Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.08.2016 Seite: Ressort: Seitentitel: 3 Politik Politik Gattung: Nummer: Auflage: Ausgabe: Hauptausgabe Reichweite: Tageszeitung 190 293.119 (gedruckt) 252.676 (verkauft) 268.110 (verbreitet) 0,68 (in Mio.) Dahlemann versucht es Der SPD-Politiker aus Vorpommern wurde durch ein NPD-Video bekannt. Nun will er gegen die CDU endlich seinen Wahlkreis gewinnen. Keine einfache Aufgabe. Von Frank Pergande TORGELOW/ UECKERMÜNDE, 15. August Patrick Dahlemann, ein Sozialdemokrat von 28 Jahren, wurde deutschlandweit schlagartig bekannt, als er im Januar 2014 auf Youtube ein Video einstellte, das ihn auf einer Wahlkampfveranstaltung der NPD zeigt und das auch heute noch im Netz abrufbar ist. Entstanden war es im Bundestagswahlkampf 2013 in Dahlemanns Heimatstadt Torgelow. Dahlemann hatte das "offene Mikrofon" genutzt und sich vor dem NPD-Logo gegen die Parolen der Partei ausgesprochen. Er sprach von "einfachen, platten Phrasen" und empfahl, das Werbematerial der Partei sogleich in Müllsäcken zu entsorgen. In dem Video sieht man Dahlemann, aber auch die Reaktion von Stefan Köster, dem Landesvorsitzenden der NPD, der zudem im Landtag sitzt. Dahlemann unterbricht Kösters Replik aber immer wieder, um seine Kommentare dazu abzugeben. Der Auftritt selbst vor NPD-Kulisse war zweifellos mutig und brachte Dahlemann viele Feinde ein. Vor allem aber Freunde und den Gustav-HeinemannPreis der SPD. Sigmar Gabriel rief an und fragte Dahlemann, was er als SPDVorsitzender für ihn tun könne. "Herkommen", lautete Dahlemanns Antwort. Zweimal war Gabriel inzwischen da, in der "sozialdemokratischen Diaspora" im tiefen Vorpommern. Zuletzt in der vergangenen Woche. Erst sah Gabriel sich fast zwei Stunden lang ein mittelständisches, von Vater und Sohn geführtes Unternehmen mit 54 Mitarbeitern an. Haff-Dichtungen in Ueckermünde ist eine beispielhafte Geschichte - Ausgründung aus einem längst vergessenen DDR-Betrieb, Treuhandquerelen, drohende Insolvenz, Neuanfang durch Erweiterung und Eroberung des europäischen Marktes. Am Abend folgte ein sogenanntes Bür- gergespräch in einem Ferienhotel mit weitem Blick über das Stettiner Haff hinüber nach Polen. Größer kann Gabriels Wahlkampfhilfe für Dahlemann nicht sein. Am 4. September wird in Mecklenburg-Vorpommern ein neuer Landtag gewählt. Für Dahlemann geht es dabei um alles, jedenfalls seinen politischen Ehrgeiz betreffend. Der ist nicht nur für sich genommen "ein ungewöhnlicher Typ", wie Gabriel ihn nennt. Ungewöhnlich ist auch der Wahlkreis, in dem er als Direktkandidat antritt. Dahlemann kam 2004 zur SPD. 2011 versuchte er erstmals, als Direktkandidat in den Schweriner Landtag einzuziehen. Er scheiterte, wenn auch knapp, zog aber später, im April 2014, als Nachrücker in das Schweriner Schloss ein. Und zwar als Nachfolger des früheren Fraktionsvorsitzenden und Ministers Volker Schlotmann. Schlotmann selbst rief damals bei Dahlemann an, um die gute Botschaft zu überbringen. Dahlemann brach in Tränen aus. So kann sich politischer Ehrgeiz Bahn brechen, wenn er einerseits groß genug ist und andererseits plötzlich Erfüllung findet. Und Dahlemanns Ehrgeiz ist groß. Er geht auch so weit, dass ihm die praktische Politik viel wichtiger ist als sein Studium der Politikwissenschaft und des öffentlichen Rechts. Sein Studium an der Greifswalder Universität hat Dahlemann aufgegeben, weil die Fristen für ihn nicht einzuhalten waren, und sich inzwischen in der Fernuniversität Hagen eingetragen. Im Wahlkampf wurde ihm das - der Fall Petra Hinz war gerade bekanntgeworden - schon vorgehalten. Dahlemann ficht das nicht an. Er will den Wahlkreis direkt gewinnen, und das fordert ihn ganz. Auf