppierungen der Region des
Nahen und Mittleren Ostens
entwickelt“, schreibt das Ministerium. Und: Präsident Erdoğan
und seine Partei hätten „zahlreichen Solidaritätsbekundungen
und Unterstützungshandlungen“ für die ägyptischen Muslimbrüder und die israelische
Hamas durchgeführt.
Nun ist für diese Informationen nicht die Expertise der Bundesregierung nötig. Wer regelmäßig Zeitung liest, hat all das
schon gehört. Neu ist, dass die
Regierung die Vorwürfe übernimmt, noch dazu in einem
offiziellen Dokument. Mit der
Türkei, wichtiger Partner in der
Fluchtkrise und im Syrienkrieg,
geht sie für gewöhnlich diplomatischer um.
jemand über den Vermerk hinweggegangen, die Antwort landete am Dienstag bei der ARD.
Dass so etwas mit brisanten
Informationen geschieht, ist
nicht ungewöhnlich. Eigentlich verzichtet die Regierung
deshalb auch in eingestuften
Antworten auf heikle Aussagen.
Dass nun eine relativ offene
Einschätzung durchrutschte,
schiebt das Innenministerium
auf ein „Büroversehen“.
Das Ministerium hatte in
der Angelegenheit die Federführung, das Auswärtige Amt
und andere Ressorts arbeiteten
zu. Die nun diskutierten Passagen kamen offenbar vom Bundesnachrichtendienst und gelangten über das Kanzleramt
ans Innenministerium. Die übrigen Häuser hätten di­e fertige
Für gewöhnlich
geht Berlin mit
dem Partner Türkei
diplomatischer um
Nach dem Putschversuch in Istanbul: Anhänger von Präsident Erdoğan zeigen das R4bia-Symbol.
Die vier erhobenen Finger sind ein Zeichen der ägyptischen Muslimbrüder Foto: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif
Stellldichein mit Islamisten
FREUNDE
Eigentlich hatte sie auch nicht
vor, daran etwas zu ändern. Das
Ministerium hatte die entsprechenden Passagen in der Regierungsantwort als „Verschlusssache – Vertraulich“ eingestuft.
Soll heißen: Regierungsmitarbeiter, Abgeordnete und geprüfte Angestellte dürfen das
Dokument zwar lesen, aber
nicht an die Öffentlichkeit geben. In diesem Fall ist irgend-
Antwort im Normalfall noch
einmal kontrolliert und wohl
diplomatisch entschärft. Ein
Sachbearbeiter überging den
Schritt aber und reichte das Dokument in der internen Hierarchie gleich hoch zu Staatssekretär Ole Schröder (CDU), der es
arglos unterzeichnete.
Und so stecken Seibert und
Co am Mittwoch im Dilemma:
Die Türkei fordert eine Richtigstellung, die Opposition misst
die Regierung aber an ihrer eigenen Aussage. Den Kompromiss formuliert auf dem Podium schließlich die Sprecherin
des Auswärtigen Amtes: Die von
den Medien berichteten Aussagen mache man sich „in dieser
Pauschalität“ nicht zu eigen.
Meinung + Diskussion
SEITE 10
THEMA
DES
TAGES
Dass Ankara Beziehungen zu Organisationen wie Hamas und den ägyptischen Muslimbrüdern unterhält, ist bekannt
BERLIN taz | Die Türkei hat deut-
sche Kritik zurückgewiesen, das
Land habe sich schrittweise „zur
zentralen Arbeitsplattform für
islamistische Gruppierungen“
entwickelt. Das Außenministerium in Ankara erklärte wörtlich: „Die Vorwürfe sind eine
neue Manifestation der verdrehten Mentalität, mit der seit
einiger Zeit versucht wird, unser Land zu zermürben, indem
sie auf unseren Präsidenten und
unsere Regierung zielt.“
In der Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion werden
etwa Ägyptens Muslimbrüder
und die palästinensische Hamas als „islamistische Gruppierungen“ genannt. Die EU und
die USA stufen die Hamas, die
den Gazastreifen kontrolliert,
als Terrororganisation ein.
Hamas-Chef Chaled Meschal
lebt seit 2012 in Katar. In der
Türkei unterhält Hamas Büros.
Nach Angaben aus israelischen
Regierungskreisen sind die Ak-
tivitäten der Hamas dort seit
Ende Juli jedoch eingeschränkt.
Demnach darf Hamas keine Geschäfte mehr tätigen oder Spenden sammeln. Am 27. Juli hatten
die Türkei und Israel ein Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen geschlossen; wegen
der Affäre um das türkische
Hilfsschiff für den Gaza­streifen,
„Mavi Marmara“, hatte jahrelang
Eiszeit geherrscht.
