Kunst Susie Hodge schlüssel ideen Susie Hodge 50 Schlüsselideen Kunst Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen Springer Spektrum 2 Inhalt Einleitung 3 VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR RENAISSANCE 01 Prähistorische Kunst 4 02 Ägyptische Kunst 8 03 Griechische Klassik 12 04 Buddhistische Kunst 16 05 Byzantinische Kunst 20 06 Gotik 24 07 Frührenaissance 28 08 Hochrenaissance 32 09 Manierismus 36 DIE AUSBREITUNG DES HUMANISMUS 10 Barock 40 11 Das Goldene Zeitalter der Niederlande 44 12 Rokoko 48 13 Klassizismus 52 14 Romantik 56 15 Akademie 60 16 Ukiyo-e 64 DER BEGINN DER MODERNE 17 Präraffaeliten 68 18 Realismus 72 19 Impressionismus 76 20 Symbolismus und Ästhetizismus 80 21 Postimpressionismus 84 22 Neoimpressionismus 88 23 Jugendstil 92 24 Fauvismus 96 25 Expressionismus 100 26 Kubismus 104 27 Futurismus 108 28 Shin-hanga 112 HERAUSFORDERUNGEN UND WANDEL 29 Dadaismus 116 30 Suprematismus 120 31 Konstruktivismus 124 32 Neoplastizismus 128 33 Bauhaus 132 34 Pittura Metafisica 136 35 Harlem Renaissance 140 36 Muralismo 144 37 Neue Sachlichkeit 148 38 Surrealismus 152 39 American Scene 156 40 Abstrakter Expressionismus 160 41 Colour-Field-Painting 164 NEUE RICHTUNGEN 42 Pop-Art 168 43 Op-Art 172 44 Minimal Art 176 45 Concept-Art 180 46 Performance 184 47 Land-Art 188 48 Neoexpressionismus 192 49 Hyperrealismus 196 50 Medienkunst 200 Glossar 204 Index 206 Einleitung Einleitung In der Geschichte erfüllte die Kunst zahlreiche Funktionen und war immer ein Spiegel ihrer Zeit. In ihrer einfachsten Form diente sie der Kommunikation oder als Dekor, aber sie wurde auch für viele andere Zwecke geschaffen: für religiöse Darstellungen, für Propaganda, zum Erinnern und Gedenken, als gesellschaftlicher Kommentar, zur Darstellung der Wirklichkeit, zur bildlichen Wiedergabe des Schönen, als Erzählung in Bildern oder zum Ausdrücken von Empfindungen. Kunst ist oft rätselhaft, überraschend und widersprüchlich, so dass wir uns gedrängt fühlen, sie verstehen oder definieren zu wollen. Dieses Buch handelt von vielen Ideen, die sich hinter der bildenden Kunst verbergen, von der Vorgeschichte bis heute. Betrachtet wird Kunst, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten geschaffen wurde. Dabei richtet sich der Blick darauf, wie die Verschmelzung von Traditionen, Techniken, Materialien, technischen Erfindungen, Umwelteinflüssen, sozialen und politischen Ereignissen und Umständen zu unerwarteten, inspirierenden oder rätselhaften Innovationen geführt haben. Er konzentriert sich auch auf die Verbindungen zwischen Kunst und den gesellschaftlichen Entwicklungen und Erwartungen im Hinblick auf die Wirkung von Kunst, die manchmal Ehrfurcht einflößt oder schockiert, die schön sein kann oder abgrundtief hässlich. Entsprechend einer weitgehend chronologischen Ordnung beginnt das Buch mit der frühesten Kunst und geht auf einige bahnbrechende Ideen ein, darunter beispielsweise die erstaunlichen Werke der Renaissance und die provozierenden Bilder und Skulpturen des 16. Jahrhunderts oder auch die japanischen „Bilder der fließenden Welt“. Es verdeutlicht, wie Künstler verschiedener Zeiten, Kulturen und Länder eine Fülle von Verfahren, Stilen und Bildern geschaffen haben und wie sich die Rolle der Künstler über Zeiten und Kontinente hinweg verändert hat. Zum Ende des Buches hin beschäftigen sich die Abschnitte mit der Explosion der Ideen während des 19. und 20. Jahrhunderts von der revolutionären Leistung des Impressionismus und der Entwicklung der abstrakten Kunst bis hin zu den extensiven Reaktionen und Neuinterpretationen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Das letzte Kapitel stellt einige der neuesten Begriffe der Kunst vor, die auf neue aufregende, überraschende und unvorhergesehene Möglichkeiten für die Zukunft hindeuten. 3 4 Von den Anfängen bis zur Renaissance 01 Prähistorische Kunst (ca. 30 000--2000 v. Chr.) Die Vorstellung, dass Kunst etwas Magisches beinhaltet, dass sie magische Kräfte hat und den Geist verzaubert, war in vielen frühen Gesellschaften ein weit verbreiteter Glaube. Nur wenige Beispiele prähistorischer Kunst haben sich erhalten, aber die wenigen, die überliefert sind, weisen auf vielfältige soziale Strukturen und religiöse Vorstellungen hin, die vielleicht vor einigen tausend Jahren allgemein bekannt waren, über die wir heute aber nur spekulieren können. Da die Anfänge der Kunst vor der schriftlichen Überlieferung datieren, wissen wir nicht, ob das älteste Kunstwerk, das gefunden wurde, typisch für seine Zeit und Kultur ist und ob es sich überhaupt um ein Kunstwerk handelt. Das älteste Fundstück, das sich sicher als Kunst klassifizieren lässt, stammt aus der späten Steinzeit und wurde zwischen 15 000 und 10 000 v. Chr. hergestellt. Damals malten, drückten oder kratzten die Menschen Bilder von Tieren, Jägern, Händen und verschiedenen Mustern auf bzw. in Höhlen- oder Felswände. Die Steinzeit umfasst drei Phasen: Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit, die auch als Paläo-, Meso- und Neolithikum bezeichnet werden. Das Paläolithikum, das je nach Angaben zwischen ca. 2,5 Millionen und 750 000 Jahren v. Chr. begann, endete um 10 000 v. Chr.; das Mesolithikum umspannte in Europa etwa 5000 Jahre und endete um 5500 v. Chr. mit der neolithischen Revolution. wobei dann das Neolithikum bis in die Zeit um 1500 v. Chr. reichte. Das Paläolithikum war die Zeit der Jäger und Sammler. Danach wurden die Menschen zunehmend sesshafte Bauern, die Siedlungen anlegten. Während des Meso- und Neolithikums änderten sich zwar der Stil und die Themen der steinzeitlichen Kunst, aber die Vorstellung blieb bestehen, dass Zeitleiste ca. 2,5 Mio.–40 000 v. Chr. Frühes und Mittleres Paläolithikum mit mehreren Eiszeiten; die Menschen stellen Steinwerkzeuge her, die auch die Entwicklung ihrer Kunst beeinflussen ca. 40 000–10 000 v. Chr. Spätes Paläolothikum mit Höhlenmalereien und Frauenfigurinen in Europa und den frühesten bekannten Felsenbildern in Australien Prähistorische Kunst Der Saal der Stiere Die großen, lebensnahen farbigen Bilder von Tieren an den Höhlenwänden und -decken von Lascaux lassen das Stampfen der Pferde, Bisons oder Stiere spüren. Gemalt wurden sie mit Pigmentfarben, die aus rotem und gelbem Ocker, Umbra und Holzkohle gewonnen und mit Kalk gemischt wurden. Die Mineralien wurden auf Steinpaletten gemahlen und gemischt und mit Tierfett vermengt, das dann mit Fingern, Kno- chenstücken, Zweigen, Moos- oder Fell-„Pinseln“ auf die Höhlenwände aufgetragen wurde. Viele der Tiere wurden möglicherweise nach Originalen gezeichnet, die bereits tot waren. Die naturalistische Darstellung der Tiere, vielfach zusammen mit Pfeilen oder Speeren, und die gelegentliche Übermalung von Bildern auch an schwer zugänglichen Stellen der Höhlen sprechen für einen Zusammenhang mit Jagdritualen. Höhlenbild, Lascaux, um 15 000 v. Chr. ca. 10 000–8000 v. Chr. Neolithische Revolution am Ende der Eiszeit – Jäger und Sammler werden Bauern. Felsenbilder entstehen in Indien, Algerien und der Sahara. In Frankreich, Deutschland, der Slowakei und Tschechien sowie Persien werden Tonwaren hergestellt ca. 8000–2000 v. Chr. Neolithikum mit der Entwicklung der Keramik, dem Beginn der Seidenproduktion in Asien und den ersten megalithischen Monumenten. Die Ägypter und die Sumerer entwickeln die Schrift. In Mexiko entstehen die Kolossalköpfe der Olmeken 5 6 Von den Anfängen bis zur Renaissance ‚ Zeichnen ist noch heute im Grunde dasselbe wie in prähistorischer Zeit. Es verbindet Menschen und die Welt. Es lebt von der Magie. Keith Haring ʻ künstlerische Schöpfungen vom Hauch der Magie oder Vorhersage der Zukunft berührt sein könnten. Höhlenbilder, die in Frankreich, Spanien, Italien, Russland und der Mongolei vor etwa 10 000 bis 30 000 Jahren entstanden, gehören zu den bekanntesten prähistorischen Kunstwerken. Besonders eindrucksvoll ist die Höhlenmalerei von Lascaux im Südwesten Frankreichs, immerhin 300 farbige Felsbilder und zudem 1500 Ritzzeichnungen. Sie wurden im Dunkel der Höhlen bei schlechtem Licht geschaffen, wirken aber bemerkenswert lebendig in den Farben und durch die kunstfertige Darstellung von Perspektive, Form und Bewegung der Tiere. Man vermutet, dass die meisten Höhlenbilder dieser prähistorischen Kunst rituellen Zwecken dienten. Fruchtbarkeit und Nahrung In Skulpturen und Plastiken wurden offenbar auch übernatürliche Kräfte vermutet. Die ersten Figuren wurden aus Bein, Stein oder Ton gefertigt. Insbesondere wurden kleine, rundliche Frauenfigurinen gefunden wie in Österreich die berühmte Venus von Willendorf, die etwa 11 cm hoch ist und vor etwa 25 000 Jahren entstand. Aus Europa sind inzwischen zahlreiche Venusstatuetten bekannt, die man als Fruchtbarkeitszeichen deutet. Handlungsfähigkeit, Aberglaube und Religion Die Deutungen der prähistorischen Kunst variieren nach wie vor. Vor vielen Höhlenbildern finden sich zahlreiche Fußspuren, die mit ziemlicher Sicherheit als Hinweis darauf gelten können, dass diese Bilder als Schutz vor Naturgewalten oder bösen Geistern angesehen wurden und vor ihnen religiöse Zusammenkünfte stattfanden. Zudem sind Darstellungen von Menschen in den paläolithischen Höhlenbildern ungewöhnlich und unrealistisch, was vermuten lässt, dass die Künstler an eine spirituelle Wirkung glaubten. Man erhoffte sich Einfluss auf die unsicheren Nahrungsquellen, von denen man abhängig war, und versuchte, mit den unsichtbaren Kräften, die man überall vermutete, gute Beziehungen zu erreichen. Die Bilder könnten eine Form der Kontrolle über die eigene Bestimmung gewesen sein. Ob die paläolithischen Künstler an Götter oder höhere Wesen geglaubt haben, ist unklar, aber die Vorstellung von übernatürlichen Kräften, die durch Kunst geweckt werden, war mächtig und hatte über Jahrtausende Bestand. Im Mesolithikum begannen die Künstler zunehmend auf offenliegende Felswände zu malen und nicht nur auf die Wände in dunklen Höhlen. Die Bilder wur- Prähistorische Kunst den stilisierter, zeigten häufiger Menschen. Die Darstellungen der menschlichen Gestalt wurden abstrakter. Männer wurden oft als Krieger gezeigt. Die mesolithische Vorstellung, dass Menschen ihre Umwelt gestalten und nicht deren Opfer sein sollen, führte dazu, dass sie sich selbst als zuversichtliche Akteure wiedergaben und nicht nur auf religiöse Inhalte konzentrierten. Frauen als Kunstschaffende Es wurde oft angenommen, dass die prähistorischen Bilder nur von Männern gemalt wurden. Woran nicht gedacht wurde, war die Möglichkeit, dass auch Frauen beteiligt gewesen sein könnten. Eine neuere Untersuchung ergab jedoch Hinweise darauf, dass unter den Künstlern tatsächlich auch Frauen waren – die demzufolge eine wichtigere Rolle in der prähistorischen Gesellschaft gespielt haben könnten, als bislang vermutet wurde. Funktion und Form Im Neolithikum wurde das Leben stabiler und die Menschen kultivierten Pflanzen und Tiere. Statt nur zu jagen, begannen sie zu pflügen. In dieser Zeit entstanden die bedeutenden megalithischen Monumente wie Stonehenge in Südengland oder Beltany in Irland, die für die astronomische Ausrichtung ihrer Steinreihen berühmt sind. Es ist unbekannt, wie diese schweren Steine transportiert und aufgestellt wurden, und auch die Bedeutung der Megalithbauten ist unklar, zumal sie von späteren Generationen für verschiedene Zwecke wiederverwendet wurden. Aber es gibt einige Theorien, die darin Heilungs- oder Grabstätten, Tempel zur Verehrung der Sonne oder des Mondes oder auch der Ahnen und sogar umfassende Kalendarien vermuten. Die archäologische Befunde sprechendafür, dass Stonehenge in den ersten 500 Jahren als Begräbnisstätte genutzt wurde. Die Bezüge zu Sonne und Mond galten lange als ein menschlicher Versuch, mit übernatürlichen Kräften in Verbindung zu treten. Ein bleibender Glaube Die frühesten Vorstellungen, die hinter dem Kunstschaffen stecken, wurden über Jahrhunderte tradiert. Eine Überzeugung hat sich in vielen verschiedenen Kunstrichtungen unserer Geschichte besonders herausgebildet: Kunst kann, wenn sie einmal geschaffen ist, magische Wirkung in Verbindung mit Aberglauben und dem Glauben an höhere Mächte in unserem Leben oder im Jenseits entfalten, und Menschen haben die Fähigkeit, die Welt zu beeinflussen, indem sie Symbole schaffen und ihre Erfahrungen in statischen Bildern festhalten. Ohne schriftliche Überlieferung lässt sich über die Vorstellungen der prähistorischen Künstler nur spekulieren, aber die Hinweise durch die Fundorte, die Bildinhalte und die Art der Darstellung verdichten sich zur Wahrscheinlichkeit, dass die Kunst für spirituelle Zwecke genutzt wurde. Worum es geht Kunst hatte magische Kraft 7 8 Von den Anfängen bis zur Renaissance 02 Ägyptische Kunst (ca. 3000 --30 v. Chr.) Das alte Ägypten umfasst eine Zeitspanne von etwa 3000 Jahren, in denen sich die Kunst kaum verändert hat. Die altägyptischen Künstler entwickelten bald ein System, in dem sie alles darstellen konnten, und setzten damit den Rahmen für die Künstler auch der nachfolgenden Generationen. Ihre anfänglichen Vorstellungen wurden zur Regel, von denen die späteren Künstler bei ihren Darstellungen nicht abwichen. Daher konnten sie in ihre Werke keine individuelle Gestaltung einbringen. Wie andere alte Kulturen war die ägyptische Kultur von Symbolik und dem Glauben an die Existenz von Göttern geprägt, die man bei Laune halten musste, um ihre gutwillige Unterstützung zu sichern. Der Kern der ägyptischen Kultur war die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod. Kunst für die Toten Die berühmtesten ägyptischen Kunstwerke wurden für Gräber geschaffen und nicht für lebende Betrachter. Sie wurden nicht dafür gemacht, dass wir sie bewundern. Einen Hinweis darauf liefert bereits das ägyptische Wort für Bildhauer: „der am Leben hält“. Die Aufgabe der ägyptischen Künstler, die diese Grabkunst schufen, bestand nicht darin, zu schmücken und zu verschönern oder die Lebenden zu beglücken. Vielmehr galt es, den (hochgestellten) Toten beizustehen, damit sie nach dem Tod weiterleben können, von den Gottheiten im Totenreich wohlwollend aufgenommen werden und dort die gleichen Annehmlichkeiten genießen wie im irdischen Leben. Entsprechend wurden die Gräber mit Dingen des täglichen Bedarfs ausgestattet und mit Bildern aus dem irdischen Leben der Toten geschmückt. Auch Statuen oder Statuetten der Toten wurden beigegeben, die deren irdische Position darstellen, und schließlich Bilder von Personen ihrer Umgebung, darunter Familienangehörige und Dienerschaft. Die Bilder, Skulpturen oder Reliefs sollten nach dem Schließen des Grabes entsprechend dem Glauben der Zeitleiste 2575–2467 v.Chr. ca. Die ersten Hieroglyphen – aus der „Schrift der Gottesworte“ – werden auf die Wände der Königsgräber geschrieben Eine rechteckige Gruppierung setzt sich für Gemälde und Skulpturen durch 1991 v. Chr. 1550 v. Chr. ab ca. Mit der 18. Dynastie erreicht die Kunstproduktion ihren Höhepunkt Die ägyptischen Gottheiten werden in den Darstellungen zunehmend gruppiert, um die familiären Zusammenhänge zu zeigen 1540 v. Chr. Ägyptische Kunst Ägyptische Grabmalerei Das Grab der Nefertari ist typisch für die Königsgräber dieser Periode. Die Wände sind mit Schriftzeichen und Szenen aus dem Leben dieser Königin geschmückt, um ihr den Eingang ins Jenseits zu erleichtern. Entstanden um 1255 v. Chr., zeigt dieses Wandbild die Königin beim Brettspiel. Es folgt festen Regeln der Portraitkunst. So sind der Rumpf und die Augen in Frontalansicht dargestellt, Kopf, Arme und Beine jedoch im Profil. Auch die Spielfiguren sind in der Seitenansicht gezeigt, um ihre typischen Merkmale hervorzuheben. Hieroglyphen als „Schrift der Gottesworte“ sollten bewirken, dass Nefertari durch die Verwandlung in einen Vogel ihren irdischen Leib verlassen und ins Jenseits der Unsterblichen gelangen konnte. Die Schach spielende Königin, Wandbild im Grab der Nefertari, Theben ca. 1255 v. Chr. 1352–1336 v. Chr. Regentschaft Echnatons, der eine neue Hauptstadt baut und neue Vorstellungen von Kunst und Religion einführt ca. 1336–1327 v. Chr. Regentschaft von Tutanchamun und Rückverlegung der Hauptstadt nach Theben ca. 1326 v. Chr. Rückkehr zu den alten Göttern, Weltanschauungen, Regeln und Stilformen in Religion und Kunst 9 10 Von den Anfängen bis zur Renaissance ‚ Hier versteht man die Gegensätze. Prächtige Dinge liegen im Staub. Gustave Flaubert ʻ alten Ägypter Verwandlungskräfte entwickeln, die den dargestellten Dingen entsprachen. Mit der Abbildung eines Dieners beispielsweise sollte dem Toten auch im Jenseits ein Diener zur Seite gestellt werden. Ein präzises System Es gehörte zur Aufgabe der ägyptischen Künstler, alles möglichst klar und eindeutig darzustellen. So war ihre Kunst im Wesentlichen schematisch. Persönliche Deutungen, das Zeichnen nach eigenen Beobachtungen aus dem täglichen Leben, fantasievolle Ausschmückungen oder sonstige Normabweichungen waren streng verboten. Die Künstler mussten vielmehr in einer langwierigen Ausbildung den strengen Kodex der Darstellung auswendig lernen und bei jedem Werk anwenden. Die Figuren und Formen der ägyptischen Kunst sehen zwar einfach aus, aber es herrscht eine ziemlich komplexe Balance und Harmonie in der geometrischen Regelmäßigkeit und der Anordnung aller Elemente. Ungeachtet des Ziels, Stilisierungen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, führten die unveränderlichen Darstellungsformen zu einem einmaligen und einzigartigen Stil, der noch in späteren Jahrhunderten bewundert und nachgeahmt wurde. Die Methode Die Künstler gingen methodisch und systematisch ans Werk. Zur Anfertigung von Wandbildern markierten sie zunächst auf der hierfür vorgesehenen Malfläche ein Gitterraster, indem sie farbgetränkte Schnüre über die Wand spannten. Im nächsten Schritt wurde eine auf Papyrus angebrachte Vorzeichnung auf die Wand übertragen und schließlich mit bunten, kräftigen Farben ausgemalt. Es wurde kein Versuch unternommen, Tiefe, Perspektive oder Textur darzustellen. Alles wurde unter dem Blickwinkel gezeigt, unter dem sich typische Merkmale hervorheben ließen. Reliefs wurden ähnlich erstellt, und auch Skulpturen wurden anhand von Liniennetzen und strengen Darstellungsregeln gefertigt. Alles zielte auf den Schutz der Seele der Toten, insbesondere Statuen aus Stein, deren Schutz für die Ewigkeit Bestand hatte. Darstellungsregeln Ähnlich wie der Blickwinkel nach dem typischen Aussehen gewählt wurde, diente die Größe der Abbildung zur Kennzeichnung der jeweiligen Bedeutung der dargestellten Personen. Männer beispielsweise sind größer wiedergegeben als Frauen, die ihrerseits aber ebenfalls größer sind als die Diener. Frauen werden gewöhnlich untätig dargestellt, Männer eher in Aktion. Männer wer- Ägyptische Kunst den in dunkleren Farben zwischen Braun und Echnaton Rot gezeigt, Frauen meist in hellen Gelbtönen. Dinge wie Häuser, Bäume oder Boote In den 3000 Jahren hat von allen Pharaonen werden in Seitenansicht wiedergegeben, nur einer den Versuch gemacht, die ägyptische während Flüsse und Fische in Aufsicht dargeReligion und Kunst zu verändern: Echnaton stellt sind. Jeder der über 2000 Götter hatte glaubte an nur einen Gott, an Aton, die Quelle ein genau vorgeschriebenes Aussehen. Und des Lebens und des Lichts. Er ließ eine neue oft finden sich in den Bildern Symbole, von Hauptstadt bauen und ermutigte die Künstler, denen man glaubte, dass die Götter sie versich mehr auf die Lebenden als auf die Toten stehen: der Skarabäus als Lebens- und zu konzentrieren sowie ihre Kunstwerke naturGlückssymbol oder Frosch und Ente als Zeigetreu und zwanglos zu gestalten. Aber diese chen für Fruchtbarkeit. Sitzende Statuen sind Periode der individuellen Gestaltung in der mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln Kunst war kurz. Die Priester- und Ältestenelite gestaltet, stehende mit einem vorgestellten sah darin eine Ketzerei und setzte nach EchnaBein. Wie Gemälde und Reliefs wurden auch tons Tod die alten Regeln während der Regiedie Skulpturen nach vorgegebenen Regeln rungszeit von dessen Schwiegersohn Tutanchgestaltet. Sie zeigen nicht das tatsächliche amun wieder in Kraft. Die Hauptstadt wurde Aussehen einer Person, so dass etwa die nach Theben zurückverlegt. königlichen Statuen kaum Ähnlichkeiten mit den Portraitierten aufweisen. Die Ausgestaltung für die Ewigkeit war wichtiger als die naturgetreue Wiedergabe. Leitend war der Glaube, dass die Toten (in der Regel Könige, manchmal auch hochgestellte Adelige) im Schutz ihrer Gräber weiterleben sollten. Die Götter würden all die Bilder, Bitten, Schriftzeichen und Opfergaben verstehen und den Toten in das jenseitige Reich der Unsterblichen aufnehmen. Drei Gesichtspunkte Die ägyptische Kunst begann, wie sie endete: Es gab keine frühe Periode der Entwicklung und nur eine Stiländerung während der gesamten Zeit. Von Beginn an war sie meisterhaft und den späteren Werken ebenbürtig. Sie entsprang drei wichtigen Grundgedanken der ägyptischen Kultur: Religion, Totenkult und genaue regelgerechte Anwendung der etablierten Tradition. Worum Kunst dientes dengeht Toten 11 12 Von den Anfängen bis zur Renaissance 03 Griechische Klassik (ca. 500--320 v. Chr.) Für die alten Griechen gehörten der Mensch, das rationale Denken und die Wissenschaft zu den zentralen Themen, die sich auch in ihrer Kunst widerspiegeln. Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschen und der Natur ging mit einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit einher. Zugleich liebten sie die Ästhetik und die Idealisierung der verzeichneten Sachverhalte. Diese Mischung aus Idealismus und Naturalismus hat die Kunst der griechischen Klassik geprägt. Nach dem Sieg der Griechen über die Perser im Jahre 480 v. Chr. gab es über 30 Jahre hinweg einen neuen Bund von Stadtstaaten unter Führung Athens. In dieser Zeit des Friedens, der politischen Stärke und Sicherheit blühte auch die Kunst. Zwar hatte sich die Kunst bereits über Generationen rasant entwickelt, aber nun stieg die Produktivität sprunghaft an. Technische Meisterschaft Anders als die alten Ägypter beschäftigten sich die griechischen Künstler mehr mit dem Leben als mit dem Tod. Neben dem Geist, der sie in seinen Bann zog, galt ihr Interesse dem Körper und seinen Möglichkeiten – entsprechend der Idee der Olympischen Spiele (die seit 776 v. Chr. belegt sind). Man strebte nach geistiger und körperlicher Vervollkommnung, und diesem allgemeinen Leitbild folgend stellten die Künstler perfekte Körper in einem makellosen Umfeld dar. Die Vorstellung von Schönheit und Makellosigkeit ergab sich aus den göttlichen Idealen, in denen sich Götter und vollkommene Menschen gleichen. In Athen gab es eine Welle des kreativen Schaffens für die Kunst an und in öffentlichen sowie sakralen Gebäuden. Reliefs, Wandbilder und Statuen schmückten die Bauwerke und zeigten Götter und Helden der Sagen und Mythen. Statuen wurden als kraftvolle jugendliche Körper gestaltet mit wohlproportioniertem Rumpf und glatten, muskulösen Gliedmaßen. Dahinter standen umwälzende Ideen. War zuvor die Kunst aller Kulturen durch eine stilisierende oder vereinfachende Darstel- Zeitleiste 480 v. Chr. 474 v. Chr. 450 v. Chr. Sieg der Griechen über die angreifenden Perser und Beginn der klassischen Antike Beginn der Errichtung des Parthenon für Athens Stadtgöttin auf der Akropolis Myron gießt den Diskobolos (Diskuswerfer) Griechische Klassik Der Diskuswerfer Die Mischung von naturalistischen und ideellen Elementen appellierte an das Faible der Griechen für schöne Körper und die geistige Vervollkommnung in der Kunst. Das Gestalten nach lebenden Modellen wurde nun zum Standard, was es zuvor nicht gegeben hatte. Myrons Diskuswerfer, der um 450 geschaffene Diskobolos, ist eine überzeugende Darstellung eines Körpers in Bewegung. Das Original ist nicht erhalten, aber es gibt einige römische Kopien davon – darunter die hier abgebildete Darstellung eines jungen Athleten beim Schleudern eines Diskus aus der Körperdrehung heraus. Die Griechen bewunderten das physische Erscheinungsbild dieser Diskuswerfer, weil bei ihnen alle Muskeln in harmonischen Proportionen zueinander stehen. Die Figur ist ausdrucksstark, naturalistisch und makellos – allerdings sind die Muskeln entspannt dargestellt, was nicht unbedingt der besten Wurftechnik entspricht. Kopie von Myrons Diskobolos. 438 v. Chr. 435 v. Chr. Phidias schafft die Athena Parthenos für den Tempel der Stadtgöttin Athens auf der Akropolis Phidias vollendet die 12 m hohe Zeusstatue, die als eines der sieben Weltwunder galt ca. 350 v. Chr. Der Bildhauer Praxiteles schafft eine Aphroditestatue, die erste Nacktdarstellung eines weiblichen Körpers, die durch ihre Schönheit berühmt wurde 13 14 Von den Anfängen bis zur Renaissance lungsweise gekennzeichnet, so studierten die Künstler nun erstmals die darzustellenden Dinge eingehend, um sie so abzubilEin Gestaltungselement der Bildhauerei, das in den, wie man sie wahrnimmt. Zum ersten der Renaissance die italienische Bezeichnung Mal wurden realistische Darstellungselecontrapposto bekommen sollte, kennzeichnet mente wie Verkürzung und Textur angeStatuen, bei denen das Körpergewicht auf wandt und genaue Details eingefügt im einem Standbein lastet und durch die Drehung Bestreben, das Leben so wiederzugeben, der Arme und Schultern in Verbindung mit dem wie es sich den Augen bot. Trotz der Spielbein ein statisches Gleichgewicht erreicht Beschädigungen und Zerstörungen zeugt wird. In der Renaissance galt diese Haltung die Kunst dieser Periode immer noch von einer Figur als ideal, und die damaligen Künsttechnischer Meisterschaft und genauer ler kopierten sie frei in dem Wissen, dass sie Beobachtung. Sie wurde dann weiter versich an Polyklet orientierten, der den Kontrabessert, um ihr ein perfektes Aussehen zu post als erster Bildhauer anwendete. geben. Die meisten griechischen Gemälde haben sich jedoch nicht erhalten, weil sie auf Holz gemalt oder der Witterung ausgesetzt waren. Aber viele sind durch römische Kopien überliefert. Auch die farbige Fassung der Statuen ist meist verschwunden. Diese Kunstwerke müssen für die Bürger Athens, die so etwas nie zuvor gesehen hatten, eindrucksvoll gewesen sein. Kontrapost Innovative Bildhauer Zum ersten Mal in der Geschichte hoben sich in der griechischen Klassik einzelne Namen aus der Masse anonymer Künstler hervor. Drei Bildhauer gelten hier als besonders stilbildend mit ihren Schulen, die noch lange über den Tod ihrer Begründer hinaus einflussreich blieben. Myron aus Eleutherai hatte seine Schaffensperiode zwischen 480 und 440 v. Chr. Neben lebensnahen Statuen von Göttern und Helden hat er Darstellungen von Athleten in dynamischer Bewegung geschaffen, die ihn berühmt gemacht haben. Als einer der bekanntesten Bildhauer der Klassik, die im aufsteigenden Athen wirkten, gilt Phidias (500–432 v. Chr.). Er soll bei vielen öffentlichen Bauaufgaben Aufsicht geführt haben, insbesondere beim Parthenon und bei den dort geplanten Standbildern. Seine Zeusstatue in Olympia war eines der sieben Weltwunder der Antike. Er gestaltete auch zwei Athenestatuen auf der Akropolis, von denen eine groß genug war, um vom Meer aus sichtbar zu sein. Sein Werk ist von Aufmerksamkeit für naturalistische Details und von kunstfertiger Drapierung der Kleidung gekennzeichnet. Der dritte berühmte Bildhauer dieser Zeit war Polyklet, der um 480 v. Chr. geboren wurde und um die Jahrhundertwende starb. Er schuf idealisierte Figuren in entspannter, natürlicher Haltung, wie sie später in der Renaissance wieder aufgenommen wurde. Sein besonderes Gestaltungselement war der Kontrapost. Griechische Klassik ‚ Denn wir lieben das Schöne mit Einfachheit und wir erfreuen uns am geistigen Genuss ohne Weichlichkeit. Perikles ʻ Perfekte Proportionen Der Goldene Schnitt war schon bei den Griechen eine der harmonischen Teilungsverhältnisse, die man als schön wahrnimmt. Er wurde zuerst von den alten Ägyptern eingesetzt und viele Jahrhunderte später von Leonardo da Vinci mit dem Buchstaben Phi gekennzeichnet, nach Phidias, der diese ausbalancierten Proportionen in seinem gesamten Werk angewendet hat. Die Außenmaße des Parthenon folgen dem Goldenen Schnitt, und alle Skulpturen richten sich nach dieser Proportionsregel. Bei der Athenestatue beispielsweise entsprechen die Abstände zwischen Scheitel und Ohr, Stirn und Kinn sowie Nase und Ohrläppchen dem Goldenen Schnitt. Griechische Vasen Zwar galt auch bei den alten Griechen die Töpferei nicht als Kunst, aber sie wurde von ihnen in das Streben nach Perfektion einbezogen. Die griechischen Tonvasen sind fein gearbeitet und besitzen glatte, reich dekorierte Oberflächen. Harmonisch gruppierte Figuren bilden die Motive auf den gewölbten Flächen der Tongefäße aus klassischer Zeit. Die Vasenmaler liefern uns Hinweise auf die Kompositionen der verlorengegangenen Gemälde der großen zeitgenössischen Künstler, mit denen sie Schritt zu halten versuchten. Worum es geht Gehobener, idealisierender Realismus 15 16 Von den Anfängen bis zur Renaissance 04 Buddhistische Kunst (ca. 600 v. Chr.--700 n. Chr.) Der Buddhismus und seine Kunst umspannen inzwischen mehr als 2500 Jahre. Zwischen 600 und 500 v. Chr. haben indische Künstler begonnen, die Lehren Buddhas in bildlichen und symbolischen Darstellungen zu verbreiten. Dabei übernahmen die buddhistischen Künstler über 600 Jahre auch Vorstellungen der Römer, die ihrerseits stark von den Griechen beeinflusst waren. In der buddhistischen Kunst jener Zeit ging es um Darstellungen, die die Erlebnisse und Erfahrungen des geistlichen Lehrers Siddhartha Gautama, genannt Buddha, erläutern sollten. Die Religion, die er begründete, breitete sich von Nordindien über Zentralasien nach Osten und Westen aus. In den ersten buddhistischen Kunstwerken ist Buddha nicht als Mensch dargestellt, sondern seine Gegenwart wird durch Symbole angezeigt: eine Lotosblüte, Fußspuren, einen leeren Platz auf einem Thron oder unter einem Schirm. Die Künstler schufen stilisierte, flach und flächig gestaltete Bilder und Reliefs. Der Betrachter sollte ein tiefes Verständnis des Buddhismus gewinnen und vielleicht sogar selbst „erwachen“. Darstellungen des ernsten Buddhas Das erste Bild eines menschlichen Buddhas wurde im ersten vorchristlichen Jahrhundert in einem Teil Indiens geschaffen, der unter dem Namen Gandhara bekannt ist. Die Kunst, die sich dort damals entwickelte, ist klar erkennbar von den Griechen und Römern beeinflusst: Buddha wurde real als Mensch portraitiert, häufig mit ähnlichen Haarlocken wie bei den römischen Darstellungen Apollos sowie mit Schmuck und Toga im römischen Stil. Man ließ sich zunehmend vom lebensnahen, narrativen Realismus der römischen Kunst inspirieren, schuf aber durch die Vermischung mit einem Symbolismus Zeitleiste ca. 563 v. Chr. Siddhartha Gautama wird in Lumbini (im heutigen Nepal) in eine königliche Familie hineingeboren ca. 534 v. Chr. Prinz Siddhartha wird ein geistlicher Lehrer ca. 400 v. Chr. Buddhistische Künstler verwenden Symbole zur Darstellung von Buddhas Leben ca. 150 v. Chr. In Gandhara übernehmen Künstler die Ideen der Griechen und Römer für ihre Darstellungen Buddhas als Mensch Buddhistische Kunst eigene Ansätze. In anderen Teilen Indiens entstanden andere Stile und Deutungen bei der Darstellung Buddhas. Die Kunst Gandharas beeinflusste die Bildhauer in Mathura, einer Stadt in Nordindien, und strahlte bis in Teile von China, Korea und Japan aus. Die Künstler von Mathura deuteten die Buddha-Erzählungen neu. Sein Körper wurde nun durch prana, den heiligen Atem, aufgebläht und sein Gewand stets über die linke Schulter gelegt. In Südindien dagegen wurde Buddha mit einer über die rechte Schulter gelegten Toga und mit ernstem Gesichtsausdruck dargestellt. Dieser Stil breitete sich nach Sri Lanka aus. Schließlich wurden die Buddha-Darstellungen zu den beliebtesten Kunstwerken des Buddhismus, obwohl die ursprünglichen Symbole weiter- Meditierender Buddha, ca. 4.