der Liste seiner Partei steht er gar nicht erst. Sein Wahlkreis 35 liegt am Rand von Deutschland, Uecker-Randow I, immer noch eine der ärmsten Gegenden, bekannt vor allem als Militärstandort und als Land der drei Meere: Sandmeer, Kiefernmeer, dann gar nichts mehr. In Vorpommern holt traditionell die CDU nahezu alle Wahlkreise direkt. In Uecker-Randow I heißt der sieggewohnte CDU-Mann Andreas Texter, und Texter tritt auch wieder an. Auch für ihn geht es um alles. Er muss den Wahlkreis gewinnen, denn sein Listenplatz gilt als unsicher. Texter ist 56 Jahre alt, Kommunalpolitiker vom alten Schlag und stammt aus Ueckermünde. Dahlemann, ein Vierteljahrhundert jünger, stammt aus dem benachbarten, etwas kleineren Torgelow und ist ebenfalls schon erstaunlich lange in der Kommunalpolitik verankert. Man könnte die vorpommersche CDU-Übermacht als erdrückend empfinden. Nicht so Dahlemann: "Die CDU hat hier mal mit 50-Prozent-Ergebnissen angefangen, ist sie bei 25 Prozent", sagt Dahlemann. Schon bei der Wahl 2011 war der Einlauf knapp gewesen. Zwischen dem CDU-Gewinner Texter, dem Vertreter der Linkspartei und Dahlemann lagen nur wenige Stimmen. Der starke Kandidat der Linkspartei ist inzwischen Bürgermeister von Ueckermünde. Bei dessen Wahl hatte Dahlemann seinen Anteil: "Wir verstehen uns gut." Aber auch sein Eigeninteresse an der Personalie dürfte Dahlemann wohlerwogen haben. Noch etwas anderes stimmt ihn zuversichtlich: "Damals war ich überhaupt nicht bekannt. Jetzt aber kennen mich viele." Muss ich mich vorstellen?" "Aber Herr Dahlemann, wir kennen Sie doch." Tatsächlich, es klappt. Dahlemann steht im Torgelower Zentrum an der Straße, verteilt rote Werbetütchen der SPD, wirbt für sich und für den Gabriel-Besuch am Abend. "Hallo, Herr Kötteritzsch." "Tag, Frau Winter." "Frau Krause, darf ich Ihnen ein bisschen was zu lesen mitgeben?" Dahlemann scheint sie alle zu kennen. Er lacht: "Ein Heimspiel, gebe ich zu." Fast alle lassen sich auf ein kurzes Gespräch mit dem smarten jungen Mann ein. Es sind durchweg ältere Menschen. Fast immer ist dann von DDRErinnerungen die Rede. Und Dahlemann schafft es, so zu tun, als könne er mitreden und sei dabei gewesen. Er hört es natürlich gern, wenn eine Frau erst von ihrer Hochzeits-Fahrradfahrt zum Standesamt in den fünfziger Jahren erzählt, sich dann aber ein wenig an seiner zufällig braunen Jacke stört und auf die NPD zu sprechen kommt: "Die braune Gesinnung ist doch das Letzte. Für mich sind das Verbrecher." Da habe sie einen "vernünftigen Klassenstandpunkt", meint sie lächelnd im Weggehen. Dahlemann lächelt pflichtgemäß ebenfalls. Überhaupt: Er macht kein Hehl daraus, dass er die Kniffe des politischen Betriebs kennt. Und dass er sich in diesem Betrieb mit Lust inszeniert. Dass er alles kontrolliert, bis zum Sitz von Frisur und Kleidung. Geschniegelt und gebügelt geht es in die Wahlschlacht. Im Straßenwahlkampf die bequeme Lederjacke, an Gabriels Seite der blaue Anzug. Noch während das Ministerauto vorfährt und alle Blicke dorthin gerichtet sind, sieht Dahlemann an sich selbst herab, entfernt ein imaginäres Stäubchen, prüft die Haltung, wie am besten auf den Besucher zuzutreten sei, und macht Lockerungsübungen, als wäre er ein Sportler vor dem OlympiaAuftritt. Dann weicht Dahlemann dem Parteivorsitzenden und Vizekanzler nicht einen Meter von der Seite. All die angereisten Kamerateams berichten so auch über ihn, die SPD-Hoffnung aus Vorpommern. Er genießt es. Es war ihm auch ein Spaß, in aller Öffentlichkeit die NPD zu ärgern. Es machte ihm nichts aus, unter Buhrufen vor Demonstranten zu treten, die gegen die Gerichtsreform der Schweriner Koalition von SPD und CDU waren, weil der das Amtsgericht Ueckermünde