„JIM MUSSTE MIR JEDEN TAG AUFS NEUE ERKLÄREN, DASS ER MEIN MANN IST“ 44 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER SEPTEMBER/OKTOBER 2016 GEHIRN Su ... verzweifelt gesucht Su Meck hatte eine junge Familie, als ihr vor 28 Jahren ein Ventilator auf den Kopf fiel und sie ihr Gedächtnis verlor. Sie musste alles wieder neu lernen und jeden neu kennenlernen, sogar ihre Kinder. Ihr altes Leben aber ist ihr fremd geblieben – bis heute S ie wirkt wie ein All American Girl, das in die besten Jahre gekommen ist. Fröhlich, energisch, endlos plaudernd. Oft wirft die 50-Jährige ihre ergrauten Haare mit der Hand über die Schulter und sieht einen mit fröhlichen Augen an. Diese Geste verleiht ihr etwas Mädchenhaftes, sehr Lebendiges. Wenn man sie so sieht, würde man nicht glauben, was Su Meck mit 22 Jahren passiert ist: Die Amerikanerin hat durch einen Unfall ihr gesamtes Gedächtnis für Ereignisse und Fakten verloren. Sie leidet seither an vollständiger retrograder Amnesie: Außer den losen Fäden, die ihr andere über sie selbst erzählt haben, weiß sie nichts mehr von der Person, die sie vor dem Unfall war. So hat sie sich aus dem Nichts neu erfinden müssen. Erst jetzt, 28 Jahre später, habe sie endlich ein wenig das Gefühl, jemand zu sein, sagt sie – eine neue Su, die sie sich holprig, Stück für Stück, hat zusammenbasteln müssen. NUR NOCH NEBEL Es war der 22. Mai 1988, ein Sonntag. Su wohnte mit ihrem Mann Jim und ihren kleinen Söhnen Benjamin und Patrick, damals zwei und fast ein Jahr alt, in einem Vorort von Fort PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER SEPTEMBER/OKTOBER 2016 45 Sie ahmte andere Menschen bis ins kleinste Detail nach: ihre Bewegungen, ihre Sprache, ihren Gesichtsausdruck Worth, Texas. Sie ist in der Küche ihres Hauses beschäftigt, Patrick krabbelt auf dem Fußboden, sie nimmt ihn hoch, hebt ihn kurz in die Luft – und dann passiert es: Der Deckenventilator schrappt über Patricks Rücken, löst sich von der Decke und knallt Su auf den Kopf. Jim springt aus dem Wohnzimmer herbei, Su kann ihm gerade noch Patrick übergeben, bevor sie bewusstlos zusammenbricht. Der lose Deckenventilator schwingt nach, baumelt noch an einem Elektrokabel. Eine Woche später erwacht Su im Krankenhaus aus dem Koma. „Wie heißen Sie?“, fragt der Arzt, aber sie weiß es nicht. In ihrem Kopf ist nur noch Nebel. Jim taucht an ihrem Bett auf, und sie denkt: Wer ist dieser fremde Mann? Und wo bin ich eigentlich? „Sie sind Su, und Sie liegen im Krankenhaus“, sagt man ihr immer wieder. Aber sie versteht es nicht, begreift nicht, was ein Krankenhaus ist. Auch das Sprechen fällt ihr sehr schwer, mit Mühe stößt sie ein paar Wörter aus. Neurologische Tests zeigen, dass sie Konzentrations- und Verständnisschwierigkeiten hat. WACKELPUDDING MIT HAARRISSEN Ein paar Tage später kommt ihre Schwester munter in ihr Zimmer. „Hi Su, wie geht’s dir? Was bin ich froh, dass du …“ Aber dann stutzt sie: Su zeigt keinerlei Anzeichen von Erkennen. Auch nicht, als kurz danach ihre Eltern vorbeischauen. Der Familie geht es durch Mark und Bein: Dieser leere Blick in Sus Augen, als hätten sie sich nie gekannt. Der Arzt diagnostiziert eine schwere Gehirnquetschung. „Das gibt sich von selbst wieder“, beruhigt er die Familie. Der Scan, den er von Sus Gehirn gemacht hat, sieht normal aus. „Aber weshalb hat sie dann diese Symptome?“, fragt Jim. „Vergleichen Sie es mit einem Wackelpudding in einer Tupperdose“, antwortet der Arzt. „Wenn Sie die Dose heftig schütteln und dann den Deckel abnehmen, sehen Sie auch überall kleine Risse. Der Ventilator hat Sus Gehirn genauso durchgeschüttelt, nur sind ihre Hirnrisse so winzig, dass sie auf dem Scan nicht zu erkennen sind.“ Knapp einen Monat nach dem Unglück wird Su nach Hause entlassen. Auf dem Heimweg hat sie Angst vor dem Fremden am Steuer, von dem man ihr sagte, er sei ihr „Ehemann“. Sie erkennt weder ihr Viertel noch ihr Haus, weiß nicht, was sie mit den zwei kleinen Menschen soll, die sie dort vorfindet und die ihre „Kinder“ sein sollen. Und was ist eine „Mutter“ eigentlich? Was erwartet man von ihr? Sie weiß es nicht. Im Flur sieht sie allerlei Fotos hängen und erkennt darauf ihr Gesicht. Sie ist verwirrt: Weder hat sie eine Erinnerung an die Orte, an denen die Aufnahmen entstanden sind, noch an die Verwandten und Freunde, mit denen 46 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER SEPTEMBER/OKTOBER 2016 sie gemeinsam abgebildet ist. Es ist, als spiele sie die Hauptrolle in einem ihr unbekannten Leben. APFELMUS IM WASCHPULVERFACH Fragt man sie heute nach dieser Zeit, in der sie wie ein Zombie durch ihr eigenes Leben irrte, muss Su eine Antwort schuldig bleiben. „Tut mir leid.“ Sie schüttelt den Kopf und sieht plötzlich traurig aus. „In den ersten Jahren nach dem Unglück litt ich auch an anterograder Amnesie, was bedeutet, dass ich keine neuen Erinnerungen speichern konnte. Jim hat mir später erzählt, er habe mir jeden Tag aufs Neue sagen müssen, dass er mein Ehemann sei und dass ich an diesem Tag für unsere Kinder Benjamin und Patrick sorgen solle – und wofür eine Waschmaschine da sei.“ Wieder schüttelt sie den Kopf. „Es ist ein Wunder, dass damals keine grö ßeren Unfälle passiert sind in der Zeit, in der Jim bei der Arbeit war. Zum Glück habe ich nie etwas Riskanteres getan, als Apfelmus ins Waschpulverfach zu kippen. Wenn Jim nicht alle gefährlichen Dinge weggeräumt hätte, bevor er das Haus verließ, hätte ich wahrscheinlich das Bleichmittel für Milch gehalten.“ Der Krankenhausarzt blieb bei seiner Prognose, Sus Gedächtnis würde sich von selbst erholen, und sie versuchte, mithilfe von Jim, ihrer Familie und einem Au-pair ihr Leben als Hausfrau und Mutter so gut wie möglich wieder in den Griff zu kriegen. Sie brachten ihr das Autofahren und Einkaufen neu bei – obwohl sie in den ersten Jahren nie den richtigen Weg fand. Aber da-
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