–6. Jahrhundert n. Chr. Das Gupta-Reich Das Gupta-Reich zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert n. Chr. wird manchmal als das goldene oder klassische Zeitalter Indiens bezeichnet. Es war eine Zeit der Erfindungen und Entdeckungen in Wissenschaft, Technik, Literatur, Mathematik, Astronomie, Philosophie und Kunst. Das Königreich stützte sich auf eine klassische Zivilisation; es herrschten Frieden und 120 v. Chr. 68 n. Chr. Der chinesische Kaiser Han Wudi erhält zwei goldene Buddhastatuen Der Buddhismus wird in China offiziell eingeführt Wohlstand. Die Künstler schufen zahllose Werke und entwickelten ihr eigenes „Idealbild“ von Buddha, in das Elemente der Kunst aus Gandhara und Mathura einflossen. Für Gupta-Buddhas sind die Haarlocken und die niedergeschlagenen Augen typisch. Sie wurden zum Archetyp für zukünftige Generationen buddhistischer Künstler in ganz Asien. ca. 320–500 n. Chr. Die Gupta-Dynastie markiert das goldene Zeitalter Indiens am Höhepunkt der buddhistischen Kunst ca. 650 n. Chr. Nach Überschreiten des Zenits kommt die buddhistische Kunst in Indien zum Erliegen 17 18 Von den Anfängen bis zur Renaissance hin ein wichtiges Gestaltungselement blieben, das freilich nicht mehr die entscheidende Bedeutung hatte. Wie auch immer Buddha dargestellt wurde, sein Ausdruck war stets ernst und seine Hände wurden in symbolischer Geste gezeigt. Sein Haar war schließlich auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden, und das togaähnliche Gewand glich sich zunehmend dem traditionellen indischen Kleidungsstil an. Religiöse Lehren Wie häufig in der religiösen Kunst strebte auch die buddhistische Kunst danach, ein Mittel der religiösen Erziehung zu sein, das die Gläubigen anziehen und ihre Aufmerksamkeit wecken sowie ihnen den Hintergrund der Religion erläutern soll. Ein weiteres Ziel dieser Kunst war die Unterstützung der Meditation. Der gläubige Betrachter wurde ermutigt, sich in die Kunst und ihre vielschichtigen Symbole kontemplativ zu vertiefen. Dabei sollte er sich um die Erfahrung spirituellen Erwachens bemühen. In späteren Jahrhunderten entstand eine neue Form des Buddhismus, die neue Götter und Rituale einschloss. Jetzt wurden außer Buddha und Symbolen völlig neue Götter dargestellt. Anfangs gab es für die Wiedergabe dieser Götter keine festen Konventionen, aber mit der Zeit tauchten wiederkehrende Elemente auf, die deutlich erkennbar und zunehmend bedeutsam wurden. Es kam darauf an, dass sie sich wiederholten und der Betrachter in ihnen die Grundaufgabe der buddhistischen Kunst wiedererkannte, nämlich in Klarheit vom Leben Buddhas zu zeugen. Der Betrachter sollte verstehen, was er sieht, und in seinem Glauben ermutigt und gefestigt werden. Die Erwachten Bodhisattvas sind Erwachte oder Erleuchtete, die Buddhas werden und den Menschen helfen wollen. Ihr Name leitet sich aus dem Sanskrit ab: bodhi heißt Erwachen und sattva Wesen. Ein Buddha ist zu unbegrenztem Mitgefühl und zu grenzenloser Weisheit fähig, und ein Bodhisattva wird jedes Leid ertra- Perfekte Proportionen Die klassischen Buddha-Darstellungen drücken stets Harmonie und Ernsthaftigkeit aus, ungeachtet des Stils. Dies beruht auf einem vorgegebenen System idealer Proportionen, dem alle buddhistischen Künstler verpflichtet waren. Ob es sich um große oder kleine Buddha-Darstellungen handelt, sie alle folgen den vorgegebenen Proportionen und Größenverhältnissen. Darin drückt sich eine Grundvorstellung der buddhistischen Kunst aus: Die perfekten Proportionen symbolisieren eine der zehn Kräfte eines Buddhas. Buddhistische Kunst ‚ Eine Idee, die entwickelt und umgesetzt ist, ist wichtiger als eine Idee, die nur als Idee existiert. Buddha ʻ gen, um einem anderen Lebewesen zu helfen. Von Anfang haben die Künstler ihre individuellen Deutungen in den Bodhisattwas verkörpert, auch als alles andere fest vorgeschrieben war. Sie portraitierten sie als junge, schöne und gottgleiche Wesen in prächtigen Seidengewändern und mit Juwelen geschmückt, fröhlich oder ernst und in gelassener Haltung. Während sich der Buddhismus in Asien verbreitete, gab es nicht nur verschiedene künstlerische Stile und Deutungen zu Buddha, sondern auch vielfältige Symbole in den einzelnen Kulturen. Einige Unterschiede vergrößerten sich mit der Zeit, aber es blieben auch einige Gemeinsamkeiten kulturübergreifend bestehen wie die Symbolik der Farben und Handgesten. Außerdem sind beispielsweise folgende Symbole allgemeingültig: Das Auge steht für Weisheit, die Lotosblume für die Seelenwanderung; die Swastika, ein Kreuzsymbol, bedeutet Glück, ein Schirm symbolisiert Schutz, und das „Rad des Gesetzes“ stellt Buddhas Lehren für den Weg der Erleuchtung dar. Bei den Farben gibt es in der buddhistischen Kunst universelle Bedeutungen für Weiß, Gelb, Rot, Blau und Grün, die nach buddhistischem Glauben zu spirituellen Transformation verhelfen können, wenn der Betrachter zu einer dieser Farben meditiert. Entsprechend häufig tauchen sie in der buddhistischen Kunst verschiedener Länder auf. Jede Farbe hat ihre eigene spirituelle Kraft. Blau zum Beispiel steht für Ruhe und kontemplative Weisheit, Weiß für Wissen und Lernen, Grün für Energie und Tatkraft. Worumdie esMeditation geht und Kunst unterstützt spirituelle Transformation 19 20 Von den Anfängen bis zur Renaissance 05 Byzantinische Kunst (ca. 300--1204) Mit der Verbreitung des Christentums über ganz Europa wurde in der Kunst der Realismus der Griechen und Römer aufgegeben. In der Verwendung von Kultstatuen sah man nun eine Form der Abgötterei. Auch blickte man missbilligend auf – aus christlicher Sicht – überhöhende Portraits gewöhnlicher Menschen, da diese nicht über Gott gestellt werden dürften. Die Fähigkeiten der Künstler wurden nun als Gabe Gottes aufgefasst, die zum Überbringen seiner Botschaft genutzt werden sollte. Die Wurzeln der christlichen Kunst liegen in einer Zeit, lange bevor der römische Kaiser Konstantin zum christlichen Glauben übertrat und ihn 313 legalisierte. Die frühesten christlichen Kunstwerke finden sich an Decken und Wänden der Katakomben Roms, in denen die Gläubigen ihre verbotene Religion heimlich praktizierten. Diese Darstellungen sind ziemlich kunstlos, weil es hierbei um die Illustration christlicher Vorstellungen und nicht um künstlerische Selbstverwirklichung ging. Es handelt sich um biblische Themen, wobei Christus oft Ähnlichkeit mit Apollo hat und Gottvater die Züge von Zeus bzw. Jupiter trägt. Das gab jedem Betrachter, der mit der griechischen und römischen Kunst vertraut war, deutlich zu verstehen, dass es sich hier um Gottesbilder handelt. Das waren allerdings wohl auch die einzigen Bezüge zur Kunst der Griechen und Römer, denn die Christen lehnten in ihrem Bemühen um die Lehren ihrer Kirche viele Vorstellungen der Künstler vor ihnen ab. So finden sich bei ihnen beispielsweise keine Bilder von nackten Menschen. Die Darstellungen waren auch kaum narrativ, denn sie wollten nicht so sehr die biblischen Geschichten lehren, als vielmehr vom Ruhm Gottes und der Heiligkeit der Schrift künden. Zeitleiste 313 323 476 730 Kaiser Konstantin konvertiert zum Christentum Kaiser Konstantin revitalisiert Byzantium und macht Konstantinopel, zu einem Zentrum christlicher Kunst im Römischen Reich Das weströmische Reich bricht zusammen Kaiser Leo III. nimmt im byzantinischen Bilderstreit Partei gegen die Ikonenverehrung Byzantinische Kunst 21 Inspiration für Unbelesene Im Jahre 323 machte Konstantin Byzantium zum neuen Rom. Durch ihn wurde das Christentum kurz darauf zu einer bedeutenden Religion im Römischen Reich. In Konstantins Hauptstadt wurden Basiliken gebaut, die mit Reliefs, Wandbildern oder Mosaiken als beliebten Dekoren ausgestattet wurden. Diese christliche Kunst verbreitete sich zusammen mit dem Glauben im gesamten Römischen Reich und fand sich schließlich auch in Städten wie Ravenna oder Venedig, auf Sizilien sowie in Griechenland Byzanz und Russland. Man stellte Mosaike, Ikonen, Vom Niedergang des Weströmischen Reiches, illuminierte Handschriften, Fresken und der sich immerhin über 300 Jahre hinzog, blieb Reliefs her, um die Wunder der Heiligen Ostrom – Byzantium – unbehelligt. Als byzantiSchrift überall zu verbreiten, öffentlich oder nisch werden sowohl der oströmische Machtauch privat. Der einzige weltliche Bezug war bereich als auch seine Kunst bezeichnet. Das die Darstellung jenes menschlichen Verhalbyzantinische Reich erstreckte sich in seiner tens, das den Weg in den Himmel ermöglicht. größten Ausdehnung unter Kaiser Justinian fast Und weil die meisten Gläubigen nicht lesen über den gesamten Mittelmeerraum. konnten, drückten die Kunstwerke eher den Geist der Bibel als detailliert komplexe Glaubensangelegenheiten aus. Das Ziel war, den Gläubigen beim Gottesdienst einen festen Halt zu bieten und möglichst viele neue Anhänger zu gewinnen. Mit leuchtenden Mosaiken, goldenem Bildhintergrund und Ehrfurcht gebietender Größe sollte diese Kunst das Christentum verbreiten helfen. Zum Ruhme Gottes Byzantinische Künstler waren oft Mönche. Das zweite der Zehn Gebote (Du sollst dir kein Bildnis von mir machen) verbietet menschenähnliche Gottesdarstellungen. Der Realismus bzw. Naturalismus und Statuen in der Tradition der griechisch-römischen Antike waren bei den christlichen Künstlern nicht populär. Die Figuren in den Gemälden oder Mosaiken sind zweidimensional gestaltet, ohne Schatten und ohne Perspektive. Sie blicken frontal nach vorn und unterscheiden sich kaum im Ausdruck. Sie sind in Gewanddraperien gehüllt, welche die Körperformen verdecken. Während der Realismus der Antike eine lebensnahe Darstellung anstrebte, folgten die byzantinischen Künstler einem eher symbolistischen Ansatz. Der Betrachter sollte weder die künstlerische Darstellung bewundern noch die Wirklichkeit mit der Darstellung vermischen. Der goldene Hintergrund der Ikonen symbolisiert die Transzendenz und Herrlichkeit Gottes. Die Pracht und der 843 1067–1070 1204 1261 1453 Ikonen werden bei den Byzantinern offiziell wieder erlaubt, die byzantinische Kunst blüht wieder auf In Südengland wird der Teppich von Bayeux gestickt – mit einfachen Materialien und ohne die Pracht byzantinischer Kunst Beim vierten Kreuzzug wird Konstantinopel geplündert Rückeroberung und Wiederaufbau Konstantinopels, aber das byzantinische Reich ist verkleinert und geschwächt Konstantinopel fällt an das Osmanische Reich 22 Von den Anfängen bis zur Renaissance Ikonen Zu den wichtigsten Elementen byzantinischer Kunst gehören Ikonen – Kultbilder von Christus, seiner Mutter Maria und Heiligen. Zur Andacht wurden Ikonen in Kirchen und Häusern angebracht. Die Abbildungen sind weder realistisch noch naturalistisch, sondern stilisiert und wurden verehrt, weil man an die Aura des Heiligen glaubte. Die hier abgebildete Maria als Orantin in der Sophienkathedrale von Kiew ist ein typisches Beispiel. Dieses Mosaik entstand im 11. Jahrhundert und zeigt deutlich den Einfluss der byzantinischen Kunst. Die Gottesmutter hat ihre Arme zum Gebet erhoben. Das helle Tuch an ihrem Gürtel demonstriert, dass sie denen, die mit ihren Sorgen zu ihr kommen, die Tränen trocknen wird. Maria als Orantin auf einem zwischen 1037 und 1041 entstandenen Mosaik; Sophienkathedrale, Kiew. Byzantinische Kunst Reichtum der Kirchen, die überall aus dem Boden schossen, gehörten zu den wichtigsten Mitteln, um Ehrfurcht einzuflößen und die Gegenwart Gottes anzuzeigen. Heilige Symbole wurden zum festen Bestandteil vieler Kunstwerke und in ihrer Bedeutung wichtig für das Christentum. So symbolisiert der Schlüssel die Bindeund Lösegewalt der Kirche, der Kelch erinnert an das Letzte Abendmahl und das Kreuz – als wichtigstes christliches Zeichen Denn darum wurden in – an den Erlösungstod Christi am Kreuz. ‚ den Kirchen Gemälde Ikonoklasmus Das Hauptanliegen der christlich-byzantini- verwendet, damit die des Lesens Unkundigen schen Kunst war die Verherrlichung Gottes und der Heiligen. Dementsprechend wurden unzählige Kultbilder vom dreifaltigen wenigstens durch den Anblick der Wände lesen, Gott, von Jesus allein, von Maria und diversen Heiligen bzw. was sie in Büchern nicht Märtyrern geschaffen. Um deren Erhabenheit zu verdeutlichen, entwickelten die byzantinischen Künstler vielfältige Techniken. zu lesen vermögen Die erste große Zeit der byzantinischen Sakralkunst fiel in die Papst Gregor der Große Regierungszeit Justinians (427–565), der das römische Recht mit Blick auf das Christentum neu fasste und sich als Kaiser von Gottes Gnaden betrachtete – mit Folgen für die Kunst. Nach alttestamentlichem Verständnis sind bildliche Darstellungen Gottes untersagt. Das führte unter Kaiser Leo III. um 730 zum Bilderstreit und sogar zum Bildersturm – zum Ikonoklasmus, der bis 834 andauerte und in dieser Zeit eine Weiterentwicklung der Sakralkunst dort verhinderte. ʻ Illuminierte Handschriften Während sich das Christentum ausbreitete, kamen auch reich illustrierte Handschriften in Umlauf, die liturgische Gebete oder biblische Geschichten enthielten und von Schreibern von Hand gefertigt wurden. Die kostbar mit Gold und erlauchten Farben illuminierten Handschriften waren nicht für die ungebildete Allgemeinheit, sondern für Mitglieder des Klerus und des Adels bestimmt, die lesen konnten. Worum es des geht Symbolische Darstellung Christentums 23 24 Von den Anfängen bis zur Renaissance 06 Gotik (ca. 1140--1500) Wie die byzantinische und auch die romanische Kunst, die der Gotik vorausging, war die gotische Kunst vom Symbolismus und dem Anliegen beeinflusst, dem Betrachter die Herrlichkeit Gottes vor Augen zu führen. Obwohl alle drei Stile zur christlichen Kunst gehören, unterscheiden sie sich grundlegend. Die Gotik begann als Baustil, in dem die Kathedralen immer höher zum Himmel aufragten und immer größere Fenster das Licht in den Innenraum fluten ließen. Die gotische Architektur entwickelte sich im 12. Jahrhundert in Frankreich und breitete sich schnell über ganz Europa aus, wo sie teilweise bis zu 400 Jahre bestimmend blieb. Sie begann um 1137 mit dem Neubau der Abteikirche von Saint-Denis bei Paris, den Abt Suger (ca. 1081–1151) leitete. Zur Chorweihe 1144 war eine neuartige, hochaufragende Architektur fertiggestellt, die das Licht durch große Fenster in den Innenraum fluten ließ – Abt Suger sprach vom einströmenden Himmelslicht. Diese schwerelos wirkende Architektur mit ihren von großen Fenstern durchbrochenen Wänden wurde danach in vielen anderen Kirchenbauten umgesetzt. Die Ausstattungskünstler stellten sich den Herausforderungen der neuen Architektur. Barbarischer Stil Das Wort „Gotik“ war ursprünglich eine verächtlich gemeinte Beschreibung dieses Kunststils. Die Bezeichnung kam in der Renaissance auf, die auf die Gotik folgte, und bezog sich auf die Goten, einen ostgermanischen Volksstamm, der das Römische Reich angegriffen und viele Kunstschätze zerstört hatte. Die Renaissancekünstler verachteten den gotischen Stil, der zu seiner Entstehungszeit freilich als groß und edel gegolten hatte – die gotischen Künstler hatten nichts mit den Plünderungen im Römischen Reich zu tun. Erst viel später wurde die gotische Kunst für ihre neuen Ideen wertgeschätzt, da sie die christliche Lehre auf neue und lebendige Weise vermittelt hatte. Zeitleiste vor 1140 Abt Suger leitet den Neubau von Saint-Denis bei Paris ein, der den Beginn eines neuen Stils in Architektur und Kunst markiert 1194–1220 1210 1215 Errichtung der Kathedrale von Chartres, die reich mit sakraler Kunst ausgestattet ist Franz von Assisi gründet den Bettelorden der Franziskaner Gründung des Predigerordens der Dominikaner Gotik Dominikaner und Franziskaner Zwei mächtige Orden wurden im 13. Jahrhundert gegründet: der der Franziskaner und der der Dominikaner. Beides waren Bettelorden. Die Dominikaner sahen vor allem Predigt, Studium und Seelsorge als ihre zentralen Aufgaben an, die Franziskaner hingegen die Linderung von Armut und Leid. Dementsprechend setzten Erstere in ihrer Kunst mehr auf Belehrung und Letztere mehr auf volkstümliche Andacht. Die Orden verdanken ihre Namen den Gründern, dem heiligen Franz von Assisi und dem heiligen Dominikus. Die meiste gotische Kunst wurde für den sakralen Bereich geschaffen und repräsentierte eine zunehmend wohlhabende und zivilisierte Gesellschaft. Architekten und Künstler wurden gleichrangig mit der Gestaltung bzw. Ausgestaltung der großen Kathedralen und Kirchen beauftragt. Abt Sugar glaubte, dass schöne Gegenstände in der Umgebung der Gläubigen deren Seelen erheben und Gott näher bringen würden. Die Maler schufen riesige Kirchenfenster aus buntem Glas, die die Wände großflächig durchbrachen, die zuvor massiv gebaut waren. Wie lichtdurchlässige Mosaike zeigten die oft aufwendig und vielschichtig gestalteten gotischen Kirchenfenster biblische Geschichten und Heiligenlegenden. Im Kirchenraum wirken sie wie bunte Edelsteine, die im hereinflutenden Licht in allen Farben des Regenbogens leuchten. Illustration von Ideen Den gotischen Künstlern kam es weniger darauf an, naturalistische oder realistische Darstellungen zu schaffen, sondern sie wollten Ideen abbilden. Die Kunst in den gotischen Kirchen diente vor allem dazu, die göttliche Allmacht auszudrücken, nicht als Selbstzweck. Anfangs wurde die handwerkliche Kunstfertigkeit höher geschätzt als die kreative Gestaltung, weshalb die Künstler weniger geachtet waren als die Handwerker. Die Künstler, die mit unterschiedlichen Mitteln arbeiteten, versuchten sich mit neuen Herangehensweisen zu behaupten. Bildhauer beispielsweise wandten sich stärker der Darstellung von Emotionen bei ihren Figuren zu, als es der mittelalterlichen Tradition entsprach. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts begannen sie, sich an den überlieferten griechischen und römischen Vorbildern zu orientieren und davon einige Ideen zu übernehmen. Aber ca. 1220 Geburt Nicola Pisanos, des Begründers eines neuen Bildhauerstils ca. 1240 Geburt von Cimabue, der vermutlich ein Lehrer Giottos war ca. 1250 Geburt des Bildhauers und Architekten Giovanni Pisano, des Sohns von Nicola Pisano 25 26 Von den Anfängen bis zur Renaissance Überzeugende Figuren Die Bildhauer wollten für ihr Werk die gleiche Aufmerksamkeit, wie sie die Architektur und die bunten Glasfenster auf sich zogen. Waren die Figuren zuvor als Teile der Wand gestaltet worden, so standen sie nun frei – eine Gestaltungsart, die nach dem Untergang des Römischen Reiches kaum mehr bekannt war. Nach dem Vorbild der byzantinischen und der romanischen Kunst wurden die Personen noch überlang dargestellt, aber jetzt bemühten sich die Künstler zudem um eine realistische Darstellung der Kleidung, des Gesichtsausdrucks und der Gestik. Die abgebildeten Figuren am Nordportal der Kathedrale von Chartres verdeutlichen die Absicht des Künstlers, sie lebendig erscheinen zu lassen. Sie verkörpern Personen aus dem Alten Testament: Abraham, der den Blick zu Gott richtet, packt seinen Sohn Isaak, den er zu opfern bereit ist; Mose hält die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten in der Hand; Samuel opfert ein Lamm; und König David mit der Krone trägt die Lanze. Figuren am Nordportal der Kathedrale von Chartres, Frankreich. während die griechischen Künstler in ihren Figuren die Schönheit der abgebildeten Menschen festhielten, wollten die gotischen Künstler die Heiligenlegenden so überzeugend wie möglich darstellen. Künstler, Handwerker und Architekten arbeiteten gemeinsam daran, Gottes Wort möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen. Allmählich wuchs der Einfluss der Künstler, die zunehmend wertgeschätzt wurden. Einige begannen, ihre Werke zu signieren, um bekannt und anerkannt zu werden. Neben farbigen Glasbildern und Figuren schufen sie Tafelbilder, Fresken, illuminierte Handschriften, Tapisserien und anderes. Die Maler begannen, ihre Bilder durch Portraits zu beleben, die Menschen in natürlicher Haltung und richtig in ihren Gewändern zu zeigen. Allerdings wurde noch nicht die Anatomie studiert, und man Gotik ‚ [dass] das Werk, das edel erstrahlt, erleuchten möge die Geister, die eingehen durch die wahren Lichter zum wahren Licht, wo Christus das wahre Tor ist. Abt Suger ʻ strebte auch nicht nach dem gehobenen Naturalismus der klassischen Antike. Aber die Künstler versuchten bereits, ihre Werke etwas realistischer zu gestalten, als es in der christlichen Kunst zuvor zulässig war. Im Allgemeinen betonten die gotischen Künstler eher die Erlösung als die Verdammnis der Menschheit. Statt apokalyptischer Szenen hatten die Besucher der Kathedralen und anderen Gotteshäuser nun Bilder aus dem Leben Jesu, der Jungfrau Maria und der Heiligen vor Augen – deren Portraits mitfühlend und barmherzig wirkten. Statt Blattgold als Hintergrund zu verwenden, begann man, mit Darstellungen von Architektur und Landschaft im Hintergrund zu experimentieren. Internationale Gotik Das 13. Jahrhundert war eine Zeit wachsenden Wohlstandes, der gegen Ende dieses Jahrhunderts seinen Gipfel erreichte. In Europa blühte die Textilherstellung. Handelswege wurden ausgebaut, bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein dichtes Straßennetz Europa überzog. Mit zunehmendem Handel wuchsen die Städte. Es kam zu Universitätsgründungen, es bildete sich eine neue Bürgerschicht, und immer mehr Menschen lernten zu lesen. Die besseren Reisemöglichkeiten nutzten die Künstler für den Austausch ihrer Ideen und ihres technischen Wissens. Bald wurden in Frankreich, Italien, England, Deutschland, Österreich und Böhmen feinsinnige und raffinierte Bilder von vornehmen und anmutigen Personen geschaffen. Zwar wirkten sie eher künstlich und weniger natürlich im Vergleich zur griechisch-römischen Tradition, aber es entwickelte sich ein Gespür für Realismus und Details. Diese Stilrichtung bekam später den Namen Internationale Gotik. Worum esGottes gehtWort Verbreitung von 27 28 Von den Anfängen bis zur Renaissance 07 Frührenaissance (ca. 1300--1500) Der Begriff „Renaissance“ wurde im 19. Jahrhundert eingeführt, um eine Epoche vom 14. bis 16. Jahrhundert zu beschreiben, in der es eine Wiedergeburt der klassischen Antike gab, mit neuem Interesse an der griechischen und römischen Philosophie, Literatur, Architektur und Kunst sowie den tradierten Werten. Diese Entwicklung begann in Florenz und Siena, als Künstler, Wissenschaftler und Philosophen ihre Vergangenheit wiederentdeckten und gleichzeitig ihre Individualität entwickelten. Da die Renaissance eine sehr lange Epoche mit einer Flut neuer Ideen war, wird sie gewöhnlich eingeteilt in Früh-, Hoch- und Spätrenaissance (Manierismus). Die Vorstellungen der Renaissance verbreiteten sich über Italien und Flandern (das damals das heutige Belgien und die Niederlande umfasste) in ganz Europa, wirkten aber nicht überall in der gleichen Weise. Doch diese komplexe und aufregende Kombination neuer Ideen prägte für über 200 Jahre die europäische Geschichte. Im ausgehenden 15. Jahrhundert führten verschiedene Faktoren in Europa zu einem zunehmenden Interesse der Menschen an ihrer Umwelt. Sie wandten sich mehr und mehr von den mittelalterlichen Ideen ab, die die gotische Kunst und Architektur geprägt hatten. Zu diesen Faktoren gehörten die Ausweitung des Handels, die Erfindung des Buchdrucks und das damit verbundene neue Interesse an der Bildung. In Italien zogen einige Regionen Gelehrte und Reiche an. Italien hatte zudem seine Wurzeln in der Antike wiederentdeckt und setzte sein Interesse an den Griechen und Römern in die Tat um. Einige Gelehrte begannen, die Werke der antiken Philosophen und Architekten zu übersetzen. Die alten Ideen wurden wiederbelebt und neu gedeutet. Humanismus Der Humanismus der antiken griechischen Philosophie gehört zu den Ideen, die neu auftauchten. Die Humanisten schrieben dem Menschen die Zeitleiste 1304 Giotto: Beweinung Christi in der Cappella degli Scrovegni in Padua ca. 1308–1311 Duccio: Maestà im Dom von Siena ca. 1334 Giotto wird leitender Baumeister am Dom von Florenz ca. 1390 Cennino Cennini schreibt Il libro dellʼarte – ein Handbuch zur Renaissancekunst 1401 Ghiberti bekommt den Auftrag, die Bronzetüren für das Baptisterium am Dom in Florenz zu schaffen Frührenaissance Fähigkeit zu, rational, logisch zu denken. Und es schien ihnen wichtiger, über das Lernen des Individuums und dessen Wirken in der Welt nachzudenken, als die Zeit damit zu verbringen, sich geistlich auf ein Leben nach dem Tod vorzubereiten. Die Einführung des Buchdrucks erleichterte es den Humanisten, ihre Ideen zu verbreiten, die manchmal im Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre standen, aber den Künstlern neue Anstöße gaben. Die Kirche blieb zwar ein wichtiger Schirmherr der Kunst, aber nun entwickelten sich auch andere Ideen in der säkularen Welt der Städte. Hier bestellten die Aristokratie und die aufstrebende Elite der Kaufleute Kunst ebenso für den eigenen Gebrauch wie für den in Kirchen. Weiterhin wurden christliche Themen dargestellt und die christlichen Ideale nicht aufgegeben, aber die Künstler trugen nun viel auch zum wachsenden Interesse an säkularen TheSozialer Status men und zum neuen Vertrauen in die Bedeutung des Menschen im Universum bei. Kunst Zu den Ideen, in denen sich die Renaissance wurde nicht mehr nur für religiöse Zwecke von den mittelalterlichen Epochen so grundlegeschaffen, sondern hatte nun auch für sich gend unterscheidet, gehört eine veränderte selbst einen Wert. Unter dem Einfluss einer Einstellung zu den Künstlern. Waren bislang zunehmenden Aufmerksamkeit für die Natur, die Kunstschaffenden, die Gottes Wort verbreieiner Belebung des Bildungsgedankens und ten halfen, anonym geblieben, so strebten sie einer Betonung des Individuums in Fragen nun nach individuellem Renommee, teils um der Menschheit bemühten sich die KunstAufträge zu bekommen und teils um den Status schaffenden darum, die Welt so lebensecht ihres Schirmherrn zu verbessern. Viele Renaiswiderzuspiegeln wie irgend möglich. Naturbeobachtung und Perspektive sancekünstler waren schon zu ihren Lebzeiten außerordentlich berühmt. Einige Künstler des Trecento und der Frührenaissance haben zur Revolutionierung der Kunst beigetragen. Giotto di Bondone (1266/67–1337) modernisierte die Malerei in Florenz in einer Zeit, in der Duccio di Buoninsegna (ca. 1255–1319) dasselbe in Siena bewirkte. Giotto löste sich von der Stilisierung, die die byzantinische und die gotische Kunst geprägt hatte, und führte Figuren mit natürlichem menschlichen Aussehen und individuellem Ausdruck sowie realistischen Haltungen ein. Duccio hingegen schuf Werke in reicher Farbgestaltung mit Figuren, die nahezu dreidimensional wirken und überzeugend in Kleidung gehüllt sind. Masaccio (1401–1428) hatte mit seiner Anwendung der Linearperspektive enormen Einfluss auf die Ent- 1408 1454 1469 1470/80 Donatello: David, die erste lebensgroße Statue seit der Antike Mit der ersten Gutenberg-Bibel revolutioniert der Buchdruck die europäische Literatur Lorenzo deʼ Medici, genannt der Prächtige, übernimmt die Führung in Florenz, das nun eine Blütezeit der Renaissance erlebt Die Ölmalerei kommt nach Italien 29 30 Von den Anfängen bis zur Renaissance Malen mit Tiefe Im Vergleich zur formelhaften Symbolik byzantinischer Mosaiken und zur strengen Darstellungsweise der Gotik wirkt das in Giottos Werkstatt entstandene Wandgemälde Anbetung der Könige (um 1310) massig und kompakt. Es vermittelt jedoch immer noch den Eindruck von Würde, die im betonten Interesse am Menschlichen und an den religiösen Gefühlen liegt. Indem Giotto seine Figuren in Beziehung zueinander und zur Architektur im Hintergrund setzt, schafft er den Eindruck von Raumtiefe. Das war damals revolutionär. Sie vermittelt dem Betrachter eine Illusion von Wirklichkeit, welche die illustrierte Bibelerzählung verständlich machen und den Glauben daran festigen sollte. Darin spiegeln sich aber auch ein erneutes Interesse am Menschen und ein Anknüpfen an die Errungenschaften der antiken Künstler. Giotto di Bondone (Werkstatt): Anbetung der Heiligen Drei Könige, Fresko ca. 1310; Unterkirche von San Francesco, Assisi. Frührenaissance ‚ Sicherlich sind auch viele Maler, die nicht von der Perspektive Gebrauch machen, Empfänger von Lob; allerdings werden sie aus falschem Verständnis von Menschen ohne Wissen um den Wert dieser Kunst gelobt. Piero della Francesca ʻ wicklung der Malerei im 15. Jahrhundert, denn mit der perspektivischen Darstellung lässt sich auf zweidimensionalen Malflächen eine dreidimensionale Raumillusion erzeugen. Paolo Uccello (ca. 1397–1475) war ebenfalls ein enthusiastischer Anhänger der neuen Methode der Linearperspektive. Auch Piero della Francesca (ca. 1415–1492) wandte die neuen Ideen an und schuf so Illusionen aus Licht und Farbe: Er übernahm von Giotto den lebensechten Ausdruck und die Haltung der Figuren, integrierte die Linearperspektive in seine Bilder und verwendete helle wie dunkle Farben, um dem Betrachter die Illusion von Tiefe und Wirklichkeitsnähe zu vermitteln. Die Renaissance nördlich der Alpen Inzwischen erlebte auch Flandern, die Heimat vieler reicher Kaufleute, eine Neubelebung der Kunst, und gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheinen dort viele Ideen der italienischen Kunst auf. Die erfolgreichsten Künstler Flanderns schufen zunächst lebendig wirkende Illustrationen in Handschriften. Bald wurden sie beauftragt, größere Bilder auf Holztafeln zu malen, und um 1410 begannen sie, hierzu Ölfarben zu benutzen. Sie mischten die Farbpigmente mit Öl, statt die traditionellen Temperafarben mit Ei zu verwenden, mit denen in Italien immer noch gearbeitet wurde. Ölfarben lassen sich leichter auftragen, bringen die Farben zum Leuchten und entfalten einen besonderen Glanz. Jan van Eyck (ca. 1390–1441) wandte mit Hilfe von Trockenmitteln eine Schichttechnik an, um die Farben und die Illusion von Licht zu verstärken. Robert Campin (ca. 1375–1444), der Meister von Flémalle, schuf überaus realistische Gemälde, die einen Eindruck von Tiefe und Raum hervorriefen. Zunehmend wurden auch die Details des häuslichen Lebens betont, die oft mit symbolischen Bedeutungen verknüpft waren. es gehtRealismus Eine neueWorum Zeit zunehmenden 31 32 Von den Anfängen bis zur Renaissance 08 Hochrenaissance (ca. 1498--1527) Während sich die neuen Ideen der Renaissance von Italien und Flandern aus über ganz Europa ausbreiteten, wurden die Werke der jüngeren Künstler immer kunstfertiger, vielfältiger und stilsicherer. Nie zuvor hatte die Kunst in einer Epoche eine so weitreichende, tiefgreifende und produktive Blüte erlebt – so viele Ideen, so viel kreative Brillanz und so viel Glauben an das eigene Tun. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts reifte die künstlerische Revolution der frühen Renaissance zu dem, was wir als Hochrenaissance bezeichnen. Malerei und Bildhauerei erreichten einen Gipfel technischer Perfektion. Sie waren den Vorbildern der Griechen und Römer ebenbürtig oder überlegen, was die Konzentration auf die Deutung der Realität, kompositorische Ausgewogenheit, Raumaufteilung und Dramatik betrifft. Die Kunsthistoriker setzen den Übergang von der Frührenaissance zur Hochrenaissance in die Zeit, als Leonardo da Vinci (1452–1519) in Mailand das Abendmahl malte und sich das kulturelle Zentrum von Florenz nach Rom verlagerte, wo Papst Julius II. eine Vielzahl bedeutender Werke in Auftrag gab. Viele herausragende Künstler wurden nun berühmt für ihre technischen und stilistischen Errungenschaften. Zu ihnen gehören die venezianischen Maler Giorgone (ca. 1477– 1510) und Tizian (ca. 1488–1576), die leuchtende Farben verwendeten, um lichterfüllte, farbenreiche und dynamische Bildkomposition zu schaffen, oder Künstler nördlich der Alpen wie Albrecht Dürer (1471–1528) und Hans Holbein der Jüngere (ca. 1497–1543), die das Leben sehr genau und raffiniert darstellten, und natürlich die großen Berühmtheiten Leonardo, Michelangelo (1475–1564) und Raffael (1483–1520), die schon zu Lebzeiten als technisch und künstlerisch vollendet galten. Insbesondere Leonardos Werk hat zur Vorstellung vom Künstler als Genie beigetragen. Zeitleiste 1498 1500 1503 1504 1505 1506–1615 Leonardo da Vinci: Abendmahl Michelangelo: Pietà Mit Papst Julius II beginnt das sogenannte Goldene Zeitalter Roms Michelangelo vollendet in Florenz den David; Hieronymus Bosch malt den Garten der Lüste Leonardos Mona Lisa; Dürers Italienreise Beim Bau des Petersdoms wirken viele Künstler mit Hochrenaissance 33 Der vitruvianische Mensch Um 1490 zeichnete Leonardo da Vinci den Vitruvianischen Menschen in eines seiner Tagebücher: eine männliche Figur in einem Kreis bzw. Quadrat, die die idealen harmonischen Proportionen für die jeweilige Körperhaltung angeben. Leonardo bezog sich dabei auf ein berühmtes Buch des römischen Architekten Vitruv, in dem die klassischen Proportionen in der Architektur aus den Maßen des menschlichen Körpers abgeleitet sind. Leonardos Zeichnung verdeutlicht sein Interesse an Proportionen und Anatomie ebenso wie die neue Vorstellung, dass Kunst und Wissenschaft zusammenhängen. Leonardo war überzeugt, dass die Funktionsweise des menschlichen Körpers mit der des Universums in Verbindung steht. Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch, um 1490, Bleistift und Tinte. 1508–1512 1509–1511 1527 1533 1562–1563 1564 Michelangelo malt die Sixtinische Kapelle aus Hans Holbein d. J.: Die Gesandten Paolo Veronese: Hochzeit zu Kana Raffael: Schule von Athen Mit der Plünderung Roms (Sacco di Roma) durch kaiserliche Truppen endet die italienische Renaissance Todesjahr Michelangelos; Geburtsjahr Shakespeares 34 Von den Anfängen bis zur Renaissance Das Genie Leonardo war Maler, Bildhauer, Architekt, Ingenieur, Mathematiker, Erfinder und Wissenschaftler. Seine Gemälde und Zeichnungen hatten mit ihrer innovativen Komposition und der originellen Darstellung von Licht enormen Einfluss. Eine seiner Techniken, das sfumato, bestand darin, ein Bild künstlich zu „verrauchen“ und so verschwommene Farben und weiche Konturen zu schaffen. Seine Notiz- und Tagebücher sind vollgepackt mit Studien und Skizzen zu naturwissenschaftlichen und technischen Fragen, die seinen Forschergeist und seine Erfindungsgabe belegen, wobei er viele seiner Ideen nicht umgesetzt hat. Auch Michelangelo war vielseitig begabt als vollendeter Bildhauer, Maler, Architekt und Dichter. Seit Beginn seiner langen Karriere war er unter den führenden Künstlern seines Jahrhunderts berühmt für seine Portraitfiguren voller Ausdruck Das wahre Kunstwerk und für seine revolutionären Ideen beim Umgang mit Farbe, Marmor und sogar Beton. Er war ein vollendeter Maler und ist nur ein Schatten Architekt, den man für die Harmonie von Farbe und Komposider göttlichen tion und die weiche Klarheit seiner Darstellung bewunderte. ‚ ʻ Vollkommenheit. Michelangelo Anatomie Die Erforschung des menschlichen Körpers ist keine Erfindung der Renaissance. Bereits im mittelalterlichen Europa wurde er untersucht – auf der Grundlage medizinischer Schriften der Antike. Im Christentum freilich galt die Vorstellung, Leichen aufzuschneiden, lange als Sakrileg. Wegen des enormen Interesses – und des zunehmenden Bedarfs – an lebensechten Darstellungen in der Kunst der Hochrenaissance nahmen gleichwohl einige Künstler das Risiko auf sich, den menschlichen Körper anhand von Leichenöffnungen zu studieren. Leonardo nahm an solchen (verbotenen) Sektionen teil, bei denen Leichen von Verbrechern verwendet wurden. Auch Michelangelo hinterließ einige Zeichnungen, die seine intimen Kenntnisse der Anatomie erkennen lassen. Mit ihrem anatomischen Wissen setzten diese Künstler neue Maßstäbe für die Darstellung des menschlichen Körpers. Würde und Glanz Die Ideen der Frührenaissance: natürlichere Darstellung und eine am Menschen orientierte Sichtweise bei der Gestaltung von Bildern, wurden von den Künstlern der Hochrenaissance bis zur Perfektion weiterverfolgt. Die Eindeutigkeit von Details und die Klarheit der Linienführung in den Kunstwerken der Frührenaissance wurden nun durch eine Gestalt- und Formgebung ersetzt, die Schönheit, Würde, Strahlkraft, Dynamik, Tiefe und Bedeutung unterstreicht. Jetzt wurden flüssigere und harmonischere Kompositionen geschaffen und jeweils eine Stimmung ausgedrückt, um beim Betrachter Emotionen zu wecken. Die Künstler der Hochrenaissance beschränkten sich nicht mehr auf christliche Themen, seit die Hochrenaissance Auftraggeber aus unterschiedlichen Bereichen kamen – es gab individuelle Förderer wie Kardinäle, Regenten, Bankiers, Kaufleute oder reiche Familien und kirchliche wie staatliche Institutionen. Die Kunst gehörte nun als wesentlicher Bestandteil zum Leben, und Künstler kamen an den Höfen des Adels in Lohn und Brot. Die Hochrenaissance basierte nicht nur auf einer einzigen zentralen Idee, sondern – vielDisegno e colore leicht mehr als die meisten der in diesem Buch erwähnten Kunstrichtungen – auf Das Zeichen nach der Natur (disegno) galt als einem ganzen Bündel von Ideen. Und doch wichtigste Übung für die angehenden Künstler steht die Hochrenaissance insgesamt für ein in Florenz, wollten sie erfolgreich werden. In allgemeines Konzept: die offene Entfaltung Venedig gehörte die richtige Platzierung der menschlicher Möglichkeiten. Die EntwickFarben (colori) innerhalb der Bildkomposition lung von individuellen Fähigkeiten und zum entscheidenden Schwerpunkt in der Begabungen wurde besonders gefördert, Künstlerausbildung. Unter Humanisten und gestärkt und belohnt; menschliches Bemühen Künstlern wurde die Bedeutung dieser beiden wurde bis an die Grenze des Möglichen Vorgehensweisen während der gesamten vorangetrieben, geistige Leistungen wurden Renaissance diskutiert. anerkannt und gewürdigt. Worum es geht und Höhepunkt wissenschaftlicher künstlerischer Neuerungen 35 36 Von den Anfängen bis zur Renaissance 09 Manierismus (ca. 1520--1600) Der Manierismus am Übergang von der Renaissance zum Barock entwickelte sich nach 1520 in Florenz und Rom in einer Epoche, die von gleich mehreren Ereignissen geprägt war: von der Reformation, die Europa spaltete, von der Pest, die große Teile der Bevölkerung dahinraffte, und von der Plünderung Roms im Jahre 1527. Angesichts der allgemeinen Unsicherheit gaben einige Künstler die Harmonievorstellungen der Renaissance auf und begannen, Bilder mit stärkerem Gefühlsausdruck zu schaffen. Der Manierismus dauerte ungefähr von Raffaels Tod im Jahre 1520 bis zum Beginn des Barock um 1600. Er war eine Reaktion auf die sozialen und politischen Umwälzungen in ganz Europa und eine Folge des neuen sozialen Status der Künstler. Sie waren nicht mehr die bescheidenen Kunsthandwerker, die ihre Arbeit zur Unterstützung des Glaubens ihrer Gesellschaft machten, sondern sie standen nun gleichrangig neben Wissenschaftlern, Dichtern und Philosophen. In einer Zeit, in der Anmut, Feinsinnigkeit und Stil geschätzt wurden, schufen sie ihre Werke nicht nur für religiöse Zwecke, sondern auch als Wert an sich. Stilistische Anleihen Der Begriff „Manierismus“ leitet sich vom italienischen Wort maniera für Handschrift, Manier, Stil ab und war anfangs herabsetzend gemeint. Hatten die Künstler der Renaissance versucht, die Natur möglichst genau zu beobachten und darzustellen, so wiesen die Manieristen – die die Perfektion der Hochrenaissance sehr wohl erkennen lassen – diesen Anspruch zurück und kopierten den Stil anderer, statt sich direkt nach der Natur zu richten. Sie übernahmen den Stil ihrer bevorzugten Vorbilder und übertrieben ihn. Die Grundidee hierzu war bereits in Michelangelos Spätwerk angelegt, das besonders dramatisch und emotional gestaltet ist. Verschiedene Künstler griffen dessen große, schwungvolle Formen als Anstoß auf und schönten seinen Stil. Weiterhin ließen sie sich von Andrea del Zeitleiste 1520 1527 1528 ca. Tizian: Bacchus und Ariadne Die Plünderung Roms bringt den Manierismus über ganz Italien bis nach Frankreich Pantormo: Heimsuchung Corregio: Jupiter und Io 1531 1534 Michelangelo beginnt die Arbeit am Jüngsten Gericht in der Sixtinischen Kapelle, das die Entwicklung des Manierismus beeinflusst Manierismus Kreuzabnahme Christi Dies ist ein typisch manieristisches Gemälde. Obwohl der Manierismus bereits zu Lebzeiten Michelangelos einsetzte, zeigt dieses Bild deutlich den Unterschied zwischen dessen gewichtigen Figuren und ihrer manieristischen Interpretation. Die Dargestellten erscheinen weniger gewichtig. Sie balancieren scheinbar nahezu schwerelos mit ihren langen Gliedmaßen, und ihre Köpfe sind klein im Verhältnis zu den fülligen Kleidern. Die Figuren scheinen in den Bildrahmen eingesperrt zu sein, sich in einem engen, unwirklichen Raum zu bewegen. Ihre Kleidung ist in Pastelltönen gehalten – eine deutliche Veränderung gegenüber den lebensnahen Farben der Renaissance. Insgesamt wird eine Atmosphäre erzeugt, die den Betrachter in eine andere Welt versetzt. Die Figuren scheinen nicht von dieser Welt zu sein, sondern wirken wie Geschöpfe eines fremden Planeten. Diese fantastische Seite des Manierismus drückt die zeitgenössischen Vorstellungen aus. Pontormo: Kreuzabnahme Christi, ca. 1526, Öl auf Holz; Santa Felicità, Florenz. 