Olympia-Begeisterung: #BlackGirlMagic Der Jubel über Erfolge von Schwarzen US-Amerikanerinnen wie Simone Biles ▶ Rio.taz Seite 18 AUSGABE BERLIN | NR. 11099 | 33. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 18. AUGUST 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ SAMMLUNG Das Buch des Kulturjournalisten Jens Balzer über „Pop“ – ein neues Standardwerk? ▶ SEITE 14 SPANNUNG Neue Belastungen für das deutsch-türkische Verhältnis ▶ SEITE 2, 10, 11 Antifa ist Handarbeit HOFFNUNG Rot-Grün SPD Klares Zeichen gegen rechts: Vizekanzler Sigmar Gabriel zeigt Nazis den oder R2G? Michael Müller wünscht sich was vor der Berlin-Wahl ▶ SEITE 3, 10, 21, 22 Stinkefinger, bekommt dafür Kritik von der AfD, aber auch viel Beifall ▶ SEITE 6 Fotos oben: Sven Marquardt, ap VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Kleiner verboten-Wunschzettel: Wem Sigmar Gabriel noch alles den Stinkefinger zeigen sollte: – Merkel – Erdogan – Böhmermann – Ceta – TTIP – VW – Diesel – seinem Nagelstudio – Kaiser’s – Tengelmann und natürlich: Edeka Siggi wird Pop: Die Reaktion des SPD-Chefs auf „Volksverräter“-Rufe von schwarz-rot-gold vermummten „Jungen Nationaldemokraten“ in Salzgitter Screenshot: Antifa/facebook TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.157 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Mal abgesehen davon, dass sich die rechtsradikalen Pöbler diese spontane Antwort ehrlich verdient haben, führt Gabriel damit fast schon eine alte sozialdemokratische Tradition fort. Denn niemand zeigt seinen Gegnern so häufig den Stinkefinger wie SPD-Spitzengenossen. Bisher machten aber eher solche So zialdemokraten, die zum wirtschaftsliberalen Flügel der Partei zählten, durch einen erigierten Mittelfinger auf sich aufmerksam. Exwirtschaftsminister Wolfgang Clement beleidigte so einst eine Gruppe Jugendlicher, die ihm auf der Hannover-Messe irgendwie ungelegen kam. Und Peer Steinbrück posierte vor drei Jahren mit ausgestrecktem Mittelfinger sogar als Kanzlerkandidat für das SZ-Magazin. Das Problem dabei war: Ein Teil der potenziellen Wähler, die diese Genossen mit ihrer Politik vor den Kopf stießen, konnte sich mit der herausfordernden Geste durchaus gemeint fühlen. Woher rührt der Hang der Genossen zur obszönen Geste? Der Stinkefinger zeugt vom letzten Rest proletarischen Bewusstseins, das sich selbst in den höheren Rängen der einstigen Arbeiterpartei noch gehalten zu haben scheint. Wenigstens habituell setzt man sich damit von der CDU ab, der man sich inhaltlich zwar weitgehend angenähert hat, die sich zumindest in ihren Umgangsformen aber noch immer als eine „bürgerliche“ Partei versteht, ihrer rustikalen Schwesterpartei in Bayern zum Trotz. Nun also Sigmar Gabriel. Doch bei ihm liegen die Dinge anders. Schon mit seiner „Pack“-Äußerung hat er gezeigt, dass Woher rührt der Hang zur obszönen Geste, gerade von Spitzengenossen? er nicht vor drastischen Mitteln zurückschreckt – und seien sie nur sprachlicher Art – ,wenn es gegen rechtsradikale Gesinnungen geht. Das ist eine Frage der Überzeugung. Und da er, anders als Clement und Steinbrück, tatsächlich aus sehr einfachen Verhältnissen stammt, wirkt die Geste bei ihm sogar authentisch. Bürgerliche Wähler wird er damit kaum für sich gewinnen, so sympathisch sein antifaschistischer Reflex auch sein mag. Doch auf Schulhöfen und Fußballplätzen, an sozialdemokratischen Stammtischen und unter Freunden des Gangsta-Rap – also überall dort, wo man ein klares Wort zu schätzen weiß – wird sich Gabriel mit seiner rustikalen Art sicher Respekt verschaffen. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN KRAN KEN KASSEN BEITRÄGE SPAN I EN Höherer Arbeitgeberanteil gefordert Mehr Schulden als Wirtschaftsleistung BERLIN | Politiker von SPD und Das strahlende Lieblingskind des Schicksals: Robert Redford Foto: dpa Der ewige Sonnyboy S ich Robert Redford als alten Mann vorzustellen, ist selbst jetzt, wo er achtzig wird, außerordentlich schwierig. Er bleibt jugendlich, das strahlende Lieblingskind des Schicksals, als das er ins Gedächtnis besonders jener eingegangen ist, die das Hollywoodkino der späten Sechziger und der Siebziger lieben. Das war seine ganz große Zeit. Nach dem Erfolg von „Zwei Banditen“ und „Der Clou“ gehörte er zu den bestbezahlten Stars der Welt, und in „Die Unbestechlichen“ verschmolzen der größte Politskandal der 70er Jahre mitsamt seiner Aufklärung durch die Reporter der Washington Post und das Gesicht des Stars zu einer Legende, von der der angeschlagene PrintJournalismus bis heute zehrt. Wie wenig strahlend Redfords Anfänge waren, ist vergessen. Beinahe wäre er Baseballspieler geworden, geriet durch den Tod seiner Mutter aus der Bahn, ging zum Kunststudium nach Europa, schlug sich als Straßenmaler durch. Er kehrte zurück, entdeckte die Schauspielerei, spielte kleinere und größere Rollen, am Broadway, im Fernsehen, in teils großartigen Filmen wie Arthur Penns „Ein Mann wird gejagt“, bevor ihm 1967 mit der Komödie „Barfuß im Park“ der Durchbruch gelang. Erstaunlicher noch als die Karriere als Darsteller ist, wie er seit den Achtzigern seine Schwerpunkte verlagerte. Als Schauspieler machte er sich rar, versuchte sich als Regisseur und gewann gleich für den ersten Film, „Eine ganz normale Familie“, den Regie-Oscar. Und dann ist da Sundance, das von ihm gegründete Festival in Utah, auf dem sich jährlich das Independent-Kino versammelt. Eine mehr als erfolgreiche Marke, der man höchstens vorwerfen kann, was Redford gelegentlich nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen wird: Der Mut zur ästhetischen Radikalität hat immer gefehlt, nur selten hat Redford entschieden, mal eine Rolle gegen sein Sonnyboy-Image zu spielen. Andererseits haut er einen mit einem Solo in J. C. Chandors tollem Der-alte-Mann-unddas-Meer-Film „All is Lost“ von 2013 doch wieder um. Er nimmt darin ein letztes Mal den Kampf gegen elementare Gewalten auf. Den kann auch ein Redford nicht gewinnen – ebenso wenig wie den Kampf gegen das Alter. Aber verdammt nah dran ist er EKKEHARD KNÖRER doch. Der Tag DON N ERSTAG, 18. AUGUST 2016 Grünen dringen darauf, die Arbeitgeber wieder stärker an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu beteiligen. „Die SPD will, dass die Krankenkassenbeiträge wieder zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmer getragen werden“, sagte Parteichef Sigmar Gabriel der. Die Parität müsse auch bei den Zusatzbeiträgen gelten. „Ich verstehe nicht, dass sich die Union dem bislang verweigert“, kritisierte er angesichts von Prognosen, wonach die allein von den Arbeitnehmern getragenen Zusatzbeiträge deutlich steigen werden. Auch die NRWGesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) und Verdi forderten eine Rückkehr zur Parität. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums sagte hingegen zu den Vorstößen, es gebe dazu keine Pläne. Die Krankenkassenbeiträge wurden von 1951 bis 2005 paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt. Derzeit zahlen beide zwar den Beitragssatz von 14,6 Prozent je zur Hälfte. Mehrkosten werden jedoch mit Zusatzbeiträgen ausschließlich von den Arbeitnehmern finanziert. (epd) MADRID | Der Schuldenberg Spaniens ist auf ein Rekordniveau angewachsen. Mit einer Summe von 1,1 Billionen Euro ist er mittlerweile höher als die Wirtschaftsleistung, wie die Regierung in Madrid gestern mitteilte. Die sogenannte Schuldenstandsquote lag im Juni exakt bei 100,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Madrid peilt einen Rückgang auf 99,1 Prozent zum Jahresende an. Spanien ist wegen einer zu großen Haushaltslücke ins Visier der EU-Kommission geraten, die auf eine Konsolidierung dringt. (rtr) GROSSES KI NO ANTI-TERROR-AKTION Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Verdächtige in Sankt Petersburg getötet MOSKAU | Eine Spezialeinheit der russischen Polizei hat nach offiziellen Angaben gestern in Sankt Petersburg vier Extremisten bei einer Anti-TerrorAktion getötet. Nach den Männern aus dem Nordkaukasus sei gefahndet worden, teilte die Nationale Ermittlungsbehörde auf ihrer Webseite mit. Die Getöteten sollen Mitglieder einer militanten Gruppe der Region gewesen sein. Die Polizisten stürmten den Angaben zufolge eine Wohnung, in der sich die Männer versteckt hatten. Es habe keine weiteren Toten gegeben. (rtr) Bundesregierung verplappert sich TÜRKEI In einem offiziellen Dokument nennt das Innenministerium die Türkei eine „Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“. Diese Einschätzung war allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE Das Büroversehen kostet Steffen Seibert am Mittwoch 1 Stunde, 2 Minuten und 36 Sekunden. Der Regierungssprecher sitzt am Nachmittag mit seinen Kollegen aus den Ministerien in der Bundespressekonferenz und muss erklären, was es mit der Türkei-Sache auf sich hat. Eigentlich kein komplizierter Fall, die Angelegenheit wäre in zwei Minuten erzählt, aber Seibert spielt heute mit verschärften Regeln: Was er zu sagen hat, muss er sagen, ohne es zu sagen. Ist die Türkei im Syrien-Krieg noch Teil der Lösung oder schon Teil des Problems? „Die Frage bezieht sich auf Teile der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage, die vertraulich eingestuft ist. Insofern kann ich nicht Stellung nehmen.“ Steht die Regierung noch zu dieser Antwort ans Parlament? „Ich bin nicht in der Lage, mich über die Vertraulichkeit hinwegzusetzen.“ Stimmt die Bundeskanzlerin der Antwort zu? „Ich kann es nur wiederholen: Ich habe keine Beurteilung vorzunehmen.“ Am Ende, nach über einer Stunde und etlichen Ausflüchten, stehen unterm Strich zwei Erkenntnisse. Erstens: Ihre Aussage, die Türkei sei ein Hotspot für Islamisten, hat die Regierung nicht ganz so gemeint. Zweitens: Konsequenzen für Ankara zieht sie nicht in Erwägung – der Flüchtlingsdeal mit der Türkei bleibt bestehen. Auslöser der Debatte war die Antwort des Innenministeriums auf eine Bundestags-Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen, in der es unter anderem um Verbindungen der türkischen Regierung zu Islamisten geht. Die Türkei habe sich ab 2011 „zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt“, schreibt das Ministerium. Und: Präsident Erdoğan und seine Partei hätten „zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen“ für die ägyptischen Muslimbrüder und die israelische Hamas durchgeführt. Nun ist für diese Informationen nicht die Expertise der Bundesregierung nötig. Wer regelmäßig Zeitung liest, hat all das schon gehört. Neu ist, dass die Regierung die Vorwürfe übernimmt, noch dazu in einem offiziellen Dokument. Mit der Türkei, wichtiger Partner in der Fluchtkrise und im Syrienkrieg, geht sie für gewöhnlich diplomatischer um. jemand über den Vermerk hinweggegangen, die Antwort landete am Dienstag bei der ARD. Dass so etwas mit brisanten Informationen geschieht, ist