Unser aller König von Deutschland 20 Jahre nach Rio Reisers Tod haben sich die Feuilletons das einstige Idol westdeutscher Revoluzzer einverleibt. Seite 23 Fotos: dpa/Michael Hanschke, imago/Horst Galuschka Sonnabend/Sonntag, 20./21. August 2016 STANDPUNKT Todeszone Mexiko 71. Jahrgang/Nr. 195 Bundesausgabe 2,30 € www.neues-deutschland.de Geister und Phantome Mexiko: Polizei tötet willkürlich Die Union auf den Spuren des rassistischen Hessen-Wahlkampfs von 1999 Menschenrechtler dokumentierten auch Folter und Misshandlungen Olaf Standke über exzessive Gewalt und staatliche Schuld Glaubt man den Menschenrechtlern, waren es willkürliche Hinrichtungen. Natürlich bestreitet das die mexikanische Bundespolizei – alles nur Drogendealer, die da im Vorjahr in Michoacán bedrohlich zur Waffe gegriffen haben und die man deshalb erschießen musste. Und die Folterspuren, die bei den 22 gefunden wurden? Die Aussagen von Angehörigen, wonach viele der Getöteten Bauern aus dem benachbarten Bundesstaat Jalisco gewesen seien? Fue el estado – Es war der Staat, diese Losung hört und liest man in Mexiko bei Protestveranstaltungen immer wieder. Ja, in dem mittelamerikanischen Land tobt ein regelrechter Drogenkrieg. Aber Untersuchungen zeigen auch, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse schon lange verwischt, dass staatliche Sicherheitskräfte Teil einer allgegenwärtigen strukturellen Gewalt sind. Gerade hat Amnesty International den Behörden die in ihrem Ausmaß schockierende Misshandlung von inhaftierten Frauen vorgeworfen. Und nicht selten macht die Polizei gemeinsame Sache mit den mächtigen Drogenkartellen und paramilitärischen Einheiten. Seit Beginn der Amtszeit von Präsident Peña Nieto Ende 2012 sind fast 100 000 Menschen getötet worden, doch blieben 98 Prozent der Verbrechen ungeahndet. Über 25 000 Menschen sind verschwunden, so wie die 43 Studenten aus Ayotzinapa. Diese mexikanische Schreckensbilanz ist auch Folge eines desaströsen politischen Versagens. UNTEN LINKS Endlich gibt es eine Erklärung, warum die Presse in diesem Lande so nachhaltig in Verruf geraten ist. Weil eben nicht vorrangig in Redaktionsstuben edle Federn zum Einsatz kommen – sondern im Bundestag. Die sogenannte Montblanc-Affäre tobt dort schon fast acht Jahre. Und, wie es aussieht, wird sie die Parlamentarier auch noch weiterhin beschäftigen. Denn immer noch sind die Namen der 115 Bundestagsabgeordneten nicht bekannt, die sich 2008 mit den teuren Füllfederhaltern der dem Skandal den Namen gebenden Firma für fast 70 000 Euro in nur zehn Monaten auf Staatskosten eingedeckt haben. Was auch immer mit den teuren Schreibutensilien geschehen ist – besonders kunstvoll gestaltetes Schriftgut aus dem Parlament ist nicht überliefert. Da produzieren, schlechter Ruf hin oder her, die Journalisten mit ihren auf jeder Pressekonferenz kostenlos erhältlichen Einwegkugelschreibern zumeist Besseres. Mitunter sogar über die Montblanc-Affäre. oer ISSN 0323-3375 Mexiko-Stadt. Die Bundespolizei soll in Mexiko bei einem Einsatz im vergangenen Jahr 22 Menschen willkürlich getötet haben. Wie die Menschenrechtskommission CNDH laut der Zeitung »La Jornada« am Donnerstag (Ortszeit) bekannt gab, sind auch Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Insgesamt wurden im Mai 2015 im Bundesstaat Michoacán 42 Menschen getötet. Die Regierung erklärte, es handele sich um Mitglieder des Drogenkartells Jalisco Nueva Generación. CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez, verlangte, dass die verantwortlichen Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Polizei wies die Vorwürfe zurück: Die mutmaßlichen Kriminellen hätten zuerst die Waffen gezogen. Die CNDH erklärte, 22 Opfer hätten mit dem Rücken zur Wand gestanden und seien dann erschossen worden. Die