1535 ca. Parmigianino: Madonna mit dem langen Hals Bronzino: Venus, Cupido, Wahnsinn und Zeit 1546 1550 Giorgio Vasari (1511–1574) veröffentlicht in seinen Künstlerviten die Biografien der großen Meister der italienischen Renaissance, darunter die von Michelangelo als einzig damals noch lebendem Künstler 37 38 Von den Anfängen bis zur Renaissance Sarto (1486–1531) inspirieren, ebenfalls eine Berühmtheit der Hochrenaissance, dessen Bilder von ausdrucksvollen Farben und vielfältigen Posen geprägt sind. Als Dritter schließlich hatte Correggio (ca. 1489–1534) starken Einfluss auf die Manieristen. Auch er war ein Künstler der italienischen Hochrenaissance, der spektakuläre, augenfällige Wirkungen in seinen religiösen Darstellungen erzeugte, indem er mächtige Strahlkraft mit Feinheit und emotionalem Ausdruck verband. Correggio rief in seinen Gemälden durch extensive Ausnutzung der Perspektive die Illusion weiter offener Räume hervor. Seine besondere Art, Figuren aus Untersicht darzustellen, inspirierte die manieristischen Maler, ihre Figuren aus ungewöhnlichen Blickwinkeln und in ausgefallenen Posen zu zeigen und somit beeindruckende Bilder zu schaffen. Die Maler machten intensiven Gebrauch von Farbe und lang ausgezogenen Pinselstrichen, während die Bildhauer ihre Figuren in eindrucksvolle Posen und dramatischen Gesten wiedergaben. Überlängung und Übertreibung Die unkonventionellen manieristischen Darstellungen tauchten etwa zur gleichen Zeit in Florenz und Rom auf. Zu den Lieblingssujets der Manieristen gehörten Nackte. Sie kopierten diese und auch andere beliebte Figuren aus Werken der Hochrenaissance und übertrieben dabei verschiedene Aspekte dieser Figuren. Oft werden sie verzerrt und überlang dargestellt, häufig mit schmalen Schultern und breiten Hüften oder auch mit langen, dünnen Händen und Füßen. Auch werden die Figuren in raffinierten und verwickelten Posen – und nicht im entspannten Kontrapost der Frührenaissance – gezeigt. Meist wurden keine naturgetreuen Farben verwendet, sondern helle Pastelltöne oder unnatürlich kräftige Farben. Malerei und Bildhauerei waren fantasievoll und einfallsreich, und bei beiden standen Stil und Inhalt gleichermaßen im Mittelpunkt. Während die Künstler der Hochrenaissance nach Gleichgewicht und Harmonie strebten, ging es den Manieristen um freie Gestaltung von Unausgewogenheit und Spannung. Populäre Themen waren oft eine Mischung aus Christlichem und Mythologischem. Der Manierismus war teilweise eine beabsichtigte neue Gestaltungsweise, aber teilweise auch ein Weg, um die hohen Manieristische Portraits künsterischen Anforderungen der HochreBeim Portraitieren gestalteten die Manieristen naissance umgehen zu können. Indem die nicht einfach ein (gemaltes oder plastisches) Künstler nun erfindungsreicher sein wollAbbild der Person vor ihnen, sondern sie verten als ihre Vorgänger, arbeiteten sie in ihre suchten erstmals, auch die Persönlichkeit hinWerke andere Elemente ein, um so die ter dem äußeren Erscheinungsbild darzustelBetrachter zu fesseln. Die Absicht war, die len. Das heißt, sie bemühten sich, mehr zu zeiKunst mehr in den Blickpunkt zu rücken, gen als nur die sichtbaren Merkmale. sie prachtvoll, interessant und anregend zu gestalten und zu demonstrieren, dass die Manierismus ‚ Inspiration verlangt nach tätiger Mitwirkung von Geist in Verbindung mit Enthusiasmus, und unter diesen Voraussetzungen können wunderbare Vorstellungen, mit allem was vorzüglich und göttlich ist, entstehen. Giorgio Vasari ʻ Künstler mit den klassischen Proportionen und Stilen souverän umgehen können. Sie mussten das Leben nicht unbedingt so darstellen, wie es aussah, sondern konnten es nach Belieben elegant, raffiniert oder stilisiert wiedergeben. Die wichtigsten Manieristen Zwei Schüler des berühmten Andrea del Sarto wurden prominente Manieristen: Jacopo da Pontormo (1494–1557) und Rosso Fiorentino (1494–1540). Pontormos Schüler Agnolo Bronzino (1503–1572) war ab 1540 Hofmaler bei Cosimo I. de’ Medici, dem berühmten Herzog der Toskana, und galt als einer der führenden Künstler in Florenz, die den Manierismus populär machten. Bartolomeo Ammanati (1511–1592) und der aus Flandern stammende Giambologna (1529–1608) gehörten zu den bekanntesten Bildhauern des Manierismus, die oft durch halb Europa reisten und mit überlangen Figuren in gedrehter Körperhaltung fließende, in sich verschlungene Formen schufen. Der Maler Parmigianino (1503–1540) wurde dagegen durch seine idealisierten jugendlichen Figuren in ausgeklügelten Posen und Arrangements berühmt – und einflussreich. Bartholomäus Spranger (1546–1611) und Hans von Aachen (1552–1615) gehörten zu den nordischen Malern, die sich an den Höfen Europas aufhielten und sich dort durch ihren manieristischen Stil einen Namen machten. Die Ausbreitung des Manierismus Die Manieristen durchstreiften viele Länder, um Aufträge zu bekommen und neue Ideen kennenzulernen. Zudem führte 1527 die Plünderung Roms zu einem Exodus von Künstlern der Ewigen Stadt in das übrige Europa, insbesondere nach Frankreich, wo König Franz I. italienische Künstler an seine bevorzugte Residenz in Fontainebleau holte und dort den Manierismus zum beherrschenden Stil machte. Mitte des 16. Jahrhunderts war deshalb der Manierismus weit über Rom und Florenz hinaus verbreitet. Worum es gehtErfindung Übertreibung und Stilisierung, und Raffinement 39 40 Die Ausbreitung des Humanismus 10 Barock (ca. 1600--1750) Vor dem Hintergrund der religiösen Umbrüche des 16. Jahrhunderts erlebte die europäische Kunst einen erneuten Wandel. Die barocke Kunst entwickelte sich aus der Absicht, die Stärke des römischen Katholizismus, aber auch der Herrscherhäuser ins Bild zu setzen. Das Barock umfasst ein breites Spektrum von Stilen, mit denen Gefühle, Bewegung und Dramatik dargestellt werden. Dazu kommen neue Methoden insbesondere in der Maltechnik, um Licht und Farbtöne darzustellen. Die religiösen Spannungen nahmen ab Beginn der Reformation mit Luthers Thesenanschlag von 1517 zu. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (ca. 1398–1468) hatte zur Entwicklung einer Presse geführt, die zunehmend in allen Schichten gelesen wurde. Nachdem die ersten Bibeln im Druck erschienen waren, begann man Fragen zur Deutung der biblischen Geschichten und zur Glaubwürdigkeit einiger Standpunkte der katholischen Kirche zu stellen. Die Reformatoren setzten den Protestantismus als neue christliche Glaubensrichtung durch – was eine Reihe von Religionskriegen mit sich brachte. Die Autorität der katholischen Kirche wurde erschüttert und die Einheit Mitteleuropas zerstört, als immer mehr Herrscher sich vom Katholizismus abwandten und zum Protestantismus konvertierten. Schließlich schlug die katholische Kirche zurück. Beim Konzil von Trient wurden Kirchenreformen beschlossen, um den wichtigsten Kritikpunkten der Protestanten den Boden zu entziehen und eine weitere religiöse Abspaltung zu verhindern. Diese als Gegenreformation bezeichnete Reaktion der katholischen Kirche bedeutete für die Kunst, dass die Kirchenoberen viele Kunstwerke in Auftrag gaben, die eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen sollten. Inspirierende Betrachtung Das Konzil von Trient, das in vielen Sessionen mehrere Jahre lang tagte, legte fest, dass alle künftigen Kunstwerke der römisch- Zeitleiste ca. 1599/1600 Caravaggio: Judith köpft Holofernes 1628 1635 Velázquez und Rubens treffen sich in Madrid Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar; Rubens: Die drei Grazien; van Dycks Portrait Karls I. von drei Seiten wird nach Rom zu Bernini geschickt als Vorlage für eine Statue Barock katholischen Kirche verständlich und emotional bewegend eine klare religiöse Botschaft vermitteln sollten. Als Mittel zur Unterstützung der römisch-katholischen Glaubensverkündigung zeichnet sich die Barockkunst zunächst durch reich ausgestaltete Bilder, helles, strahlendes Licht und emotionale Inhalte aus, die beim Betrachter Mitgefühl und auch gedankliche Reflexion auslösen sollten. Die Künstler begannen, wie von ihnen gefordert, mit spektakulären und kunstfertigen Techniken Wahrnehmungsillusionen zu wecken: In der Bildhauerei und Malerei wurde ein Eindruck von Bewegung und Energie geschaffen, wobei in den Gemälden zusätzlich starke Kontraste von Licht und Schatten genutzt wurden, um die Dramatik der Szenen zu verstärken. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die Barockkunst zunehmend auch außerhalb der katholischen Kirche bei Herrschern und Aristokraten beliebt. In dieser Zeit hatten einige Herrscherhäuser Schwierigkeiten, bei ihren Untertanen den Glauben an eine Herrschaft „von Gottes Gnaden“ aufrecht zu erhalten. Daher sollten prachtvolle Gemälde, Skulpturen und Architekturen das Unregelmäßige Perle öffentliche Erscheinungsbild des Herrschers bestimmen. Der blühende Handel brachte Die Bezeichnung „Barock“ leitet sich wahrdem protestantischen Norden Europas Wohlscheinlich vom portugiesischen Wort barroco stand, und auch dort gewann der Stil des für eine Perle mit unregelmäßiger Form ab. Barock Anhänger, auch wenn die Ziele und Wie viele Etikettierungen in der Kunst wurde Themen der Kunst andere waren. Die untersie nachträglich von Kritikern und nicht von den schiedlichen Motivationen für die Kunst diezeitgenössischen Kommentatoren eingeführt. ser Epoche ließen ein breites Stilspektrum Sie war zunächst als Einwand gegen die Überentstehen. In manchen Bereichen war die triebenheit und Überladenheit der Barockkunst Barockkunst eher verschwenderisch, in andegemeint, die im Gegensatz zur Harmonie und ren blieb sie auf einen eher reservierten Stimmigkeit der Renaissancekunst steht. Geschmack beschränkt. Die emotionale italienische Kunst steht beispielsweise der zurückhaltenderen niederländischen Variante gegenüber. Aber die grundlegenden Merkmale sind immer vorhanden: Realismus, Dramatik, Anregung der Sinne und glanzvolle Lichteffekte. In verschiedener Hinsicht begann das Barock als Reaktion auf die manieristische Stilisierung und als eine Art Werbemittel für die römisch-katholische Glaubensverkündigung. 1641 1647 1648 1650 Poussin wird Kunstintendant der königlichen Bauten Ludwigs XIII. Bernini: Die Verzückung der heiligen Theresia Poussin: Die Heilige Familie auf der Treppe; Claude Lorrain: Hafen mit der Einschiffung der Königin von Saba; Ende des Dreißigjährigen Kriegs Velázquez: Papst Innozenz I. 41 42 Die Ausbreitung des Humanismus Grablegung Christi Dieses Bild zeigt, wie Nikodemus und der heilige Johannes nach der Kreuzigung den Leichnam Jesu ins Grab hinabsenken. Drei Frauen dahinter drücken in unterschiedlichen Formen ihren Schmerz aus. Die sechs Figuren sind auf engem Raum zusammengestellt und setzen sich von dem dunklen Hintergrund ab, der Tod und Leiden symbolisiert. Der Leichnam Jesu, die unterste der Figuren, befindet sich im Zentrum des Bildes, während die übrigen Personen dynamisch in einer nach rechts oben strebenden Diagonale angeordnet sind. Alle Merkmale des Barock sind hier versammelt: chiaroscuro – der Kontrast von Licht und Schatten, Figuren in gedrehter Körperhaltung oder in Bewegung, Emotionalität, Dramatik und kontrastierende Elemente in der Komposition, die Spannung erzeugen. Caravaggio: Grablegung Christi, um 1602/03, Öl auf Leinwand; Vatikanische Museen, Rom. Eine Freude für die Sinne In den katholischen Ländern blieb die Barockkunst spektakulär, intensiv und dramatisch, um die beabsichtigte emotionale Bewegung beim Betrachter zu erzeugen. Im protestantischen Nordeuropa mussten die Künstler, als der Barockstil bei den reichen Bürgern in Mode kam, die Grundideen in verschiedener Hinsicht modifizieren. Es ging hier nicht mehr darum, die Betrachter zu fesseln, um sie in der Kirche zu halten oder mit der Pracht der Monarchen zu beeindrucken. Mit der Blüte der Barockkunst stieg das Ansehen der Künstler in der Gesellschaft. Sie wurden geschätzt wie wenige Künstler vor ihnen. Die Kunst, die als Mittel zum Berühren und Beeinflussen der Menschen begonnen hatte, wurde bald zur beherrschenden Mode eines ganzen Kontinents. In den großen Städten entstanden Statuen, Brunnen, Kirchen und Paläste in diesem Stil; Gemälde wurden ebenso für die öffentliche und private Nutzung geschaffen. Die wichtigsten Barockkünstler Annibale Carracci ‚ Barock Mein Talent ist so geartet, dass keine Unternehmung, sei sie noch so groß und mannigfaltig im Gegenstand, mein Selbstvertrauen jemals überstiegen hat. Peter Paul Rubens (1560–1609) trug mit farbenprächtigen und lebendigen Bildern zum Durchbruch des Barockstils in Italien bei. Caravaggio (1571–1610) stellte in seinen ausdrucksstarken realistischen Gemälden mit übertriebenem Kontrast von Licht und Schatten das menschliche Leid in den Mittelpunkt. Der führende Bildhauer des Barock war Gianlorenzo Bernini (1598–1680), der auch als Architekt, Maler, Dramatiker und Bühnenbildner arbeitete. Sein überaus einflussreiches Werk zeigt einen besonderen Ausdruck von Raum und Bewegung – zwei Stilelemente, die bald für die gesamte Barockkunst kennzeichnend wurden. Im katholischen Flandern war Peter Paul Rubens (1577–1640) einer der gefragtesten Künstler seiner Zeit, der den Barockstil vollständig aufnahm und kraftvoll mit differenzierten Farbtönen üppige Bilder malte. Sein Schüler Anthonis van Dyck (1599–1641) wurde der führende Hofmaler in England. Nicolas Poussin (1594–1665) war der wichtigste und einflussreichste französische Maler des 17. Jahrhunderts. Sein Werk drückt einmal mehr, wenn auch anders als bei vielen anderen Barockmalern, Lebenskraft, Empfindung und Spannung aus. Der spanische Maler Diego Velázquez (1599–1660) nutzte die Stilmittel des Barock in Form kräftiger Farben, starker Kontraste von Licht und Schatten und einer Tiefenillusion des Raumes. Die Epoche endete um 1750, auch wenn einige stilbildende Elemente noch bis ins späte 18. Jahrhundert beibehalten wurden. ʻ Worum es geht Leben, Licht und Dramatik wecken gezielt Emotionen 43 44 Die Ausbreitung des Humanismus 11 Das Goldene Zeitalter der Niederlande (ca. 1620--1700) Als unmittelbare Folge des Barockstils, der Zersplitterung durch die Reformation und des Aufstiegs des Protestantismus entwickelte sich in den nördlichen Niederlanden im 17. Jahrhundert ein unglaublich realistischer Malstil. Religiöse und politische Konflikte hatten die Niederlande gespalten: Die spanischen Niederlande („Flandern“) waren römischkatholisch geblieben, während die nördlichen Niederlande („Holland“) protestantisch geworden waren. Die Niederlande gehörten zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in der Blütezeit des Überseehandels und der Seefahrt, zu den reichsten Gegenden der Welt. Dort gab es die höchste Alphabetisierung Europas, einen gewissen Stolz und religiöse Toleranz. Das Land brach mit der katholischen Kirche und dem Heiligen Römischen Reich. Die Bevölkerung wuchs rasch an und viele hochrangige Künstler kamen, um für reiche Kunden zu arbeiten gleichtun. Die Maler sahen sich ermutigt, neue Sujets darzustellen und auch neue philosophische Ideen auszudrücken. Das Goldene Zeitalter der Niederlande umfasst den Zeitraum von etwa 1620 bis 1700, fällt also in das Barock, aber die Kunst und die Einstellung waren dort in vieler Hinsicht anders als im übrigen Europa. In der holländischen Kunst fehlen die für das Barock typischen Idealisierungen und Übertreibungen. Das liegt daran, dass sie für Menschen geschaffen wurde, die andere Lebens- und Glaubenseinstellungen hatten. Sie waren klug und verlässlich, ihr Geschmack war eher zurückhaltend. Die holländischen Künstler werden dennoch dem Barock zugerechnet, weil sie so viele stilbildende Elemente dieser Epoche aufnahmen, zum Beispiel die Aufmerksamkeit für Details und den Realismus, unglaubliche Licht- und Farbeffekte sowie dramatische Kompositionen. Zeitleiste 1624 1632–1648 1635 1637 1642 Frans Hals: Der lachende Kavalier Das Tadsch Mahal wird gebaut Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar Der Tulpenhandel bricht zusammen. Unter holländischen Kaufleuten grassieren Bankrott, Angst und Selbstmord Die Vereinigten Niederlande verdrängen die Portugiesen von der westafrikanischen Goldküste Das Goldene Zeitalter der Niederlande Spiegel der Realität Unglaublich lebensnahe Gemälde waren in dieser Epoche beliebt. Licht, das durch die Fenster fällt, war ein Element, das direkt aus dem italienischen Barock kam. Im hier wiedergegebenen Bild ist ein Maler – vermutlich ein Selbstportrait Vermeers, auch wenn das Gesicht nicht zu sehen ist – beim Portraitieren einer jungen Frau in seinem Atelier dargestellt. Sie steht am Fenster vor einer großen Wandkarte der Niederlande. Ein Riss geht durch das Land und symbolisiert die politische und religiöse Teilung zwischen Süden und Norden. Einige weitere Symbole finden sich in dem Bild, darunter Anspielungen auf den Katholizismus und seine Unterdrückung in Holland. Vermeer blieb in dem überwiegend protestantischen Land Katholik. Jan Vermeer: Die Malkunst, ca. 1666, Öl auf Leinwand; Kunsthistorisches Museum, Wien. 1648 ca. Salomon van Ruysdael: Flussmündung mit befestigter Stadt Aelbert Cuyp: Flusslandschaft mit Reiter und Bauern 1658–1660 1660/61 1678 1689 Jan Vermeer: Ansicht von Delft Aus Japan kommen Chrysanthemen nach Holland Meindert Hobbema: Allee von Middelharnis 45 46 Die Ausbreitung des Humanismus Alltagsszenen Während in Flandern die geistlichen, religiösen und dramatischen Kompositionen vorherrschten, wandten sich die holländischen Maler weltlichen Themen zu und unterstützten die protestantische Vorstellung, dass Menschen sich keine Götzenbilder schaffen sollten. Die Kaufleute der Niederlande waren keine mächtigen Herrscher, die Kunst für ihre Paläste bestellten, und auch keine Kirchenfürsten, die ihre Gotteshäuser prächtig ausstatten wollten, sondern einfach Menschen, die Kunst gerne betrachten und als Zeichen ihres Wohlstands zeigen wollten. Infolgedessen malten die Künstler Bilder, die den reichen Bürgerschichten gefielen: Portraits, historische Szenen, Alltagssituationen, Stillleben und Landschaften. Sie konzentrierten sich auf raffinierte Maltechniken und eine realistische bzw. naturalistische Darstellungsweise. Die Gemälde waren vergleichsweise klein, passend für Kontore, Läden oder Wohnungen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nahm auch der Bedarf an Kunst in den Niederlanden zu. Die Gemälde mussten dem Käufer gefallen und so malten die Künstler das, was dem lokalen Zeitgeschmack entsprach, und wählten immer spezifischere Themen. Altniederländische Künstler wie van Eyck, der auf lebensnahe Details geachtet hatte, galten als unerreichte Vorbilder. Dementsprechend feilten die Künstler an ihren Techniken und malten so realistisch wie möglich, um an dieses Niveau heranzukommen. Amsterdam gehörte zu den reichsten Städten, von denen es in den Niederlanden damals mehr gab als sonst in Europa. Dort blühte die Kunst besonders, aber auch in anderen Zentren. Malen für die Allgemeinheit So gab es in Utrecht einige Künstler, die in Kunst für gewöhnliche Kunden zu schaffen, Rom gewesen und in ihrem Malstil deutwar in diesem Ausmaß bislang noch nicht vorlich von Caravaggio beeinflusst waren. gekommen. Und dieser Trend sollte sich einmal Diese Maler, die wie ihr italienischer Meisin ganz Europa durchsetzen. Ein Gast aus ter starke Lichtkontraste und dunkle FarbEngland berichtete mit Staunen darüber, wie töne bevorzugten, wurden als „Utrechter viele Gemälde er in Amsterdams Läden und Caravaggisten“ bekannt. Privatwohnungen gesehen hatte und wie sehr die breite Bevölkerung die Malerei förderte und stolz auf ihre Künstler war. Kunst als Ware Es gab in den Vereinigten Niederlanden zu jener Zeit fast keine Bildhauerei, die vorherrschenden Kunstgattungen waren Malerei und Grafik. Die Künstler eigneten sich ihre technischen Fähigkeiten während einer mehrjährigen Lehrzeit an, bevor sie selbstständig zu arbeiten begannen. Anders als im übrigen Europa, wo Künstler im Großen und Ganzen Auftragswerke mit vorgegebenen Inhalten malten, schufen holländische Künstler aus eigenem Antrieb Bilder, die sie zu verkaufen hofften. Große Kunstmessen wurden abgehalten, auf denen viele Künstler mit ihren Werken vertreten waren und viele Käufer hofften, etwas Passen- Das Goldene Zeitalter der Niederlande ‚ des zu einem guten Preis zu finden. All dies gehörte zum wirtDas tiefste und am schaftlichen Umfeld, und man war stolz auf die Kunst im eigenen ehesten lebenswahre Land. Gefühl wurde ausgedrückt, und das ist der Themen Die meisten Künstler spezialisierten sich auf Grund, warum es so bestimmte Themenbereiche, wobei einige besonders beliebt waren. Dazu gehörten Darstellungen, die Ereignisse oder Errun- lange gedauert hat, sie genschaften der Geschichte zeigten („Historienmalerei“), ebenso [die Gemälde] zu wie biblische, mythologische, literarische oder allegorische Sze- vollenden. nen. Gemälde von Landschaften und Meeresküsten wurden Rembrandt van Rijn ʻ wegen der Wiedererkennbarkeit der dargestellten Örtlichkeiten bewundert. Auch Landschaften, die zu unterschiedlichen Jahreszeiten gemalt wurden, verkauften sich gut, Seebilder sowieso. Auch Innenansichten vom Alltag der Menschen („Genrebilder“) waren in Mode. Die Künstler nahmen darin oft symbolische Hinweise auf, die auf eine bestimmte Moral zielten, und der Impuls, dieser moralischen Botschaft im Bild nachzuspüren, gefiel dem kunstsammelnden Publikum. Stillleben wurden mit eindrücklich festgehaltenen Details angereichert und viele von ihnen verwiesen auf die Vanitas, die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens. Der Portraitmalerei fiel im aufstrebenden Bürgertum vermutlich die Hauptaufgabe zu – man wollte sein Bild der Nachwelt erhalten. Eine zuvor nie erreichte Zahl von herausragenden Malern prägte diese Kunstepoche. Darunter finden sich beispielsweise Rembrandt van Rijn (1606–1669), Frans Hals (ca. 1580–1666), Salomon van Ruysdael (ca. 1602–1670), Harmen Steenwyck (ca. 1612–1659), Pieter de Hooch (1629–1684) und Jan Vermeer (1632–1679). Worum es geht Unglaublicher Realismus in Farbe 47 48 Die Ausbreitung des Humanismus 12 Rokoko (ca. 1720--1780) Zunächst entstand das Rokoko als Stil der Innenausstattung von Räumen. Die ersten Gemälde in diesem Stil wurden nur zur Komplettierung der Rokokoräume in Auftrag gegeben – sie hatten eher mit Dekoration zu tun als mit ernsthaften Inhalten. Bald jedoch fanden solche zierlichen, leichten und sinnenfrohen Kunstwerke auch unabhängig davon Anklang, und der Rokokostil setzte sich ebenso in anderen Kunstgattungen durch. Die Zeit der Aufklärung Vor allem das 18. Jahrhundert wird auch als die Zeit der Aufklärung bezeichnet, die Vernunft und Rationalität zum Ausgangspunkt radikal neuer Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Kunst machte und traditionelle gesellschaftliche Strukturen infrage stellte. Die Aufklärer behaupteten, dass Vernunft und Verstehen den Menschen von Aberglauben und religiöser Unterdrückung befreien könnten, die in der Geschichte viel Unheil und Wer hat Ihnen denn Millionen Menschen den Tod gebracht hatten. Dieses Denken hatte mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Enzyklopädien zu gesagt, dass man mit tun. Durch den Buchdruck hatte sich das Wissen weit verbreitet, Farben malt? Man die neuen Bürgerschichten konnten Bücher und Presseerzeugverwendet Farben, aber nisse kaufen, sich durch Lesen bilden und zunehmend Unabhänman malt mit Gefühlen. gigkeit im Denken entwickeln. Der neue Geist und die sozialen Jean-Siméon Chardin wie politischen Reformen gaben den Bürgern neue Hoffnung für die Zukunft, und das hatte Auswirkungen auf die Kunst. Während der Aufklärung herrschten in einigen Teilen Europas nicht ganz so große Spannungen wie im 16. und 17. Jahrhundert. Die Philosophen erfanden den Begriff der persönlichen Freiheit und Demokratie neu, und die Wohlhabenden begannen, offen nach Glück zu streben, ohne sich hiervon durch eine Obrigkeit von Gottes Gnaden moralisch abhalten zu lassen. Das Rokoko war die künstlerische Manifestation eines Optimismus dieser Zeit. Es sprach die Sinne und weniger den ‚ ʻ Zeitleiste 1715 1718 1731 Tod Ludwigs XIV. Antoine Watteau: Die Annehmlichkeiten des Lebens Johann Joachim Kändler wird Modellmeister der Porzellanmanufaktur Meißen ca. 1736 Jean-Siméon Chardin: Die junge Lehrerin Rokoko Geist an und betonte Schönheit gegenüber geistiger Betrachtung. Französischer Stil Das Rokoko wurde Muschelwerk Der Begriff „Rokoko“ wird seit Ende des 18. Jahrhunderts verwendet. Er greift ein Element heraus, das als Leitmotiv im Zusammenhang mit der künstlerischen Ausgestaltung von Räumen auftaucht: die rocaille, ein c-förmiges Muschelwerk. Vom klassizistischen Standpunkt aus wurde dieser Stil als bizarrer Auswuchs, seine Thematik als frivol verachtet. ursprünglich wegen seiner Herkunft als „französischer Stil“ bezeichnet. Das Versailler Schloss von Ludwig XIV. (1638– 1715) war prachtvoll und pompös ausgestattet und repräsentierte das absolutistische Sonnenkönigtum. Der Thronfolger, Ludwig XV. (1710–1774), umgab sich ebenfalls mit opulenter Pracht, bevorzugte aber – nicht zuletzt unter dem Einfluss seiner Mätresse Madame de Pompadour (1721–1764) – einen unbeschwerteren, intimeren Rahmen. Dieser Wandel vom Offiziellen zum Privaten, vom Schweren zum Leichten begann als höfische Mode und wurde dann in der gesamten französischen Oberschicht und schließlich im Volk beliebt. In Malerei und Bildhauerei bevorzugte man Sujets aus Literatur und Mythologie gegenüber historischen oder religiösen Themen. Der Stil war beschwingt, reich an Ornamenten und sonstigen Verzierungen, von feiner Kolorierung und geschickter Pinselführung. Die eleganten wie raffinierten Gemälde und Skulpturen brachten die dazu korrespondierende Architektur und Innenausstattung zur Geltung. Das Rokoko behielt zwar einige komplexe Formen und Muster des Barock bei, liebte aber ein kleineres Format und nahm einige andere Elemente auf, darunter asiatische Motive (Chinoiserien) und asymmetrische Kompositionen. Nach etwa 1730 kam das Rokoko vor allem durch Werke der Druckgrafik von Frankreich in andere Teile Europas. Die Freuden des Lebens Das Rokoko ist eine leichtlebige, verspielte Kunstrichtung, die Freude am Leben – joie de vivre – widerspiegelt. Typische Rokokofiguren sind sorglose Aristokraten in fantastischen Umgebungen, die scherzen oder kokettieren, Musik machen oder hören, picknicken oder Ausflüge aufs Land unternehmen. Sie werden oft vor einem erlesenen und idyllisch-anmutigen Hintergrund in der Natur oder in prächtigen Boudoirs gezeigt. Zu den stilbildenden Künstlern des Rokoko gehören Antoine Watteau (1684–1721), der für seine fêtes galantes und idyllischen Szenen mit eleganten Damen und Herren berühmt wurde, 1750–1753 1756 1767 1770 1775 Giambattista Tiepolo malt in der Residenz Würzburg das größte Deckenfresko der Welt mit Allegorien der Planeten und Kontinente Boucher: Portrait der Madame de Pompadour Jean-Honoré Fragonard: Die Schaukel Thomas Gainsborough: Knabe in Blau Boucher wird Direktor der Französischen Akademie 49 50 Die Ausbreitung des Humanismus Die Toilette der Venus Mythologie, sinnliche Frauen und die Liebe gehören zu den beherrschenden Themen des Rokoko, wobei sanfte Linien, Asymmetrie und pastellige Farben den Stil prägen. Dieses erotische Venusgemälde wurde von der Mätresse Ludwigs XIV., Madame de Pompadour, für ihr Schloss Bellevue bei Paris in Auftrag gegeben. Wie bei einem Bühnenbild ist die junge, füllige Venus mit Amoretten auf einem Sofa dargestellt, dessen Schnitzereien vergoldet sind. Reich drapierte Vorhänge und Tücher veranschaulichen die Badekultur des Rokoko. François Boucher: Die Toilette der Venus, 1751, Öl auf Leinwand; Metropolitan Museum of Art, New York. die in fantastischen Landschaften entspannen. François Boucher (1703–1770) war der Hofmaler Ludwigs XV. und damals berühmt für seine ruhigen galanten Gemälde und Gobelins mit mythologischen Sujets, Allegorien und Portraits. JeanHonoré Fragonard (1732–1806) steht für eine lockere Malweise, die perfekt die Unbekümmertheit der Aristokratie vor der Französischen Revolution in eleganten, üppigen und verspielten Bildern darstellt. Jean-Siméon Chardin (1699–1779) hielt das Leben der Pariser Bourgeoisie in detailreichen Stillleben und häuslichen Szenen fest, wobei seine Werke weniger zierlich und dekorativ sind als das Gros der Roko- Rokoko kokunst. Bei Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun (1755–1842) zeigt sich der Einfluss des Rokokostils insbesondere bei ihren Portraits der Königin Marie Antoinette, ihrer flotten Pinselführung und ihre Farbpalette. Étienne-Maurice Falconet (1716–1791) schuf asymmetrische Statuen mit fein Ein reiner Kopierer gestalteten Rundungen, oft zum Thema Liebe oder Vergnügunkann niemals gen. irgendetwas Großes In England malten Sir Joshua Reynolds (1723–1792), Thomas schaffen. Gainsborough (1727–1788) und William Hogarth (1697–1764) idealisierende Bilder im Stil des Rokoko. Der venezianische Joshua Reynolds Maler Giambattista Tiepolo (1696–1770) schuf berühmte Decken- und Wandgemälde, während Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto (1697–1768), und Francesco Guardi (1712–1793) für ihre großen Veduten (Stadtansichten) mit klaren, hellen Szenen voller Details bekannt wurden. Der Rokokostil blieb nicht nachhaltig. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Zopf und Perücke unmodern und galten nun insbesondere in Deutschland als Inbegriff von Dekadenz und Rückständigkeit. Bald setzte sich eine strengere Neuinterpretation der antiken griechischen und römischen Kunst durch: der Klassizismus. ‚ ʻ Worum geht Dekorative höfischees Kunst, die gefällt 51 52 Die Ausbreitung des Humanismus 13 Klassizismus (ca. 1750--1850) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es eine Wiederbelebung der disziplinierten, exakten Stilformen der klassisch griechischen und römischen Antike sowie der Renaissance – einerseits als Gegenbewegung zum leichten, heiteren Rokokostil und andererseits als Reaktion auf die Ausgrabung der unter Vulkanasche verschütteten römischen Städte am Fuß des Vesuvs. Die Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji, die 1738 bzw. 1748 begannen, gehören zu den spektakulärsten archäologischen Projekten überhaupt. Innerhalb weniger Jahre wurden aus der Vulkanasche des Vesuvs große Stadtgebiete freigelegt, die 79 v. Chr. verschüttet worden waren. Die Funde waren beispiellos und ließen die Welt staunen: Menschen, Tiere, Häuser, Straßen, Läden und Besitz waren unter dem Ascheregen konserviert worden. Die erhaltenen Reste der Gebäude und Kunstwerke regten eine neue Architektur und Kunst an, die sich an den klaren Linien und vollendeten Konturen der Antike orientierte. Neben den Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji gab der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) mit seinen 1755 publizierten Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst dieser Bewegung einen wichtigen Anstoß. Mit seiner Formel „edle Einfalt, stille Größe“ hat er eine Generation von Künstlern inspiriert. Patriotismus, Heldentum, Ehrfurcht und Moral Der Klassizismus begann als Rebellion gegen die verschnörkelte Frivolität des Rokoko, das primär eine höfische Kunst war. In den 1760er Jahren übernahmen Künstler zunehmend Motive aus der griechischen und römischen Antike und stellten Werte wie strenge Einfachheit, Mut, Ehre, Tugend und persönliche Einsatzbereitschaft dar, um beim Betrachter Vergleiche zwischen den Republiken der Antike und dem Kampf um Zeitleiste 1764 1777 1780 1784 1787 1789 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums Anton Raphael Mengs: Perseus und Andromeda Beginn der Industriellen Revolution in England Jaques-Louis David: Der Schwur der Horatier Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna Mit dem Sturm auf die Bastille beginnt die Französische Revolution Klassizismus ‚ In den Künsten ist die Art, wie eine Idee dargeboten wird, und die Art, wie sie ausgedrückt wird, viel wichtiger als die Idee selbst. Jacques-Louis David ʻ bürgerliche Freiheitsrechte in Frankreich nahezulegen. Nach der Französischen Revolution, mit der die Aristokratie abgeschafft wurde, wurde Frankreich eine Republik gleichgestellter Bürger. Nach der Restauration durch Napoleon wurde ein Herrscherbild propagiert, das sich an den hohen Prinzipien römischer Tugend und Moral orientierte. Entsprechend wurden die Künstler beauftragt, mehr Kunstwerke zu schaffen, die begeisternde Szenen aus der römischen Geschichte darstellen. Die Maler arbeiteten mit scharfer Linienführung, klarer Komposition sowie kühl wirkenden Farben. Dieser Trend erfasste ganz Westeuropa, wo die Monarchen Nationalismus, Heldenmut, Ehre, Würde und Tradition fördern wollten. Klassizistische Kunst unterlag strengen Regeln. Die Künstler arbeiteten mit präzisen Techniken, die Formen und Inhalte der klassischen Vorbilder nachahmten. Die Maler wählten eine bühnenartige Beleuchtung mit Streiflicht und Schlagschatten. Die Qualität der Linien und Konturen war für sie aber wichtiger als Farbe, Licht und Stimmung. Die Bildhauer strebten ebenfalls nach klaren, ruhigen Umrisslinien, schufen glatt polierte Oberflächen und mieden scharfe Kanten. Diese akribische Strenge war zum Teil eine Gegenbewegung zum Hedonismus des Rokoko und zur Dramatik des Barock. Viele ernste und eindrucksvolle Motive leiteten sich aus der Geschichte und Mythologie der klassischen Antike ab, aus den Werken von Homer und Plutarch, aber auch aus den Illustrationen zu Ilias und Odyssee, die der englische Künstler John Flaxman (1755–1826) gezeichnet hatte. Napoleons Einfluss Als Napoleon 1799 in Frankreich die Macht übernahm, begann auch sein Einfluss auf den Klassizismus dort: Er beauftragte die Künstler, analog zu antiken Themen auch Ereignisse der jüngsten Geschichte Frankreichs darzustellen. So ließ er sich von Malern als Nationalheld abbilden, der Bewunderung und Respekt einflößt. Während der Herrschaft Napoleons nahmen die Künstler zwar weiterhin Säulen, Podeste, Friese und Gewänder nach dem Vorbild der Antike in ihre Darstellungen auf, aber ihre Bilder waren komplizierter aufgebaut als die früheren klassizistischen Werke. 1793 1804 1814–1817 1815 1852 Hinrichtung Ludwig XVI und Marie Antoinettes; David: Tod des Marat; Canova: Amor und Psyche Napoleon krönt sich zum Kaiser Antonio Canova: Die drei Grazien Napoleon wird bei Waterloo geschlagen Beginn des Zweiten Kaiserreichs und der Herrschaft von Napoleon III. 53 54 Die Ausbreitung des Humanismus Der Schwur der Horatier Dieses Bild begründete Davids Ruhm. Die einfache Komposition mit Figuren, die im Dreieck oder Viereck gruppiert sind, entspricht klassizistischen Vorstellungen. Die dramatische Lichtführung verdeckt nicht den strengen Aufbau des Bildes. Es zeigt die Auseinandersetzung zwischen Rom und Alba Longa um 660 v. Chr., bei der drei Horatier-Brüder (für Rom) gegen drei Curatier- Brüder (für Alba Longa) kämpften. Allerdings war eine Schwester der Curatier mit einem Horatier verheiratet und eine Schwester der Horatier mit einem Curatier verlobt. Trotz der Wehklagen der Frauen besteht der Vater der Horatier auf dem Zweikampf. David malte dieses Werk absichtlich als Proklamation vorrevolutionärer Ideen – der Staat kommt vor der Familie. Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf Leinwand; Musée du Louvre, Paris. Klassizismus Die klassizistischen Bilder von Jaques-Louis David (1748–1825), der zugleich politisch aktiv war, sind zunächst untrennbar mit der Französischen Revolution verknüpft: Sie dienten als Propaganda für die Aufstände. Nach der Machtergreifung Napoleons unterstützte David in seinen GemälDen Gedanken einen den den Kaiser. Zu den vielen Künstlern, die in Davids großer Körper und eine Werkstatt lernten, gehörte auch Jean Auguste Dominique Ingres vollkommene Form zu (1780–1867). Ingres mischte sich selbst nicht politisch ein und verbrachte den größten Teil seiner Jugend in Italien. Er kam erst geben, das und nur das nach der Restauration der Monarchie zurück nach Frankreich. Im ist es, was einen Laufe seines langen Lebens wurde er zunehmend zum „Papst“ Künstler ausmacht. des Klassizismus. Er konzentrierte sich auf die Präzision von Jacques-Louis David Linien und auf klassische Themen. Und er prägte die französische Malerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und führte den Klassizismus noch weiter, als dieser Stil bereits aus der Mode kam. Ein weiterer bedeutender klassizistischer Maler war Anton Raphael Mengs (1728–1779), der zu seiner Zeit weithin als Europas größter lebender Maler galt. Sein Buch Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey von 1762 hatte enormen Einfluss. Der führende klassizistische Bildhauer war der Venezianer Antonio Canova (1757–1822), der anmutige und elegante Marmorstatuen schuf und für seine feine Wiedergabe von Haut und Muskeln bekannt war. Jean-Antoine Houdon (1741–1828) wurde vor allem durch seine Büsten und Statuen von berühmten Philosophen, Erfindern und politischen Führern der Aufklärung bekannt. ‚ ʻ Worum es geht des Revolutionäre Wiederbelebung Strebens nach Schönheit und Vollkommenheit 55 56 Die Ausbreitung des Humanismus 14 Romantik (ca. 1790--1840) Im Gegensatz zur Stringenz des Klassizismus standen in der Romantik die Emotionen im Mittelpunkt, wobei die Romantik nicht nur eine Gegenbewegung war, sondern in gewisser Hinsicht auch auf den gleichzeitigen Klassizismus zurückgriff. In der Romantik gab es viele Facetten, verkörpert in vielen Künstlern, Komponisten und Schriftstellern. Es war eine vielschichtige Entwicklung, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichte und lange noch nachhallte. Die Romantik spiegelt wie der Klassizismus die revolutionären Ideen ihrer Zeit wider. Während der Klassizismus die politischen Umstürze aufgriff und die Beherrschung der Emotionen, klare Linien und Themen bevorzugte, die bürgerliche Würde und Stolz ausstrahlen, wendet sich die romantische Kunst dem sozialen Wandel zu und drückt Gefühle drastisch mit geschickter Pinselführung, lebhafter Farbpalette und phantastischer Komposition der Figuren aus. Die Ideen der Romantik lassen sich nicht so klar definieren wie die des Klassizismus – es gibt keine einfachen Kriterien dafür. Das liegt zum Teil daran, dass die Romantiker in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten mit differierenden Stilmitteln und Techniken arbeiteten. Die Grundideen waren ähnlich, aber deren Deutung variierte. Man findet Einflüsse des Barock, der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und der Amerikanischen Revolution, aber auch der zeitgenössichen Literatur: etwa von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Lord Byron (1788–1824) oder William Wordsworth (1770–1850) und natürlich den vielen Vertretern der deutschen Romantik mit ihren Bezügen zu Märchen, Sagen oder zur Natur. Individueller Ausdruck Die Romantik entwickelte sich aus einer Auseinandersetzung der Künstler mit einer Zeit des schnellen und einschneidenden Wandels. Nach den politischen Umwälzungen und der Industriellen Revolution verfielen die traditionellen Werte, und was als sicher und verlässlich gegolten hatte, geriet ins Zeitleiste 1776 1780 1789 1794 Amerikanische Unabhängigkeitserklärung Beginn der Industriellen Revolution, die beachtlichen Einfluss auch auf die Künstler und Schriftsteller der Romantik hatte Beginn der Französischen Revolution; William Blakes Songs of Innocence William Blake: The Ancient of Days Romantik Jakobs Kampf mit dem Engel Als bedeutendster Maler der französischen Romantik wird oft Eugène Delacroix genannt, der auf seine Zeitgenossen und auf spätere Künstler großen Einfluss hatte. Mit beeindruckenden dramatischen Kompositionen, kräftigen Farben und lebhafter Pinselführung schuf er leidenschaftliche und dynamische Bilder, die die Emotionen der Betrachter ansprachen. Er arbeitete sehr spontan und wandte verschiedene Techniken an, um ohne die traditionellen Vorzeichnungen und ohne zeitaufwendige Planung unmittelbar auf die Leinwand malen zu können. Er gestaltete eine Wand der Engelskapelle von Saint-Sulpice in Paris mit der Jakobsgeschichte aus. Demnach rang Jakob eine Nacht lang mit einem Unbekannten, der sich am Morgen als Engel zu erkennen gab und ihn segnete. Eugène Delacroix: Jakobs Kampf mit dem Engel (Ausschnitt), 1861, Öl auf Leinwand; Saint-Sulpice, Paris. 1814 1819 John Constable: Das Stourtal mit der Kirche von Dedham; Francisco Goya: Die Erschießung der Aufständischen Théodore Géricault: Das Floß der Medusa; John Keats: Ode an die Nachtigall und Ode auf eine griechische Urne ca. 1835 Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen ca. 1840 William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit – Die Große Westeisenbahn 57 58 Die Ausbreitung des Humanismus Wanken. Auch die neuen Erkenntnisse zur Natur, die die Wissenschaft als völlig rational zu erklären suchte, schienen im Gegensatz zu all dem zu stehen, was nicht nur die Künstler zuvor als gültig erachtet hatten. Nun schufen sie Bilder voller Sehnsucht, Wehmut und Besinnlichkeit. Viele Romantiker knüpften an das Interesse für die Natur an und drückten ihre inneren Gefühle in ihrer Kunst aus. Fast alle rebellierten gegen fest etablierte Regeln und Konventionen der künstlerische Darstellung, benutzten eine reiche Farbpalette und lebendige Pinselführung, um ihrem Werk in einem zuvor nur selten anzutreffenden Maße Ausdruck zu verleihen. Die Romantik liegt Die meisten romantischen Künstler waren gegen die Indusnicht in der Wahl des trialisierung und Mechanisierung, die sich in fast allen LebensSujets oder in der bereichen ausbreitete, und stellten als Kontrast – oder aus Proexakten Wahrheit, test – Themen dar, die die Natur, Volksmärchen, das Mittelalter, sondern in der Art zu Exotisches und Fantastisches sowie Mythisches und Übernatürliches betrafen. Viele bevorzugten emotionale Themen aus Lieempfinden. Charles Beaudelaire besdramen oder Tragödien. Ihre Kunst war subjektiv, leidenschaftlich, fantasievoll, ausdrucksstark und gefühlsbetont. Einfühlung und Empfindung waren für sie wichtiger als reiner Verstand und Vernunft. Anstelle strenger Logik und Rationalität drückten die Künstler nun Leiden und Tränen aus, die gewöhnlich aus Gründen der Etikette unterdrückt wurden. Diese Kunst war kühn, ausdrucksstark und erfindungsreich. Gefühle wurden übersteigert dargestellt und wahrgenommen. Nie zuvor hatten Künstler ihre individuellen Gefühle so freizügig gezeigt, und nie zuvor standen Spontaneität und genialer Einfall so hoch im Kurs. ‚ ʻ Farbe, Drama und Intuition Um 1800 setzt sich der Begriff „Romantik“ durch, um den aufkommenden Stil zu charakterisieren, der damals Kunst aller Art, Philosophie, Politik und auch die Wissenschaften einbezog. Die Romantik begann in Frankreich, entwickelte sich dann in den anderen europäischen Ländern und Amerika zu unterschiedlichen Zeiten und Formen und erlebte besonders in Frankreich, Großbritannien und Deutschland eine Blüte. Auch wenn es keinen einheitlichen Stil unter all den Künstlern gab, die als Vertreter der Romantik gelten, so standen in der romantischen Kunst stets Emotionen und Expressivität gegenüber Struktur und Stabilität im Vordergrund. Die Künstler versuchten, persönliche Gefühle zu vermitteln und ihr Mistrauen gegenüber modernen Entwicklungen und Ereignissen klar zu machen. Die führenden Romantiker griffen Ideen aus verschiedenen Disziplinen auf, experimentierten mit technischen Innovationen und schufen Werke, die oft Aufsehen erregten, dick auftrugen, persönlich waren und auf umstrittene Weise mit der Tradition brachen. Zu ihnen gehörte Eugène Delacroix (1798–1863), der als einer der größten und einflussreichsten Maler Frankreichs gilt, was den Umgang Romantik mit Farbe betrifft. Seine lebendigen Bilder Das Erhabene sind von historischen wie zeitgenössischen Ereignissen geprägt sowie von der Literatur Der Begriff sublime – für das Erhabene – und von exotischen Orten, die er besuchte. wurde 1757 von Edmund Burke neu diskutiert, Der britische Maler, Dichter und Grafiker um die Kunst zu charakterisieren, die den William Blake (1757–1827) schuf fantastiBetrachter erschauern lässt. So sind eindruckssche, stimmungsvolle und sinnbildliche volle Darstellungen etwa hoher Berge oder hefWerke, die seine starke Vorstellungs- und tiger Stürme, aber auch Gemälde von SchreckSchöpfungskraft zeigen. In Spanien setzte gespenstern erhaben. Die Vorstellung, dass Francisco de Goya (1746–1828) die SchreBilder in delightful horror erschaudern lassen, cken des Kriegs ausdrucksstark ins Bild und war neu und ein wichtiger Aspekt der Romantik malte zunehmend fantasievolle, mit spötti– und ist es bis heute geblieben. schen Beobachtungen angereicherte Bilder der menschlichen Natur. Théodore Géricault (1791–1824) gehörte zu den Pionieren der Romantik und hatte mit seinem dramatischen, ausdrucksstarken und unkonventionellen Malstil starken Einfluss auf Delacroix. In Deutschland gab Caspar David Friedrich (1774–1840) stimmungsvolle, flüchtige Landschaftseindrücke wieder, bei denen oft Abgeschiedenheit und Einsamkeit im Mittelpunkt stehen. William Turner (1775–1851) ist mit seinen fruchtbaren, ausdrucksstarken und stimmungsvollen Naturstudien der berühmteste Landschaftsmaler der Romantik. John Constable (1776–1837), ebenfalls englischer Landschaftsmaler, setzte nostalgisch die Gegenden seiner Heimat ins Bild, die seinem Empfinden nach von der Industrialisierung zerstört zu werden drohten. Worum es geht Betonung der Gefühle gegenüber Konventionen 59 60 Die Ausbreitung des Humanismus 15 Akademie (ca. 17.--19. Jahrhundert) Im 19. Jahrhundert hing der Ruf eines Künstlers in hohem Maße davon ab, was sich an den Akademien, den offiziellen Ausbildungsstätten Europas, etabliert hatte. Die Akademien wurden zunehmend konservativ, wehrten sich gegen Veränderungen und lehnten innovative oder avantgardistische Ideen ab. Nur ihre eigene Kunst wurde von den Akademien als solche anerkannt, insbesondere die der Académie des Beaux-Arts in Paris – der wichtigsten Akademie von allen. Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert war die europäische Kunstwelt durch die Akademien bestimmt. Angehende Künstler hofften, dort studieren zu können und später dort Mitglied zu werden. Diese öffentlichen Institutionen setzten letztlich fest, was Kunst ist, indem sie Kunstwerke offiziell förderten, auszeichneten und ausstellten. Akademien waren bereits im 16. Jahrhundert in Italien gegründet worden, hatten sich dann auch im übrigen Europa etabliert und das mittelalterliche Zunftsystem ersetzt. Sie waren nun der verlässlichste Weg für eine Künstlerkarriere – durch Ausbildung, Wettbewerbe, Ausstellungen und Preise. Um in eine Akademie aufgenommen zu werden, nahmen die Bewerber anspruchsvolle Examen auf sich, und wenn sie aufgenommen waren, studierten sie einige Jahre dort. Die 1648 gegründete Pariser Akademie der schönen Künste vereinigte sich 1816 mit zwei anderen Akademien und benannte sich in École des Beaux-Arts um. Sie wurde die führende Kunstinstitution Europas, nach der sich alle richteten. Reputation und Status Das System der Akademien diente ursprünglich dazu, den Künstlern ein höheres Ansehen als den Handwerkern zu verschaffen und die intellektuelle Seite der Kunst herauszustellen. Die akademische Kunstausbildung umfasste ein mühsames Studium über Jahre, in denen die Techniken vorangegangener Künstler gelernt und perfektioniert wurden – und das alles, nachdem die Studenten ein Empfehlungsschreiben eines renommierten akademischen Lehrers vor- Zeitleiste 1830 1833 1837–1840 1839 Ölfarben in transportablen Blechtuben kommen erstmals in den Handel Paul Delaroche: Die Hinrichtung der Lady Jane Grey Es werden neue chemische Pigmente für die Ölfarben Mauve, Violett, Hellgrün und Gelb eingeführt Erfindung der vermarktbaren Fotografie durch Louis Daguerre und Fox Talbot Akademie gelegt und das Aufnahmeexamen bestanden Das Romstipendium hatten. Einige Jahre verbrachten die Studenten damit, Drucke von vorbildlichen GemälIn Paris gab es an der Akademie seit 1663 in den, Skulpturen oder Plastiken zu kopieren, jedem Jahr ein Kunststipendium zu gewinnen. um zu verstehen, wie Farbe und Konturen Die Stipendiaten mussten männlich, franzöanzuwenden sind. Wenn das geschafft war, sisch, ledig und unter dreißig sein. Es war ein wurde nach Gipsabgüssen von berühmten harter Wettbewerb, der verschiedene Stufen Werken gezeichnet, und wenn die Studenten einschloss und dem Gewinner einen bezahlten auch hier die Erwartungen erfüllten, durften Romaufenthalt von drei bis fünf Jahren ermögsie lebende Modelle zeichnen. Keiner durfte lichte. In dieser Zeit hatte er die dortige Kunst malen, bevor er nicht das Zeichnen perfektioder klassischen Antike und der Renaissance niert hatte. Und das Malen erlernte man eingehend zu studieren. Den Gewinnern winkte dann, indem man in das Atelier eines Akadezudem eine gleichsam garantierte Künstlermielehrers eintrat. Malerei wurde nur von karriere. offiziellen Akademiemitgliedern – „Akademikern“ – unterrichtet. Am Ende wurden die Studenten, wenn sie alle diese Stufen durchlaufen hatten, als „Assoziierte“ der Akademie anerkannt. Das bedeutete, dass sie nun beruflich als Künstler arbeiten konnten. Wenn sie danach weiterhin Kunstwerke schufen, die von Vertretern der Akademie gutgeheißen wurden, bestand die Möglichkeit, dass sie auch selbst den angesehenen Titel eines Akademikers erhielten. Der Rang der Sujets Neben Kunstfertigkeit, Stilkenntnisssen und dem Beherrschen der Techniken gab es an der Akademie auch eine Rangfolge von Themen, deren Darstellung von einem Künstler erwartet wurde: Historienbilder einschließlich mythologischer, biblischer und sonstiger literarischer Szenen waren am angesehensten. Es folgten Portraits und Landschaftsbilder. Den niedrigsten Staus hatten Stillleben und Genrebilder. Während des 19. Jahrhunderts gab es zwei Stile, die an der Académie des Beaux-Arts gleichermaßen anerkannt waren: der Klassizismus mit seiner Betonung klarer Linien und die Romantik mit ihrer ausdrucksvollen Farbgebung. Die Studenten sollten die besonderen Elemente dieser beiden Stile kombinieren, um einen idealen Akademiestil zu erreichen. 1847 1861 1870/71 1887 ca. Thomas Couture: Die Römer der Verfallszeit Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs Deutsch-Französischer Krieg Alexandre Cabanel: Kleopatra erprobt Gift an Verurteilten Jean-Léon Gérôme: Pygmalion und Galatea 1890 61 62 Die Ausbreitung des Humanismus Die Geburt der Venus Dieses Gemälde – ein typisches Beispiel für Akademiekunst – hat Napoleon III. gekauft, nachdem es im Pariser Salon ausgestellt worden war. Cabanel, der Gewinner des Romstipendiums von 1845, hat darin den klassizistischen Stil von Ingres mit schwungvoller Romantik gemischt. Mit akribischer Pinselführung und Sorgfalt im Detail hat er in der ausgestreckten Figur ein Idealbild der Göttin Venus geschaffen – genau die Art von tadellos kunstfertigen Gemälden, die in der Akademie anerkannt und von reichen Kunstsammlern gern gekauft wurden. Mit dem Hinweis auf die römische Mythologie im Titel war das Thema für alle auch akzeptabel, auch wenn es tatsächlich nur ein Vorwand war, um eine nackte Frau malen zu können. Alexandre Cabanel: Die Geburt der Venus, 1863, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris. Der Pariser Salon Der Salon de Paris war die offizielle Kunstausstellung der Académie des Beaux-Arts. Von 1725 bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert fand der Salon ein- bis zweimal im Jahr statt und galt als größtes Ereignis in der Kunstszene Europas. Künstler reichten ihre Werke ein, um von der offiziellen Jury des Salons in die Auswahl aufgenommen oder abgelehnt zu werden, wobei nur der konventionelle Akademiestil akzeptiert wurde. Es wurden jeweils tausende von Bildern ange- ‚ Akademie Man sollte nicht an alle diese angeblichen Neuerungen glauben. Es gibt nur eine Natur und nur einen Weg, sie zu betrachten. William-Adolphe Bouguereau ʻ nommen und in den Ausstellungsräumen vom Fußboden bis zur Decke dicht nebeneinandergepackt gezeigt. Dabei entschied die Jury auch, wo die einzelnen Bilder und Skulpturen zu platzieren waren – eine gute Sichtbarkeit seiner Werke konnte dabei die Karriere eines Künstlers begründen, eine schlechte sie zerstören. Auf diese Weise war jeder Künstler auch nach jahrelangem Studium an der École des Beaux-Arts auf die Akademie angewiesen, wenn er Ansehen gewinnen wollte. Führende akademische Künstler Im 19. Jahrhundert war Kunst beim aufstrebenden Mittelstand zunehmend gefragt. Offizielle Ausstellungen, Kunsthändler und Drucke in hohen Auflagen führten zur Verbreitung von Kunst; dabei war die Akademiekunst besonders beliebt. Zu den führenden akademischen Künstlern Frankreichs gehörte William-Adolphe Bouguereau (1825–1905), der überwiegend religiöse und historische Gemälde im klassizistischen Stil schuf, auch wenn seine makellos gemalten Nackten und mythologischen Figuren berühmter waren. JeanLéon Gérôme (1824–1904) wurde für seine historischen und mythologischen Bilder und Portraits in zum Teil orientalisch beeinflusstem Stil bekannt. Paul Delaroche (1797–1856) malte lebensgroße historische Szenen mit durchgehend seidenglattem Firnis. Alexandre Cabanel (1823–1899), der Lieblingsmaler von Napoleon III., malte Portraits und ebenso historische, mythologische und biblische Themen. Thomas Couture (1815–1879) schuf Historienbilder und war ein einflussreicher Lehrer. Alle diese Künstler kombinierten in ihren Werken erfolgreich die Theorien und Ansätze des Klassizismus und der Romantik und lieferten eine moderne Deutung der klassischen Sujets, wobei sie durch eine nicht wahrnehmbare Pinselführung einen idealisierten Realismus in ihrer Darstellung erreichten. Die Themen waren oft sentimental, entsprechend der damaligen Mode und den Anforderungen der Akademie. Worum esdie geht Konservative Kunst, den Lehren der Akademie folgt 63 64 Die Ausbreitung des Humanismus 16 Ukiyo-e (ca. 17.--20. Jahrhundert) Der Name „Ukiyo-e“ kennzeichnet einen Typ von Gemälden und Holzschnitten, die in Edo, dem heutigen Tokio, hergestellt wurden. Der Bestandteil ukiyo bezeichnet im Buddhismus die „fließende Welt“ der vergänglichen Lebenssituationen, das e steht für Bild. Mithin bedeutet Ukiyo-e „Bilder der fließenden Welt“. Zwischen 1603 und 1868, der EdoZeit, wurde Japan von den Schogunen der Samurei regiert und Tokio zu einer der größten Weltstädte. Vom 17. bis 19. Jahrhundert erließen die Schogune viele repressive Dekrete; Vergnügungen wurden lizenziert und die Vergnügungsviertel in den japanischen Städten kontrolliert. Das förderte die Erwartung, dass leichtes Leben und Vergnügen nicht einfach zu haben sind. Dennoch wurde die Lust auf Vergnügen, Entspannung und Unterhaltung Trend. In den Vergnügungsvierteln lebten Kurtisanen, Geishas, Sumo-Ringer und Kabuki-Schauspieler – die Berühmtheiten der Edo-Zeit. Sie wurden zum wichtigsten Thema der ukiyo-zoshiMeine gesamte Arbeit Romane, der Erzählungen von der fließenden Welt, sowie der beruht bis zu einem Ukiyo-e-Gemälde und -Holzschnitte. Die „fließende Welt“, die gewissen Grad auf ursprünglich als Vergänglichkeit des Lebens verstanden wurde, bekam nun die Bedeutung einer sorgenfreien, angenehmen japanischer Kunst. Vincent van Gogh Atmosphäre in den Vergnügungsvierteln mit ihren Theatern, Restaurants und Teehäusern abseits des allgegenwärtigen Alltags in den wachsenden Städten. Für die meisten Menschen schien das pulsierende Leben der Berühmtheiten über der düsteren Wirklichkeit des gewöhnlichen Daseins zu schweben. Die Künstler begannen, den Glanz dieser verlockenden Welt darzustellen, denn solche Bilder waren gefragt. Später fügte man Tiere, Vögel, Szenen aus der Überlieferung und Landschaften hinzu. Auch diese weitere Art, die „fließende Welt“ jenseits des Alltags darzustellen, wurde außeror- ‚ ʻ Zeitleiste 1617 1633–1639 1685 1720 In Tokio wird das Vergnügungsviertel Yoshiwara offiziell lizenziert, mit Theatern, Teehäusern, Restaurants und Bordellen Der Schogun sperrt die Häfen für ausländische Handelsschiffe außer den holländischen. Auslandshandel und ausländische Bücher werden verboten Hishikawa Moronobu: Szenen im Teehaus eines Theaters Das Verbot ausländischer Bücher wird gelockert Ukiyo-e Hiroshige Das Bild von Andō Hiroshige zeigt eine Fuchsversammlung unter einem großen Zürgelbaum. Diese Szene schmückt den Oji-InariSchrein im Norden von Tokio. Der Zürgelbaum vor diesem Schrein galt als Treffpunkt der Füchse aus der Region Kanto, die sich in der Neujahrsnacht in Menschen verwandelten. Die Einheimischen versuchten, die mit dem Atem der Füchse in Verbindung gebrachte Biolumineszenz (Leuchten) des Holzes als Omen für die nächste Ernte zu deuten. Hiroshige gilt als letzter großer Meister des Ukiyo-e, der die Tradition des Portraitierens von Berühmtheiten zugunsten scharfsinniger Naturbeobachtung zurückstellte – auch bei diesem mythologischen Bild. Durch die Dynamik der wechselnden Perspektiven ohne festen Bildmittelpunkt wirkt die Komposition dramatisch, wobei sich dieser Effekt verstärkt, wenn man die japanische Leserichtung von rechts nach links zugrunde legt. Andō Hiroshige: Fuchsfeuer in der Silvesternacht am Oji-InariSchrein, 1857, Holzschnitt; Yale University Art Gallery, New Haven. 1765 1794 1831 1855–1860 1868 Suzuki Harunobu ermöglicht mit seiner neuen Technik farbige Holzschnitte Tōshūsai Sharaku portraitiert den KabukiSchauspieler Otani Oniji II. Katsushika Hokusai: Die große Welle vor Kanagawa Japan öffnet seinen Handel für einige westliche Staaten Mit der Meiji-Restauration beendet der Tenno Mutsuhito die Edo-Zeit 65 66 Die Ausbreitung des Humanismus ‚ Ich beneide die japanischen Künstler wegen ihrer unglaublichen Klarheit. Vincent van Gogh ʻ dentlich beliebt. Zum ersten Mal in der japanischen Geschichte schufen die Künstler Bilder, wie sie von einer breiten Öffentlichkeit gewünscht wurden. Schweben jenseits der Realität Ukiyo war ursprünglich der Inbegriff von Jenseitigkeit, mit der man auf die Welt hinabblickte, die die Künstler darstellten. In gleicher Weise wurden die Bilder später gestaltet, um dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, von oben auf die angenehmen Seiten des Lebens zu blicken, ohne daran wirklich teilzunehmen und gegen die Gebote des Schoguns zu verstoßen. Zu diesem Zweck werden in Ukiyo-e-Bildern oft ungewöhnliche Perspektiven genutzt, die eine Szene von einem erhöhten Standpunkt aus wiedergeben. Häufig zeigen diese Bilder Ausschnitte des Blickfelds, ähnlich wie Fotografien, obwohl die meisten vor der Erfindung der Fotografie entstanden. Dadurch entsteht der Eindruck eines eher flüchtigen Blicks auf eine Szene und weniger der einer umfassenden Ansicht. Der ungewöhnliche Bildaufbau passt zu den traumähnlichen Fantasiethemen. Oft ziehen sich Diagonalen durch das Bild, die den Eindruck von Bewegung wecken und die Zweidimensionalität der Papierebene hervorheben. Es wurde auch kaum versucht, Farbtöne und Texturen einzusetzen – Bilder waren Bilder, ohne den Anspruch, als Realität zu erscheinen. Harmonie war wichtig, bei der die Leerräume und die überreich ausgestalteten Flächen voll intensiver Farben und Muster im Gleichgewicht stehen. Farbholzschnitte Ukiyo-e-Holzschnitte waren bei vielen Japanern beliebt, die sich Gemälde nicht leisten konnten. Die ersten alternativen Bilder wurden mit Tusche gezeichnet, aber auch die waren relativ teuer. Dann begann 1670 Hishikawa Moronobu (ca. 1618–1694), der als Vater des Ukiyo-e gilt, mit monochromen Holzschnitten zu experimentieren. Diese Drucke, die sich in Massenauflagen preisgünstig herstellen ließen, wurden schnell populär. Einige dieser Drucke wurden von Hand koloriert, bis Suzuki Harunobu (ca. 1724–1770) im Jahr 1765 den Farbdruck entwickelte. Es war eine anspruchsvolle Technik, die große Genauigkeit erforderte. Aber von nun an entstanden Ukiyo-e-Drucke in lebhaften Farben, die ein Gegengewicht zum strengen Aufbau bildeten. Auch Okomura Masanobu (ca. 1686–1764) hat die Ukiyo-e-Kunst seiner Zeit wesentlich beeinflusst. Anfangs dienten viele Drucke wie die von Kitagawa Utamaro (ca. 1753–1806) und Tōshūsai Sharaku (der 1794/95 in Edo arbeitete) als Plakate, mit denen für Theatervorstellungen oder Bor- Ukiyo-e delle geworben wurde, oder als eine Art Pinup von Schauspielern, Kurtisanen und Geishas. Schließlich kamen im 19. Jahrhundert zu diesen Darstellungen der städtischen Kultur Landschaftsbilder hinzu. Künstler wie Katsushika Hokusai (1760–1849) und Andō Hiroshige (1797–1858) schufen anmutige, einfühlsame und kunstvolle Darstellungen des Wetters und Ansichten der natürlichen Umgebung unter verschiedenen Aspekten. Die Edo- und die Meiji-Zeit Die ruhige Edo-Periode wurde um 1867 von der weniger geruhsamen Meiji-Zeit abgelöst, die bis 1912 dauerte und in der mit der Restauration der Tenno an die Macht kam. Mit dem Wiederaufblühen des Handels mit den westlichen Ländern wandelte sich auch das Ukiyo-e, das sich damit verbundenen neuen Einflüssen öffnete. Der Japonismus Zwischen 1639 und 1854 beschränkte sich der japanische Außenhandel auf China und die Niederlande. Aber trotz dieser Isolation verbreiteten sich in Japan westliche Ideen und wissenschaftliche Entdeckungen durch die Niederländer, die zugleich Nachrichten aus Japan nach Europa brachten. Nach der Meiji-Restauration von 1868 beeinflussten westliche Errungenschaften wie Fotografie oder Linearperspektive die japanischen Künstler. Das Ukiyo-e wirkte allmählich veraltet, seine Drucke wurden praktisch wertlos und schließlich sogar als Packpapier für exportierte Handelswaren verwendet. In Europa war die japanische Kunst eine Entdeckung. Viele Künstler waren überwältigt von deren Ideen, insbesondere von den Themen aus dem Alltag, von der „Verschachtelung der Ebenen“ und Perspektiven, von den kräftigen Farbflächen und den starken Konturen. So etwas hatte man im Westen nie zuvor gesehen. Das Ukiyo-e hat deshalb einige der größten Impressionisten inspiriert, ebenso die Nachimpressionisten und die Künstler und Designer des Jugendstils. In Frankreich wurde die japanische Modewelle, die dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte, als Le Japonisme bezeichnet. es–geht JapanischeWorum Holzschnitte Bilder einer Welt im Wandel 67 68 Der Beginn der Moderne 17 Präraffaeliten (1848--ca. 1853) Eine Gruppe aus sieben jungen Künstlern gründete 1848 in England eine „Bruderschaft“, deren Ziel es war, zum Malstil der frühen Renaissance vor Raffael und Michelangelo zurückzukehren. Mit Blick auf die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts, des Quattrocento, schufen sie raffinierte, detailreiche Gemälde in leuchtenden Farben, oft auch mit vielfältiger Symbolik. Die Gruppe nannte sich selbst „Prä-Raffaelitische Bruderschaft (PRB)“, weil sie glaubte, dass die Kunst seit Raffael vom rechten Weg abgekommen sei. Die Ideen der Präraffaeliten waren eine Reaktion auf die tradierten akademischen Konventionen in der Kunst, die sie für geistlos, überheblich und aufgesetzt hielten. Die offiziellen Kunstakademien lehrten damals, dass die Hochrenaissance und der Manierismus die höchsten Stilentwicklungen seien und von allen Künstlern möglichst perfekt nachgeahmt werden sollten. Die Präraffaeliten hielten den sich daraus ergebenden Akademiestil, der eine Mischung aus Klassizismus und Romantik war, für formelhaft und gekünstelt. Sie strebten dagegen eine Rückkehr zur Schönheit und Einfachheit an, die sie in der mittelalterlichen Welt sahen. Und sie wollten – wie vor ihnen schon die Nazarener – die künstlerischen Ideale dieser Zeit wieder aufgreifen, besonders die italienische Malerei des Mittelalters, die sie für ehrlich und gradlinig hielten. Tatsächlich kannten sie diese nicht besonders gut, aber sie betrachteten die Kunst Raffaels als übertrieben und zu pathetisch und hielten die Malerei vor ihm für weniger verwirrend und für bescheidener. So rebellierten sie gegen die akademischen Traditionen und vereinbarten, nur „naturgetreu“ zu malen. Das hieß, dass sie Idealisierungen in der Malerei zurückwiesen und sich auf realistische Darstellungen mit genauen Details, raffinierter Komposition und leuchtenden Farben verlegten. Zeitleiste 1848 1850 1851 Die Künstlervereinigung der Präraffaeliten konstituiert sich Millaisʻ Bild Christus im Haus seiner Eltern löst heftige Kritik an den Präraffaeliten aus; Gründung der Zeitschrift The Germ Die erste Weltausstellung im Kristallpalast im Hyde-Park von London; Ruskin veröffentlicht seine Verteidigungsschrift der Präraffaeliten Präraffaeliten Das Licht der Welt Dies ist eines der vielen allegorischen Werke der Präraffaeliten. Jesus klopft an eine seit Langem verschlossene Tür, vor der bereits dornige Ranken gewachsen sind. Auf dem Rahmen stehen Worte aus der Offenbarung des Johannes (3,20): „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.“ Dass die Tür außen keinen Griff hat, verdeutlicht, wie es Hunt selbst erläutert, das „starre, verschlossene Herz“. Die sieben Seiten von Jesu Lampe verweisen auf die sieben Kirchen in der Offenbarung. Das Bild ist wie jedes Werk der Präraffaeliten mit „PRB“ signiert und entstand in einem verdunkelten, nur von Kerzenlicht erhellten Raum. William Holman Hunt: Das Licht der Welt, 1851–1853, Öl auf Leinwand; Keble College, Oxford. 