Aus ihrer Unterstützung für
die ägyptischen Muslimbrü-
der hat die türkische Regierung
nie ein Hehl gemacht. Als Präsident Mohammed Mursi am
3. Juli 2013 vor dem Hintergrund
einer breiten Protestbewegung
vom Militär gestürzt und ein
Protestcamp der Muslimbrüder
in Kairo am 14. August gewaltsam aufgelöst wurde, sprach
die Regierung in Ankara von einem Militärputsch. Nachdem
Kairo den türkischen Botschafter zu einer unerwünschten Person erklärt hatte, brach die tür-
kische Regierung die Beziehungen zu Ägypten ab.
Doch nun deutet sich auch im
Verhältnis zwischen Ankara und
Kairo Tauwetter an. Das dürfte
allerdings zunächst wirtschaftlicher Natur sein. Die türkische
Regierung erkennt bislang die
Legitimität von Präsident Abdel Fattah al-Sisi nicht an, kritisiert die Massenurteile gegen
Muslimbrüder und fordert die
Aufhebung des Todesurteils gegen Mursi. BEATE SEEL
Schwerpunkt
Berlin-Wahlkampf
DON N ERSTAG, 18. AUGUST 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Einen Monat vor der Wahl in der Hauptstadt bekennt die SPD Farbe:
Sie will mit den Grünen regieren. Ein Signal – auch für den Bund?
Berliner SPD wählt die Grünen
WAHLEN Berlins Regierungschef Michael Müller schließt eine Fortsetzung der Koalition mit der CDU aus, weil
sie am rechten Rand fische. Nun setzt er auf Rot-Grün. Der Hauptstadt steht ein Richtungswahlkampf bevor
AUS BERLIN UWE RADA
Einen Monat vor der Wahl zum
Abgeordnetenhaus am 18. September ist der Berliner Wahlkampf spannend geworden.
Und das liegt ganz am Amtsinhaber, dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD).
Der ehemalige Weggefährte
von Klaus Wowereit, dem lange
niemand zugetraut hat, eigene
Akzente zu setzen, hat am Mittwoch überraschend Farbe bekannt. „Nur eine Koalition jenseits der Henkel-CDU kann
ein besseres Berlin gestalten“,
schrieb Müller in einem Gastbeitrag im Berliner Tagesspiegel. Auch seine Wunschkoalition
verriet der 51-Jährige: „Dabei hat
eine rot-grüne Zweierkoalition
das Potenzial, den Herausforderungen des wachsenden Berlin
am besten gerecht zu werden.“
Es kommt nicht mehr oft vor,
dass ein Ministerpräsident vor
einer Landtagswahl eine konkrete Wahlaussage trifft. Eher
ist es üblich, sich alle Optionen
offenzuhalten und nichts auszuschließen.
„Da hat Michael
Müller ja langsam
alle Farbkombinationen‎ durch“
FRANK HENKEL, CDU-SPITZENKANDIDAT
UND NOCH INNENSENATOR
Dass die Berliner SPD nun das
Bündnis mit der „Henkel-CDU“
aufkündigt, hat sich der CDUSpitzenkandidat Frank Henkel
allerdings selbst zuzuschreiben. Wie schon der mecklenburg-vorpommersche Innenminister Lorenz Caffier hatte
der Berliner Innensenator und
CDU-Landesvorsitzende zuletzt
die Abschaffung der doppelten
Staatsbürgerschaft und ein Burkaverbot verlangt. Die Berliner
CDU, so Müller daraufhin, „geht
am rechten Rand auf Stimmenfang“. Berlin solle aber eine „offene und tolerante Metropole“
bleiben.
Dass die Berliner SPD seit 2011
mit ebenjener CDU von Frank
Henkel koaliert, geht nicht auf
Müllers Kappe. Weil es bei den
Wahlen vor fünf Jahren nur eine
hauchdünne Mehrheit für RotGrün gegeben hätte, war der
damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD)
auf Nummer sicher gegangen.
Mit der CDU verfügte er über
eine komfortable Mehrheit von
elf Sitzen. Die rot-rote Koalition,
mit der Wowereit zuvor zehn
Jahre regiert hatte, hatte keine
Mehrheit mehr bekommen.
Der gelernte Drucker Müller war Wowereit im Dezember
2014 als Regierungschef gefolgt
und fremdelte schon länger mit
Henkel. Als sich herausstellte,
dass das für die Aufnahme von
Flüchtlingen zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) hoffnungslos überfordert war, stand die Große
Koalition bereits im Winter vor
dem Aus.