nicht ungewöhnlich. Eigentlich verzichtet die Regierung deshalb auch in eingestuften Antworten auf heikle Aussagen. Dass nun eine relativ offene Einschätzung durchrutschte, schiebt das Innenministerium auf ein „Büroversehen“. Das Ministerium hatte in der Angelegenheit die Federführung, das Auswärtige Amt und andere Ressorts arbeiteten zu. Die nun diskutierten Passagen kamen offenbar vom Bundesnachrichtendienst und gelangten über das Kanzleramt ans Innenministerium. Die übrigen Häuser hätten die fertige Für gewöhnlich geht Berlin mit dem Partner Türkei diplomatischer um Nach dem Putschversuch in Istanbul: Anhänger von Präsident Erdoğan zeigen das R4bia-Symbol. Die vier erhobenen Finger sind ein Zeichen der ägyptischen Muslimbrüder Foto: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif Stellldichein mit Islamisten FREUNDE Eigentlich hatte sie auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Das Ministerium hatte die entsprechenden Passagen in der Regierungsantwort als „Verschlusssache – Vertraulich“ eingestuft. Soll heißen: Regierungsmitarbeiter, Abgeordnete und geprüfte Angestellte dürfen das Dokument zwar lesen, aber nicht an die Öffentlichkeit geben. In diesem Fall ist irgend- Antwort im Normalfall noch einmal kontrolliert und wohl diplomatisch entschärft. Ein Sachbearbeiter überging den Schritt aber und reichte das Dokument in der internen Hierarchie gleich hoch zu Staatssekretär Ole Schröder (CDU), der es arglos unterzeichnete. Und so stecken Seibert und Co am Mittwoch im Dilemma: Die Türkei fordert eine Richtigstellung, die Opposition misst die Regierung aber an ihrer eigenen Aussage. Den Kompromiss formuliert auf dem Podium schließlich die Sprecherin des Auswärtigen Amtes: Die von den Medien berichteten Aussagen mache man sich „in dieser Pauschalität“ nicht zu eigen. Meinung + Diskussion SEITE 10 THEMA DES TAGES Dass Ankara Beziehungen zu Organisationen wie Hamas und den ägyptischen Muslimbrüdern unterhält, ist bekannt BERLIN taz | Die Türkei hat deut- sche Kritik zurückgewiesen, das Land habe sich schrittweise „zur zentralen Arbeitsplattform für islamistische Gruppierungen“ entwickelt. Das Außenministerium in Ankara erklärte wörtlich: „Die Vorwürfe sind eine neue Manifestation der verdrehten Mentalität, mit der seit einiger Zeit versucht wird, unser Land zu zermürben, indem sie auf unseren Präsidenten und unsere Regierung zielt.“ In der Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion werden etwa Ägyptens Muslimbrüder und die palästinensische Hamas als „islamistische Gruppierungen“ genannt. Die EU und die USA stufen die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, als Terrororganisation ein. Hamas-Chef Chaled Meschal lebt seit 2012 in Katar. In der Türkei unterhält Hamas Büros. Nach Angaben aus israelischen Regierungskreisen sind die Ak- tivitäten der Hamas dort seit Ende Juli jedoch eingeschränkt. Demnach darf Hamas keine Geschäfte mehr tätigen oder Spenden sammeln. Am 27. Juli hatten die Türkei und Israel ein Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen geschlossen; wegen der Affäre um das türkische Hilfsschiff für den Gazastreifen, „Mavi Marmara“, hatte jahrelang Eiszeit geherrscht. Aus ihrer Unterstützung für die ägyptischen Muslimbrü- der hat die türkische Regierung nie ein Hehl gemacht. Als Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 vor dem Hintergrund einer breiten Protestbewegung vom Militär gestürzt und ein Protestcamp der Muslimbrüder in Kairo am 14. August gewaltsam aufgelöst wurde, sprach die Regierung in Ankara von einem Militärputsch. Nachdem Kairo den türkischen