Neues Lichtenhagen? Gaddafis Giftgas-Erbe Aus einem Rostocker Neubauviertel wurden Flüchtlinge vertrieben. Seite 3 In Munster wird Unheil entsorgt, das mit deutscher Hilfe entstand. Seite 5 Frankreichs Burkini-Streit Eine Provokation gegen die Werte der Republik? Auch Premier Valls will Burkinis an Frankreichs Stränden verbieten. Seite 7 Foto: 123rf/orcearo Donnerstag, 18. August 2016 71. Jahrgang/Nr. 193 Berlinausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Foto: dpa/Stephanie Pilick * STANDPUNKT Australien ist kein Vorbild Verbrannt unter Polizeiaufsicht Australien muss ein Lager schließen Der Feuertod des Flüchtlings Oury Jalloh wird nach elf Jahren erneut untersucht Canberra reagiert auf Gerichtsurteil zu Flüchtlingen in Papua-Neuguinea Martin Ling über die rigide Flüchtlingspolitik in Down Under In Australien kann regieren, wer will, in der Flüchtlingspolitik sind sie sich einig: Seit 15 Jahren schiebt Australien Bootsflüchtlinge in benachbarte Inselstaaten ab und seit drei Jahren hat es kein Bootsflüchtling überhaupt noch geschafft, das Festland in Down Under zu erreichen. Mit »Stoppt die Boote« eroberten die konservativen Liberalen 2013 die Regierung von der sozialdemokratischen Labor-Regierung zurück und an ihren Wahlslogan haben sie sich – koste es, was es wolle – seitdem gehalten. Mehr als eine Umsiedlung auf den pazifischen Inseln statt Dauerinternierung hat auch Labor nicht im Angebot. Australiens Ankündigung, das umstrittene Flüchtlingslager auf der Insel Manus auf Sicht schließen zu wollen, ist eines sicher nicht: eine Abkehr von der rigiden Flüchtlingspolitik. Das betonte Einwanderungsminister Peter Dutton höchstselbst. Es ist lediglich die Reaktion auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofes in PapuaNeuguinea, dessen Richter Klartext sprach und die geübte Praxis als verfassungswidrig einstufte. Dass der österreichische Außenminister Sebastian Kurz Australiens Flüchtlingspolitik der EU zum Nacheifern empfiehlt, ist ein moralischer Offenbarungseid: »Wer in ein Boot steigt und versucht, illegal nach Europa zu kommen, hat seine Chance auf Asyl verwirkt und wird zurückgebracht«, lautet Kurz’ Credo. Es ist ein Kurzschluss. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht und kann de jure nicht verwirkt werden. De facto schon. Das zeigt der abschreckende Fall Australien. UNTEN LINKS Man kann es nicht oft genug sagen: Die Rente ist sicher. Mag sein, dass sich für einige die Zeit verkürzt, mit der man zu Hause sitzend nichts anzufangen weiß. Mag auch sein, dass nicht alle gleich viel Geld bekommen. Wem seine Rente nicht hoch genug ist, der ruft den Michael Hüther an, dessen Institut das der deutschen Wirtschaft ist, die es ja wissen muss, und der Michael hat Tipps: »Sie müssen ja nicht nur Staatspapiere kaufen.« Genau. Also, liebe Hartz-Empfänger, Mindestlöhner, Alleinerziehende, prekäre Doktoranden, Aufstocker, Arbeiter, freie Journalisten und so fort: Kauft doch bitte nicht immer nur Staatspapiere! Sondern sucht euch mal »andere Ertragskomponenten«. Warum nicht an der Süddeutschen Butter- und KäseBörse spekulieren? Aber Obacht! Eine Nachrichtenagentur vermeldet den »Butter- und Käse-Lagebericht: Blockbutter ist selbst auf höherem Preisniveau nur bedingt verfügbar.« Immerhin: »Weichkäse geht gut in den Markt.« Dann ist die Rente ja sicher. tos ISSN 0323-4940 Sydney. Australien hat sich zur Schließung eines umstrittenen Flüchtlingslagers auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus bereit erklärt. Der Regierungschef von Papua-Neuguinea, Peter O'Neill, teilte am Mittwoch nach Gesprächen mit dem australischen Einwanderungsminister Peter Dutton in Port Moresby mit, der Prozess solle »nicht überstürzt« werden, sondern »umsichtig« vor sich gehen. Dutton hob hervor, dass Australien dennoch an seiner Asylpolitik festhalte. Die australische Regierung steht wegen ihrer restriktiven Asylpolitik seit Langem in der Kritik. Die bisherige Regelung