1855 1857 1860 Ford Madox Brown: Der letzte Blick auf England Bei der Weltausstellung der Kunst, der Manchester Art Treasures Exhibition, werden auch Werke der Präraffeliten gezeigt Holman Hunt: Die Auffindung Jesu im Tempel; Rossetti: Beata Beatrix 69 70 Der Beginn der Moderne Die Gründer Die sieben Gründer der Künstlervereinigung waren: der Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti (1828–1882), die Maler John Everett Millais (1829–1896) und William Holman Hunt (1827–1910), der Bildhauer und Dichter Thomas Woolner (1825–1892), der Maler James Collinson (1825–1881), der Schriftsteller und Kunstkritiker William Michael Rossetti (1829–1919) und der Kunstkritiker George Stephens (1828–1907). Im Gründungsjahr 1848 waren sie alle noch jung, zwischen 19 und 23 Jahre alt, und entschiedene Kritiker der Industrialisierung und der Engstirnigkeit der Akademieleitungen. Ihre Werke erregten damals heftige Kontroversen, auch wenn man sich das heute nur schwer vorstellen kann. Die Präraffaeliten waren die erste wirklich avantgardistische Bewegung, die den weltweiten Vorgaben in der akademischen Kunst den Gehorsam verweigerte. Es war Dante Gabriel Rossettis Idee, die Gruppe Die weiße feuchte Grundierung als Bruderschaft zu bezeichnen und sie vor Um die Farben zum Leuchten zu bringen und der Royal Academy geheim zu halten. Licht darzustellen, benutzten die Präraffaeliten, Wofür das Signet „PRB“ in einer Ecke angeregt durch die Freskomalerei, eine Nassihrer Bilder stand, wusste anfangs niemand technik. Wie der Name sagt, werden Fresken außerhalb der Gruppe; man wusste nur, auf feuchten weißen Putz gemalt. Die Prärafdass sich dahinter ein Geheimbund verfaeliten grundierten deshalb ihre Leinwand mit birgt, was Misstrauen weckte. zwei Schichten aus weißer Farbe und malten dann auf die noch feuchte Grundierung. Die Farben kamen daher brillant heraus und wirkten lebendiger als in der übrigen Malerei des 19. Jahrhunderts. Positive und negative Tradition Die Präraffaeliten entwickelten bei allem, was sie darstellten, eine – fast fotografische – Genauigkeit im Detail, sie übersahen nichts. Oft finden sich in ihren Bildern Symbole und Allegorien, häufig zeigen sich darin auch Einflüsse von Tennyson, Browning, Keats und Shakespeare sowie mittelalterlichen Sujets. Es war den Präraffaeliten wichtig, sich nicht nach Sir Joshua Reynolds zu richten, dem Begründer der Royal Academy of Arts, dem damals die meisten jungen Künstler nacheiferten. Sie hielten dessen Malstil für unseriöse Pfuscherei (slapdash) und gaben ihm den Spitznamen „Sir Sloshua“. Dagegen bewunderten sie die Theorien des Kunstkritikers John Ruskin (1819–1900), der ihnen bei einem persönlichen Treffen seine hohe Wertschätzung ausgesprochen hatte und Leserbriefe an die Times schrieb, in denen er ihre Werke verteidigte. Er veröffentlichte 1851 eine Streitschrift unter dem Titel Pre-Raphaelitism, in der er die Ansätze und Ansichten der Künstlergruppe erklärte und lobte. Präraffaeliten Abkehr von der Tradition Die Präraffaeliten nahmen ihre Grundsätze sehr ernst und hielten sie in einer schriftlichen Vereinbarung fest. Darin versichern sie, dass sie in ihrer Malerei ernste und wichtige Themen lebensnah und so realistisch wie möglich in den brillantesten Farben darstellen wollen, die ihnen zur Verfügung stehen. Auch nahmen sie sich vor, konventionelle Malweisen zu meiden, die man an den Akademien beigebracht bekam und die sich über Jahrzehnte nicht verändert hatten. Sie brachten eine eigene Zeitschrift heraus, The Germ (Keim), um ihre Ideen zu verbreiten; dies rief allerdings noch mehr Kritik hervor, insbesondere auch bei Charles Dickens (1812–1870). Schon in den Die Vorstellungsfünf Jahren, in denen die „Bruderschaft“ bestand, wurden die kraft, mein Junge, die Unterschiede zwischen den Werken von Rossetti, Hunt und Milgrundlegende Tätigkeit lais deutlich. Hunt und Millais entwickelten sich in Richtung des Gehirns, ist das, was Naturalismus, wobei Hunt zunehmend moralischer und Millais zunehmend gefälliger malte und schließlich sogar in die königli- in der Kunst alles che Akademie aufgenommen wurde. Rossettis Werk dagegen ausmacht. wurde zunehmend fantastisch, mystisch und dichterisch. Nach Dante Gabriel Rossetti einer harschen Kritik an einem Gemälde von Millais hörte die Gruppe 1850 auf, ihre Werke mit „PRB“ zu signieren, Collinson trat sogar aus. Bald löste sich die Gruppe ganz auf, aber ihr Einfluss blieb über viele Jahre bestehen; einige Künstler arbeiteten mit ähnlichen Grundsätzen, Stilen und Techniken weiter. Zu ihnen gehörten neben anderen Edward Burne-Jones (1833– 1898), Walter Howard Deverell (1827–1854), Ford Madox Brown (1821–1893), Arthur Hughes (1832–1915), Simeon Solomon (1840–1905), Henry Wallis (1830– 1916) und Charles Allston Collins (1828 – 1873). Die Arbeiten dieser neuen Künstlergeneration werden oft als zweite Phase der Präraffaeliten charakterisiert. ‚ ʻ es geht Detail Romantik, Worum Farbe und künstlerisches in Anlehnung an frühere Epochen 71 72 Der Beginn der Moderne 18 Realismus (ca. 1830--1870) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es eine wachsende Zahl von Künstlern, die die konventionellen Vorstellungen und Einstellungen in der Kunst offen ablehnten. Sie befassten sich mehr mit den sozialen Verhältnissen als mit Vorstellungen und Gefühlen. Sie wiesen alles zurück, was sie für eine Erfindung der Akademiekunst, des Klassizismus oder der Romantik hielten, und konzentrierten sich auf eine genaue und objektive Darstellung der Alltagswelt. Die Künstler, welche die seit Jahrzehnten anerkannte Kunsttradition aufgaben, waren oft überzeugte Revolutionäre. Sie glaubten an die neuen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften sowie die Menschenrechte, die nach dem Revolutionsjahr 1848 zunehmend eingefordert wurden. Einer der wichtigsten Einwände gegen die Akademiekunst lautete, dass sie das Leben nicht so wiedergibt, wie es sich für die meisten Menschen wirklich darstellt. Der Realismus wurde damals in Frankreich von Künstlern entwickelt, die danach strebten, die Natur und die gewöhnlichen Menschen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten abzubilden, und mit ihren Gemälden für die Freiheit der Kunst und der Menschen eintraten. Die Schule von Barbizon Ein Realismus deutete sich bereits im Werk englischer Künstler wie Turner und Constable an, die darangingen, unmittelbar nach der Natur zu malen. Sie regten einige französische Künstler an, in einem Stil zu malen, der für die Schule von Barbizon charakteristisch wurde. Ab 1830 arbeitete eine Gruppe von Landschaftsmalern im Wald von Fontainebleau bei dem Dorf Barbizon. Sie malten im Freien, en plain air, was vor den 1860er Jahren nicht selbstverständlich war, und schärften den künstlerischen Blick auf die Landschaft. Die wichtigsten Barbizonmaler waren Charles-François Daubigny (1817–1878), Théodore Rousseau (1812–1867), Camille Corot (1796–1875), Constant Troyon (1810–1865) und Narcisse Diaz de la Peña (1807–1876). Zeitleiste 1824 1839 1848 1849 Ein Bild des englischen Landschaftsmalers Constable, das im Pariser Salon ausgestellt wird, löst in Frankreich eine Anglomanie aus – Kunst und Design im englischen Stil werden dort Mode Die ersten Fotografien Abdankung des letzten französischen Königs; das erste deutsche Parlament tagt in der Frankfurter Paulskirche; Honoré Daumier: Die Republik Rosa Bonheur: Pflügen mit Ochsen im Nivernais Realismus Die Art, wie die Realisten ihre Themen Soziale Aufstände darstellten, indem sie Ideen der Schule von Barbizon und auch wissenschaftliche TheoNach dem Abzug der deutschen Truppen aus rien aufgriffen, unterschied sich vom StilrahParis am Ende des Deutsch-Französischen men der Akademie. Die Realisten versuchten, Kriegs versuchten dort 1871 Revolutionäre, die Objekte genau so wiederzugeben, wie sie sie Macht zu übernehmen und soziale Gleichheit vor sich sahen. Sie hielten sich nicht mit durchzusetzen. Sie nannten ihren demokraübermäßig ausgefeilten Techniken wie tisch gewählten Stadtrat die Pariser Kommune. unsichtbarem Pinselstrich oder feinsten FarbNach wenigen Monaten eroberten französische nuancen auf, sondern konzentrierten sich auf Regierungstruppen Paris zurück. Courbet, der die wahrheitsgetreue Darstellung und betonzu den vielen Sympathisanten der Kommune ten dabei auch die Zweidimensionalität der gehört hatte, wurde mit Haft und EntschädiLeinwand. Als Demokraten thematisierten sie gungsforderungen hart bestraft – auch an ihm neben Landschaften vielfältige Alltagsszewurde nach der Wiederherstellung der Ordnen, etwa Menschen bei der Arbeit. Ihre Bilnung ein Exempel statuiert. der von Bauern und Arbeitern zeigen die harten Lebensbedingungen, Armut und Entbehrung der unteren Schichten, wie es wirklich war, und schockierten damit die Traditionalisten. Diese Themen sind anders als bei den historischen, allegorischen oder mythologischen Gemälden, die von der Akademie gefördert wurden, und lösten bei den damaligen Betrachtern meist Empörung aus. Die Konfrontation mit diesen Realitäten entsprach nicht den Erwartungen an die Kunst. Statt des Ideals der Schönheit gab es nun harte Realität, der man nicht eskapistisch ausweichen konnte wie zuvor bei den romantisierenden Darstellungen der Armen. Zum ersten Mal wurden solche alltäglichen Themen ohne Beschönigung gezeigt – ein Affront für die Akademien, an Ich habe noch nie denen diese Werke als hässlich und provokant galten. ‚ Fotografie Mit der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 einen Engel gesehen. Zeig mir einen, und ich werde ihn malen . Gustave Courbet begann eine Debatte um das Wesen und den Sinn der Malerei. Statt die Malerei überflüssig zu machen, wie viele damals befürchteten, regte die Fotografie die Künstler zu vielen neuen Ideen an. Der Realismus war einer der Stile, die aufkamen, als die Künstler erkannten, dass Alltagsdinge Schönheit und Sinn in sich selbst haben können – und dass die Fotografie für sie ein Hilfsmittel sein kann. Mit ihrem ʻ 1855 1857 1861 1870/71 Courbet eröffnet seine eigene Ausstellung im Pavillon du Réalisme – mit sieben Bildern von ihm selbst – und verbreitet sein Manifest des Realismus; Courbet: Das Atelier des Künstlers Jean-François Millet: Die Ährenleserinnen; Jules Breton: Segnung des Weizens im Artois Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs Deutsch-Französischer Krieg und in der Folge die kurze Zeit der Pariser Kommune 73 74 Der Beginn der Moderne Das Angelusläuten Ein Mann und ein Frau beten den „Angelus“ – vom Engel des Herrn, der Maria die Geburt Jesu verkündigt –, nachdem sie das Läuten der Kirchenglocken gehört und ihre Arbeit bei der Kartoffelernte unterbrochen haben. Ihre Arbeitsgeräte – die Gabel, den Korb, die Säcke und die Handkarre – haben sie zur Seite gestellt. Millet wurde durch eine Kindheitserinnerung zu diesem Bild angeregt und wollte damit bäuerliches Leben und Arbeiten darstellen. Er lässt sich als Realist einordnen und gehörte zur Schule von Barbizon. Die Realisten hatten keinen verbindlichen Stil – ihnen ging es allein darum, reale Dinge ohne künstlerische Überhöhung wiederzugeben. Millet malte daher in Stil und Technik ganz anders als Courbet. Jean-François Millet: Das Angelusläuten, 1857–1859, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris. Realismus ‚ Ich glaube auch, dass die Malerei eine essentiell konkrete Kunst ist und nichts anderes sein sollte als die Darstellung der realen und existierenden Dinge … ein abstraktes, nicht sichtbares, nicht existierendes Objekt gehört nicht in den Bereich der Malerei. Gustave Courbet ʻ Ansatz, nur das zu malen, was sie vor sich sehen, stellten sich die Realisten nicht nur gegen die Regeln und die künstlerische Abgehobenheit der Akademie, sondern entwickelten ein neues Wesensmerkmal für eine Kunst, die die gesamte Gesellschaft und nicht nur eine kleine Elite widerspiegelt. Le Réalisme Während der Weltausstellung von 1855, einem der größten Ereignisse in Paris unter der Herrschaft Kaiser Napoleons III., stellte Gustave Courbet (1819–1877) seine zurückgewiesenen Bilder in einem auf eigene Kosten errichteten „Pavillon des Realismus“ aus. Viele davon waren großformatige Ölgemälde auf Leinwand im Stil der Akademiekunst, aber statt deren vornehmer Themen zeigten sie wenig Bezauberndes. Nach den akademischen Regeln durften im Großformat nur historische, biblische, mythologische oder allegorische Themen dargestellt werden. Courbet sprengte diesen Rahmen nicht nur inhaltlich. Er malte freizügig, kraftvoll und intensiv – eine Herausforderung bis hin zur Spachteltechnik, mit der er die Farben dick – impasto – auftrug und die bei den Offiziellen als stillos galt. Zusammen mit dem Romancier und Kritiker Jules Champfleury (1820–1889) schrieb er ein Manifest mit dem Titel Le Réalisme, das er an alle Besucher seines Pavillons verteilte. Weitere führende Realisten Frankreichs waren der schon genannte Millet (1814–1875), Rosa Bonheur (1822–1899), Honoré Daumier (1808– 1879), Jules Breton (1827–1906) und Édouard Manet (1832–1883). Für Amerika sind die Künstler Thomas Eakins (1844–1916) und Winslow Homer (1836–1910) hervorzuheben. Die Präraffaeliten können ebenfalls als Realisten eingeordnet werden. Einer der bedeutendsten deutschen Vertreter ist Adolph Menzel (1815–1905). Der Realismus war keine einheitliche Stilrichtung, aber für viele ein Anstoß zu eigenen Ideen. Worum es geht Realistische Darstellung der Alltagswelt 75 76 Der Beginn der Moderne 19 Impressionismus (ca. 1860--1890) Die Bezeichnung „Impressionismus“ stammt aus einer verletzenden Kritik einer Gruppenausstellung von 1874 in Paris. Die bahnbrechenden Ideen dieser Künstler waren aus der Sicht des Kritikers sinnlos, widerspenstig und empörend. Sie hielten den flüchtigen Eindruck fest, ohne viele Details, aber mit deutlich hervortretender Pinselführung und oft ungemischten Farben. Für zeitgenössische Betrachter wirkten diese Bilder unfertig und daher lächerlich. Die Impressionisten taten sich in den 1860er Jahren, als die meisten von ihnen an Pariser Privatschulen wie der „Académie Suisse“ oder Gleyres Atelier Kunst studierten, zusammen. Es war eine bunt gemischte Gruppe: Claude Monet (1840– 1926) gehörte ebenso dazu wie Camille Pissarro (1830–1903), Paul Cézanne (1839–1906), Alfred Sisley (1839–1899), Frédéric Bazille (1841–1870), Berthe Morisot (1841–1895) und Auguste Renoir (1840–1919). Um 1862 begannen sie, sich im Café Guerbois in der Grande Rue des Batignolles in Paris mit Édouard Manet und einigen anderen Künstlern und SchriftJapanische Holzschnitte stellern zu treffen, um über die Zukunft der Nach 250 Jahren Isolation hatte Japan 1854 Kunst zu diskutieren. Die meisten bewunden Handel mit der westlichen Welt wieder aufderten Manet, der bereits in Künstlerkreigenommen. Hier war man fasziniert von all den sen für Aufregung sorgte. Sie nahmen vielDingen aus Japan, insbesondere in Frankreich fältige Anregungen von der Schule von und da besonders in Künstlerkreisen. Die meisBarbizon, von Turner, Constable, dem Reaten Impressionisten waren von den erstaunlich lismus sowie von neuen wissenschaftlichen klaren und hellen Farben überwältigt und samTheorien und Techniken auf. Die Fotografie beschäftigte sie im Hinblick auf den melten Ukiyo-e-Drucke. Deshalb zeigen sich in Umgang mit Licht und als Arbeitshilfe stärihren Werken viele japanische Einflüsse. ker als alle anderen Kunstrichtungen davor. Zeitleiste 1863 1870 1872/73 Der „Salon des Refusés“ zeigt die für den Pariser Salon abgelehnten Bilder; Édouard Manet: Das Frühstück im Grünen Die Beliebtheit der Freiluftmalerei steigt mit der Einführung der Blechtuben und der tragbaren Staffelei Claude Monet: Impression – Sonnenaufgang; Berthe Morisot: Die Wiege Impressionismus Claude Monet: Mohnfeld bei Argenteuil, 1873, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris. Auch neue Farbenlehren, die Industrialisierung und japanische Druckgrafik eröffneten weitere Dimensionen für sie. Die Académie des Beaux-Arts beherrschte die Kunst in Frankreich auch nach den Modernisierungen durch Kaiser Napoleon III., indem sie Regeln setzte sowie den Salon und Kunstwettbewerbe organisierte. Nach der Schule von Barbizon und den Realisten rebellierte nun eine weitere Gruppe. 1863 reichten Manet und Courbet Gemälde für den Salon ein, die jedoch abgelehnt wurden. Da auch ungewöhn- 1874 1877 1878 Die erste unabhängige Ausstellung; Auguste Renoir: Die Loge Camille Pissaro: Die roten Dächer; Edgar Degas: Die Probe; Paul Cézanne: Stillleben mit offener Schublade; Alfred Sisley: Die Brücke bei Sèvres; Gustave Caillebotte: Straße in Paris an einem regnerischen Tag Mary Cassatt: Selbstportrait 77 78 Der Beginn der Moderne ‚ Nach der Natur zu malen, heißt nicht, das Vorgegebene zu kopieren, sondern die eigenen Sinneseindrücke zu realisieren. Paul Cézanne ʻ lich viele andere Werke von der Jury zurückgewiesen wurden, ordnete Napoleon an, dass die Öffentlichkeit sich selbst ein Bild machen soll, und so wurde der „Salon des Refusés“ (der Salon der Zurückgewiesenen) eingerichtet. Viele kamen, um sich lustig zu machen, andere wurden aber auch zur Einsicht gebracht, dass Kunst anders sein könnte als die offiziell zugelassene. Die anonyme Gesellschaft Die Künstler, die sich im Café Guerbois trafen, hatten gemeinsame Vorstellungen vom Malen, aber sehr unterschiedliche Stile. Sie alle handelten gegen die Vorgaben der Académie und sie alle malten im Freien. Sie alle waren von Manet inspiriert und fühlten sich durch den „Salon des Refusés“ ermutigt, eine eigene, unabhängige Gesellschaft zu bilden. 1873 gründeten Monet, Renoir, Pissarro und Sisley die „Société anonyme coopérative des artistes peintres, sculpteurs, graveurs …“, der auch Cézanne, Morisot und Degas beitraten. Die erste gemeinsame Ausstellung fand 1874 statt. Der Kritiker Louis Leroy schrieb eine sarkastische Kritik über diese Schau, der er nach Monets Bild Impression – Sonnenaufgang den Titel L’Exposition des Impressionnistes gab. Die Ausstellung beschrieb er als mangelhaft und blamabel. Zwischen 1874 und 1886 gab es acht solche Ausstellungen, wobei nicht immer alle Mitglieder der Gesellschaft ihre Bilder zeigten. Nach und nach ließen die Anfeindungen nach, und schließlich wurden die Werke der Impressionisten akzeptiert. Farbentheorien Trotz der Unterschiede im Stil und in der Wahl der Themen setzten die Impressionisten gemeinsam eine Modernisierung der Kunst in Gang. Sie begannen, Konventionen aufzubrechen, indem sie Courbet und Delacroix darin folgten, mit hellen, oft ungemischten Farben und sichtbaren Pinselstrichen zu malen, und viele ihrer Ölgemälde im Freien zu schaffen, wo sie flüchtige Eindrücke und das wechselnde Licht auf die Leinwand bannten. Neben Landschaften, Stillleben und Portraits malten sie Szenen des modernen Alltags, von denen sie den Gesamteindruck einfingen, ohne ins Detail zu gehen. Sie beschäftigten sich mit den dramatischen Stimmungen und dem wechselnden Lichtspiel im Freien und versuchten, deren Wirkung auf Mensch und Umwelt in unterschiedlichen Farben auf der Leinwand wiederzugeben. Viele dunklere Töne wurden meist nicht durch Mischen, sondern durch Überlagerung reiner Farben gewonnen. Diese Technik entwickelte sich aus den Farbentheorien der Zeit. So wurden Schatten nicht grau, sondern farbig Impressionismus gemalt und durch Abstufungen auf der Bildfläche „vibrierende Farben“ erzeugt, die auch das Flimmern der Luft wiedergaben. Kein Objekt wurde nur durch eine Farbe dargestellt, sondern durch viele Pinselstriche in verschiedenen Farben, die sich erst im Auge des Betrachters mischen. Die Komplementärfarben wurden so nebeneinander gesetzt, dass sie wechselseitig heller erscheinen. Entsprechend wurde mit den Lokalfarben und auch mit den Farbreflexen verfahren. Die meisten Impressionisten widmeten sich dem Malen nach der Natur, ungeachtet der Unterschiede in Stil und Themenwahl. Doch auch Edgar Degas (1834–1917) beispielsweise gilt als Impressionist, obwohl er kaum Landschaftsbilder schuf. Aber er stellte mit der Gruppe aus und malte direkt vor Ort das Leben – inspiriert von der Fotografie und der japanischen Druckgrafik. Alle Impressionisten blieben ihren innovativen Ideen trotz aller Anfeindungen treu und setzten sich in den 1880er Jahren als führende Vertreter der Avantgarde in Europa durch. Ernsthafte Kunst Monet und die anderen Impressionisten lehnten die akademische Schulung, die sie durchlaufen hatten, ab, weil sie die Methode, nur das zu malen, was sich dem Auge darbietet, als aufrichtiger ansahen als die akademische Schönfärberei. Sie alle verfolgten das gemeinsame Ziel, Sinneswahrnehmungen einzufangen – das, was sie beim Malen vor sich sahen. Diese Wahrnehmungen werden durch das wechselnde Licht erzeugt, das in unser Auge dringt, wenn wir eine Szene betrachten. Im Gegensatz zur Akademie unternahmen die Impressionisten keinen Versuch, ihre Maltechnik zu verbergen. Sie malten gewöhnliche zeitgenössische Alltagsumgebungen und Menschen und vermieden narrative oder symbolische Elemente, um die Betrachter vom „Lesen“ im Bild abzuhalten. Die Gemälde sollten einen bestimmten Augenblick festhalten und dessen Wahrnehmungseindruck für den Betrachter wiedergeben. Worum Den Augenblick und es das geht Licht mit reinen Farben festhalten 79 80 Der Beginn der Moderne 20 Symbolismus und Ästhetizismus (ca. 1860--1910) Zur gleichen Zeit, als die Realisten und Impressionisten eigene Vorstellungen und Stile entwickelten, rückten auch andere Künstler von den Konventionen der Akademiekunst ab. Zu ihnen gehören die Symbolisten und die Ästhetizisten. Der Symbolismus begann in Frankreich mit dem Versuch, die verborgenen Wahrheiten und Geheimnisse hinter dem äußeren Erscheinungsbild darzustellen. In Großbritannien konzentrierten sich die Ästhetizisten auf Schönheit und betonten dabei die Form mehr als den Inhalt. Symbolismus und Ästhetizismus waren Gegenbewegungen zum Realismus und sich insofern ähnlich. Der Ästhetizismus war besessen von der Schönheit, die im Realismus abgelehnt wurde; und die Symbolisten drückten das Unfassbare aus, während die Realisten sich ganz der sichtbaren Wirklichkeit verschrieben. Symbolisten wie Ästhetizisten waren Ästheten, die die üblichen Ansätze in Kunst und Literatur ablehnten und verneinten, dass Kunst der moralischen Belehrung des Betrachters dienen soll. Lʼart pour lʼart Der Symbolismus wurde von dem französischen Schriftsteller und Kritiker Théophile Gaultier (1811–1872) eingeführt, einem überzeugten Romantiker, der die Vorstellung vom Ausdruck bzw. von der Wahrnehmung der „reinen Empfindung“ vertrat. Er ermutigte Autoren und bildende Künstler, ihre Ideen und Intuitionen umzusetzen, was die Vorstellung von einer Kunst um ihrer selbst willen initiierte. Zum ersten Mal wurde Kunst nicht für geistliche, politische oder andere Zwecke geschaffen, auch nicht als Schmuck oder Dekor wie im Rokoko oder zur Bewunderung, sondern als Kunst um der Kunst willen, als „l’art Zeitleiste 1835 1864 1876 1881 Théophile Gaultier stellt die Doktrin lʼart pour lʼart (Kunst um ihrer selbst willen) auf J. M. Whistler: Symphonie in Weiß, Nr. 2 Das weiße Mädchen Gustave Moreau: Salome Albert Moore: Blossoms (Blüten); Puvis de Chavannes: Der arme Fischer Symbolismus und Ästhetizismus Vision nach der Predigt Gewöhnlich gilt dieses Bild als das erste wirklich symbolistische Gemälde. Sein Thema sind das Gewissen und innere Konflikte. Einige bretonische Frauen sind mit der Vision vom nächtlichen Kampf Jakobs mit dem Engel gezeigt, von dem sie offenbar in der Predigt gehört haben. Bei Sonnenaufgang gab der Engel den Kampf auf und segnete Jakob. Die Frauen sind vor einem roten Hintergrund zu sehen, der vom Ast eines Baumes diagonal in zwei Bereiche geteilt wird: in einen weltlichen (säkularen) und einen visionären (geistlichen). Die Kuh steht für das einfache Landleben in der Bretagne, die frommen Frauen drücken Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit aus. Gauguin stellte damit zugleich der erwerbsorientierten Gesellschaft die Besinnung gegenüber. Paul Gauguin: Vision nach der Predigt (Jakobs Kampf mit dem Engel), 1888, Öl auf Leinwand; National Gallery of Scotland, Edinburgh. 1885 1886 1895 Whistler erklärt bei einem seiner berühmten Zehnuhrvorlesungen den Selbstzweck der Kunst: „Art exists only for itself.“ Fernand Khnopff: In Fosset, ein Abend Frederic Leighton: Flammende Juno; Carlos Schwabe: La Vierge aux Colombes (Jungfrau Maria mit Tauben); am 3. April beginnt der Verleumdungsprozess Oscar Wildes 81 82 Der Beginn der Moderne pour l’art“. Diese Kunst sollte sich von sozialen, politischen oder moralischen Inhalten fernhalten und ausschließlich auf das Schaffen von Schönem konzentrieren. Die Ästheten des Symbolismus und Ästhetizismus spielten mit der Idee, Kunst und Alltag zu trennen und Kunst nicht als Erweiterung des Alltags zu sehen. Ästhetizismus Im Rahmen der Gaultier’schen Theorien bewunderten die Ästhetizisten durchaus die Romantiker, wandten sich jedoch gegen die Darstellung moralischer oder sozialer Themen und betonten vielmehr den künstlerischen Wert. Sie waren angewidert von den maschinell gefertigten Produkten der Industriellen Revolution und von den übertrieben dramatischen Bildern der Viktorianischen Zeit mit ihren starren und oft engstirnigen Moralvorstellungen. Hingegen waren sie offen für neue Moden und interessierten sich für die äußere Erscheinung, weil sie Schönheit als zwingenden Bestandteil des Lebens ansahen. Diese Kunstauffassung war zum Teil eine Reaktion auf die Industrialisierung und bewirkte eine radikale Veränderung in der Beziehung zwischen Künstlern und Gesellschaft. Der Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900) wurde ein Wortführer des Ästhetizismus, dessen Ideen er an der Universität Behalte nichts in Oxford begeistert aufgenommen hatte und zeitlebens mit InteDeinem Haus, von dem resse verfolgte. So achtete er darauf, schöne Dinge um sich zu Du nicht weißt, dass es haben. Seine respektlosen Witze, die vielen damals oberflächlich nützlich ist, oder nicht und gedankenlos schienen, kultivierte er bewusst als Ästhet. glaubst, dass es schön Kurz nach seinem Prozess im Jahre 1895 endete nach allgemeiner Datierung der Ästhetizismus. ist. Zu den Künstlern des Ästhetizismus gehören James Abbott William Morris McNeill Whistler (1834–1903), Albert Moore (1841–1893), Frederic Leighton (1830–1896), Edward Burne-Jones (1833–1898) und William Morris (1834–1896). Sie strebten nach einem vollkommen schönen Umfeld, was sich letztlich in ihren Werken wie eine soziale und sogar politische Agenda niederschlug, die das Leben der Menschen verändern wollte. Die Präraffaeliten mit ihrer Idealisierung des mittelalterlichen Lebens waren Vorläufer dieser Ästhetizisten. ‚ ʻ Das Manifest der Symbolisten Die Symbolisten waren keiner formalen oder technischen Sichtweise verhaftet, sondern durch ein Manifest geprägt, das der Dichter Jean Moréas (1856–1910) im Figaro unter dem Titel Le Symbolisme veröffentlichte. Darin wies er viele Prinzipien des Naturalismus und Realismus zurück und nannte drei Schriftsteller als führende Vertreter des Symbolismus: Charles Baudelaire (1821–1867), Stéphane Mallarmé (1842–1898) und Paul Valéry (1871– 1945). Baudelaire vertrat die Ansicht, dass Gedanken und Gefühle nicht nur durch die Bedeutung der Worte ausgelöst werden, sondern auch durch deren Klang und Symbolismus und Ästhetizismus Rhythmus. Das hat die Symbolisten allgemein beeinflusst. Paul Gauguin (1848–1903) experimentierte in den 1880er Jahren mit eigenen Ideen, die er in Farbe, Muster und Rhythmus umsetzte. Er glaubte, dass die europäische Kunst zu rational geworden sei und zu wenig symbolisch denke, und drückte grundlegende Bedeutungen des Gesehenen in seinen Bildern aus. Weitere wichtige Symbolisten, die aus Mythen und Träumen den Stoff für ihre Bilder holten, waren Gustave Moreau (1826–1898), Pierre Puvis de Chavannes (1824–1898) und Odilon Redon (1840–1916) oder in Deutschland Max Klinger (1857– 1920). Symbolistische Zeitschriften Mit der Verbreitung des Symbolismus in Europa entstanden auch verschiedene, regelmäßig erscheinende Journale, in denen dessen Ideen publiziert wurden (beispielsweise La Wallonie). Meist wurde darin der Ablehnung des Naturalismus, Akademismus, Realismus oder Impressionismus sowie der Industrialisierung das Wort geredet und die Begeisterung für die Darstellung geheimnisvoller und aufrüttelnder Ideen ausgedrückt. Diese Publikationen, in denen aus Überzeugung und mit Leidenschaft geschrieben wurde, gewannen viele weitere Künstler für die Ideen des Symbolismus. Widersprüche Einige Künstler, die gemeinhin als Realisten bezeichnet werden, lassen sich auch als Symbolisten beschreiben – allen Gegensätzen zwischen beiden Richtungen zum Trotz. Millet beispielsweise bezog in seine Bilder von Bauern bei der Arbeit auch Symbole ein. Auch Courbet scheint in seinen Gemälden von gewöhnlichen Menschen zusätzliche Bedeutungsebenen aufzuweisen. Die Symbolisten meinten, dass Kunst subjektiv und geheimnisvoll sein sollte und in der Sache von Gefühlen, Träumen und innerer Empfindung ausgehen müsse. So schufen sie eigene, oft vieldeutige Symbole, die nicht den religiösen Traditionen oder anderen den Betrachtern vertrauten Sinnbildern entsprachen. Der Symbolismus, der in den kleinen Zirkeln aus avantgardistischen Malern, Bildhauern, Schriftstellern, Architekten und Designern begann, wurde schon bald zu einem breiten Trend, der sich von Frankreich bis nach Russland, in Großbritannien, Italien, Spanien und Skandinavien ausbreitete. Eine Reihe von Künstlern in ganz Europa nahm den Symbolismus auf – zwar mit unterschiedlichen Techniken und Sichtweisen, aber mit einhelliger Begrüßung seiner Gegenposition zu den herrschenden Kunstrichtungen der Zeit. Sie wollten künstlerisch etwas Neues ausdrücken. es geht SchönheitWorum und Geheimnisse in der Kunst 83 84 Der Beginn der Moderne 21 Postimpressionismus (ca. 1880--1910) In den 1880er und 1890er Jahren beschlossen einige wegweisende Künstler, die bis dahin im Stil der Impressionisten gearbeitet hatten, über diesen Stil hinauszugehen. Denn er schien ihnen zu vereinfachend und Elemente wie die Struktur und Stabilität von Objekten oder den emotionalen Ausdruck durch Farben nicht genügend zu berücksichtigen. Sie entwickelten verschiedene Ansätze und Lösungen und wurden später insgesamt als Postimpressionisten bezeichnet. Die Bezeichnung „Postimpressionismus“ kam erst nach 1910 auf, nach dem Tod der vier wichtigsten mit diesem Etikett beschriebenen Künstler. Es ist ein Sammelbegriff, der die Individualität und Originalität nicht klar genug erfasst, sich aber eingebürgert hat für einige bahnbrechende Künstler, die durch ihre bunten und erfindungsreichen Bilder kurz nach dem Impressionismus weltberühmt wurden. Vielfalt der Stile In London organisierte 1910 der britische Künstler und Kunstkritiker Roger Fry (1866–1934) eine Ausstellung zum Werk von Manet, Cézanne, Gauguin, Vincent van Gogh (1853–1890), Georges Seurat (1859–1891) und einigen anderen. Es war der Versuch, den Briten das Werk der Impressionisten nahezubringen. Fry nannte seine Ausstellung Manet and the Post-Impressionists und erklärte, es sei aus Gründen der Zweckmäßigkeit notwendig gewesen, diesen Künstlern einen Namen zu geben. Deshalb habe er als möglichst vagen und wenig kompromittierenden Namen „Postimpressionismus“ gewählt. Der Name blieb hängen. Die Kategorisierung sagt nicht viel mehr, als dass die Maler der Londoner Ausstellung zeitlich nach den Impressionisten kommen. Als Sammelbegriff umfasst sie Zeitleiste 1872 1886 1888 Cézanne zieht nach Pontoise, in die Nähe von Pissarro, um dessen Maltechnik zu lernen Van Gogh kommt aus Antwerpen nach Paris und trifft dort viele Impressionisten und Postimpressionisten Paul Sérusier: Der Talisman; Émile Bernard: Die Buchweizenernte Postimpressionismus Sternennacht Mit einigen Stilelementen, die er von den Impressionisten übernahm, malte van Gogh diese beschwingte Nachtszene, wobei er mit noch helleren Farben experimentierte und die Impastotechnik, kurze Pinselstriche und rhythmische Muster anwendete. Der Himmel ist voller wirbelnder Wolken und leuchtender Sterne sowie mit zunehmendem Mond dargestellt. Hinter einer Zypresse schmiegt sich die Stadt Saint-Rémy in die Hügellandschaft der Provence. Diese einsame Zypresse wird oft in Zusammenhang mit van Goghs Persönlichkeit gedeutet. Auch wird der Himmel bisweilen als Symbol Gottes interpretiert oder mit Jakobs Traum in Verbindung gebracht, in dem sich elf Sterne und der Mond vor Jakob verneigen. Vincent van Gogh: Sternennacht, 1889, Öl auf Leinwand; Museum of Modern Art, New York. 1889 1890 1895 Eine kleine Ausstellung der Synthetisten findet während der Weltausstellung im Pariser Café Volpini statt, aber niemand kauft die Werke; Paul Gauguin: Der gelbe Christus; Vincent van Gogh: Sternennacht Henri de Toulouse-Lautrec: Im Moulin Rouge; Puvis de Chavannes: Der arme Fischer Paul Cézanne: Stillleben mit Cupido; Pierre Bonnard (1867–1947): Der große Garten 85 86 Der Beginn der Moderne Synthetisten und Nabis Im Kontext des Postimpressionismus entwickelten Émile Bernard und Paul Gauguin aus dem Symbolismus den Synthetismus. Die Synthetisten untersuchten die Empfindungen, die sie oft mit flächiger Farbgestaltung ausdrückten. Manche setzten ausgearbeitete Details ein, während andere mit fast kindlicher Einfachheit malten. Die Nabis, deren Name sich vom hebräischen Wort für Prophet ableitet, waren einerseits vom Synthetismus inspiriert, andererseits aber auch von der japanischen Kunst und vom Jugendstil beeinflusst. einige Entwicklungen, die sich aus dem Impressionismus ergaben und sehr unterschiedliche Stile und Ansätze in der Kunst zwischen 1880 und etwa 1910 einschließen. Vertreter dieser weiteren Malstile sind Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901), Paul Signac (1863–1935), Émile Bernard (1868–1941) und Maurice Denis (1870– 1943). Keiner von ihnen lässt sich leicht kategorisieren; daher gibt es für sie neben der Sammelbezeichnung „Postimpressionisten“ noch verschiedene andere Etikettierungen, etwa Neoimpressionismus, Pointillismus, Nabis und Schule von Pont-Aven. Persönlicher Ausdruck Die Impressionisten hielten die flüchtigen Wirkungen von Farbe und Licht beim unmittelbaren Sehen dessen, was sie vor Augen hatten, fest. Die Postimpressionisten malten zwar inhaltlich Ähnliches wie die Impressionisten, rückten aber vom naturalistischen Stil ihrer Vorgänger ab und gingen zur Stilisierung über. Die Postimpressionisten begrüßten diesen Wandel großenteils als eine revolutionäre Wende, weil sie ihnen neue eigene Wege öffnete; den Impressionismus hielten sie für zu starr. Sie verwendeten weiterhin die reinen, lebhaften Farben, entfernten sich aber von den subjektiven Anliegen der Impressionisten und gingen zu kurzen Pinselstrichen und gebrochenen Farben über, um den Eindruck von Bewegung und Lebendigkeit zu erzeugen. Was immer sie vom Impressionismus übernahmen, sie verwandelten es alle auf ihre Weise und schufen so überaus persönliche und ausdrucksstarke Werke, die neue Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts beeinflussten. Individuelles Arbeiten Im Gegensatz zu den Impressionisten, die sich in Gruppen zusammenschlossen und gemeinsam ausstellten, arbeiteten die Postimpressionisten allein und trafen sich nicht regelmäßig zum Austausch ihrer Ideen. Cézanne malte überwiegend in Aix-en-Provence in Südfrankreich, Gauguin verbrachte die meiste Zeit in Großbritannien oder auf Tahiti, van Gogh lebte im südfranzösischen Arles und später in Auvers-sur-Oise nördlich von Paris, und Toulouse-Lautrec fand seine Motive vor allem auf dem Montmartre in Paris. Gauguin und van Gogh schufen Bilder, die ihre persönlichen Ansichten und Visionen ausdrückten. ‚ Postimpressionismus Die Kompositionen und der Farbauftrag der PostimpressionisIch träume meine ten wirken oft einfacher und weniger raffiniert als bei den Malerei, und dann male Impressionisten, aber hinter dem äußeren Erscheinungsbild gibt ich meinen Traum. es grundlegende Bedeutungen. Gauguin griff die monochromen Vincent van Gogh Farbflächen, die starken Umrisse und den Schmuckcharakter von mittelalterlichen Glasgemälden und Buchmalereien auf. Van Gogh verwendete kurvige, farbintensive sowie kurze dicke Pinselstriche, um seine Vorstellungen und Gefühle darzustellen. Cézanne (der oft wegen seiner Wirkung auf spätere Künstlergenerationen als Vater der modernen Kunst bezeichnet wird) studierte an der Académie Suisse in Paris zusammen mit einigen Impressionisten. Von Camille Pissarro lernte er die Grundlagen des Impressionismus, insbesondere die Darstellung von Licht und Farbe durch unmittelbare Bobachtung. Cézanne nahm an zwei Ausstellungen der Impressionisten Ein Kunstwerk, das teil, entfernte sich dann aber vom Festhalten flüchtiger Augenblinicht mit den cke und malte Objekte aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig, wobei er die Vorstellung fester Strukturen durch Farbflächen Empfindungen beginnt, und kleine Pinselstriche erzeugte. Toulouse-Lautrec malte und ist kein Kunstwerk. druckte Bilder von Bohemecafés, Bordellen und Nachtclubs in Paul Cézanne Paris. Er zeigte die anrüchigen Orte mit ihren Besuchern und Bediensteten mit Empathie und aus eigener Anschauung. Seine fließenden Konturen und die hellen Farben waren etwas völlig Neues und wurden zeittypisch. Insgesamt führten die Postimpressionisten die Kunst vom Naturalismus des Impressionismus weg und gaben ihr eine Richtung, aus der sich im frühen 20. Jahrhundert etwa der Kubismus und der Fauvismus entwickelten. ʻ ‚ ʻ Worum es geht Individuelle Antworten auf den Impressionismus 87 88 Der Beginn der Moderne 22 Neoimpressionismus (1886--ca. 1900) Der Impressionismus hatte großen und nachhaltigen Einfluss, schien aber vielen Künstlern gegen Ende der 1880er Jahre an seine Grenzen zu stoßen und revisionsbedürftig zu sein. Der Begriff „Neoimpressionismus“ stammt von dem Schriftsteller und Kritiker Félix Fénéon (1861– 1944), der 1886 bei der letzten Ausstellung der Impressionisten ein Bild von Georges Seurat (1859–1891) sah und so charakterisierte. Seurat fing als ganz gewöhnlicher Student bei der führenden Kunsthochschule in Paris, der École des Beaux-Arts, an. Er studierte die Kunstwerke der Antike und der Renaissance im Louvre und bewunderte auch die Impressionisten. In seiner Entwicklung zum Künstler wandte er sich zunehmend einem besonderen Element des Impressionismus zu: Er bewunderte dessen Sie sehen Poesie in leuchtende Farben und versuchte deshalb, die wissenschaftlichen dem, was ich mache … Farbtheorien noch stärker heranzuziehen als die Impressionisten. ich wende meine Diese hatten Farbe meist eher intuitiv eingesetzt, wobei sie sich Methode an, und das ist auf die Wahrnehmung der Objekte vor ihnen stützten und Farben in allen Schattierungen einsetzten, Schwarz aber vermieden. alles. Auch Seurat wollte Farbe und Licht darstellen, aber er bevorGeorges Seurat zugte eine eher rationale, wissenschaftliche Methode des Umgangs mit Farbe in seinen Gemälden. Er lehnte die flüchtigen Eindrücke ab, die die Impressionisten festhielten, und entwickelte eine hochgradig formalisierte und stilisierte Farbgebung. Dabei stand er unter dem Einfluss der Farbentheorien, von denen damals in Büchern und Zeitschriften zu lesen war. ‚ ʻ Zeitleiste 1839 1867 1884 1886 Eugène Chevreul: De la loi du contraste simultané des couleurs et de lʼassortiment des objets colorés Charles Blanc: Grammaire des arts du dessin Der erste „Salon des Indépendants“ findet in Paris statt Die letzte Ausstellung der Impressionisten zeigt unter anderem Georges Seurats Ein Sonntagnachmittag auf der Île de la Grande Jatte Neoimpressionismus Farbpunkte Wie bei allen Kunstrichtun- Farbtheorien gen mit der Vorsilbe „neo“ bezeichnet der Name „Neoimpressionismus“, den Fénéon Im 19. Jahrhundert veröffentlichten verschieals positive Beschreibung für Seurats Werk dene Wissenschaftler allgemein zugängliche einführte, eine neue Phase. NeoimpressionisSchriften über Farbentheorien, optische Phänomus beinhaltet eine Maltechnik, bei der die mene und unsere Farbwahrnehmung. Zu ihnen Farben nicht auf der Palette oder auf der gehörten Johann Wolfgang von Goethe (1749– Leinwand gemischt werden, sondern die rei1832), Charles Blanc (1813–1882), Eugène nen Farben als Punkte oder Fleckchen nebenChevreul (1786–1889) und Ogden Rood einander gesetzt werden und zusammen den (1831–1902). Diese Theorien über das Zusamgesamten Bildeindruck ausmachen. Im Auge menwirken von Farben, ihre Kontraste und desjenigen, der das Bild aus größerer EntferHarmonien, haben die Künstler stark beeinnung betrachtet, mischen sich dann die Farflusst und wurden zur Grundlage für die Techniben und werden intensiver. In den frühen ken des Neoimpressionismus. 