Botschafter zu einer unerwünschten Person erklärt hatte, brach die tür- kische Regierung die Beziehungen zu Ägypten ab. Doch nun deutet sich auch im Verhältnis zwischen Ankara und Kairo Tauwetter an. Das dürfte allerdings zunächst wirtschaftlicher Natur sein. Die türkische Regierung erkennt bislang die Legitimität von Präsident Abdel Fattah al-Sisi nicht an, kritisiert die Massenurteile gegen Muslimbrüder und fordert die Aufhebung des Todesurteils gegen Mursi. BEATE SEEL Schwerpunkt Berlin-Wahlkampf DON N ERSTAG, 18. AUGUST 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Einen Monat vor der Wahl in der Hauptstadt bekennt die SPD Farbe: Sie will mit den Grünen regieren. Ein Signal – auch für den Bund? Berliner SPD wählt die Grünen WAHLEN Berlins Regierungschef Michael Müller schließt eine Fortsetzung der Koalition mit der CDU aus, weil sie am rechten Rand fische. Nun setzt er auf Rot-Grün. Der Hauptstadt steht ein Richtungswahlkampf bevor AUS BERLIN UWE RADA Einen Monat vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus am 18. September ist der Berliner Wahlkampf spannend geworden. Und das liegt ganz am Amtsinhaber, dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD). Der ehemalige Weggefährte von Klaus Wowereit, dem lange niemand zugetraut hat, eigene Akzente zu setzen, hat am Mittwoch überraschend Farbe bekannt. „Nur eine Koalition jenseits der Henkel-CDU kann ein besseres Berlin gestalten“, schrieb Müller in einem Gastbeitrag im Berliner Tagesspiegel. Auch seine Wunschkoalition verriet der 51-Jährige: „Dabei hat eine rot-grüne Zweierkoalition das Potenzial, den Herausforderungen des wachsenden Berlin am besten gerecht zu werden.“ Es kommt nicht mehr oft vor, dass ein Ministerpräsident vor einer Landtagswahl eine konkrete Wahlaussage trifft. Eher ist es üblich, sich alle Optionen offenzuhalten und nichts auszuschließen. „Da hat Michael Müller ja langsam alle Farbkombinationen durch“ FRANK HENKEL, CDU-SPITZENKANDIDAT UND NOCH INNENSENATOR Dass die Berliner SPD nun das Bündnis mit der „Henkel-CDU“ aufkündigt, hat sich der CDUSpitzenkandidat Frank Henkel allerdings selbst zuzuschreiben. Wie schon der mecklenburg-vorpommersche Innenminister Lorenz Caffier hatte der Berliner Innensenator und CDU-Landesvorsitzende zuletzt die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Burkaverbot verlangt. Die Berliner CDU, so Müller daraufhin, „geht am rechten Rand auf Stimmenfang“. Berlin solle aber eine „offene und tolerante Metropole“ bleiben. Dass die Berliner SPD seit 2011 mit ebenjener CDU von Frank Henkel koaliert, geht nicht auf Müllers Kappe. Weil es bei den Wahlen vor fünf Jahren nur eine hauchdünne Mehrheit für RotGrün gegeben hätte, war der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auf Nummer sicher gegangen. Mit der CDU verfügte er über eine komfortable Mehrheit von elf Sitzen. Die rot-rote Koalition, mit der Wowereit zuvor zehn Jahre regiert hatte, hatte keine Mehrheit mehr bekommen. Der gelernte Drucker Müller war Wowereit im Dezember 2014 als Regierungschef gefolgt und fremdelte schon länger mit Henkel. Als sich herausstellte, dass das für die Aufnahme von Flüchtlingen zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) hoffnungslos überfordert war, stand die Große Koalition bereits im Winter vor dem Aus. Erst die Entlassung des Lageso-Chefs hatte den unglücklich agierenden CDU-Sozial se na tor Mario Czaja davor bewahrt, selbst von Müller entlassen zu werden. Der Bruch mit der CDU, den Müller jetzt mit Wirkung zum 18. September vollzogen hat, kommt also nicht von ungefähr. Berlin steht nun ein heißer Lagerwahlkampf bevor. SPDRegierungschef Müller selbst nennt es „Richtungsstreit“. Allerdings sind die CDU und ihr Spitzenkandidat am Mittwoch zunächst auf Tauchstation gegangen. „Da hat Michael Müller ja langsam alle Farbkombinationen durch“, ließt Henkel lediglich wissen. Linken-Landeschef Klaus Lederer meinte, eine rot-grüne Zweierkonstellation sei unrealistisch. „Am Ende läuft aber alles darauf hinaus, dass künftig Dreierkonstellationen wahrscheinlicher werden.