Abbildung: Abbildung: Wörter: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH zum Opfer fiel. Dahlemann ging an das Mikro und erklärte die Entscheidung der SPD-CDU-Koalition in Schwerin. "Ich kann mich da nicht einfach wegducken. Das genau erzeugt doch die Politikverdrossenheit, wenn man die Basis verloren hat und nie da ist, wenn es ernst wird." Dahlemann überlässt nichts dem Zufall. Vom Straßenwahlkampf aus saust er in seinem BMW zu dem Ort des abendlichen Gesprächs, um dort noch einmal alles zu prüfen und seine Einleitung zu memorieren. Natürlich findet Gabriel beim Bürgergespräch ein volles Haus und einen freundlichen Empfang. Als Dahlemann vor einiger Zeit ein Gespräch über geplante und kritisierte Windkraftanlagen organisierte, kamen 300 Leute. Als die NPD das gleiche Thema am selben Ort aufnahm, kamen gerade einmal zwölf. Zwanzig Mitglieder hatte die SPD in seinem Wahlkreis, als Dahlemann auftauchte. Fünfzig sind es inzwischen, fast alle Neuzugänge junge Leute. Dahlemann hat seine Eltern in die SPD geholt, "sonst ist es ja meistens umgekehrt". Er macht jeden Monat einen Praxistag. Ein Foto, das ihn mit einem Rasenmäher zeigt, können sich die Leute gerade auf den Großplakaten zur Wahl anschauen. Und Dahlemann sitzt in ungefähr zwanzig unterschiedlichen Gremien vom Kreistag über die Volkssolidarität bis zum Förderverein der Musikschule - und ist damit so gut wie überall dabei. Dahlemann sagt über sich selbst: "Ich polarisiere. Entweder sind die Leute für mich oder total gegen mich." Das gilt übrigens auch für die eigene Partei. "Ist doch klar, dass manche sauer sind, die immer gesagt haben, hier in Vorpommern kriegt die Partei keinen Fuß an die Erde. Das ist Quatsch, man muss eben ackern und machen, und nicht nur, wenn Wahl ist." Dahlemann hat einiges erreicht, die neue Berufsschule in Tor- gelow für fast sechs Millionen Euro, die Barrierefreiheit aller Bahnhöfe in seinem Wahlkreis. Gewinnt er den Wahlkreis, will er sich dafür einsetzen, dass die in der Eisengießerei Torgelow - die Gabriel dank Dahlemann auch schon kennt - hergestellten Rotornarben für Windenergieanlagen nicht mehr per Schwerlasttransport abgefahren werden, sondern über den Hafen Ueckermünde per Wasserweg. Freilich hat es Dahlemann in seiner Heimat nicht nur mit der traditionellen CDU-Übermacht zu tun, sondern auch mit der NPD. Bei der NPD ist es vor allem ein Mann, der zwar knapp zehn Jahre älter ist, aber immer noch jung und von ähnlichem Ehrgeiz: Tino Müller. Müller ist in Ueckermünde aufgewachsen, hat seine Basis im Plattenbaugebiet Ueckermünde-Ost und holte bei der Landtagswahl 2011 als Direktkandidat 15 Prozent. Er kam über die sogenannten Kameradschaften zur NPD. Und seine Person verkörpert, was die NPD in Mecklenburg-Vorpommern bislang so schlagkräftig gemacht hat, das Bündnis der Partei mit den Kameradschaften. Auch für Müller und die NPD geht es bei der Wahl um alles. Auf Direktkandidaten hat sie verzichtet. Müller, seit 2006 im Landtag, steht auf Listenplatz zwei. Wenn Dahlemann und er sich treffen, haben sie einander nichts zu sagen. Dahlemann: "Ich sehe bei Müller nur Hass in den Augen." Gabriels "ungewöhnlicher Typ" setzt alles auf eine Karte. "Mein Wahlkreis wird einer der spannendsten", lacht Dahlemann. Verliert er, ist Schluss mit der Politik. Dann müssten er und seine Freundin erst einmal planen, wie es weitergehen könnte, meint er. Siegt er, so hat sie es ihm versprochen, kommt sie zurück nach Mecklenburg-Vorpommern. Für jede Gelegenheit der passende Anzug: Patrick Dahlemann am Ufer des Stettiner Haffs, mit SPD-Chef Sigmar Gabriel und am Wahlkampfstand Fotos Jens Gyarmaty 1604
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