1880er Jahren hatte sich Seurat mit den Farbentheorien von Chevreul, Rood und Blanc beschäftigt und sich entschieden, sie anzuwenden, weil er überzeugt war, durch die Illusion aus brillanten Farben die Aufmerksamkeit des Betrachters zu gewinnen. Das Gesetz des simultanen Farbkontrasts beeindruckte ihn besonders. Danach erscheinen Komplementärfarben, wenn sie aneinandergrenzen, wechselseitig leuchtender. Seurat bezeichnete seine neue Technik als „Farbentrennung“ oder „Divisionismus“. Sie wird oft auch „Pointilismus“ genannt, ein Begriff, den Seurat aber ablehnte. Diese Technik der Farbentrennung ermöglicht auch die Darstellung der flimmernden Wirkung von Licht. Komplementäre Kontraste Komplementärfarben sind Orange und Blau, Violett und Gelb sowie Rot und Grün. Setzt man solche Gegenfarbenpaare nebeneinander, so wirken sie lebendiger. In einem Brief von 1890 erläutert Seurat, dass seine Malerei aus Kontrasten zwischen hell und dunkel sowie den genannten Komplementärfarben bestehe. Seine divisionistische Methode basierte auf den Gesetzmäßigkeiten der Farbentheorie. Nach diesen Regeln wurden von ihm die Farben der einzelnen Pinselstriche auf der Leinwand – gewöhnlich tausende kleiner Punkte – bestimmt. Seurats großes Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Île de La Grande Jatte, entstanden 1864 bis 1866, gilt als erstes Meisterwerk des Divisionismus. Es regte 1887 1890 1892 1894 Charles Angrand: Die Ernte Paul Signac: Portrait von Félix Fénéon; Henri-Edmond Cross: Zypressen in Cagnes; Camille Pissarro: Paysans dans le champ(Bauern auf dem Feld) Théo van Rysselberghe (1862–1926): Küstenansicht Lucien Pissarro: April, Epping 89 90 Der Beginn der Moderne Les Poseuses Dies ist das dritte große Gemälde, das Seurat ausstellte, und sein zweites vollständig divisionistisches oder neoimpressionistisches Werk. Wie bei den meisten seiner Arbeiten lässt die große Leinwand die Punkte sehr klein erscheinen und hebt den mühsamen Prozess des Malens hervor. Seurat tupfte Punkte in allen Farben auf die Leinwand, um die Farbtöne des fertigen Gemäldes zu erreichen. Das Bild zeigt ein und dasselbe Modell von drei Seiten: beim Ent- kleiden, Posieren und Ankleiden, in Seurats Atelier vor dem an der Wand lehnenden Gemälde Sonntagnachmittag auf der Île de La Grande Jatte. Vermutlich wollte Seurat damit zeigen, dass traditionelle Inhalte genauso zu seiner Technik passen wie die von den Impressionisten bevorzugten Themen. Auf dem Boden liegen noch Gegenstände vom Ausflug auf Grande Jatte – Hüte, Schuhe, Sonnenschirm und Blumenkorb. Georges Seurat: Les Poseuses, 1888, Öl auf Leinwand; Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris. Neoimpressionismus Fénéon zu seiner Stilbezeichnung „Neoimpressionismus“ an, als es 1886 bei der letzten Ausstellung der Impressionisten in Paris erstmals gezeigt und auf bedrückende Weise verunglimpft wurde. Da der Divisionismus als übermäßig mechanisch und als Verstoß gegen das allgemein akzeptierte Kunstverständnis betrachtet wurde, löste Seurats Bild eine noch größere Kontroverse aus als zuvor die Werke des Impressionismus. Die moderne urbane Szene bei Seurat ähnelt der auf vielen Gemälden der Impressionisten, aber statt flüchtiger Eindrücke wollte Seurat etwas Wesentliches festhalten. Der Einfluss des Neoimpressionismus Beim ersten „Salon des Indépendants“ von 1884 (der als Alternative zum offiziellen Pariser Salon von da ab jährlich stattfand) traf Seurat mit Paul Signac (1863–1935) zusammen, der von den Farbtheorien und Farbtechniken unmittelbar inspiriert war und damals begann, mit divisionistischen Methoden zu experimentieren. Seine Punkte sind weniger fein, lockerer und in größerem Abstand gesetzt als bei Seurat, weswegen seine Leinwandbilder noch heller erscheinen. Signac war Der anarchistische ziemlich produktiv, malte bevorzugt mediterrane Landschaften, Maler ist niemand, der meist mit Küste, Meer und Schiffen. Nach Seurats frühem Tod im Anarchistenbilder Jahr 1891 übernahm Signac die Führung bei den Neoimpressionisten. Er hatte eine starke Wirkung auf spätere Malergeneratio- schafft, sondern jemand, der mit seiner ganzen nen, darunter Henri Matisse (1869–1954) und André Derain (1880–1954). Außer Signac stellten noch andere Maler im „Salon Individualität gegen des Indépendants“ aus, die später Neoimpressionisten wurden: offizielle Konventionen Albert Dubois-Pillet (1846–1890), Charles Angrand (1856–1926) kämpft. und Henri-Edmond Cross (1856–1910). Schon von Anfang an Paul Signac waren Camille Pissarro und sein Sohn Lucien (1863–1944) bei den Neoimpressionisten dabei und malten eine Zeit lang in divisionistischer Technik, wobei sie eher kleine Striche als Punkte setzten. Camille Pissarro kehrte später wieder zu einem eher impressionistischen Stil zurück. Als van Gogh 1888 nach Paris kam, war auch er von den neuen Theorien fasziniert und gestaltete einige Werke danach. Doch war der Neoimpressionismus nur eine kurze Übergangserscheinung, übte aber auf die Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluss aus. ‚ ʻ Worum es geht Farbentheorien in der Malerei 91 92 Der Beginn der Moderne 23 Jugendstil (1890--ca. 1914) An der Schwelle zum 20. Jahrhundert beschloss eine Generation tatkräftiger Künstler und Designer, einen modernen internationalen Stil zu entwickeln. In vieler Hinsicht war dies eine Antwort auf die Industrielle Revolution. Die neue Kunst, die Art nouveau oder auch der Modern Style, breitete sich von England (Arts and Crafts Movement) über den gesamten Globus aus, wurde aber trotz grundlegender Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Ländern unterschiedlich benannt – unter anderem in Deutschland als „Jugendstil“ und in Österreich als „Sezessionsstil“. Um 1890 kam die Idee auf, dass ein völlig neuer Stil in Kunst und Design das neue Jahrhundert einläuten sollte. Weltweit waren Künstler und Designer entweder von den neuen Technologien, Entdeckungen und Materialien begeistert oder von den maschinell produzierten Waren abgestoßen und eher zum Rückzug in die Vergangenheit bereit. In diesem Spannungsfeld entstand der Jugendstil, eine Kombination aus einem breiten Spektrum von Gestaltungsideen, die überall in der Welt entwickelt und umgesetzt wurden. Die Künstler und Designer dieses Stils strebten danach, aus der Kunst mehr zu machen als etwas, das man in Galerien an die Wände hängt. Sie wollten die Barrieren zwischen der gehobeneren bildenden und der alltäglichen angewandten Kunst beseitigen. Geschwungene Linien Die meisten Vertreter des Jugendstils traten leidenschaftlich dafür ein, dem kunstvollen Dekor den gleichen Rang einzuräumen wie der bildenden Kunst, und distanzierten sich von den historistischen Stilen. Der Jugendstil war ebenso vom Symbolismus wie von keltischer oder japanischer Tradition beeinflusst und mit Beginn des Ersten Weltkriegs im Wesentlichen vorbei. Egal ob bildende oder angewandte Kunst, er ist durch stark stilisierte, geschwungene Linien, vegetabile Formen und rhythmisch-dekorative Muster geprägt. Weibliche Zeitleiste ca. 1870 Beginn der Blütezeit der Arts-and-Crafts-Bewegung in Großbritannien 1882 1883 1887–1889 Antonio Gaudí beginnt mit dem Bau der Sagrada Familia in Barcelona Arthur Heygate Mackmurdo entwirft das Cover zum Buch Wrenʼs City Churches; der erste Wolkenkratzer entsteht in Chicago Der Eiffelturm wird für die Pariser Weltausstellung errichtet Figuren sind häufige Motive, oft in Verbindung mit Blumen, Blattranken, prächigen Haarlocken und Pfauenfedern, oder auch Tiere und Pflanzen allein. Auch die Bevorzugung der Materialien waren neu: Glas, Zinn, Eisen oder Silber. Und die Farben waren entweder weich und verhalten oder kräftig wie in der japanischen Druckgrafik. Jugendstil ‚ Leben, das sind die Blätter, die eine Pflanze gestalten und ernähren, aber Kunst ist die Blüte, die seine Bedeutung verkörpert. Charles Rennie Mackintosh ʻ Wiener Sezession In Österreich entwickelte sich als eine lokale Ausprägung des Jugendstils der Wiener Sezessionsstil. Bedeutende Vertreter waren Gustav Klimt (1862–1918), Koloman Moser (1868–1918), Josef Hoffmann (1870–1956), Joseph Maria Olbrich (1867–1908) und andere, die sich 1897 nach dem Vorbild der Münchener Sezession um Franz von Stuck (1863–1928) zusammengeschlossen hatten. Die Sezessionisten – ob in München, Wien oder Berlin – trennten sich vom offiziellen, konservativen Kunstbetrieb. Ihnen ging es vor allem um die Möglichkeit, außerhalb von Akademie und Künstlerhaus Freiräume zu gewinnen. Sie hofften, ungebunden einen völlig neuen Stil in der Kunst entwickeln zu können, wie die Devise auf dem Wiener Sezessionsgebäude verkündet: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. In den Zeitschriften Ver Sacrum (1898–1903) und Jugend (1896–1940), nach der der Jugendstil benannt ist, wurden die neuen Viele Namen Ideen „für Kunst und Leben“ diskutiert und Die Bezeichnung „Art nouveau“ geht auf die illustriert. Ein internationaler Stil Als Gegenbewegung zur offiziellen Kunst des 19. Jahrhunderts war der Jugendstil in seinem Bestreben, die Kunst in den Alltag zu bringen, überall mit seinen organischen, floralen und fließenden Formen präsent: in der bildenden Kunst und Architektur, bei Mobiliar, Schmuck und Gebrauchsgegenständen. Zu Beginn wurde der Jugendstil stark von Arthur Heygate Mackmurdo (1851–1942) und Alfons Mucha (1860–1939) beeinflusst. gleichnamige Galerie in Paris zurück, in der nach 1895 Kunst und Kunsthandwerk im neuen Stil angeboten wurde. In verschiedenen Ländern bürgerten sich unterschiedliche Bezeichnungen für diesen Stil ein: „Jugendstil“ nach der Zeitschrift Jugend in Deutschland, „Stile Floreale“ oder „Stile Liberty“ in Italien, „Sezessionsstil“ in Österreich, „Modernisme“ in Katalonien, „Modern“ in Russland oder „Modern Style“ in England. In Frankreich wird der Stil auch dem „Fin de Siècle“ zugeordnet. 1894 1896 1902 1905 Alfons Mucha: Gismonda; Aubrey Beardsley: Das Pfauenkleid Charles Rennie Mackintosh entwirft die Ausstattung des ersten Willow-Tearooms in Glasgow; Walter Crane publiziert The Decorative Illustration of Books Gustav Klimts Beethovenfries wird in einer Ausstellung der Wiener Sezession gezeigt Louis Comfort Tiffany gestaltet elf Glasgemälde für die Brown Memorial Presbyterian Church in Baltimore 93 94 Der Beginn der Moderne Die drei Lebensalter der Frau Dieses erste große Ölgemälde von Gustav Klimt ist auch unter dem Titel Mutter und Kind bekannt und zeigt drei Phasen im Leben einer Frau: Kindheit, Mutterschaft und Alter. Gemäß dem Jugendstil malte Klimt die Figuren überlängt, umgab sie allerdings mit fließenden, undulierenden Konturen und dekorativen Mustern. Das Gemälde nimmt damit, aber auch mit seinen Farben und Texturen Gestaltungselemente des Designs auf. Der Einfluss des Symbolismus ist unverkennbar. Klimt erklärt sich so: „Wer über mich – als Künstler, der allein beachtenswert ist – etwas wissen will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu erkennen suchen, was ich bin und was ich will.“ Gustav Klimt: Die drei Lebensalter der Frau, 1905, Öl auf Leinwand; Galleria Nazionale dʼArte Moderna, Rom. Mackmurdos Covergestaltung des Buches Wren’s City Churches war 1883 eine Sensation. Und Mucha gestaltete 1894 das Plakat für die Ankündigung des Theaterstücks Gismonda in Paris mit Sarah Bernhardt als Hauptdarstellerin. Dieses langgezogene, fließende Design wurde mit enormer Begeisterung aufgenommen und eine Zeit lang sogar als „Muchastil“ bezeichnet. Danach breitete sich der Jugensdstil in ganz Europa aus und wurde schließlich weltweit prägend. Zu den führenden Vertretern gehörten außer Klimt und Mucha beispielsweise die Illustratoren Aubrey Beardsley (1872–1898) und Walter Crane (1845–1915), die Architekten Henry van Jugendstil ‚ Wir wollen eine im Alltag heimische Kunst, nicht nur eine sprachliche oder formale Übereinkunft oder einen toten Grad an Uniformität, sondern diese selbstverständliche und harmonische Einheit der individuellen Vielfalt, die Menschen in politischer und sozialer Freiheit entwickeln können. Walter Crane ʻ de Velde (1863–1957), Victor Horta (1861–1947), Antonio Gaudí (1852–1926), Hector Guimard (1867–1942) und Louis Sullivan (1856–1924), der Designer, Künstler und Architekt Charles Rennie Mackintosh (1868–1928), der Schmuckund Glasgestalter René Lalique (1860–1945) sowie die Glasdesigner Louis Comfort Tiffany (1848–1933) und Émile Gallé (1846–1904). Sie kamen aus verschiedenen Ländern und verfolgten eigene Varianten innerhalb des Jugendstils. Alle ihre Ausdrucksmittel bewegten sich im akzeptierten Rahmen dieses neuen Kunststils, bei Plakaten und Schmuckstücken ebenso wie bei Häusern, Skulpturen oder Gemälden. Die moderne Gesellschaft Der Jugendstil war mehr als eine Kunstrichtung. Er war die Geisteshaltung der modernen Gesellschaft oder neuer Produktionsmethoden und ein Versuch, neu zu definieren, was ein Kunstwerk ausmacht. Zentral darin war die Idee, dass ein Kunststil alles erfassen müsse, von Alltagsdingen über Gebäude bis hin zu Werken der bildenden Kunst. Dieser Ansatz hat Kunst und Design des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise geprägt. Worumvon esKunst gehtund Design Zusammenführung mit international gültigen Stilmitteln 95 96 Der Beginn der Moderne 24 Fauvismus (ca. 1900--1920) Als erste große Stilrichtung in der europäischen Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts zeichnet sich der Fauvismus dadurch aus, dass die Bilder nicht lebensnah wirken, sondern durch intensive, lebendige Farben, freie Pinselführung, durchbrochene Linien und freie Komposition gekennzeichnet sind. Er war nur kurze Zeit von Bestand und ohne formelle Organisationsform, übte aber einen nachhaltigen Einfluss auf Kunst und Design im weiteren 20. Jahrhundert aus. Der Fauvismus begann als ein ausdrucksstarker Stil Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris, zueiner Zeit des technologischen Umbruchs: Das Automobil, der Rundfunk und die allgemeine Stromversorgung der Haushalte veränderten die Gesellschaft grundlegend. In vieler Hinsicht folgte diese Kunstrichtung dem Vorbild van Goghs, Cézannes und Gauguins. Wie die Postimpressionisten lehnten die Fauvisten die Objektivität und den delikaten Pinselstrich der Impressionisten ab, um emotionaler und expressiver malen zu können. Wilde Bestien Der Fauvismus dauerte im Grunde nur drei Jahre, auch wenn einige Künstler noch mehr als zehn Jahre den Stil und Ansatz beibehielten. Auch hatten die maßgeblichen Künstler nur drei gemeinsame Ausstellungen. Zu ihnen gehörten Henri Matisse (1869–1954), André Derain (1880–1954), Maurice de Vlaminck (1876–1958), Georges Braques (1882–1963), Georges Rouault (1871–1958), Albert Marquet (1875–1947) und Raoul Dufy (1877–1953). Den Namen Les Fauves – „Wilde Bestien“ – erhielten sie 1905, als sie alle in einer relativ neuen Galerie ausstellten, dem „Salon d’Automne“ in Paris. Es war, ähnlich wie bei den Impressionisten, eine abwertende Etikettierung. Der Kritiker Louis Vauxcelles (1887– 1945) sah die Ausstellung in der Galerie, in der gleichzeitig auch eine Renaissanceskulptur stand, und beschrieb den Kontrast mit den Worten „Donatello au milieu des fauves“ (Donatello inmitten der wilden Bestien). Er fand die kraftvolle Pinsel- Zeitleiste 1900 1901 1903 Die fünfte Pariser Weltausstellung zieht in sieben Monaten mehr als 50 Millionen Besucher an Van-Gogh-Retrospektive in Paris – die vierte Pariser Ausstellung seiner Bilder nach seinem Tod Der erste „Salon dʼAutomne“ zeigt unter anderem das Lebenswerk von Gauguin, der in diesem Jahr Lʼinvocation malte; Paul Cézanne: Château Noir Fauvismus ‚ Ich male nicht im Wortsinn hier diesen Tisch, sondern ich male die Emotion, die er in mir Farbe Zwischen 1901 und 1906 wurden in Paris mehrere auslöst. Retrospektiven auf das Werk von Gauguin, van Gogh, Cézanne Henri Masisse und anderen gezeigt. Zum ersten Mal sah ein breites Publikum so führung, das Fehlen farblicher Zwischentöne und die extravagante, nicht naturalistische Verwendung der Farben lächerlich, unüberlegt und wenig kunstfertig. ʻ viele Bilder von Gauguin und Cézanne. Die radikalen Konzepte, die hier vor Augen standen, ermutigten viele Künstler und inspirierten sie, mit eigenen Ideen zu experimentieren. Ab 1897 hatte Matisse mit dem impressionistischen Maler John Peter Russell (1858–1930) studiert, der ihm die Farbentheorie erklärte – worauf Matisse zu einer helleren Farbpalette überging. Russell war ein enger Freund van Goghs gewesen und gab Matisse eine Zeichnung von ihm. Danach begann Matisse, mit leuchtenden Farben und dick aufgetragenen, kräftigen Pinselstrichen zu malen, wie sie für sein gesamtes Werk typisch sind. Er strebte nicht unbedingt danach, die Natur genau nachzuahmen. Matisse befasste sich überdies intensiv mit den Farben in Orientteppichen und in der nordafrikanischen Landschaft. Ablehnung der Tradition Die Fauvisten verzerrten die Formen und wählten ihre Farben und Pinselführungen passend zum emotionalen Ausdruck. Sie lehnten die Maltradition ab, die Illusionen von Perspektive, Tiefe und Textur hervorrufen wollte, sondern betonten stattdessen die Zweidimensionalität der Leinwand. Farbe wurde nicht beschreibend, sondern zur Vermittlung von Eindrücken und Gefühlen verwendet – beispielsweise von Freude oder von der Wärme des Sonnenlichts. Auch wenn ihr Werk als schnoddrig und ihre Technik als forsch und nachlässig kritisiert wurde, ihre Themen waren eher traditionell: Nackte, Landschaften und Stillleben. Die Farbe war oft wichtiger Matisse und Moreau Matisse kam 1892 an die École des Beaux-Arts und studierte – zunächst als Gast – bei dem symbolistischen Maler Gustave Moreau. Dieser ermutigte seine Schüler, zu denen neben Matisse auch Marquet und Rouault gehörten, ihre eigenen künstlerischen Vorlieben herauszufinden, statt nur der Tradition zu folgen. Moreaus Originalität und Offenheit und sein Glaube an die Ausdruckskraft der Farbe waren ungewöhnlich für diese Zeit und bahnbrechend. Moreau lehrte, man müsse Farbe denken, eine Vorstellung davon haben. 1904 1905 1906 1907 Henri Matisse: Luxus, Stille und Begierde; erste Ausstellung der „Primitiven“ in Paris Henri Matisse: Offenes Fenster, Collioure; André Derain: Arbres à Collioure André Derain: Der Hafen von London; Kees van Dongen: Frau mit großem Hut Albert Marquet: Fischerboote; Raoul Dufy: Jeanne mit Blumen; Cézanne-Retrospektive 97 98 Der Beginn der Moderne Samuel John Peploe Angeregt durch Matisse gestaltete Samuel John Peploe (1871–1935) dieses Bild in einem naiven Stil, der mit grellen Farben und einfacher Pinselführung dem Eindruck ungeübter kindlicher Malerei nahekommt. Das Ergebnis ist ein heiteres, lebendiges Bild, das nicht naturalistisch erscheinen will. Peploe wird den schottischen Koloristen zugerechnet. Und auch wenn er kein Fauvist war, verfolgte er einen ähnlichen Ansatz: Wie bei den Fauvisten ist die Farbe in seinen Werken das Wichtigste. Die meisten Fauvisten setzten Komplementärfarben direkt nebeneinander, um sie leuchtender erscheinen zu lassen. Und sie verwendeten mit Bedacht Farben, die nicht miteinander harmonieren, und Muster, die die einzelnen Farben betonen. Samuel John Peploe: Stillleben mit Dahlien und Früchten, 1910– 1912, Öl auf Leinwand; Privatsammlung. als alles andere. Mit seinen kräftigen Farben und dem dynamischen Farbauftrag war der Fauvismus eine Weiterentwicklung des Postimpressionismus und eine Gegenbewegung zum Neoimpressionismus, den die Fauvisten als uniformen Darstellungsstil und Einschränkung der Spontaneität ablehnten. Matisse meinte einmal, dass der Fauvismus die Tyrannei des Divisionismus erschüttert habe. Hohn und Spott Zu Beginn ernteten die Künstler des Fauvismus Hohn und Spott. Ihre brutalen Farben, ihre Technik, die Farben direkt aus der Tube auf die Fauvismus ‚ Erst nach vielen Jahren der Vorbereitung sollte ein junger Künstler Farben anrühren – und dann nicht eine Farbe, die beschreibend verwendet wird, sondern eine, die als ein Mittel des persönlichen Ausdrucks dienen kann. Henri Matisse ʻ Leinwand zu bringen, und ihre Abkehr vom wirklichkeitsgetreuen Abbilden der Natur war für die damaligen Betrachter unverständlich – sie wussten nicht, was damit bezweckt war und warum die Realität so verzerrt wiedergegeben wurde. Man vermutete, dass die Fauvisten nicht kunstfertig malen können und keine wirklichen Künstler sind, sondern eine Gruppe untalentierter Möchtegernkünstler. Allerdings wurde der Stil unter den jungen Avantgardekünstlern populär. Einige von ihnen stellten nach 1905 ihre Werke zusammen mit denen der Fauvisten im „Salon d’Automne“ aus, wie Kees van Dongen (1877–1968) und Othon Friesz (1879–1949). Alle Künstler, die als Fauvisten bezeichnet werden, ähnelten sich darin, wie sie ihr Sujet darstellten und wie sie mit Farbe und Farbauftrag umgingen. Sie folgten aber keinen gemeinsamen Vorgaben. In mancher Hinsicht nahm der Fauvismus Elemente auf, die an die Naivität früher Kunst erinnern. Vermutlich hat hierzu eine Ausstellung in Paris Anstöße gegeben, die 1904 unter dem Titel Primitifs Français auch Kunstwerke des Mittelalters zeigte. Viele junge Künstler waren von der Frische und Ehrlichkeit dieser Kunstwerke begeistert. Außerdem weckte die afrikanische Kunst mit ihren vereinfachenden Stilisierungen großes Interesse – Vlaminck, Derain und Matisse haben sie gesammelt und ließen sich davon inspirieren. Les Fauves erreichten zwischen 1905 und 1907 den Höhepunkt ihres Erfolgs. Danach begannen sie sich aufzulösen und in verschiedene Richtungen zu entwickeln. Nur Matisse lotete noch für einige weitere Jahre die Möglichkeiten des Fauvismus aus. Worum esals geht Leuchtende Farben Ausdruck von Emotionen 99 100 Der Beginn der Moderne 25 Expressionismus (ca. 1890--1934) Mit ihren leuchtenden Farben und ihrer ausdrucksvollen Pinselführung ebneten van Gogh, Gauguin und die Fauves den Weg für den Expressionismus. Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Expressionismus in Deutschland, wo er sich aus einem Lebensgefühl der Unruhe entwickelte: Es ging um die kraftvolle und aufrichtige Darstellung persönlicher Sichtweisen. Der Expressionismus war eine vollständig subjektive Kunstrichtung ohne einheitlichen Stil. Der Begriff „Expressionismus“ wurde vermutlich 1910 von dem tschechischen Kunsthistoriker Antonín Matějček (1889–1950) geprägt, als er einen neuen Kunststil beschrieb, der das Gegenteil des Impressionismus zu sein schien. Der Expressionismus strebte nach Matějček danach, innere Gefühle auszudrücken und nicht, wie der Impressionismus, die neutralen äußeren Erscheinungsbilder festzuhalten. Zwei Jahre später verwendete der Schriftsteller und Redakteur Herwarth Walden (1879–1941) den Begriff 1912 in seiner Zeitschrift Der Sturm. Lebensgefühl Der Begriff „Expressionismus“ wird verwendet, um zusammenzufassen, was einige Künstler des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts in bewegten, schrillen und verzerrten Bildern ausdrückten: Stimmungen, Gefühle und Ideen. Ihre Kunst ist eher subjektiv und persönlich als objektiv und abgeklärt. Gemalt wurde mit eigenwilligen Farben in verwegenen Kompositionen, ohne zu versuchen, das wirkliche Aussehen abzubilden oder ästhetische Eindrücke darzustellen. Vielmehr ging es darum, mit kräftigen Farben und dynamischen Kompositionen Emotionen einzufangen. Wie viele andere Kunstrichtungen umfasst der Expressionismus nicht das Werk einer einheitlichen Künstlergruppe – viele Künstler, die als Expressionisten gelten, kannten sich gar nicht oder missbilligten sogar diese Bezeichnung. Die expressionistische Kunst entstand mehr oder weniger konkurrierend in verschiedenen deutschen Städten zu einer Zeit wachsender Verunsicherung der Gesell- Zeitleiste 1890 1893 1905 1909 Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) entlässt seinen Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), was zum Ende der bisherigen Bündnispolitik und letztlich zum Ersten Weltkrieg führt Edvard Munch: Der Schrei Die Künstlervereinigung „Brücke“ wird gegründet Die Neue Künstlervereinigung München wird ins Leben gerufen ‚ Expressionismus schaft in einer zunehmend unruhigeren modernen Welt. Dabei Je schreckensvoller befanden sich die Expressionisten im Gegensatz zur traditionellen diese Welt, desto Kunst, aber im Einklang mit Richtungen wie dem Symbolismus abstrakter die Kunst oder Künstlern wie van Gogh, Edvard Munch (1863–1944) und Paul Klee James Ensor (1860–1949). Es ging darum, die Betrachter vor allem mit den dargestellten Emotionen und weniger mit kunstfertigen Maltechniken zu beeindrucken. ʻ Die Brücke Es gab verschiedene expressionistische Künstlergruppen, darunter die „Brücke“, die 1905 in Dresden von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) zusammen mit Max Pechstein (1881–1955), Kees van Dongen (1887–1968), Emil Nolde (1867–1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) und Erich Heckel (1883–1970) gegründet wurde. Die Künstler der „Brücke“ sahen die traditionellen Stile der bildenden Kunst als Herausforderung an, ImpressionisDer Schrei mus und Postimpressionismus eingeschlosDer norwegische Künstler Edvard Munch sen. Sie wollten in ihrem Werk eine Brücke gehört zu den Wegbereitern des Expressioniszwischen der historischen und der modernen mus. 1893 schuf er den Schrei in Form mehreKunst schlagen. 1906 organisierten sie ihre rer Drucke und eines Gemäldes, die eine qualerste Ausstellung und druckten ihr Manifest. voll schreiende Figur vor einem roten Himmel Die meisten von ihnen malten bewusst einzeigen. Im Hintergrund ist Kristiania, das heufach und unkompliziert, wobei sie einen Stil tige Oslo, zu erkennen. Munch beschreibt die der Verfälschung von Gegenständen und FarEntstehung des Bildes in seinem Tagebuch: ben entwickelten, um bestimmte Elemente zu „Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinab. betonen oder gar zu übertreiben. Oft malten Die Sonne ging unter – der Himmel wurde blutsie moderne Stadtbilder, in denen sie eine in rot, und ich empfand einen Hauch von Wehihren Augen zunehmend gewaltsame und mut. Ich stand still, todmüde – über dem blaubedrohliche Welt zeigen. Nolde war zeitschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und weise mit der „Brücke“ verbunden, gilt aber Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter – eher als eigenständig arbeitender Expressioich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte nist. Die Künstler der „Brücke“ ließen sich den großen Schrei in der Natur ... Ich malte von der primitiven Kunst Afrikas oder Ozeadieses Bild – malte die Wolken wie wirkliches niens inspirieren, die sie als unmittelbar, Blut – die Farben schrien.“ ungekünstelt und natürlich ansahen. Als der Erste Weltkrieg bereits seine Schatten 1911 1912 1913 1914 1916 Der „Blaue Reiter“ formiert sich in seiner ersten Ausstellung Karl Schmidt-Rottluff: Häuser bei Nacht Wassily Kandinsky: Träumerische Improvisation; Ernst Ludwig Kirchner: Berliner Straßenszene; August Macke: Dame in grüner Jacke Paul Klee: Motiv aus Hammamet; Franz Marc: Kämpfende Formen George Grosz: Selbstmord; Alexej von Jawlensky: Lieder ohne Worte 101 102 Der Beginn der Moderne ‚ Der Maler malt die Erscheinung der Dinge, nicht ihre objektive Richtigkeit, ja, er erschafft neue Erscheinungen der Dinge. Ernst Ludwig Kirchner ʻ vorauswarf, schien ihnen das moderne Leben unerträglich, da es die Menschen habsüchtig, egoistisch und gewalttätig mache. Die meisten von ihnen gingen zwischen 1910 und 1914 nach Berlin. Der Blaue Reiter In München bildete sich 1911 eine andere Künstlergruppe, die sich „Der Blaue Reiter“ nannte. Zu ihren Mitgliedern gehörten Wassily Kandinsky (1866–1944), Franz Marc (1880–1916), Paul Klee (1897–1940), Alexej von Jawlensky (1864–1941) und August Macke (1887–1949). Der Name geht auf Kandinskys Bild Der Blaue Reiter von 1903 zurück sowie auf Kandinskys und Marcs August Macke: Gartenrestaurant, 1912, Öl auf Leinwand; Kunstmuseum, Bern. Expressionismus Vorliebe für Pferde, Reiter und die mystische Nietzsche Farbe Blau, die den Himmel und Übersinnliches symbolisiert. Diese Künstler waren Der Expressionismus wird oft in Verbindung mit durch van Gogh, Gauguin, Munch und die dem Denken des deutschen Philosophen primitive Kunst inspiriert. Sie glaubten an Friedrich Nietzsche (1844–1900) gesehen. In das Geistige in der Kunst und wollten mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem ihren Werken dem Leben der Menschen wieGeiste der Musik unterscheidet Nietzsche zwider tiefere Bedeutung zurückgeben. Kandinsschen zwei Kunstformen, einer apollinischen ky suchte nach einer neuen Beziehung zwiund einer dionysischen. Das Apollinische steht schen Mensch und Natur. Der „Blaue Reiter“ für Ordnung und sorgfältig durchdachte Ideale, war keine so geschlossene Künstlergruppe während das Dionysische das Rauschhafte wie die „Brücke“ und veröffentlichte auch bezeichnet, das auf intensive, ungeordnete kein eigenes Manifest. Aber 1912 gaben Emotionen zurückgeht und nicht auf rationales Marc und Kandinsky einen Almanach heraus, Denken. Mit ihrem Farbenrausch, den übersteiin dem Essays über Kunst zusammengestellt gerten und leidenschaftlichen Bildern waren die waren. Kandinsky glaubte, dass einfache FarExpressionisten dionysisch. ben und Formen Gefühle und Stimmungen ausdrücken können und konkrete Themen überflüssig machen. In der Konsequenz malte er als einer der ersten Künstler abstrakt. Der „Blaue Reiter“ steht für eine einfache, lebendige und bunte Malweise, mit der das Lebensgefühl in einer beunruhigenden modernen Welt ausgedrückt wird. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden Marc und Macke zum Militärdienst eingezogen und wenig später an der Front getötet. Die russischen Maler – Kandinsky, Jawlensky und andere – mussten Deutschland verlassen. Der Blaue Reiter löste sich auf. Andere berühmte deutsche Expressionisten arbeiteten unabhängig von den genannten Gruppierungen und drückten ihr eigenes Lebensgefühl aus, insbesondere die Schrecken des Krieges. Zu ihnen gehören Otto Dix (1891–1969), Lionel Feininger (1871–1956), George Grosz (1893–1959) und Max Beckmann (1814–1950). Auch in einigen anderen Ländern wirkten Expressionisten, so Georges Rouault (1871–1958) in Frankreich oder Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele (1890–1918) in Österreich. geht AusdruckWorum von innereres Angst in der Kunst 103 104 Der Beginn der Moderne 26 Kubismus (1907--1914) Als einer der einflussreichsten Stile des 20. Jahrhunderts wurde der Kubismus von Pablo Picasso (1881–1973) und Georges Braque, der bereits als Fauvist vorgestellt wurde, in Frankreich entwickelt. Den Anfang machte Picasso 1907 mit seinem Gemälde Les Demoiselles dʼAvignon, in dem er primitive afrikanische und spanische Bildhauerkunst sowie innovative Ideen Cézannes verarbeitete. Les Demoiselles dʼAvignon Dieses Gemälde Picassos gilt als ein Schlüsselwerk der modernen Kunst. Es zeigt fünf weibliche Figuren mit maskenartigen Gesichtern und verzerrten, aus eckigen Flächen aufgebauten Körpern sowie ein Stillleben mit Früchten, das aus der Leinwand zu fallen scheint. Farblich dominieren Rosa- und Blautöne – Picasso hatte gerade seine rosa und seine blaue Periode hinter sich – in diesem aufgrund der flächigen Formgebung schockierenden Bild, das gleich mehrere stilistische Einflüsse Ich habe die Malerei erkennen lässt. Picasso war, wie viele Künstler, durch die gefunden, um meine Cézanne-Retrospektive von 1907 inspiriert und hatte sich mit festen Ideen an den primitiver Kunst Afrikas, Ägyptens und der Iberer beschäftigt. Cézanne hatte bei allem, was er malte, die zugrunde liegenden Nagel zu hängen. Georges Braque Strukturen im Blick und Objekte manchmal aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig dargestellt, um sie vollständig auf der Malfläche zeigen zu können. In der primitiven Kunst sind einfache und verzerrte Formen häufig. Diese Ideen setzte Picasso in seinen fragmentierten, flächig gebrochenen Figuren um, die er aus verschiedenen Blickwinkeln so zeigte, wie wir sie aus Teilansichten zwar kennen, aber nie komplett vor Augen haben. Die Raumillusion bricht dadurch völlig zusammen. Das Bildmotiv ergab sich aus einer Szene in einem Bordell von Barcelona, die Picasso in mehreren Schritten zu diesem Bild entwickelte, das den Kubismus einleitete. ‚ ʻ Zeitleiste 1907 1908 1910/11 Pablo Picasso: Les Demoiselles dʼAvignon Georges Braques Bild Häuser in LʼEstaque wird zusammen mit anderen Werken von ihm in der Pariser Galerie Kahnweiler ausgestellt Pablo Picasso: Portrait des Ambroise Vollard; Robert Delaunay: Eiffelturm; Jean Metzinger: Portrait der Madame Metzinger; Georges Braque: Der Portugiese Kubismus Analytischer Kubismus Nachdem Braques das Bild Les Demoiselles d’Avignon gesehen hatte, gab er wie Cézanne und Picasso den Versuch auf, Tiefe darzustellen, und gab Objekte mehransichtig aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig auf der Leinwand wieder. Braque und Picasso begannen zusammenzuarbeiten. 1908 stellte Braque einige seiner neuen Landschaften in Paris aus. Matisse informierte davon den Kunstkritiker Vauxcelles, der bereits den Namen „Fauves“ geprägt hatte, indem er mit wenigen Strichen Braques Landschaft skizzierte und dabei verdeutlichte, dass sie aus „kleinen Würfeln“ – petits cubes – aufgebaut ist. Vauxcelles knüpfte in einem Ausstellungsbericht an diese cubes an. Seine Bezeichnung „Kubismus“ griff zwar im Hinblick auf die intensiven Analysen, mit denen die Kubisten ihre Bilder entwickelten, zu kurz, aber sie blieb hängen. Braque und Picasso arbeiteten von 1908 bis zum Beginn des Ersten WeltEli Adams: kriegs im Jahr 1914 zusammen. Sie verwarfen die Vorstellung, dass Kunst das Cubist Mocha – Aussehen der Dinge nachahmen sowie Perspektive und Farbkontraste einsetzen ein vom Kubismus angeregtes müsse, um die Bilder dreidimensional aussehen zu lassen. Durch FacettierunBild. gen, Schichtungen oder Gegenpositionen und Mehrfachansicht unter wechselnden Blickwinkeln meinten sie mehr von den Objekten zeigen zu können, als es die fotografische Sichtweise ermöglicht. Allerdings sind solche Bilder schwieriger zu entschlüsseln als traditionelle. Die meisten Kubisten reduzierten ihre Farbpalette auf Abstufungen von Braun-, Grau- oder anderen neutralen Farbtönen. Da die 1912 1913 1914 Juan Gris: Portrait von Picasso; Albert Gleizes: Die Kathedrale von Chartres; das Buch Le Cubisme von Gleizes und Metzinger zur Theorie des Kubismus erscheint Robert und Sonia Delaunay: Bilder mit Simultankontrasten Fernand Léger: La Sortie des Ballets Russes; Raymond Duchamp-Villon: Das große Pferd; Alexander Archipenko: Der Gondoliere; Beginn des Ersten Weltkriegs 105 106 Der Beginn der Moderne ‚ Ein Kopf ist eine Sache aus Augen, Nase und Mund, die man in jeder beliebigen Weise anordnen kann. Der Kopf bleibt doch ein Kopf. Pablo Picasso ʻ Dinge sorgfältig analysiert wurden, um nicht nur ihre reale Erscheinung zu reproduzieren, wurde diese erste Phase als Analytischer Kubismus bezeichnet. Synthetischer Kubismus Im Winter 1912/13 begannen Picasso und Braque mit ihren papiers collés: Sie klebten buntes oder bedrucktes Papier auf die Leinwand. Dabei stellt jedes Papierstück ein besonderes Objekt dar, entweder durch seinen Umriss oder durch einen Hinweis auf das Motiv. Bald verwendeten sie auch noch anderen Materialien – Tapete, Karton oder auch Imitate von Holzmaserung und Stuhlgeflecht. Diese Phase wurde als synthetischer Kubismus bekannt. Es war das erste Mal, dass Collagen in der bildenden Kunst auftauchten. Angesichts der Fragmentierung der verschiedenen Texturen wurden Interpretationshilfen für den Betrachter eingefügt – Buchstaben oder Zahlen oder auch eigens gemalte Imitate von Holz, zu denen Braque als gelernter Dekorationsmaler die Anregung gab. Die Zusammenarbeit von Picasso und Braque führte zum Kubismus, der von verschiedenen anderen Malern aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Zu ihnen gehörten Fernand Léger (1881–1955), Juan Gris (1887–1927), Albert Gleizes (1881–1953) und Jean Metzinger (1883–1956). Ihre Sujets waren überwiegend gegenständlich, oft Stillleben oder Portraits. In den Stillleben wurden häufig Musikinstrumente, Flaschen, Krüge, Zeitungen und Spielkarten dargestellt. Anfangs betraf Kubistische Bildgestaltung Trotz zunehmender Abstraktion stellten Kubisten wie Picasso, Braque, Léger oder Gris in ihren Gemälden erkennbar alltägliche Objekte dar. Picasso und Braque reduzierten ihre Palette auf neutrale Farbtöne, um Linien und Tonstufen hervortreten zu lassen. Die Arbeiten von Gris und Léger wirken plastischer und weniger kan- tig als jene von Picasso und Braque, die unter anderem mit Texturen eine dreidimensional wirkende Bildfläche erzeugten, auch wenn sie dabei die Leinwandebene betonten. Der Kubismus war kein starres, abgeschlossenes Programm, sondern ein ständiges Ringen um eine völlig neue, moderne Kunst. Kubismus der Kubismus nur die Malerei, aber ab etwa 1910 schufen auch Bildhauer kubistische Werke, die nur bei der Betrachtung von allen Seiten als Ganzes erfasst werden können. Am bekanntesten von ihnen sind Alexander Archipenko (1887–1964), Raymond Duchamp-Villon (1887–1968) und Jaques Lipchitz (1891–1973). Die meisten Kubisten hatten leicht modifizierte Stilauffassungen: Léger beispielsweise verwendete leuchtende Farben und scharf konturierte Kompositionen, die einen Kontrast zu Braques Monochromie bildet. Gris förderte die Entwicklung des Synthetischen Kubismus durch seinen kantigen Stil. Der Kubismus hatte in allen seinen Ausprägungen weitreichende Auswirkungen auf die nachfolgende Avantgardekunst wie Dadaismus, Surrealismus, Art déco, Konstruktivismus und die abstrakte Kunst. Orphismus Mit dem Begriff „Orphismus“ oder „Orphischer Kubismus“ beschrieb Guillaume Apollinaire (1880–1918) die Werke von Robert Delaunay (1885–1941) und dessen Frau Sonia (1885– 1979) – in Anspielung auf den Sänger und Poeten Orpheus aus der griechischen Mythologie. Gemeint war damit, dass die Gemälde der Delaunays wie Musik harmonisch und abstrakt sind. Im Gegensatz zu den neutralen Farben und Erdtönen des Analytischen und Synthetischen Kubismus zeigen Werke des Orphismus helle Farbtöne, die nach der modernen Farbentheorie verwendet werden. Dieser Stil wurzelt im Kubismus, drückt aber auch Bewegung und Licht aus, indem er die Wahrnehmungsvorgänge in unserem Auge nachbildet. Worum es geht Eine Einheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln 107 108 Der Beginn der Moderne 27 Futurismus (1909--1916) Während sich in Frankreich der Kubismus entwickelte, verfolgte in Italien zwischen 1909 und 1916 eine Gruppe von Künstlern andere Ideen. Sie nannten sich „Futuristen“ und schufen eine Kunst, die die italienische Tradition hinter sich lassen und eine Zukunft einbeziehen wollte, die als Wunderwelt der modernen Technik gesehen wurde. Der Futurismus ist die einzige avantgardistische Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts, die von Italien ausging. 1909 verfasste der Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) sein futuristisches Manifest, in dem er Jugend, Bewegung, Technik, Maschinen und Kampfkraft besingt – zu einer Zeit, in der noch kein futuristisches Werk existierte. Es waren reine Thesen. Für Marinetti und seine Freunde waren Autos, Flugzeuge und moderne Technik aller Art aufregendeErfindungen, die eine bessere Zukunft versprachen. Sie hielten es für an der Zeit, die antiken Traditionen und die Renaissance hinter sich zu lassen und neuen Ideen zu folgen. Verherrlichung der Gewalt Nachdem im Dezember 1908 das Manifesto del Futurismo in der Gazzetta dell’Emilia und einen Monat später auf Französisch im Figaro abgedruckt worden war, griffen viele Schriftsteller, Künstler, Architekten und Komponisten dessen Ideen auf. 1910 wurde ein Manifest für futuristische Maler von Umberto Boccioni (1882–1916), Gino Severini (1883–1966), Giacomo Balla (1871–1958), Luigi Russolo (1885–1947) und Carlo Carrà (1881–1966) unterzeichnet. Es war spezifischer als Marinettis Manifest von 1908/09 und forderte auf, statt in der Vergangenheit zu schwelgen, in die Zukunft zu sehen. Diese Futuristen kritisierten die konventionelle Malerei und priesen die moderne Technik. Und sie gaben noch ein „technisches Manifest“ für die Malerei heraus, in dem sie zur Darstellung von Dynamik und Bewegung in der Kunst aufriefen. Zwischen 1909 und 1914 erschienen mehr als 50 futuristische Manifeste, die Kunstanschauungen und häufig auch Leitlinien darüber enthielten, wie dieser neue Stil zu denken und Zeitleiste 1909 1910 1911 Filippo Tommaso Marinetti veröffentlicht das Manifest des Futurismus im Figaro Balla, Boccioni, Carrà, Russolo und Severini unterschreiben das Manifesto dei pittori futuristi, das in der Zeitschrift Poesia veröffentlicht wurde Manifesto dei musici futuristi Futurismus Dinamismo di un ciclista Die Futuristen wollten die Dynamik wiedergeben, die sie in der modernen Technik und dem maschinellen Antrieb sahen. In diesem abstrakten Bild zur Dynamik eines Radfahrers lassen sich, sobald man die Figur und das Rad erkannt hat, einige weitere Elemente identifizieren: eine Berglandschaft und die Reflexion der Sonne auf dem Metall. Die Geschwindigkeit wird durch die kurzen Pinselstriche angedeutet, die den Drehungen der Räder folgen. Boccioni erreicht sein Ziel, den Eindruck von Dynamik und Geschwindigkeit zu vermitteln, auch mit den diagonal verlaufenden Linien und den Winkeln, die durch ihre musterartige Wiederholung dem Bild einen Rhythmus geben. Umberto Boccioni: Dynamik eines Radfahrers, 1913, Öl auf Leinwand; Gianni Mattioli Collection in der Peggy Guggenheim Collection, Venedig. 1912 1913 1914 Das Manifest der futuristischen Frauen; Boccioni veröffentlicht das Manifesto tecnico della scultura futurista; Gino Severini: Blaue Tänzerin Umberto Boccioni: Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum; Giacomo Balla: Rasendes Automobil Carlo Carrà: Interventionistische Demonstration; Beginn des Ersten Weltkriegs 109 110 Der Beginn der Moderne Abkehr von der Vergangenheit Die Futuristen verstanden sich als Revolutionäre, die das legendäre Erbe der italienischen Kunst in einer Zeit der kulturellen Krise überwinden wollten. Viele glaubten sich zwischen der ruhmreichen Vergangenheit und der modernen Zeit eingeklemmt. Die Futuristen riefen ihre Anhänger sogar dazu auf, die Museen und Akademien zu zerstören, und hofften auf die Überwindung der Vergangenheit durch Krieg. umzusetzen sei. Die Futuristen waren nicht nur von der modernen Technik und der Industrialisierung beeinflusst, sondern auch vom Expressionismus, Neoimpressionismus und Kubismus sowie von der Musik Igor Strawinskis (1882–1971) inspiriert. Alle Art von Technik und sogar die Kriegsmaschinerie erschien ihnen aufregend und modern – und damit der Darstellung in der bildenden Kunst wert. Diese Themen schienen ihnen zudem geeignet, die Menschen von sozialen Vorurteilen abzubringen. Dagegen verabscheuten die Futuristen die Aktmalerei. Krieg war für sie die „einzige Hygiene der Welt“, und sie verherrlichten wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg die „schönen Ideen, für die man stirbt“. Rhythmus und Sequenz In seinem Manifest beschreibt Marinetti eine neue Schönheit, die Schönheit von Bewegung und Geschwindigkeit. Den Futuristen ging es vor allem darum, Schnelligkeit und Vitalität auszudrücken. Dazu nutzten sie rhythmisch wiederkehrende Linien, unterbrochene Sequenzen sowie verzerrte Formen, die ihnen aus der Fotografie und von den damals neuen Röntgenbildern vertraut waren. Die Objekte werden aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, wenn auch nicht in so rigorosen Mehrfachansichten wie beim Kubismus. Kräftige Farben, geschmeidige oder gebrochene Pinselstriche und gesplitterte runde oder diagonale Linien tragen zum Eindruck von Bewegung und Licht – in zwei und drei Dimensionen – bei. Kontrastfarben wurden nebeneinandergesetzt, um die Bilder hell und lebendig erscheinen zu lassen. Viele davon zeigten konkrete Dinge, aber einige waren auch abstrakt, weil die meisten KünstIch will das Neue ler den Prozess des Schaffens für genauso wichtig hielten wie malen, die Frucht das Ergebnis und zudem Intuition und Simultanität (Gleichzeiunserer industriellen tigkeit verschiedener Bewegungsphasen) sehr schätzten. Zeit. Die erste größere Ausstellung der Futuristen fand 1911 in Mailand statt, ging 1912 nach Paris und danach in viele andere Umberto Boccioni europäische Städte. In Zürich, Wien, Berlin, London und Brüssel sorgte sie für große Aufregung. Die futuristischen Ideen breiteten sich in vielen Ländern aus und regten dort viele Künstler an. Und schon bald kritisierten die Futuristen mit ihren radikalen, gegen die Tradition gerichteten Ideen den Kubismus als zu wenig vorausdenkend. Letztlich erwies sich jedoch der Kubis- ‚ ʻ Futurismus ‚ Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Filippo Tommaso Marinetti ʻ mus als weitreichender und einflussreicher. Unterdessen wurde der Futurismus auch in verschiedenen anderen Kunstgattungen – darunter Bildhauerei, Poesie und Musik – präsent. Denn die Ursprungsgruppe hatte ihr Werk durch Vorträge, öffentliche Ausstellungen und publikumswirksame Auftritte bekannt gemacht – und damit moderne PR-Methoden vorweggenommen. Die Wirkung des Krieges In Ihrer Begeisterung für die Schönheit des Krieges hatten die Futuristen die Sinnlosigkeit der Zerstörung übersehen, die die von ihnen so verehrten Maschinengewehre anrichteten. Mit dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg im Jahre 1915 wendete sich ihr naiver Enthusiasmus ins Gegenteil. 1916 fielen Boccioni und der futuristische Architekt Antonio Sant’Elia (1888– 1916), Russolo wurde schwer verwundet. Zwar formierte sich nach 1918 erneut eine futuristische Gruppe, aber die Mehrheit der Künstler war nun desillusioniert und hatte andere Ideale. Trotz seiner anfänglichen Durchschlagskraft verschwand der Futurismus. Allerdings hinterließ er Spuren in vielen Ländern und in verschiedenen Kunstrichtungen wie dem russischen Futurismus, Art déco, Vortizismus, Konstruktivismus, Dadaismus oder Surrealismus. esVitalität geht und Kraft Ausdruck Worum von Dynamik, des Maschinenzeitalters 111 112 Der Beginn der Moderne 28 Shin-hanga (1915--1942) Shin-Hanga – übersetzt: neue Drucke – ist eine japanische Kunstrichtung, welche die Tradition der Ukiyo-e-Holzschnitte neu beleben wollte, indem sie westliche Kunsttechniken einbezog. Diese neuen Drucke kamen in der Taishō- bzw. Shōwa-Zeit auf und waren zugleich modern und romantisch. Die Shin-hanga-Künstler nutzten das System der Ukiyoe-Künstler, die mit Holzschneidern, Druckern und Verlegern zusammenarbeiteten. Den Begriff „Shin-hanga“ führte 1915 Watanabe Shōzaburō (1885–1962) ein, der japanische Drucke herstellte und vertrieb. Er fand das Nachdrucken alter Ukiyo-e-Holzschnitte nicht mehr befriedigend und beschloss, Drucke in einem neuen Stil zu verlegen, der die Traditionen der japanischen Druckgrafik mit Kunstrichtungen westlicher Zeichnungen und Gemälde vereint. Die Sujets reichten von Landschaften, Stadtansichten und Portraits schöner Frauen oder Schauspieler über Vögel und Blumen bis hin zu frei gewählten Themen. Watanabe brachte japanische und westliche Künstler im Atelier seines effizienten Kunstgrafik-Verlags zusammen. Bald eröffneten auch andere derartige Ateliers. Shin-hanga erlebte zwischen 1915 und 1942 eine Blüte und hielt sich nach Kriegsende bis in die 1950er Jahre. Westlicher Stil Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das Ukiyo-e angesichts der Massenproduktion von Druckwerken überlebt. Die Grundidee der neuen Shinhanga-Drucke bestand darin, sich einerseits auf die traditionelle Technik zu stützen, mit der japanische Holzschnitte vom 17. bis 19. Jahrhundert gedruckt wurden, andererseits aber auch Neuerungen europäischer Kunststile aufzugreifen. Der Stil dieser neuen Drucke ist daher durch den Impressionismus und Realismus beeinflusst, während die traditionellen Ukiyo-e-Motive beibehalten werden, etwa fukeiga Zeitleiste 1912 1915 1919 Ende der Meiji-Zeit und Beginn der Taishō-Zeit Es gibt einige neue Ukiyo-e-Drucke; Watanabe Shōzaburō begründet das Shin-hanga; Natori Shunsen arbeitet für die Zeitschrift Shin Nagao (Neue Bilder) an einer Bilderserie Hasui Kawase beginnt mit der Serie Zwölf Szenen von Tokio Shin-hanga Sōsaku-hanga Shin-hanga wird oft als Gegensatz zum Sōsaku-hanga gesehen, das um 1910 aufkam und übersetzt „kreativer Druck“ bedeutet. Dabei zeichneten, schnitten und druckten die Sōsaku-hanga-Künstler ihre Holzschnitte selbst, während sich die Shin-hanga-Künstler auf das Zeichnen beschränkten und im übrigen Fertigungs- prozess mit Holzschneidern, Druckern und Verlegern zusammenzuarbeiten. Beide Gruppen standen sich feindselig gegenüber. Shin-hanga-Künstler hielten sich für ebenso kreativ und betonten, dass sie ja nur die mechanischen Prozesse der Drucktechnik anderen überlassen würden. – Landschaften, bijinga – schöne Frauen oder yakusha-e – Kabuki-Schauspieler. Im Gegensatz zu den flächigen, stilisierten Ukiyo-e-Bildern sind im Shin-hanga die Wirkung von Licht und Luft, natürliche Farben, Kontraste und die Perspektive integriert. Aber die Shin-hanga-Künstler übernahmen nicht einfach diese Ansätze der westlichen Kunst eins zu eins, sondern brachten ihre eigenen Ideen und Methoden aus der östlichen Kunsttradition mit ein. Einige Werke sind nostalgische Darstellungen freier Landschaften und traditioneller Holzarchitektur, die damals schon zunehmend aus Japan verschwanden. Unerwartet kamen aber neue Ideen und frische Kompositionen zu der fließenden Darstellung in akkurater Tradition hinzu. Shinhanga wird deshalb oft auch als Neo-Ukiyo-e bezeichnet. Watanabe verwendete ab 1921 einen neuen Begriff, Shinsaku-hanga, übersetzt: neu geschaffene Drucke, um die Besonderheit dieser Werke hervorzuheben. Bekannte Shin-hanga-Künstler Einige Shin-hanga-Künstler wurden sehr bekannt. 1919 kam der Landschaftskünstler Kawase Hasui (1883–1957) in Watanabes Gruppe. Kawases Werk ist stimmungsvoll und traumähnlich, seine berühmtesten Bilder zeigen nächtliche oder verschneite Ansichten – 1956 wurde er von der Japanischen Regierung zum lebenden Nationalschatz erklärt. Ohara Koson (1877– 1945) war ursprünglich Maler, wendete sich dann aber dem Shin-hanga zu; seine häufigsten Motive sind Vögel und andere Tiere. Itō Shinsui (1898–1972) hat in den 1921 1922 1930 1939 In Tokio werden 150 Werke von zehn Shinhanga-Künstlern bei einer Ausstellung der neuen kreativen Druckgrafik gezeigt. Yoshida Hiroshi: Segelschiffe (sechs Drucke) Ende der Taishō-Zeit; Itō Shinsui beginnt seine Serie Zwölf Portraits neuer Schönheiten Eine große Shin-hangaAusstellung im Toledo Museum of Art in Ohio Gründung der Gesellschaft für Militärkunst in Japan 113 114 Der Beginn der Moderne Kombinierte Stile Viele Shin-hanga-Künstler übten sich in westlicher Ölmalerei, bevor oder während sie sich mit Holzdrucken befassten. Diese Verbindung von Fähigkeiten und Stilen ließ reichhaltig im Detail ausgearbeitete Bilder entstehen, die oft mit natürlichem Licht und weichen Konturen Stimmungen einfingen, zugleich aber die traditionell flächige, bunte Gestaltung der Holzschnitte beibehielt. Im Shin-hanga wurden die Farben nun gemischt und variiert, um bestimmte Stimmungen auszudrücken. Und es wurden Elemente wie Linear- und Luftperspektive oder Farbkontraste verwendet und auch der Gesichtsausdruck portraitiert. All dies ist in den Ukiyo-e-Drucken ursprünglich nicht zu finden. 20 Jahren seiner Zusammenarbeit mit Watanabe Landschaften und Portraits schöner junger Frauen geschaffen; er war einer der führenden Shin-hanga-Künstler und wurde ebenfalls zum lebendigen Nationalschatz erklärt. Auch Natori Shunsen (1886–1960) hat als Maler begonnen, wurde dann aber durch seine Drucke von Kabuki-Schauspielern bekannt. Yoshida Hiroshi (1876–1950) entwarf vor allem Landschaftsbilder, an denen die durch Licht und Farben erzeugten Stimmungen bewundert wurden. Ähnlich wie viele impressionistische Werke zeigen diese Drucke dasselbe Motiv zu verschiedenen Tages- oder Jahreszeiten. Hashiguchi Goyō (1880–1921) stellte seinen ersten Shin-hanga-Druck schon 1915 her und schuf in den wenigen Jahren bis zu seinem Tod Portraits japanischer Schönheiten in natürlicher Pose. Torii Kotondo (1900–1976) portraitierte ebenfalls schöne Frauen. Yoshida Toshi (1911–1995) schließlich experimentierte mit abstrakter Kunst, bevor er wieder zu seinen Lieblingsmotiven zurückkehrte: Landschaften und Tieren. Verbreitung Es gab für Shin-hanga in Japan keinen Markt im eigentlichen Sinne, aber in Europa und den USA, wo japanische Kunst und Kultur bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Renner waren und die Nachfrage nach Ukiyo-e sehr groß war. So wurde auch Shin-hanga im Westen wohlwollend aufgenommen. Im Allgemeinen war Ukiyo-e nach Ansicht der Japaner inzwischen ein kommerzielles Massenprodukt. Watanabe verlegte deshalb Shin-hanga zunächst nur für den japanischen Markt. Bald aber gab es in den USA und Europa begeisterte Käufer, die von der Komposition und den eindrücklichen romantisierenden Darstellungen von Personen und Ansichten angetan waren. In Japan fiel die Druckgrafik im 20. Jahrhundert im Ansehen hinter Ölmalerei und Bildhauerei auf den dritten Platz zurück. ‚ Shin-hanga ʻ Kunst ist die Illusion von Spontaneität. Japanisches Sprichwort Shin-hanga war dort nie so geachtet wie im Westen, auch wenn es 1921 in Tokio eine Shinsaku-hanga-Ausstellung gab, bei der 150 Werke von zehn Shin-hangaKünstlern gezeigt wurden. In den 1930er Jahren gab es zwei große Shin-hangaAusstellungen in Ohio in den USA. In Japan hingegen wurde 1939 – in dem Jahr, in dem mit dem deutschen Einmarsch in Polen der Zweite Weltkrieg begann – eine Künstlervereinigung gegründet, um offizielle Kriegsbilder und entsprechende Propaganda zu fördern. Ab 1943 war Künstlermaterial rationiert, der Markt für Kunstgrafik brach zusammen und erholte sich auch nach dem Krieg nie mehr ganz. Worumder estraditionellen geht Verschmelzung japanischen Druckgrafik mit westlichen Stilen 115 116 Herausforderungen und Wandel 29 Dadaismus (1916--1922) Dada war eigentlich keine Kunstrichtung, sondern eine Protestbewegung während des Ersten Weltkriegs. Die Beteiligten sprachen von Antikunst und protestierten gegen die Grausamkeiten des Kriegs und den Irrsinn einer Welt, die diesen Krieg zugelassen hatte. Bezeichnenderweise begann der Dadaismus 1916 in Zürich auf neutralem Boden – zwei Jahre nach Kriegsbeginn. Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erreichte das Töten ein bis dahin nie dagewesenes Ausmaß, das den Glauben an die Werte der Gesellschaft, die das zuließ, grundlegend erschütterte und zu zorniger Ablehnung und Rebellion führte. Dada war eine Form dieses Widerstands und zielte auf die künstlerischen und kulturellen Werte. Die entsetzlichen Kriegsgräuel sahen die Dadaisten als Folge einer bedrückenden Unbeugsamkeit von Gesellschaft und Kultur an. Sie erklärten Kunst und Gesellschaft angesichts der Grausamkeit des Menschen gegen den Menschen für fragwürdig und überflüssig. Bei ihrem Versuch, die traditionellen Werte der Kunst zu zerschlagen, insbesondere die Idealisierung der Vergangenheit, schufen sie bewusst sinnlose Werke, die mit allen tradierten Kunststilen brachen und die Sinnlosigkeit des Krieges zeigen sollten. Die Dadaisten wollten in verschiedener Hinsicht provozieren: Mit ihrer Antikunst verbanden sie ihren Protest gegen Krieg und auch Kapitalismus. Spott und Verachtung Während des Ersten Weltkriegs gingen viele Künstler nach Zürich in der neutralen Schweiz. Bei ihren Treffen und Diskussionen über die Abscheulichkeiten des Krieges und seine Auswirkungen entstand der Dada-Zürich. Zu seinen Gründern gehörten der Schriftsteller Hugo Ball (1886–1927), der Künstler und Dichter Hans Arp (1887–1966), der rumänische Dichter Tristan Tzara (1886–1930) und einige andere. 1916 eröffnete Ball zusammen mit Emmy Hennings (1885–1948), seiner späteren Frau, in Zürich das „Cabaret Voltaire“, einen Zeitleiste 1913 1916 1917 Duchamp stellt seine ersten Readymades aus Beginn der Prohibition in den USA mit Alkoholverbot in 24 Staaten; in Zürich öffnet das „Cabaret Voltaire“ und Hugo Ball verliest das Gründungsmanifest; das erste Heft von Dada erscheint Nach nur einem Jahr muss das „Cabaret Voltaire“ schließen; die Dada-Künstler verlegen ihre Auftritte in ein anderes Lokal; Marcel Duchamp: Fontain Dadaismus ‚ Dada war eine Bombe … Kann man sich irgendjemand vorstellen, der fast ein halbes Jahrhundert nach der Explosion einer Bombe sich damit abgibt, ihre Splitter zu suchen, sie zusammenzusuchen, sie zusammenzukitten und sie zu zeigen? Max Ernst ʻ Treffpunkt für Künstler, die gegen den Krieg und soziale Missstände auftraten. Ihre Veranstaltungen waren laut und stürmisch und brachten neue Formen wie Lautpoesie oder Simultangedicht, verknüpften Redebeiträge mit Tanz und Musik. Man unterstützte die Provokationen von Künstlern und Publikum. 1917 kam die Zeitschrift Dada heraus – der viele Dada-Publikationen folgten. 1917 musste das „Cabaret Voltaire“ schließen, aber die Dadaisten trafen sich weiterhin an neuem Ort. Ball meinte, dass „Kunst nicht Selbstzweck ist … sie ist uns eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahren Zeitempfinden.“ Bald gab es Dada auch in Paris, Berlin, Köln oder New York. Zu den dadaistischen Künstlern gehörten Marcel Duchamp (1887–1968), Francis Picabia (1879–1953), Kurt Schwitters (1887–1948), der bereits als Expressionist erwähnte George Grosz, Max Ernst (1891–1976) und einige andere. In ihrer Absicht zu provozieren mischten die Dadaisten Themen und Materialien neu. Sie veranstalteten außer ihrem Kabarett öffentliche Versammlungen und Ausdruck der Ablehnung „Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutetʼs Steckenpferd. Im Deutschen heißtʼs Addio, steigts mir den Rücken runter. Auf Wiedersehen ein andermal! Im Rumänischen: ‚Ja wahrhaftig, Sie haben recht, so istʼs. Jawohl, wirklich, machen wir.ʻ Und so weiter.“ So steht es im Mani- fest, das am ersten Dada-Abend von Hugo Ball vorgetragen wurde, und weiter heißt es: „Dada Psychologie, Dada Deutschland samt Indigestionen und Nebelkrämpfen, Dada Literatur, Dada Bourgeoisie, ... Dada Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution und kein Anfang …“ 1918 1920 1922 Ende des Ersten Weltkriegs; Tristan Tzara: Dada Manifesto Der Polizeipräsident von Köln versucht, die Dadaisten strafrechtlich zu belangen, weil sie für etwas, das keine Ausstellung gewesen sei, in betrügerischer Absicht Eintritt genommen hätten; Kurt Schwitters: Merz 163 Ende der DadaBewegung 117 118 Herausforderungen und Wandel ‚ Was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, ist, exakt gesprochen, ein aufgebauschtes Nichts. Hugo Ball Demonstrationen, brachten Kunst- und Literaturzeitschriften heraus. Sie setzten Verse, spontanes automatisches Schreiben sowie Collagetechniken in einer kreativen Weise ein, die die Happenings der 1960er Jahre vorwegnahm. Betont wurden dabei das Absurde und die Respektlosigkeit gegenüber der Realität. Angesichts von Millionen gefallener Soldaten sollten durch die Betonung von Spontaneität und Zufall die traditionelle Schönheit und Ästhetik der Kunst zerstört werden. Hans Arp beschrieb die Antikriegshaltung so: „Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin.“ ʻ Unsinn Die Basis des Dadaismus war der Unsinn. Er war kein einheitlicher Stil und umfasste auch nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die darstellende Kunst, Musik und Literatur. Um ihre Ansichten bekannt zu machen, bombardierten die Dadaisten die Öffentlichkeit mit Respektlosigkeiten. In ihrer Auflehnung gegen die bürgerlichen Werte versuchten sie, die etablierte Kunst zu vernichten, und provozierten mit antibürgerlichem und unkonventionellem Verhalten. Sie knüpften zwar an Ideen früherer Kunstrichtungen an – übernahmen etwa vom Kubismus die Collage, vom Film die Fotomontage oder vom Futurismus die Dynamik und Publikumswirksamkeit –, kritisierten aber dennoch die Rolle der Kunst ihrer Zeit. Arp ließ Papierschnipsel auf Karton fallen und klebte sie dort auf, wo sie nach dem Gesetz des Zufalls aufgetroffen waren. Man Ray (1890–1976) fügte Alltagsgegen- Readymades In New York stellte Duchamp „Readymades“ aus, industrielle Gebrauchsgegenstände, die er aus dem Funktionszusammenhang gelöst hatte und nun zu Kunstwerken erklärte – etwa indem er sie auf den Kopf stellte oder mit anderen Gegenständen zusammenfügte. Damit warf er die Frage auf, was Kunst ausmacht, und hebelte die üblichen Kunstkonzepte aus. Die Betrachter mussten Objekte als Kunstwerke akzeptieren, die nichts mit der tradierten Kunst zu tun hatten. Die Auswahl und die Arrangements seiner Readymades spiegeln seinen Sinn für Ironie, Humor und Doppelbödigkeit wider. Readymades wurden später als Alltagsobjekte charakterisiert, die in den Rang von Kunstwerken erhoben wurden, weil ein Künstler sie ausgewählt hatte. Zu Duchamps Readymades gehören beispielsweise ein umgekipptes handelsübliches Urinal, das er seitlich mit „R. Mutt“ signiert und als Fontain (wörtlich: Quelle) betitelt hat, und ein Schneeschieber mit der auf einen Armbruch anspielenden Aufschrift In Advance of the Broken Arm. stände zu Assemblagen (dreidimensionalen Collagen) zusammen. Schwitters gab seinen Collagen aus Zeitungsausschnitten, Reklame und Abfall den Titel Merz – das Wort war ursprünglich ein Ausschnitt aus dem Schriftzug einer Kommerz- und Privatbank und wurde dann mit vielen deutschen Wortassoziationen verbunden. Und Duchamp wurde durch seine Readymades berühmt. Politische Bezüge Dadaismus ‚ Ich habe mich gezwungen, mir selbst zu widersprechen, um zu vermeiden, dass ich meinem eigenen Geschmack nachfolge … Marcel Duchamp ʻ Die Dadaisten waren den Futuristen anfangs freundschaftlich verbunden, aber die Freundschaft endete, als deren extremer Nationalismus und Militarismus erkennbar wurde. Der Dadaismus breitete sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter aus und war in Deutschland und Frankreich (Paris) besonders politisch. In Deutschland richtete sich der Protest gegen die politischen und sozialen Missstände und Krisen der Weimarer Republik und insbesondere gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Zwischen 1918 und 1922 bekam der Dadaismus sogar international neuen Auftrieb. Zu seiner Auflösung führten schließlich Meinungsverschiedenheiten zwischen Tzara, Picabia und André Breton (1896–1966), der als bekannter Literat in Paris den Dadaisten nahestand. Der Dadaismus hatte enormen Einfluss und bildete die Grundlage des Surrealismus. esund geht RebellionWorum gegen Kunst Gesellschaft in und nach dem Ersten Weltkrieg 119 120 Herausforderungen und Wandel 30 Suprematismus (1915--1935) In der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts entwickelten sich verschiedene Kunstrichtungen, die sich der Abstraktion verschrieben. Eine davon leitete sich direkt vom Kubismus und Futurismus ab – sie wurde in Russland von dem Maler und Kunsttheoretiker Kasimir Malewitsch (1879–1935) begründet. „In meinem verzweifelten Bemühen, die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien, floh ich zur Form des Quadrats“, erklärte er. Der geometrische Stil Malewitschs machte ihn zum Avantgardekünstler des frühen 20. Jahrhunderts. Mit der Bezeichnung „Suprematismus“ verband er das „Bemühen, die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien“. Sieg über die Sonne Im Dezember 1915 zeigte Malewitsch erstmals sein suprematistisches Werk in der Letzten futuristischen Ausstellung 0.10 in Petersburg. Unter den 37 abstrakten Bildern, die er zu dieser Ausstellung auslieh, war ein Gemälde von 1913 mit dem Titel Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, das auf den Bühnen- und Kostümentwürfen zur russischen Oper Sieg über die Sonne beruhte. Dieses Gemälde war in der Ausstellung über einer Türe platziert, wo traditionell die Ikonen in den Wohnungen der russischen Familien hingen. Auch die anderen Malewitsch-Bilder in dieser Ausstellung bestanden nur aus Vierecken, Kreisen, Dreiecken oder Kreuzen, die in nur einem Farbton gemalt waren, ganz ohne Abstufungen. Zur 0.10-Ausstellung verfasste Malewitsch die schmale Begleitschrift Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus, in dem er den Fortschritt der Avantgardekunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt. Eine reine Sprache des Malens Malewitsch hatte bereits 1912 Bilder mit kubistischen und futuristischen Stilelementen auf Ausstellungen der Künstlergruppen Der Blaue Reiter und Eselsschwanz in Deutschland bzw. Moskau gezeigt. Mit Zeitleiste 1913 1915 1916 1917 Kasimir Malewitsch entwirft für die futuristische russische Oper Sieg über die Sonne das Bühnenbild und die Kostüme Malewitsch: Schwarzes Quadrat auf weißem Grund; Broschüre Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus Malewitsch erweitert das Suprematistische Manifest Russische Revolution Suprematismus der Reduktion der Bildelemente auf einfache geometrische Formen und monochrome Flächen glaubte er, das Höchste an künstlerischem Ausdruck erreicht, und die Malerei von jeder politischen oder sozialen Bedeutung oder Verbindung befreit zu haben. Statt darzustellen, was sie um sich herum sahen, eliminierten die Suprematisten alles Sinnträchtige, Symbolische oder … nur die Nacht habe Narrative und verdichteten alle Elemente zu den einfachsten und ich empfunden, und in reinsten Formen. So erreichten sie am Ende das, was sie für eine ihr habe ich das Neue neue kreative Realität hielten. Wie der Kubismus und Futurismus war auch Malewitsch durch erblickt, das ich Suprematismus die Kunst der Naturvölker beeinflusst, ohne jedoch den Bezug nannte. zur Umwelt mit diesen Stilen zu teilen. Er ließ sich auch von Mathematik, Philosophie und den Vorstellungen zur „vierten Kasimir Malewitsch Dimension“ leiten. Seine Formen, Linien und Farben scheinen vor der Leinwand zu schweben, abgelöst von jedem erkennbaren gegenständlichen Bezug zum Leben. Indem er die Betrachter, die Darstellungen von Dingen oder etwas Wiedererkennbares erwarteten, enttäuschte, brach er mit Konventionen. Er glaubte an die reine Sprache der Malerei, drückt sie doch die innere Erregung des Künstlers aus. ‚ ʻ Kasimir Malewitsch Malewitsch hat die Farbe Weiß einmal als Farbe der Unendlichkeit bezeichnet. Seine weißen Hintergründe sollten Raum, Entfernung und Dauerhaftigkeit andeuten. Indem er seine Palette auf wenige Farben beschränkte, hob er die Einfachheit der Formen hervor, die wie zufällig auf der Leinwand verstreut wirken. Diese abstrakten, flachen Formen vermeiden jeglichen Anschein von Bezügen zur Umwelt des Betrachters und ermutigen ihn, sich gedanklich von allen Erwartungen frei zu machen und jenseits von Bewusstsein und Gedächtnis das Bild auf sich wirken zu lassen. Alle seine Bilder wurden mit Linienraster komponiert. Den Eindruck von Bewegung erreichte er mit Diagonalen, Drehung der Winkel und unregelmäßiger Platzierung der Formen. 