sieht vor, dass Asylsuchende, die versuchen, Australien mit dem Boot zu erreichen, an ihren Herkunftsort oder nach Manus sowie in den Pazifikinselstaat Nauru gebracht werden. Das Oberste Gericht von Papua-Neuguinea hatte die Internierung von Bootsflüchtlingen aus Australien auf der Insel Manus für unzulässig erklärt. Die Lagerhaft verstoße gegen das Grundrecht auf persönliche Freiheit und sei deshalb verfassungswidrig. AFP/nd Seite 8 Millionenfache Grenzkontrollen LINKE-Abgeordnete kritisiert Unverhältnismäßigkeit Gedenken an den Flüchtling Oury Jalloh in Dessau Berlin. Am 7. Januar 2005 ist der Flüchtling Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau verbrannt. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Ermittler und Gerichte gehen bis heute davon aus, dass der Asylsuchende das Feuer selbst gelegt hat. Doch das hält die Nebenklage ebenso wie die »Initiative im Gedenken an Oury Jalloh« für unmöglich. Nicht nur, weil Jalloh gefesselt war. Er habe auch gar kein Feuerzeug gehabt. Aktivisten gaben bereits vor Jahren eigene Gutachten in Auftrag, und der Brandsachverständige Maksim Smirnou aus Irland kam im November 2013 zu dem Ergebnis: Jalloh konnte das Feuer nicht selbst le- Foto: dpa/Jens Wolf gen. Vermutlich sei er mit Benzin übergossen worden. Heute – mehr als elf Jahre nach dem Tod des Flüchtlings – findet ein neuer Brandversuch im sächsischen Dippoldiswalde statt. Der Sachverständige Kurt Zollinger vom Forensischen Institut Zürich wird den Brand noch einmal nachstellen. Kritiker bezweifeln allerdings, dass der Versuch Klarheit bringt. Offenbar gehe es der Behörde darum, die Annahme zu widerlegen, für ein Feuer dieses Ausmaßes sei Brandbeschleuniger erforderlich, sagt Thomas Ndindah von der Initiative. Dass so viele Spekulationen keimen, liegt auch daran, dass die Polizisten als Zeugen in den Prozessen sagten, sie könnten sich nicht mehr erinnern. Der Vorsitzende Richter des ersten Prozesses zog das empörte Fazit: Ein rechtsstaatliches Verfahren sei wegen der Schweigemauer auf der Seite der Polizei unmöglich gewesen. Der Einzige, der bislang juristisch zur Verantwortung gezogen wurde, ist der damalige Dienstgruppenleiter. Der Polizist hatte zugegeben, mindestens zweimal einen Alarm ausgeschaltet zu haben. Das Landgericht Magdeburg verurteilte den Beamten im Dezember 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10 800 Euro. nd Seite 2 Ankara empört sich – und verbietet Zeitung Auf unolympischer Rekordjagd: Türkei jetzt das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten Während sich das offizielle Ankara entrüstet gibt über wenig schmeichelhafte Beurteilungen der Türkei aus Berlin, wird der Repressionskurs zu Hause ungebremst fortgesetzt. Von Roland Etzel Die unerwartet realistischen Töne aus deutschen Ministerien über die Verwicklung des türkischen Staates in den Aufbau dschihadistischer Terrorgruppierungen im Nahen Osten haben die türkische Regierung zu einer harschen Reaktion veranlasst. AFP zitiert aus einer Erklärung des türkischen Außenministeriums vom Mittwoch, in der es heißt, es sei »offensichtlich, dass gewisse politische Kreise, die für ihre Doppelmoral im Kampf gegen den Terrorismus bekannt sind«, für diese Anschuldigungen verantwortlich seien. Einer konkreten Antwort auf die Vorwürfe weicht das Ministerium indes aus. Dafür setzt die Administration ihren Rachefeldzug ungeachtet aller Proteste fort – mit einer besonders zynischen Note: Weil die Gefängnisse offenbar überfüllt sind mit »Putschisten« und Menschen, die willkürlich zu deren Unterstützern erklärt werden, kommen ganze Tätergruppen, die schon vor Juli einsaßen, jetzt frei: Betrüger, Einbrecher, Diebe ... Ausgenommen sind Mörder, Drogenhändler und »Terroristen«. Am Dienstag traf Ankaras Bannstrahl die Istanbuler Zeitung »Özgür Gündem«. Sie ist nun verboten, zahlreiche Redakteure wurden verhaftet. Die Gesetzlosigkeit des Ausnahmezustandes lässt jede Willkür zu. Begründung diesmal: Terrorpropaganda. Wenn schon der Verdacht, Anhänger des Predigers Fethullah Gülen zu sein, heute in der Türkei für eine Inhaftierung ausreicht – die Anschuldigung, »den Terrorismus« unterstützt zu haben, tut es erst recht. Dafür genügt in der Türkei, der als Mitglied der »Wertegemeinschaft NATO« von dieser Rechtsstaatlichkeit attestiert wird, der Vorwurf, Sprachrohr der Arbeiterpartei Kurdistans zu sein – das Totschlagargument für türkische Behörden, wenn man sonst nichts juristisch Verwertbares in der Hand hat. Auch das 8. Kammergericht von Istanbul zog sich auf diesen Standardvorwurf zurück und drehte die juristische Grundregel offenbar um: Nicht das Gericht musste die Schuld, sondern der Angeklagte seine Unschuld beweisen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen schreibt, dass seit dem Putschversuch Mitte Juli die Türkei zum Land mit den meisten inhaftierten Journalisten geworden ist. Das einzige, was diesbezüglich relativierend zum Verständnis der türkischen Regierung von Pressefreiheit gesagt werden kann, ist wohl, dass sich Vorgängerkabinette ähnlich rabiat gegenüber kurdischen Publikationen auf- führten. Die »Freie Agenda«, wie die Tageszeitung »Özgür Gündem« auf Deutsch heißt, erleidet die Unfreiheit seit über 20 Jahren immer wieder. Schon ein halbes Dutzend mal verboten, kam sie weiteren Restriktionen mehrfach durch Umbenennung zuvor. Chefredakteur Zana Kaya bittet jetzt international um Solidarität. Man darf gespannt sein, wie weit die Courage der Bundesregierung reicht. Seite 5 } Lesen Sie auf Seite 10 Gesund leben Verhütung ist Sache der Frauen. Gelingt es aber, die Forschung mit dem Sexualhormon Testosteron zum Erfolg zu führen, wird das auch ein Männerthema. Berlin. Die Linkspartei kritisiert die massiven Kontrollen auf der Suche nach für illegal erklärten Geflüchteten. In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden seitens der Bundespolizei rund eine Million Menschen kontrolliert, 2015 waren es sogar drei Millionen. »Das ist völlig unverhältnismäßig, weil es bei der unerlaubten Einreise um einen sehr geringfügigen Gesetzesverstoß geht«, sagte die Innenexpertin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, mehreren Zeitungen. Sie äußerte zudem die Sorge, dass es einen Zusammenhang zwischen der Hautfarbe eines Menschen und den Kontrollen der Bundespolizei gebe. In einer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion heißt es, die Bundespolizei habe in den vergangenen Monaten hinter der Grenze deutlich weniger Migranten ohne gültige Papiere aufgegriffen. Im ersten Halbjahr 2016 seien 12 710 Fälle von illegaler Einreise festgestellt worden. Im Gesamtjahr 2015 waren es 128 655 Fälle. Die Kontrollierten kamen demnach vor allem aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Agenturen/nd Hausbesetzung vor rechtem Aufmarsch Aktionen gegen Thügida in Jena Jena. Wenige Stunden vor Beginn eines geplanten rechtsextremen Aufmarsches in Jena haben am Mittwoch sechs Vermummte ein leer stehendes Haus an der Demonstrationsstrecke besetzt. Sie hätten das Gebäude am Mittag freiwillig wieder verlassen, sagte eine Polizeisprecherin in Jena. Ihre Personalien seien aufgenommen worden. Laut Polizei werden nun Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung geprüft. 30 Sympathisanten hielten sich vor dem Haus auf. Der Besitzer des besetzten Hauses hatte laut Polizei die mutmaßlich linken Aktivisten aufgerufen, das Haus zu verlassen. Die Polizei verhandelte mit ihnen und bewegte sie zur Aufgabe. Das Haus befindet sich an der Wegstrecke, die Teilnehmer einer Thügida-Demonstration am Mittwochabend nutzen wollten. In Jena waren mehrere Aktionen gegen den Aufmarsch geplant. Bereits am Dienstagabend seien die Straßen rund um die Kundgebung von 500 bis 600 Menschen mit Kreide bemalt worden, sagte die Polizeisprecherin. Mehrere Hundert Beamte aus Thüringen und Sachsen waren im Einsatz. dpa/nd
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