“ Die Linke strebt nach der Wahl am 18. September eine Regierungsbeteiligung in einer rot-rot-grünen Koalition an. Tatsächlich ist Müllers Koalitionaussage eher Wunsch als realistisches Szenario. Eine am Mittwoch veröffentlichte Infratest-Umfrage sieht die Sozialdemokraten in Berlin bei 21 Prozent, die CDU bei 20, die Grünen bei 17 und die Linke bei 16 Prozent. Die AfD käme demnach auf 15 Prozent, und die FDP säße mit 5 Prozent knapp im Abgeordnetenhaus. Damit hätten weder Rot-Grün noch Rot-Schwarz eine Mehrheit. Michael Müller selbst hat immer wieder deutlich gemacht, 03 dass er ein Zweierbündnis bevorzugt. Sollte es aber nicht reiche, stehen die Weichen in Berlin auf eine Dreierkoalition mit Grünen und Linken. Ein solches rot-rot-grünes Bündnis, so Müller am Wochenende in der Bild am Sonntag, habe auch eine Signalwirkung für andere Länder. Die Bot- schaft war deutlich: Nicht jeder Einzug der rechtspopulistischen AfD in ein Landesparlament bedeutet automatisch die Bildung einer – für die Sozialdemokraten ungeliebten – Großen Koalition. Als Signal für den Bund will die Müller-SPD ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis nicht verstanden wissen. Und auch die Trennung von der Berliner CDU hat kaum Auswirkungen für die Große Koalition mit der Bundes-CDU. Denn anders als Frank Henkel gehen Angela Merkel und Innenminister Thomas de Maizière gerade nicht auf Schmusekurs mit der AfD. Meinung + Diskussion SEITE 10 Michael Müller versucht eine neue Tür zu öffnen Foto: Martin Lengemann/laif Nur begrenzt übertragbar Alle gegen die Union? SPD und Grüne im Bund sind skeptisch R2G BERLIN taz | Kann Michael Mül- lers Strategie in Berlin eine Folie für den Bund sein? Angela Merkels freundliche Nüchternheit wird bei Sozialdemokraten und Grünen geschätzt. Aber die CSU, die böse Stiefschwester, wäre ja auch mit im Bunde. Also: Wäre das nicht was, ein klarer Lagerwahlkampf gegen die Union – und zur Not Rot-Rot-Grün im Bund? Selbst diejenigen in der SPD, die die Option mit der Linkspartei bewerben, bleiben vorsichtig. Koalitionen mit der Linken seien in den neuen Ländern nichts Besonderes mehr, sagt SPD-Bundesvize Ralf Stegner. „Im Bund ist das nur dann eine realistische Option, wenn inhaltliche Schnittmengen ausreichen, personelle Konstellationen verträglich sind und die Zusammenarbeit stabil und verlässlich ist.“ Das sei „noch nicht besonders wahrscheinlich, aber nicht mehr unmöglich“. Auch Grünen-Chefin Simone Peter, eine Befürworterin von Rot-Rot-Grün, sieht den Berlin-Wahlkampf nicht als Vorbild für den Bund. „Ob es zu einem Lagerwahlkampf kommt, entscheidet in erster Linie die Union, die mit verstaubten Sicherheitskonzepten, zaudernder Integrationspolitik oder Steuersenkungsfantasien linken Politikansätzen entgegensteht.