Kommission wirft der Polizei außerdem vor, Beweise manipuliert zu haben, um den wirklichen Tathergang zu vertuschen. Der Drogenkrieg in Mexiko soll seit 2006 bereits 100 000 Tote gefordert haben. epd/nd VW will Zulieferung erzwingen Rechtsmittel eingelegt / Weiteren Konzernwerken droht Kurzarbeit Kommentiertes Wahlplakat des hessischen CDU-Politikers Roland Koch Berlin. Der Eindruck einer Neuauflage des Scharfmacher-Wahlkampfes von Roland Koch liegt nicht fern: Ende der 1990er Jahre gewann der CDU-Hesse mit einer Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft die Landtagswahl. Die Aktion war aber eine Idee der gesamten Union, die damit gegen Pläne der rot-grünen Bundesregierung zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts Front machte. Nun bringen sich immer mehr Unionspolitiker erneut gegen die doppelte Staatsangehörigkeit in Stellung – zum Beispiel im Falle von Terrorverdacht. Die Innenminister von CDU und CSU stellten am Freitag ihre Foto: dpa/Frank May »Berliner Erklärung« vor – die vor allem unbestimmte Ängste aufnimmt und sie gegen Migranten und Geflüchtete kanalisiert. Die Bundesvorsitzende der AG Migration und Vielfalt in der SPD, Aziz Bozkurt, warf den Unions-Politikern vor, nur Menschen mit türkisch-deutschem Pass im Blick zu haben, »obwohl das Thema viele Millionen Deutsche betrifft«. Nach den Ergebnissen des Zensus von 2011 haben 690 000 Menschen eine deutschpolnische und 570 000 eine russisch-deutsche Staatsangehörigkeit. Der CSU-Innenminister von Bayern, Joachim Herrmann, verteidigte den Vorstoß: »Es hat keinen Sinn, den deut- schen Pass nach Belieben an Leute zu verteilen, die in ihrem Herzen in Deutschland noch nicht angekommen sind.« Neben der doppelten Staatsbürgerschaft, war das Verbot der Vollverschleierung durch Burka und Niqab das zentrale Thema der »Berliner Erklärung«. Niemand weiß, ob es in Deutschland Burkaträgerinnen gibt. Selbst der Bundesinnenminister musste einräumen, dass die Vollverschleierung hier »kein großes Problem« sei. Trotzdem soll das Tragen von Burkas in bestimmten Bereichen verboten sein, etwa im öffentlichen Dienst und in Schulen. nd Seite 5 Kiew will COBRAS kaufen Botschafter der Ukraine bittet abermals um Rüstungslieferungen zum Kampf gegen die Separatisten Die Ukraine bittet um westliche Waffen. Doch Deutschland, das den OSZE-Vorsitz inne hat, hält sich bedeckt und setzt auf Diplomatie. Von René Heilig In dem am Freitag veröffentlichten jüngsten Tagesbericht der OSZE-Beobachtungsmission in der Ukraine wird »eine Zunahme der Anzahl der Verletzungen des Waffenstillstands und der Anzahl der Explosionen« konstatiert. Moskau wiederum beklagte sich in der vergangenen Woche mehrfach über über angebliche ukrainische Terroroperationen auf der Krim. Der fragile Waffenstillstand scheint einmal mehr auf der Kippe zu stehen. Die Diplomatie müsse »noch stärker daran arbeiten, dass eine neue Front, eine südliche Front nicht eröffnet wird«, betonte der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, am Freitag in einem In- terview des Deutschlandfunks – und forderte im selben Atemzug, dass der Westen endlich der von Kiew kommandierten Armee Waffen liefert. Die Forderung ist nicht neu, bislang entsprachen ihr die USA nur zaghaft. Washington setzt mehr auf Ausbildungshilfen. Auch dabei halten sich die europäischen NATO-Staaten noch weitgehend zurück. Melnyk jedoch betonte, die Ukraine wolle doch »wirklich nur Defensivwaffen«. Er sprach über gepanzerte Sanitätsfahrzeuge und Artillerieortungssysteme. Die Separatisten »würden zweimal darüber nachdenken, ob sie den Beschuss beginnen, wenn sie wüssten, dass die Antwort sofort kommen wird, und zwar sehr gezielt und verheerend«. Kurzum: Kiew will das Artillerieortungsradar COBRA (Counter Battery Radar). Das System kann bei einer Reichweite bis 40 Kilometer in Echtzeit feuernde Rohrund Raketenartillerie sowie Mör- ser ab einem Kaliber von 80 Zentimeter mit großer Genauigkeit orten und klassifizieren. Innerhalb von nur zwei Minuten würden drei Bediener 40 Feuerstellungen be- »Um was wir bitten, sind wirklich nur Defensivwaffen.« Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter, im Deutschlandfunk stimmen – die dann von der eigenen Artillerie bekämpft werden. Die Grenze zwischen defensiv und offensiv verschwimmt. Noch weigert sich Deutschland, solche Geräte zu liefern und Solddaten daran auszubilden. Das System wird von Airbus, Thales und Lockheed hergestellt; die Armeen von Deutschland, Frankreich und der Türkei haben es im Bestand. Beschaffbar wäre es über OCCAR. Das ist ein westeuropäisches multinationales Management für gemeinsame Rüstungsvorhaben. Das preist die COBRA bereits seit einiger Zeit als friedensstiftendes Mittel an. In der Tat könnte man damit einen Waffenstillstand – wie den in der Ostukraine – perfekt überwachen. COBRA wäre eine perfekte Ergänzung zu den von der OSZE eingesetzten Drohnen und Beobachtern, die mühsam per Geländewagen unterwegs sind. Transparent dokumentieren statt militärisch reagieren? Die OSZE, die bei wichtigen Entscheidungen auf den Konsens aller 57 Mitgliedsstaaten angewiesen ist, habe nie eine COBRA angefordert und die Bundeswehr habe das Gerät nie angeboten, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Und aus dem OSZE-Umfeld war zu hören, nicht alles, was technisch hilfreich wäre, sei auch politisch vernünftig. Braunschweig. VW will offenbar hart gegen die Zulieferfirmen vorgehen, die durch ihre Lieferstopps die Produktion bei dem Autokonzern beeinträchtigen und teils bereits zu Kurzarbeit geführt haben. Der Konzern sei gezwungen, die »zwangsweise Durchsetzung der Belieferung vorzubereiten«, teilte VW mit. Dazu würden alle rechtlich möglichen Mittel genutzt. Das Braunschweiger Landgericht erklärte am Freitag, VW habe beantragt, bei fortgesetzter Verweigerung von Lieferungen Ordnungsgeld, Ordnungshaft oder »Ermächtigung zur Ersatzvornahme« anzuordnen. Hintergrund ist eine Eskalation in den Beziehungen zwischen VW und der Unternehmensgruppe Prevent. Zwei Firmen stellten die Belieferung mit Sitzbezügen und Getriebegussteilen ein. Das Landgericht erließ eine einstweilige Verfügungen gegen die Firmen, eine hat Widerspruch eingelegt. Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer kritisierte die Einkaufspolitik von VW als »wenig professionell«. Sich auf einen Zulieferer zu verlassen, sei riskant. AFP/nd Seite 8 Olympia: Überfall in Rio war erfunden US-Schwimmer haben gelogen, um eigenes Fehlverhalten zu vertuschen Rio de Janeiro. Die USA haben sich für die Lügengeschichte von vier ihrer Schwimmer über einen angeblichen Raubüberfall entschuldigt. »Wir bitten die Gastgeber in Rio und das brasilianische Volk um Verzeihung für die störende Quälerei«, sagte der Chef des Olympischen Komitees der USA, Scott Blackmun. Ryan Lochte, Gunnar Bentz, Jack Conger und James Feigen hatten angegeben, als Polizisten verkleidete Räuber hätten sie überfallen. Ein Video bewies nun, dass die betrunkenen Sportler an einer Tankstelle mit Sicherheitsleuten in Streit geraten waren, nachdem sie selbst dort die Toilette beschädigt hatten. Während Lochte, Bentz und Conger schon wieder in den USA sind, gab Feigen gegenüber brasilianischen Behörden eine »überarbeitete Erklärung« ab und stimmte einer Spende an ein nicht näher benanntes Institut von umgerechnet knapp 10 000 Euro zu, um ebenfalls ausreisen zu dürfen. Theoretisch könnten alle noch wegen Vortäuschung einer Straftat und Sachbeschädigung belangt werden. SID/nd Olympia: Seiten 11, 12 und 32
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