Leseprobe - Psychologie bringt dich weiter

Nur wer
seinen Körper
spürt, kann
an der Seele
heilen
Über ein Trauma nur reden? Vollkommen sinnlos, meint
Bessel van der Kolk. Der Psychiater geht Therapie anders
an: Indem er Traumatisierten zuallererst wieder beibringt,
ihren Körper zu beruhigen – mit Yoga und Trampolinspringen
82 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER SEPTEMBER/OKTOBER 2016
INTERVIEW
E
ine Stunde über Traumata
sprechen, das kann er aus
dem Stegreif. Kein Wunder
also, dass andächtige Stille
herrscht, als der gebürtige Niederländer, der seit den 70ern in den USA
lebt, vor europäischen Kollegen referiert. „Heutzutage ist man schnell mit
einem Trauma bei der Hand“, sagt
Bessel van der Kolk später im Interview, aber es läge eben auch tatsächlich oft eins vor. Schätzungsweise 5 bis
7 Prozent der Weltbevölkerung leben
mit einer echten posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS). Diese Menschen haben eine einschneidende Erfahrung hinter sich, wie einen Unfall
oder eine Vergewaltigung, oder sind
längerfristig etwa Kriegsgewalt oder
Verwahrlosung in der Kindheit ausgesetzt gewesen. Ereignisse, die noch
lange tiefe Spuren hinterlassen können
– in der Seele und, so van der Kolk,
vor allem auch im Körper. Der sei bei
manchen in akuter Habachtstellung:
noch immer bereit zum Kampf oder
zur Flucht. „Das Grundproblem bei
einer PTBS ist, dass man sich in dieser
Welt nicht sicher fühlt, besonders körperlich nicht.“
Nach einigem Zögern erzählt der Psychiater, sein Interesse an PTBS sei kein
Zufall. Er ist kurz nach dem Krieg
als Kind traumatisierter Eltern aufgewachsen. „Sie haben ihr Leben lang
an diesem Krieg und der schrecklichen
Vorkriegsarmut gelitten. Sozialversicherungen gab es nicht; war man arm,
musste man zusehen, wie man überlebte. Meine Mutter wusste nicht, wie
man sich entspannt oder wie sie mit
Kindern umgehen sollte.“
Vor allem wegen ihr habe er sich so
auf dieses Fachgebiet gestürzt, gibt
van der Kolk zu. „Es stimmt mich
traurig, wenn ich an das unglückliche
Leben denke, das meine Mutter geführt hat. Hätte man zu ihrer Zeit
schon gewusst, was wir heute alles
wissen, hätte man ihr Trauma behandeln können. Es hätte alles viel besser
laufen können, für sie und für uns
Kinder.“ Nach kurze Pause: „Ich rede
in Interviews eigentlich
nie über meine Eltern.
Aber weil ich jetzt wieder in Europa bin, muss
ich viel an sie denken.“
Welche Spuren hat das
Trauma Ihrer Mutter
bei Ihnen hinterlassen?
Bessel van der Kolk (73), Experte für
posttraumatische Belastungsstörun­
gen – mit umstrittenen Methoden
Es hat auch mich beschädigt – aber zum
Glück hatte ich im Gegensatz zu ihr einige Möglichkeiten, darüber hinwegzukommen. Ich bin zum Beispiel nach Hawaii emigriert, wo
es sich recht angenehm leben lässt. Ich habe eine Psychoanalyse gemacht, EMDR, körperorientierte Therapie, Yoga
– so ziemlich alles, was ich jetzt meinen Klienten anbiete.
Sie haben mehr und mehr mit dem Körper gearbeitet und
therapeutische Gespräche stetig relativiert. Sie warnen sogar
vor der „Tyrannei der Sprache“.
Tja, uns als Psychologen und Psychiater bringt man natürlich das Reden bei. Also reden wir. Aber es wird immer deutlicher, dass es Traumaopfern dadurch nicht besser geht. Ist
mir etwas Schlimmes passiert, ist es schön, wenn es jemanden gibt, der sich das anhört und anerkennt, wie schrecklich
es gewesen sein muss. Aber das lässt die eingeprägte Angst
und den Ekel nicht verschwinden. Denn das sind primitive
körperliche Reaktionen, die aus einem anderen, nicht die
Sprache betreffenden Teil des Gehirns stammen.
Eine Traumareaktion ist ein animalischer Kampf- oder
Fluchtrespons, ausgelöst von Stresshormonen. Bei Menschen
mit einer PTBS ist an dieser Stelle etwas falsch gelaufen:
Sie haben etwas Schockierendes erlebt, gegen das sie nicht
kämpfen oder vor dem sie nicht fliehen konnten. Ihre
Stressreaktion ist chronisch geworden, wodurch sie weiter
übertrieben heftig reagieren. Sie verspüren schon bei den
kleinsten Vorfällen den Drang, zuzuschlagen oder wegzulaufen. Ihr Körper muss sich daher erst beruhigen.
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