Leseprobe - Psychologie bringt dich weiter

„JIM MUSSTE MIR
JEDEN TAG AUFS
NEUE ERKLÄREN,
DASS ER MEIN
MANN IST“
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GEHIRN
Su ...
verzweifelt
gesucht
Su Meck hatte eine junge Familie, als ihr vor 28 Jahren ein Ventilator
auf den Kopf fiel und sie ihr Gedächtnis verlor. Sie musste alles
wieder neu lernen und jeden neu kennenlernen, sogar ihre Kinder.
Ihr altes Leben aber ist ihr fremd geblieben – bis heute
S
ie wirkt wie ein All American
Girl, das in die besten Jahre
gekommen ist. Fröhlich, energisch, endlos plaudernd. Oft
wirft die 50-Jährige ihre ergrauten
Haare mit der Hand über die Schulter
und sieht einen mit fröhlichen Augen
an. Diese Geste verleiht ihr etwas Mädchenhaftes, sehr Lebendiges.
Wenn man sie so sieht, würde man
nicht glauben, was Su Meck mit 22
Jahren passiert ist: Die Amerikanerin
hat durch einen Unfall ihr gesamtes
Gedächtnis für Ereignisse und Fakten
verloren. Sie leidet seither an vollständiger retrograder Amnesie: Außer den
losen Fäden, die ihr andere über sie
selbst erzählt haben, weiß sie nichts
mehr von der Person, die sie vor dem
Unfall war. So hat sie sich aus dem
Nichts neu erfinden müssen. Erst jetzt,
28 Jahre später, habe sie endlich ein
wenig das Gefühl, jemand zu sein,
sagt sie – eine neue Su, die sie sich
holprig, Stück für Stück, hat zusammenbasteln müssen.
NUR NOCH NEBEL
Es war der 22. Mai 1988, ein Sonntag. Su wohnte mit ihrem Mann Jim
und ihren kleinen Söhnen Benjamin
und Patrick, damals zwei und fast ein
Jahr alt, in einem Vorort von Fort
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Sie ahmte andere Menschen
bis ins kleinste Detail nach: ihre
Bewegungen, ihre Sprache,
ihren Gesichtsausdruck
Worth, Texas. Sie ist in der Küche ihres Hauses beschäftigt, Patrick krabbelt auf dem Fußboden, sie nimmt ihn
hoch, hebt ihn kurz in die Luft – und
dann passiert es: Der Deckenventilator
schrappt über Patricks Rücken, löst
sich von der Decke und knallt Su auf
den Kopf. Jim springt aus dem Wohnzimmer herbei, Su kann ihm gerade
noch Patrick übergeben, bevor sie bewusstlos zusammenbricht. Der lose
Deckenventilator schwingt nach, baumelt noch an einem Elektrokabel.
Eine Woche später erwacht Su im
Kran­kenhaus aus dem Koma. „Wie
heißen Sie?“, fragt der Arzt, aber sie
weiß es nicht. In ihrem Kopf ist nur
noch Nebel. Jim taucht an ihrem Bett
auf, und sie denkt: Wer ist dieser fremde Mann? Und wo bin ich eigentlich?
„Sie sind Su, und Sie liegen im Krankenhaus“, sagt man ihr immer wieder.
Aber sie versteht es nicht, begreift
nicht, was ein Krankenhaus ist. Auch
das Sprechen fällt ihr sehr schwer,
mit Mühe stößt sie ein paar Wörter
aus. Neurologische Tests zeigen, dass
sie Konzentrations- und Verständnisschwierigkeiten hat.
WACKELPUDDING MIT
HAARRISSEN
Ein paar Tage später kommt ihre
Schwester munter in ihr Zimmer. „Hi
Su, wie geht’s dir? Was bin ich froh,
dass du …“ Aber dann stutzt sie: Su
zeigt keinerlei Anzeichen von Erkennen. Auch nicht, als kurz danach ihre
Eltern vorbeischauen. Der Familie
geht es durch Mark und Bein: Dieser
leere Blick in Sus Augen, als hätten
sie sich nie gekannt.
Der Arzt diagnostiziert eine schwere
Gehirnquetschung. „Das gibt sich von
selbst wieder“, beruhigt er die Familie. Der Scan, den er von Sus Gehirn
gemacht hat, sieht normal aus. „Aber
weshalb hat sie dann diese Symptome?“, fragt Jim. „Vergleichen Sie
es mit einem Wackelpudding in einer
Tupperdose“, antwortet der Arzt.
„Wenn Sie die Dose heftig schütteln
und dann den Deckel abnehmen, sehen Sie auch überall kleine Risse. Der
Ventilator hat Sus Gehirn genauso
durchgeschüttelt, nur sind ihre Hirnrisse so winzig, dass sie auf dem Scan
nicht zu erkennen sind.“
Knapp einen Monat nach dem Unglück wird Su nach Hause entlassen.
Auf dem Heimweg hat sie Angst vor
dem Fremden am Steuer, von dem
man ihr sagte, er sei ihr „Ehemann“.
Sie erkennt weder ihr Viertel noch
ihr Haus, weiß nicht, was sie mit den
zwei kleinen Menschen soll, die sie
dort vorfindet und die ihre „Kinder“
sein sollen. Und was ist eine „Mutter“
eigentlich? Was erwartet man von
ihr? Sie weiß es nicht.
Im Flur sieht sie allerlei Fotos hängen
und erkennt darauf ihr Gesicht. Sie
ist verwirrt: Weder hat sie eine Erinnerung an die Orte, an denen die Aufnahmen entstanden sind, noch an die
Verwandten und Freunde, mit denen
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sie gemeinsam abgebildet ist. Es ist,
als spiele sie die Hauptrolle in einem
ihr unbekannten Leben.
APFELMUS IM
WASCHPULVERFACH
Fragt man sie heute nach dieser Zeit,
in der sie wie ein Zombie durch ihr
eigenes Leben irrte, muss Su eine Antwort schuldig bleiben. „Tut mir leid.“
Sie schüttelt den Kopf und sieht plötzlich traurig aus. „In den ersten Jahren
nach dem Unglück litt ich auch an
anterograder Amnesie, was bedeutet,
dass ich keine neuen Erinnerungen
speichern konnte. Jim hat mir später
erzählt, er habe mir jeden Tag aufs
Neue sagen müssen, dass er mein Ehemann sei und dass ich an diesem Tag
für unsere Kinder Benjamin und Patrick sorgen solle – und wofür eine
Waschmaschine da sei.“
Wieder schüttelt sie den Kopf. „Es ist
ein Wunder, dass damals keine grö­
ßeren Unfälle passiert sind in der Zeit,
in der Jim bei der Arbeit war. Zum
Glück habe ich nie etwas Riskanteres
getan, als Apfelmus ins Waschpulverfach zu kippen. Wenn Jim nicht alle
gefährlichen Dinge weggeräumt hätte,
bevor er das Haus verließ, hätte ich
wahrscheinlich das Bleichmittel für
Milch gehalten.“
Der Krankenhausarzt blieb bei seiner
Prognose, Sus Gedächtnis würde sich
von selbst erholen, und sie versuchte,
mithilfe von Jim, ihrer Familie und einem Au-pair ihr Leben als Hausfrau
und Mutter so gut wie möglich wieder
in den Griff zu kriegen. Sie brachten
ihr das Autofahren und Einkaufen neu
bei – obwohl sie in den ersten Jahren
nie den richtigen Weg fand. Aber da-