Erst die Entlassung des Lageso-Chefs hatte den unglücklich agierenden CDU-Sozial­
se­
na­
tor Mario Czaja davor
bewahrt, selbst von Müller entlassen zu werden. Der Bruch
mit der CDU, den Müller jetzt
mit Wirkung zum 18. September vollzogen hat, kommt also
nicht von ungefähr.
Berlin steht nun ein heißer
Lagerwahlkampf bevor. SPDRegierungschef Müller selbst
nennt es „Richtungsstreit“. Allerdings sind die CDU und ihr
Spitzenkandidat am Mittwoch
zunächst auf Tauchstation gegangen. „Da hat Michael Müller ja langsam alle Farbkombinationen durch“, ließt Henkel lediglich wissen.
Linken-Landeschef Klaus Lederer meinte, eine rot-grüne
Zweierkonstellation sei unrealistisch. „Am Ende läuft aber
alles darauf hinaus, dass künftig Dreierkonstellationen wahrscheinlicher werden.“ Die Linke
strebt nach der Wahl am 18. September eine Regierungsbeteiligung in einer rot-rot-grünen
Koa­lition an.
Tatsächlich ist Müllers Koalitionaussage eher Wunsch als
rea­lis­tisches Szenario. Eine am
Mittwoch veröffentlichte Infratest-Umfrage sieht die Sozialdemokraten in Berlin bei 21 Prozent, die CDU bei 20, die Grünen bei 17 und die Linke bei 16
Prozent. Die AfD käme demnach
auf 15 Prozent, und die FDP säße
mit 5 Prozent knapp im Abgeordnetenhaus. Damit hätten weder Rot-Grün noch Rot-Schwarz
eine Mehrheit.
Michael Müller selbst hat immer wieder deutlich gemacht,
03
dass er ein Zweierbündnis bevorzugt. Sollte es aber nicht reiche, stehen die Weichen in Berlin auf eine Dreierkoalition mit
Grünen und Linken.
Ein solches rot-rot-grünes
Bündnis, so Müller am Wochenende in der Bild am Sonntag, habe auch eine Signalwirkung für andere Länder. Die Bot-
schaft war deutlich: Nicht jeder
Einzug der rechtspopulistischen
AfD in ein Landesparlament bedeutet automatisch die Bildung
einer – für die Sozialdemokraten ungeliebten – Großen Koalition.
Als Signal für den Bund will
die Müller-SPD ein mögliches
rot-rot-grünes Bündnis nicht
verstanden wissen. Und auch
die Trennung von der Berliner CDU hat kaum Auswirkungen für die Große Koalition mit
der Bundes-CDU. Denn anders
als Frank Henkel gehen Angela
Merkel und Innenminister Thomas de Mai­zière gerade nicht
auf Schmusekurs mit der AfD.
Meinung + Diskussion SEITE 10
Michael Müller versucht eine neue Tür zu öffnen Foto: Martin Lengemann/laif
Nur begrenzt
übertragbar
Alle gegen die
Union? SPD und Grüne
im Bund sind skeptisch
R2G
BERLIN taz | Kann Michael Mül-
lers Strategie in Berlin eine Folie
für den Bund sein? Angela Merkels freundliche Nüchternheit
wird bei Sozialdemokraten und
Grünen geschätzt. Aber die CSU,
die böse Stiefschwester, wäre ja
auch mit im Bunde. Also: Wäre
das nicht was, ein klarer Lagerwahlkampf gegen die Union –
und zur Not Rot-Rot-Grün im
Bund?
Selbst diejenigen in der SPD,
die die Option mit der Linkspartei bewerben, bleiben vorsichtig. Koalitionen mit der
Linken seien in den neuen Ländern nichts Besonderes mehr,
sagt SPD-Bundesvize Ralf Stegner. „Im Bund ist das nur dann
eine realistische Option, wenn
inhaltliche Schnittmengen ausreichen, personelle Konstellationen verträglich sind und die Zusammenarbeit stabil und verlässlich ist.“ Das sei „noch nicht
besonders wahrscheinlich, aber
nicht mehr unmöglich“.
Auch Grünen-Chefin Simone
Peter, eine Befürworterin von
Rot-Rot-Grün, sieht den Berlin-Wahlkampf nicht als Vorbild für den Bund. „Ob es zu einem Lagerwahlkampf kommt,
entscheidet in erster Linie die
Union, die mit verstaubten Sicherheitskonzepten, zaudernder Integrationspolitik oder
Steuersenkungsfantasien linken Politikansätzen entgegensteht.“ Die Grünen präferierten
im Bund Rot-Grün. Da es dafür
keine Mehrheiten mehr gebe,
„ziehen wir Rot-Rot-Grün ernsthaft in Betracht“. Aber: Viele
Spitzengrüne halten SchwarzGrün für viel realistischer.