“ Die Grünen präferierten im Bund Rot-Grün. Da es dafür keine Mehrheiten mehr gebe, „ziehen wir Rot-Rot-Grün ernsthaft in Betracht“. Aber: Viele Spitzengrüne halten SchwarzGrün für viel realistischer. Die Konstellation im Bund ist eine ganz andere als die in Berlin. Während die Hauptstadt-Linkspartei Regierungserfahrung hat, also realpolitisch tickt, ist sie im Bund gespalten. Gerade Linke aus Westdeutschland empfinden das Regieren als Verrat an Grundwerten. Zudem geht es um ganz andere Inhalte. Weniger um Mieten oder Verkehrs, sondern um Außenpolitik. Die Linkspartei lehnt Einsätze der Bundeswehr strikt ab – diese sind aber längst üblich. Auch die Personen können schlecht miteinander. Zwischen Sigmar Gabriel (SPD), Cem Özdemir (Grüne) und Sahra Wagenknecht (Linke) liegen Welten. ULRICH SCHULTE Grüne zweifeln an den Liebesgrüßen der SPD Mit der CDU wollen auch die Grünen nicht kooperieren. Würden sie mit der SPD den Senat stellen, wäre es wäre ihre dritte Regierungsbeteiligung in Berlin. Die ersten beiden dauerten nicht lang KOALITIONEN BERLIN taz | Am Ende ging es ganz fix. Kaum hatte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) eine Koalition mit der CDU des Spitzenkandidaten Frank Henkel ausgeschlossen, taten es ihm die Grünen nach: „Wir werden keine Koalition mit der CDU eingehen“, betonte Ramona Pop vom grünen Spitzenteam am Mittwoch. „Dieser CDU werden wir zu keiner Mehrheit verhelfen.“ Das also ist abgehakt, auch wenn die Grünen ein bisschen auf Distanz gingen zur Koalitionsofferte der SPD. „Diese Liebe der SPD zu den Grünen erkaltet schlagartig nach dem Wahltermin“, unkte Pop und betonte, dass sich die SPD eine Hintertür offengehalten habe. „Schon mancher, der SPD gewählt hat, ist mit der CDU aufgewacht.“ Tatsächlich hatte Müller nur eine Koalition mit der „HenkelCDU“ ausgeschlossen. Dass die CDU nach einer Wahlniederlage ihren Spitzenkandidaten vom Hof jagt, ist aber unwahrscheinlich. Seit Müllers Festlegung können sich die Grünen also darauf einstellen, demnächst in die Landesregierung einzuziehen. Es wäre erst die dritte Koalition mit grüner Beteiligung in Berlin. Das erste rot-grüne Bündnis wurde 1989 geschmiedet. Weil die rechten Republika- ner ins Abgeordnetenhaus eingezogen waren, hatten SPD und Grüne plötzlich eine Mehrheit – und konnten herzlich wenig miteinander anfangen. Im Streit um die Räumung von 13 besetzen Häuser in der Mainzer Straße im November 1990 zerbrach das Bündnis. Einen zweiten Anlauf gab es 2001 nach dem Bankenskandal. Rot-Grün stürzte mit Hilfe der damaligen PDS den CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen und regierte – übergangsweise ein halbes Jahr. Ironie der Geschichte Dass die Grünen nun ausgerechnet 2016 in die Landesregierung einziehen könnten, ist nicht ohne Ironie. Denn vor fünf Jahren war die Partei mit einer eigenen Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin angetreten. Die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast mischte den Berliner Wahlkampf auf, lieferte sich zunächst ein Kopf-an-KopfRennen mit Klaus Wowereit und brach am Ende ein. Die Grünen kamen auf 17,6 Prozent. Wowereit entschied sich für die CDU, und die Grünen hätten sich fast zerlegt. Eine Konsequenz daraus war, diesmal ohne Spitzenkandidaten ins Rennen zu gehen. Stattdessen vertrat ein Viererteam die Grünen, vertreten durch die beiden Fraktions chefinnen Ramona Pop und Antje Kapek und die Landeschefs Daniel Wesener und Bettina Jarasch. Paritätisch auch die Flügelzugehörigkeit: zwei Realas, zwei Linke. Was aber, wenn die Grünen am 18. September vor der SPD liegen sollten? Dann, heißt es aus dem Wahlkampfteam, soll Ramona Pop werden, was Künast misslungen ist. Schließlich steht sie auf Nummer eins der Landesliste. Und Michael Müller müsste in diesem Fall an seine Wahlaussage erinnert werden: Kein Bündnis mit der CDU heißt im Fall der Fälle auch Juniorpartner der Grünen. UWE RADA, STEFAN ALBERTI
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