Die Konstellation im Bund
ist eine ganz andere als die in
Berlin. Während die Hauptstadt-Linkspartei Regierungserfahrung hat, also realpolitisch
tickt, ist sie im Bund gespalten.
Gerade Linke aus Westdeutschland empfinden das Regieren
als Verrat an Grundwerten. Zudem geht es um ganz andere Inhalte. Weniger um Mieten oder
Verkehrs, sondern um Außenpolitik. Die Linkspartei lehnt Einsätze der Bundeswehr strikt ab
– diese sind aber längst üblich.
Auch die Personen können
schlecht miteinander. Zwischen
Sigmar Gabriel (SPD), Cem Özdemir (Grüne) und Sahra Wagenknecht (Linke) liegen Welten.
ULRICH SCHULTE
Grüne zweifeln an den Liebesgrüßen der SPD
Mit der CDU
wollen auch die Grünen
nicht kooperieren.
Würden sie mit der SPD
den Senat stellen, wäre
es wäre ihre dritte
Regierungsbeteiligung
in Berlin. Die ersten
beiden dauerten nicht
lang
KOALITIONEN
BERLIN taz | Am Ende ging es
ganz fix. Kaum hatte Berlins
Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) eine Koalition mit der CDU des Spitzenkandidaten Frank Henkel ausgeschlossen, taten es ihm die
Grünen nach: „Wir werden keine
Koalition mit der CDU eingehen“, betonte Ramona Pop vom
grünen Spitzenteam am Mittwoch. „Dieser CDU werden wir
zu keiner Mehrheit verhelfen.“
Das also ist abgehakt, auch
wenn die Grünen ein bisschen
auf Distanz gingen zur Koalitionsofferte der SPD. „Diese Liebe
der SPD zu den Grünen erkaltet
schlagartig nach dem Wahltermin“, unkte Pop und betonte,
dass sich die SPD eine Hintertür offengehalten habe. „Schon
mancher, der SPD gewählt hat,
ist mit der CDU aufgewacht.“
Tatsächlich hatte Müller nur
eine Koalition mit der „HenkelCDU“ ausgeschlossen. Dass die
CDU nach einer Wahlniederlage ihren Spitzenkandidaten
vom Hof jagt, ist aber unwahrscheinlich. Seit Müllers Festlegung können sich die Grünen
also darauf einstellen, demnächst in die Landesregierung
einzuziehen.
Es wäre erst die dritte Koalition mit grüner Beteiligung
in Berlin. Das erste rot-grüne
Bündnis wurde 1989 geschmiedet. Weil die rechten Republika-
ner ins Abgeordnetenhaus eingezogen waren, hatten SPD und
Grüne plötzlich eine Mehrheit –
und konnten herzlich wenig miteinander anfangen. Im Streit um
die Räumung von 13 besetzen
Häuser in der Mainzer Straße
im November 1990 zerbrach
das Bündnis. Einen zweiten Anlauf gab es 2001 nach dem Bankenskandal. Rot-Grün stürzte
mit Hilfe der damaligen PDS
den CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen und regierte –
übergangsweise ein halbes Jahr.
Ironie der Geschichte
Dass die Grünen nun ausgerechnet 2016 in die Landesregierung einziehen könnten, ist
nicht ohne Ironie. Denn vor fünf
Jahren war die Partei mit einer
eigenen Kandidatin für das Amt
der Regierenden Bürgermeisterin angetreten. Die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast mischte den
Berliner Wahlkampf auf, lieferte
sich zunächst ein Kopf-an-KopfRennen mit Klaus Wowereit und
brach am Ende ein. Die Grünen
kamen auf 17,6 Prozent.
Wowereit entschied sich für
die CDU, und die Grünen hätten sich fast zerlegt. Eine Konsequenz daraus war, diesmal ohne
Spitzenkandidaten ins Rennen
zu gehen. Stattdessen vertrat ein
Viererteam die Grünen, vertreten durch die beiden Frak­tions­
chefinnen Ramona Pop und
Antje Kapek und die Landeschefs Daniel Wesener und Bettina Jarasch. Paritätisch auch
die Flügelzugehörigkeit: zwei
Realas, zwei Linke.
Was aber, wenn die Grünen
am 18. September vor der SPD
liegen sollten? Dann, heißt es
aus dem Wahlkampfteam, soll
Ramona Pop werden, was Künast misslungen ist. Schließlich
steht sie auf Nummer eins der
Landesliste. Und Michael Müller
müsste in diesem Fall an seine
Wahlaussage erinnert werden:
Kein Bündnis mit der CDU heißt
im Fall der Fälle auch Juniorpartner der Grünen.
UWE RADA, STEFAN ALBERTI