1918 1922 1923 1932 Ermordung von Zar Nikolaus II. (1868–1918) durch die Bolschewiken; Malewitsch: Suprematistische Komposition; Weiß auf weiß El Lissitzky: Proun 19D Ilya Tschaschnik (1902–1929): Suprematistische Komposition; Iwan Kljun (1873–1943): Sphärische Komposition Der Sozialistische Realismus wird vom Zentralkomitee der KPdSU als offizieller Kunststil verordnet, abstrakte Kunst streng verboten 121 122 Herausforderungen und Wandel Die russische Revolution Malewitsch sprach von einer „Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst“. Es ist kein Zufall, dass sich diese revolutionäre Kunstrichtung kurz vor der Russischen Revolution von 1917 entwickelte: Malewitsch und seine Anhänger unterstützten die Revolution und begründeten den Suprematismus mit idealistischen Prinzipien – im Glauben, eine neue Gesellschaft mitgestalten zu können, in der statt Habgier geistige Freiheit herrscht. Mit dem Versuch, alle gegenständlichen Bezüge zur Umwelt zu löschen, wollten die Suprematisten in einer Gesellschaft, die ethische Werte und Prinzipien kaum mehr beachtete, Reinheit erreichen. Malewitsch war nicht religiös, aber er hielt seinen künstlerischen Ansatz für spirituell. Kasimir Malewitsch: Suprematistische Komposition, 1915, Öl auf Leinwand. Universelle Kunst Malewitsch arbeitete ab 1916 an einer erweiteren Fassung seines Begleittexts zur 0.10Ausstellung von 1915 unter dem Titel: Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus: Der neue malerische Realismus – seinem „Suprematistischen Manifest“. Malewitsch erläutert darin, dass er mit dem Schwarzen Quadrat die „Null der Formen“ und eine neue Sprache in der Kunst geschaffen habe, die alle früheren Konventionen aufgibt. Er erklärt auch die drei Entwicklungsstufen des Suprematismus: Die Malerei beginnt mit Schwarz, dann folgt Farbe und zuletzt kommt Weiß. Zum dritten Stadium gehören seine Weiß-auf-weiß-Bilder von 1918, in denen die Farbe völlig verschwunden ist und nur noch geometrische Formen sichtbar sind. Der Suprematismus beruhte teilweise auf universellen Ideen, war zugleich aber auch eine von westeuropäischen Traditionen unabhängige russische Entwicklung. Die Anlehnung an die russische Ikonenmalerei war ein bewusstes Anknüpfen Suprematismus ‚ Das schwarze Quadrat auf dem weißen Feld war die erste Ausdrucksform der gegenstandslosen Empfindung: das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld = das Nichts außerhalb dieser Empfindung. Kasimir Malewitsch ʻ an eine alte Tradition, die in Russland fest Gruppe UNOWIS verwurzelt und bewundert war. Bei seinen 1915 begann Malewitsch mit anderen Künstersten suprematistischen Bildern malte Malelern zusammenzuarbeiten, die sich 1920 zur witsch schwarze Figuren wie Kreuz oder Kreis auf weißen Grund nach den KomposiGruppe UNOWIS (Bestätiger der neuen Kunst) tionsregeln der Ikonen, die die Hauptfigur in zusammenschlossen. Darunter waren El Lisder Bildmitte zeigen, oft vor einem ebenfalls sitzky (1890–1941), Ljubow Popowa (1889– zentralen Kreuz im Hintergrund oder einem 1924), Olga Rosanowa (1886/87–1918), Alekreisförmigen Heiligenschein. xandra Exter (1882–1949) und einige andere. Malewitsch arbeitete 1922 mit anderen Sie diskutierten bei ihren Treffen ihre WeltanSuprematisten an dreidimensionalen Werken. schauungen und ihre Überzeugung, dass der 1927 erschien sein Bauhaus-Buch Die gegenSuprematismus die Welt verbessern helfen standslose Welt, in dem er seine Theorie der würde. abstrakten Kunst und die Entstehung von Schwarzes Quadrat auf weißem Grund darlegt. Nach dem Aufstieg Stalins im Jahr 1924 und der Proklamation des Sozialistischen Realismus im Jahr 1932 wurde der Suprematismus in der Sowjetunion unterdrückt, blieb aber international wegweisend in Kunst, Architektur und Design. Worum es geht und Befreiung von der Kunsttradition Kreierung einer „neuen Sprache“ 123 124 Herausforderungen und Wandel 31 Konstruktivismus (1917--1934) Die Geschichte der avantgardistischen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts in Russland lässt sich nicht leicht nachverfolgen, denn viele Kunstwerke und Dokumente zum Konstruktivismus und Suprematismus wurden nach der Russischen Revolution zerstört. Aber einige der ursprünglichen Ideen haben Kunst, Architektur und Design nachhaltig verändert. Mit der Abdankung von Nikolaus II. endete 1917 in Russland die autokratische Zarenherrschaft in den Wirren des Ersten Weltkriegs. Nach Kriegsende und nach der Russischen Revolution war die Welt 1918 unumkehrbar eine andere geworden. Zudem veränderten auch technische Innovationen wie die Fließbandproduktion bei Ford, Rolltreppen, Staubsauger, Glühlampen oder die Farbfotografie den Alltag der Menschen. Negativer Raum Der Konstruktivismus war wie der Suprematismus vom Kubismus und Futurismus sowie vom Neoplastizismus inspiriert, besonders aber von kubistischen Skulpturen. 1913 kam der russische Künstler Wladimir Tatlin (1885–1953) nach Paris und lernte dort Picasso und seine kubistischen Experimente mit dreidimensionalen Collagen und Assemblagen kennen. Überzeugt davon, dass Kunst die moderne Welt der Industrie widerspiegeln müsse, begann er nach seiner Rückkehr nach Russland, aus verschiedenen Werkstoffen und Schrottteilen abstrakte plastische Reliefs zu konstruieren. Dabei war für ihn von Anfang an der ausgesparte (negative) Raum innerhalb und außerhalb dieser Objekte so wichtig wie deren Struktur selbst. Zwischen 1913 und 1917 schuf Tatlin also zunächst Bildreliefs („Kontra-Reliefs“) und dann Konstruktionen ohne Bezug zu bestimmten Gegenständen oder Themen. Ab 1915 arbeitete er mit Alexander Rodtschenko (1891–1956) zusammen. Beide schufen rein abstrakte geometrische Konstruktio- Zeitleiste 1914 1917 1918 Wladimir Tatlin beginnt, aus Werkstoffen und Werkstücken abstrakte Skulpturen zu schaffen Nach der Oktoberrevolution wird die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, Vorläuferin der UdSSR, gegründet; Naum Gabo: Konstruktiver Kopf Der Konstruktivismus wird von der sowjetischen Regierung unterstützt Konstruktivismus nen, die den Einfluss des Kubismus, Futurismus, Suprematismus und Neoplastizismus erkennen lassen. Zwei Standpunkte Unmittelbar nach der Russischen Revolution rückten weitere russische Künstler in den Blickpunkt. Die Brüder Naum Gabo (1890– 1977) und Antoine Pevsner (1884–1962) kehrten beide 1917 nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Westeuropa zurück; Kandinsky war bereits seit 1914 aus München zurück. Alle diese Künstler drückten in ihren Werken trotz schwieriger Umstände revolutionäre Ideale aus – in unterschiedlichen Vorstellungen und Deutungen. Der von Pevsner geprägte Begriff „Konstruktivismus“ setzte sich 1920 allgemein durch, wurde allerdings schon davor verwendet. Zur Idee des Konstruktivismus gab es zwei verschiedene Einstellungen: Die erste entsprach Tatlins Ansicht, dass Kunst einem sozialen Zweck diene und jeder Künstler seine individuellen Interessen zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellen müsse. Er strebte nach neuen Formen mit neuen Materialien, die ihm für die neue soziale Ordnung angemessen schienen. Die zweite Einstellung ergab sich aus Kandinskys und Malewitschs Überzeugung, dass Kunst im Grunde eher eine persönliche als eine öffentliche Angelegenheit sei, egal wie allgemeingültig ihr letzter Zweck auch sein möge. Den moralisch und spirituell gefärbten Standpunkt unterstützten später auch Gabo und Pevsner in ihren Kommentaren, und er blieb ein wichtiger Aspekt in der späteren abstrakten Kunst. Die politischen Unruhen in Russland Die russische Avantgardekunst blühte im Jahr 1917 auf, als der Zar im März abdankte und die demokratische Übergangsregierung Kerenskis im Herbst abgesetzt wurde, also während des Weltkriegs und des Bürgerkriegs zwischen Weißer und Roter Armee. Viele russische Intellektuelle und Künstler kamen nach dem Sieg der Bolschewisten in den neuen Institutionen unter. Der Konstruktivismus galt als progressiver Stil einer neuen Denkungsart, der Unterstützung verdiente. 1920 1921 1924 1932 Tatlin: Monument für die Dritte Internationale Erste konstruktivistische Kunstausstellung in Moskau; Lenin führt die Neue Ökonomische Politik ein Tod Lenins und Stalins Übernahme der Führung in der Kommunistischen Partei Der Sozialistische Realismus wird als offizielle Kunstrichtung eingeführt 125 126 Herausforderungen und Wandel Geometrische Abstraktion In Berlin lernte der aus Ungarn stammende Maler László Moholy-Nagy (1895– 1946) Anfang der 1920er Jahre Avantgardekunst verschiedener Richtungen kennen, darunter auch Beispiele des russischen Suprematismus und Konstruktivismus. Über einige Monate experimentierte er mit Fotografien und gestaltete dann auch in seinen Gemälden Architektur und Maschinen zunehmend abstrakt im Stil des Konstruktivismus. Dabei reduzierte er die Objekte auf ihre Grundelemente: Farbflächen, geometrische Formen und einfache Linien. Er unterrichtete später am Bauhaus (vgl. S. 132–135) und verbreitete den Stil dadurch weltweit. Experimentelle und gegenständliche Themen Der Konstruktivismus war eine Reaktion auf die Veränderungen in Technik und Alltagsleben und zielte auf eine Modernisierung von Kunst, Design und Architektur. Gabo und Pevsner beteiligten sich nach ihrer Rückkehr nach Russland daran, indem sie noch mehr bildhauerische Elemente und weitere Bezüge zu Architektur, Maschinen und sonstiger Technik einführten. Auch Kandinsky engagierte sich hier, während Tatlin diese Sicht zu stark im Mystizismus verhaftet schien, um noch so objektiv sein zu können, wie er es für angemessen hielt. Weitere Künstler, die sich dem Konstruktivismus anschlossen, waren Ljubow Popowa, Ich meine, dass diese Alexander Wesnin (1883–1959), Rodtschenkos spätere Ehefrau Bilder die Realität Warwara Stepanowa (1894–1958), Alexej Gan (1889–1942) und selbst sind. Ossip Brik (1888–1945). 1922 erschien Gans Buch KonstruktiNaum Gabo vismus, das im Grunde ein Manifest dieser Kunstrichtung ist. Von 1918 bis 1928 herrschte in Russland Krisenzeit mit einigen Wechseln in der Regierung. Der offizielle Widerstand gegen die progressive Kunst verstärkte sich. Viele neue Kunstschulen, Künstlerorganisationen und Museen wurden in schnellem Wechsel geplant, zusammengeführt und wieder aufgelöst. Die Ideen des Konstruktivismus breiteten sich über Holland und Deutschland jedoch international aus und wurden weltweit populär. Die Idee der Abstraktion erschien all denen frisch und zukunftsweisend, die die alte Gesellschaft satt hatten, der sie den Horror der Kriegsjahre zuschrieben. Mit seinen Reliefs und Skulpturen, seiner kinetischen Kunst und seiner Malerei galt der Konstruktivismus, der gerne experimentierte, Emotionen von sich wies und alles auf die wesentlichen Elemente herunterbrach, als fortschrittlich und modern. Oft wurden neue oder unübliche Materialien verwendet, und der methodische Ansatz stand für die Haupt- ‚ ʻ Konstruktivismus ‚ Wir wissen nur, was wir tun, was wir machen, was wir konstruieren; und alles, was wir machen, alles, was wir konstruieren, sind tatsächliche Gegebenheiten. Naum Gabo ʻ absicht der Künstler, weltweit Frieden und Harmonie zu fördern und all das zu meiden, was zur Entstehung des Ersten Weltkriegs geführt hatte. Tatlins Turm Während seiner Tätigkeit als Leiter des Moskauer Kommissariats für Volksaufklärung bekam Tatlin den Auftrag, Monumente zum Ruhm der russischen Erfolge zu schaffen. So entstand von ihm unter anderem ein Modell für ein geplantes Monument für die III. Internationale (1919/20). Dieser Tatlin-Turm sollte eine Konstruktion aus Eisen, Glas und Stahl werden. Daran sollten vier große geometrische Elemente aufgehängt sein, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten drehen. Ein paar Jahre später entschied die sowjetische Regierung, dass sich der Konstruktivismus nicht für Propagandazwecke eigne. 1934 schließlich wurde er von Stalin, seit 1924 unangefochtener Führer der Kommunistischen Partei, verdammt. Die Ideen des Konstruktivismus haben aber weiterhin die Entwicklung von Kunst, Design und Architektur in der gesamten westlichen Welt geprägt. Worum esverschiedener geht Zusammenfügung Materialien zu masselosen Raumkonstruktionen 127 128 Herausforderungen und Wandel 32 Neoplastizismus (1917--1931) Den Begriff „Néo-Plasticisme“ verwendete 1920 der niederländische Avantgardekünstler Piet Mondrian (1872–1944) zur Beschreibung seines bahnbrechenden Malstils, der durch geometrische Formen, Grundfarben und ineinandergreifende Flächenraster gekennzeichnet ist. Der Name bürgerte sich schnell für eine niederländische Gruppe von Künstlern, Architekten und Designern ein, die sich „De Stijl“ nannte. Der Name „Neoplastizismus“ geht auf die holländische Bezeichnung de nieuve beelding zurück, die wörtlich „neue Gestaltung“ (in der bildenden Kunst) bedeutet. Er wurde von Mondrian ursprünglich zur Charakterisierung seiner abstrakten Gemälde vor dem Hintergrund seiner weltanschaulichen Ideale verwendet, dann aber auch auf die Werke anderer Künstler, Designer und Architekten erweitert. Die Bezeichnungen „Neoplastizismus“ oder „neue Gestaltung“ drücken das Neue aus, das in der abstrakten Realität hinter den Bildern liegt – mit einer Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit hatte Mondrian gebrochen. De Stijl Als Mondrian 1911 aus den Niederlanden nach Paris kam, fesselten ihn die Arbeiten der Kubisten. Aber trotz dieser Bewunderung ging ihm der Kubismus nicht weit genug. Er war von den geheimnisvollen religiösen Lehren der Theosophie beeindruckt und wollte seine Kunstvorstellungen mit deren spirituellen Überzeugungen verbinden. Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, ging er zurück in die Niederlande, wo er den Maler, Architekten und Schriftsteller Theo van Doesburg (1884–1931) und den Maler Bart van der Leck (1876–1958) traf. Drei Jahre später gaben Mondrian und van Doesburg die Zeitschrift De Stijl (Der Stil) heraus, in der sie ihre Kunsttheorien und insbesondere Mondrians Ideen zum Neoplastizismus publizierten. Im Grunde hofften sie, eine neue internationale Kunst zu schaffen, die Frieden und Harmonie verbreitet. Ähnlich denkende Künstler kamen hinzu, und bald stand der Name „De Stijl“ ebenso für die Gruppe wie für die Zeitschrift. Zu Zeitleiste 1913 1914 1917 Piet Mondrian: Komposition Nr. II; Komposition mit Linie und Farbe – eines seiner ersten wirklich abstrakten Werke Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt Mondrian in die Niederlande zurück Van Doesburg und Mondrian bringen die erste Ausgabe von De Stijl in den Niederlanden heraus; van Doesburg: Komposition (Die Kuh); Gerrit Rietveld: Rot-Blauer Stuhl – die erste Design-Anwendung des Neoplastizismus Neoplastizismus Die Geometrie der neuen Gestaltung Mondrian und die anderen Neoplastizisten reduzierten alle bildlichen Gestaltungselemente auf gerade Linien unterschiedlicher Breite, die auf weißem Grund ein Raster aus Rechtecken und Quadraten bilden. Außerdem beschränkten sie ihre Palette auf die Primärfarben und die unbunten Farben Schwarz, Weiß und Grau, um Darstellung der Wirklichkeit zu vermeiden und statt- dessen das Wesen universellen Gleichklangs und Gleichgewichts zu vermitteln. Indem sie nur gerade Linien und geometrische Felder verwendeten, die in reinen, neutralen Farben gemalt sind, ließen sie alle Nebensächlichkeiten weg und erreichten eine Darstellung universeller Ordnung statt eine der gegenständlichen Welt. Dieses Bild mit vertikalen und horizontalen Linien, die Flächen in verschiedenen Farbtönen umschließen, wurde Mondrian nachempfunden. 1919 1922 Nach Ende des Ersten Weltkriegs geht Mondrian zurück nach Paris, arbeitet weiter im Stil des Neoplastizismus und korrespondiert regelmäßig mit van Doesburg Van Doesburg unterrichtet am Bauhaus in Weimar eine Architekturklasse im Sinn von De Stijl und Neoplastizismus 129 130 Herausforderungen und Wandel den ursprünglichen Mitgliedern gehörten neben van Doesburg, van der Leck und Mondrian der belgische Maler und BildDie Theosophie kam gegen Ende des 19. Jahrhauer Georges Vantongerloo (1886–1965), hunderts in New York auf, benannt nach dem der ungarische Architekt und Designer Vilgriechischen Ausdruck für „göttliche Weisheit“. mos Huszár (1884–1960) und die holländiSie ist zwar keine Religion im eigentlichen schen Architekten J. J. P. Oud (1890– Sinne, aber sie sieht in allen Religionen wahre 1963), Robert van ‘t Hoff (1887–1979) und Elemente. Es handelt sich um eine philosophiJan Wils (1891–1972). Die Gruppe erweische Bewegung, die verschiedene Glaubensterte sich schnell. All diese Künstler meinsysteme verbindet und darin eine grundleten, dass der Kubismus bei der Entwickgende universelle Harmonie sucht. Die Theolung der Abstraktion nicht weit genug gehe sophie glaubt an die Identität aller Seelen, die und dass der Expressionismus zu subjektiv sieben Wesensmerkmale teilen, und kennt sei. Sie standen auch unter dem Einfluss keinen Unterschied zwischen Volksgruppen, des russischen Konstruktivismus und Religionen, Geschlechtern, Klassen oder HautSuprematismus. Die Vorstellungen hinter farben. seiner Kunst erläuterte Mondrian in den ersten elf Ausgaben von De Stijl unter dem Titel Die neue Plastik in der Malerei und 1920 in seinem Buch Le Néo-Plasticisme, das auf Deutsch unter dem Titel Neue Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe Beelding erschien. Theosophie Universelle Harmonie Mondrian trat 1909 der holländischen Theosophischen Gesellschaft bei. Für die Zielsetzungen des Neoplastizismus war eine spirituelle Grundhaltung wesentlich, die auf den idealistischen und anti-materialistischen Vorstellungen der Theosophie beruhte. Mondrian glaubte, dass er eine Kunst im Gleichgewicht schaffen könne, die Ideen universeller Harmonie möglichst klar ausdrückt, indem er alles um uns herum auf die reinsten Formen zurückführte und nur noch reine Elemente verwendete. Seine Linienraster sind das Ergebnis einer sorgsamen Befreiung der Bilder vom Unwesentlichen, um die Zeitlosigkeit und die spirituelle Ordnung des Universums aufzudecken. Entsprechend Die reine plastische bestand er darauf, dass ein Bild weder Zentrum noch FluchtSicht muss eine neue punkt haben darf und dass die Ränder genauso wichtig sind wie der Rest, so dass der Betrachter das gesamte Bild ausloten muss Gesellschaft aufbauen, und sich nicht nur auf einen besonderen Bereich konzentrieren wie sie in der Kunst eine kann. Das Geflecht aus horizontalen und vertikalen Linien neue Gestaltung schafft mit seinen entgegengesetzten Kräften ein dynamisches aufgebaut hat. Gleichgewicht und den Eindruck von Ruhe und Stabilität ohne Piet Mondrian Missklang. ‚ ʻ Neoplastizismus Neoplastizismus in der angewandten Kunst Die vollständig abstrakten Bilder des Neoplastizismus beruhen auf einer Reduktion der Formen und Farben auf ihre einfachsten und grundlegendsten Formen, wie sie im November 1918 in den acht Punkten eines Manifests beschrieben wurde, das die Künstlergruppe in De Stijl abdruckte. Es wurde in niederländischer, englischer, französischer und deutscher Sprache europaweit verbreitet. Ein Jahr darauf stieß der Architekt und Designer Gerrit Rietveld (1888–1964) zur Gruppe – was bedeutsame Folgen für die Entwicklung und Produktion des Neoplastizismus Diese neue Kunst wird hatte. Rietfelds Rot-Blauer Stuhl mit seinem schwarzen Holzgeihren Ausdruck in der stell, der roten Lehne und dem blauen Sitz war in Grundfarben Abstraktion von Form gestaltet – und die erste Anwendung des Neoplastizismus im und Farbe, das heißt in Kunsthandwerk. ‚ der geraden Linie und Die Auswirkungen des Neoplastizismus Der Neoder klar definierten plastizismus endete 1931, als van Doesburg in Paris eine neue Primärfarbe finden. Künstlergruppe unter dem Namen „Abstraction-Création“ ins Piet Mondrian Leben rief. Er starb ein Jahr später, und 1932 erschien die letzte Ausgabe von De Stijl, die seinem Gedenken gewidmet war. Der Neoplastizismus und De Stijl haben die Entwicklung des Bauhauses und den internationalen Architekturstil sowie viele andere Kunstrichtungen der Moderne des 20. und 21. Jahrhunderts beeinflusst. Mondrian hat seine Vorstellungen zu reinen Farben und Formen weiterentwickelt, seine kompromisslosen Abstraktionen gelten als Höhepunkte der Avantgardekunst. Nach 1938 lebte er in London und ging 1940 in die USA. Als einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts hat er Generationen von Künstlern und Designern beeinflusst. ʻ Worum esAbstraktion geht auf Reine geometrische theosophischer Grundlage 131 132 Herausforderungen und Wandel 33 Bauhaus (1919--1933) 1919 gründete der Architekt Walter Gropius (1883–1969) das Staatliche Bauhaus in Weimar, das die dortige Kunsthochschule und die Kunstgewerbeschule vereinigte. Ähnlich wie bei der Arts-and-Crafts-Bewegung sollten bildende und angewandte Kunst zusammengeführt werden. Aber anders als die britische Bewegung setzte das Bauhaus auf die maschinelle Produktion. Als Gropius zum Leiter der fusionierten Kunsthoch- und Kunstgewerbeschule in Weimar berufen wurde, wählte er für die neue Institution den Namen „Bauhaus“ – ein Haus, in dem es um das Bauen geht. Weimar stand für neue soziale und politische Ideen, die unter Führung der Sozialdemokraten in die Weimarer Verfassung geschrieben worden waren. Revolutionärer Unterricht Die Arts-and-Crafts-Bewegung war im ausgehenden 19. Jahrhundert in England von sozialen Ideen inspiriert und förderte eine enge Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Handwerkern, die Alltagsgegenstände einfach und unverschnörkelt gestalten sollten. Das führte zu weitreichenden Veränderungen im Design. In Deutschland wurde 1907 als „Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“ der Deutsche Werkbund gegründet, in dem Gropius maßgeblich mitarbeitete. Zwölf Jahre später führte er das Bauhaus und organisierte die Schule nach seinen radikalen Vorstellungen mit einer neuen Zielsetzung. In dem Bestreben, Kunst, Architektur, Handwerk, Design und Industrie zusammenzubringen, strukturierte er seine Schule anders als herkömmliche Kunstschulen. Schnell wurde das Bauhaus durch seine revolutionären Unterrichtsmethoden und seine avantgardistischen Lehrer und Studenten in Kunst- und Designerkreisen berühmt. Zu den Lehrern gehörten unter anderem Paul Klee, Lionel Feininger, Johannes Itten (1888–1967), Marcel Breuer (1902–1981), Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), Josef Albers (1888–1969) und Kandinsky. Zeitleiste 1919 1920 1921 1925 Walter Gropius gründet das Bauhaus in Weimar Gunta Stölzl beginnt, am Bauhaus zu unterrichten Paul Klee und Wassily Kandinsky kommen ans Bauhaus; Marcel Breuer wird dort Student Marcel Breuer beginnt, am Bauhaus zu unterrichten; Marianne Brandt gestaltet ihre silberne Teekanne; Herbert Bayer entwirft die serifenlose Schrift „Universal“; Umzug des Bauhauses nach Dessau Bauhaus Zusammenwirken von Kunst und Industrie Am Bauhaus lernten die Stu- Drei Standorte denten sowohl die Theorie als auch die Das Bauhaus hatte in Deutschland drei StandAnwendung von Kunst und Design, um einorte: Es wurde 1919 in Weimar gegründet, zog mal Produkte schaffen zu können, die sowohl dann aber 1925 nach Dessau um, als das Land künstlerischen als auch kommerziellen Thüringen nach dem Wahlsieg der RechtskonAnsprüchen genügen. Gropius stellte sich servativen aus politischen Gründen die Mittel eine Gemeinschaft von Lehrern und Schülern kürzte und die Industriestadt Dessau in Sachvor, die gleichberechtigt miteinander leben sen-Anhalt bessere Möglichkeiten bot. Hier entund arbeiten sowie die Kluft zwischen Kunst stand der von Gropius entworfene moderne und Industrie überbrücken. Dabei haben die Komplex aus Lehr-, Werkstätten- und WohngeIdeale des Gründers der Arts-and-Craftsbäuden in Glas, Stahl und Beton. Als 1932 in Bewegung, William Morris’ (1834–1896), Dessau die Nationalsozialisten den GemeindeGropius bei der Planung seiner Schule beeinrat dominierten, wich das Bauhaus nach Berlin flusst. Aber in vieler Hinsicht war das Bauaus, wo es 1933 endgültig von den neuen haus auch ein Gegenentwurf zur älteren Machthabern geschlossen wurde. Bewegung, weil es auf die von Arts and Crafts abgelehnte Maschinenkultur und Massenproduktion ausgerichtet war. Das Bauhaus war die erste moderne Schule, die bildende und angewandte Kunst verband. Leitend war der Ansatz, dass das Handwerk die Grundlage jeder Form von Kunst ist. Alle Studenten durchliefen einen sechsmonatigen Grundkurs, in dem sie mit einem breiten Bereich von praktischen und theoretischen Fertigkeiten in Kunst, Handwerk und Gestaltung vertraut gemacht wurden. Es folgten drei Jahre, in denen die Studenten sich auf einzelne Gebiete spezialisierten und von zwei Lehrern betreut wurden, einem Künstler und einem Handwerker. Zu diesen Gebieten gehörten Metallbearbeitung, Kunstschreinerei, Weben, Töpferei, Malerei, Typografie, Fotografie, Druck und Bildhauerei sowie etwas später Architektur. Alle Studenten ‚ Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! […] Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Walter Gropius ʻ 1926 1928 1930 1933 Einweihung des neuen, von Gropius entworfenen Bauhausgebäudes in Dessau; Marcel Breuer entwirft einen Stuhl aus Stahlrohr Hannes Mayer wird Direktor des Bauhauses Mies van der Rohe wird Direktor des Bauhauses, das nun nach Berlin umzieht Das Bauhaus wird von den Nazis geschlossen 133 134 Herausforderungen und Wandel ‚ Design ist eine lernten schließlich, funktionale Dinge zu entwerfen, bei denen sie die Massenproduktion im Blick haben sollten. Das Zusammenwirken von Haltung. László Moholy-Nagy Kunst und Industrie gehörte zu den Grundsätzen des Bauhauses. ʻ Diktatur und Marketing Das Bauhaus hatte drei Standorte und drei Direktoren, die alle Architekten waren: Walter Gropius (1919–1928), Hannes Meyer (1928–1930) und Ludwig Mies van der Rohe (1930–1933). Die Wechsel führten jeweils zu Modifikationen des Curriculums, des Lehrkörpers und der Schulpolitik. So wurde die Töpferei nach dem Umzug nach Dessau nicht mehr fortgeführt. Gleichwohl änderten sich die Bauhaus-Grundsätze nicht in der Sache. Als Ideale galten Einfachheit der Gestaltung und Funktionalität, und man glaubte immer daran, dass auch schön gestaltete Dinge in Massenproduktion hergestellt werden können. Der Ruf der Schule verbreitete sich dank eines ausgefeilten Marketings sehr schnell. Die Typografie gehörte zu den besonders beliebten Fächern und wurde unter der Leitung von Künstlern wie dem Maler László Moholy-Nagy und dem Gebrauchsgrafiker Herbert Bayer (1900–1985) immer wichtiger. Gropius beauftragte Bayer 1925 mit dem Entwurf einer Schrift für alle Bauhaustexte und -werbemittel. Dieser kreierte eine einfache, serifenlose Schrift ohne Großbuchstaben, die für die moderne Typografie bahnbrechend wurde. Als 1928 Hannes Meyer (1889–1954) Nachfolger von Gropius wurde, schaffte er Teile des Curriculums ab, die er für zu formal hielt. Er stellte zudem die soziale Funktion von Kunst und Design in den Mittelpunkt. 1930 gab er die Schulleitung unter dem Druck der zunehmend rechtsgerichteten Landesregierung an den Architekten Mies van der Rohe ab. Auch Mies änderte das Curriculum und gab der Architektur mehr Gewicht. Die zunehmend instabilen politischen Verhältnisse und die damit verbundenen Finanzierungsprobleme veranlassten ihn zu einem Umzug nach Berlin, wo das Bauhaus in reduzierter Form von 1930 bis zu seiner Schließung durch die Nazis im Jahr 1933 weiterarbeitete. Viele seiner Lehrer emigrierten schließlich nach England und in die USA, wo sie ihre Vorstellungen an eine neue Generation von Künstlern und Architekten weitergaben. Das Bauhaus-Ethos eines guten, funktionalen Designs gehört zu den wichtigsten Prinzipien des 20. Jahrhunderts. Bauhaus Bauhaus-Architektur Als das Bauhaus nach Dessau umzog, entwarf Gropius einen Gebäudekomplex, der ganz seine Vorstellungen verkörpert. Nach einer Bauzeit von nur 13 Monaten bot es den Lehrern und Studenten eine ideale Arbeitsumgebung. Moderne Werkstoffe und Verfahren wurden genutzt: Stahlträger und Stahlbeton ermöglichten große Glas- fenster und Flachdächer. Die Anlage ist ein Komplex aus drei Flügeln, die Schule und Verwaltung, Werkstätten und Ateliers beherbergten. Das immer noch berühmte und einflussreiche Dessauer Gebäude ist ein Meilenstein in der modernen Architektur. Das von Gropius entworfene Bauhaus in Dessau, 1926. Worum es geht Integration von Kunst und Handwerk bei der Gestaltung moderner, funktionaler Objekte 135 136 Herausforderungen und Wandel 34 Pittura Metafisica (1917--1920er Jahre) Als Reaktion gegen Kubismus und Futurismus wurde 1917 in Italien die Pittura Metafisica von Giorgio de Chirico (1888–1978) eingeführt, und auch der Futurist Carlo Carrà (1881–1966) griff diese „metaphysische Malerei“ auf. Beide malten traumähnliche, widersprüchliche Bilder, die unwirklich aussehen. Mit unerwarteten Gegenüberstellungen und dramatischen Perspektiven sollten diese Gemälde mit dem Unterbewussten spielen. Bevor de Chirico Maler wurde, absolvierte er eine akademische Ausbildung zum Ingenieur. Als er 23 war, hatte er bereits in Athen, Florenz und München gelebt, in diesen drei Städten auch Kunst studiert. In München las er die philosophischen Werke von Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Otto Weininger (1880–1903) und setzte sich mit den Werken der symbolistischen Maler Arnold Böcklin (1827–1901) und Max Klinger auseinander. In Florenz malte er eine Serie von metaphysischen Stadtplätzen, die den Einfluss von Philosophie, Symbolismus und italienischer Architektur widerspiegeln. Danach malte er bizarre Stadtlandschaften aus einer anderen Welt. Gespenstisch und außerirdisch Zwischen 1911 und 1915 lebte de Chirico in Paris. Vielen der Avantgardebewegungen wie Kubismus oder Futurismus stand er gleichgültig gegenüber, aber er bewunderte Künstler, die immer noch realistische Elemente in ihre Bilder einbezogen. Seit Beginn seines Kunststudiums hatte er immer gegenständlich gemalt. Als er seine Werke im „Salon d’Autumne“ und im „Salon des Indépendants“ ausstellte, wurden seine Bilder nicht von allen wohlwollend aufgenommen, aber einige waren begeistert, darunter Picasso, Apollinaire und der Kunsthändler Paul Guillaume (1891–1934). Als de Chirico im Mai 1915 nach Italien zurückehrte, wurde er als für den Dienst bei der italienischen Armee untauglich eingestuft und konnte die Kriegsjahre in Zeitleiste 1906 1910 1913 Giorgio de Chirico geht nach München und entdeckt dort für sich die Werke von Böcklin, Klinger, Nietzsche, Weininger und Schopenhauer De Chirico kehrt nach Mailand zurück und geht dann nach Florenz, wo er bedrohlich wirkende italienische Plätze auf die Leinwand malt De Chirico nimmt nach zwei Jahren Parisaufenthalt am „Salon des Indépendants“ und am „Salon dʼAutumne“ teil; Apollinaire beschreibt de Chiricos Werk als „metaphysisch“; de Chirico: Die Unsicherheit des Dichters Pittura Metafisica Ferrara mit Malen zubringen, bevor er 1918 nach Rom umzog. Seine damaligen Bilder zeigen unlogische, aber aussagestarke Szenen, die gespenstisch und alptraumähnlich wirken. Mit klarer Perspektive, Schlagschatten, geheimnisvollen Figuren und verfremdetem Licht scheinen die abgebildeten Örtlichkeiten zeitlos erstarrt, wie eingefroren im Moment. Metaphysische Gemälde wirken generell statisch, ruhig und oft bedrohlich. Sie inszenieren Architektur der Antike oder der Renaissance mit übertriebener Perspektive und widersprüchlichen Elementen in unwirklicher Dramatik. Viele metaphysische Bilder enthalten unerwartete und unlogische Gegenstände, die insgesamt eine befremdliche Empfindung auslösen. Visionäre Kunst Mit ihren eindringlichen und verwirrenden Bildern glaubten die metaphysischen Maler tiefer liegende Dimensionen freizulegen und hinter die sichtbare Oberfläche des Alltagslebens vorzustoßen. Damit wollten sie den Betrachter anregen, hinter dem äußeren Erscheinungsbild die Rätsel und Geheimnisse zu suchen, die überall um uns sind. Viele Bilder zeigen einsame, verlassene Stadtplätze oder bedrückend geschlossene Räume. Die Gebäude und Figuren stehen starr und still, werfen lange, dunkle Schatten; weit entfernt fahren Züge; auf den menschenleeren Straßen zeigen Uhren die Zeit. Nie gibt es einen Hinweis auf den genauen Ort, aber die Bilder berühren das Unbewusste und erzeugen beim Betrachter eine Ahnung und Spannung. Die metaphysischen Maler wollten die Aufmerksamkeit auf das Geheimnisvolle des Alltags richten. Carrà meinte, dass dies zu einer höheren Zwei Seiten des Daseins De Chiricos metaphysische Vorstellungen beruhten vor allem auf seiner Überzeugung, dass es in der sichtbaren Welt zwei Arten von Wirklichkeit gibt: eine alltägliche Existenz, die uns allen vertraut ist, und eine zweite „spektrale oder metaphysische Manifestation, die nur von seltenen und einzelnen Individuen in hellsichtigen Momenten“ erfasst wird. Er war darin von Nietzsches Schriften beeinflusst. Bei seinen Bildern geht es darum, über die erste, alltägliche Art des Daseins hinauszukommen und nach einer rätselhaften und flüchtigen dahinterliegenden Wirklichkeit zu streben. Seine Ziele erläutert er in seinem Manifest Noi metafisici von 1918. 1917 1918 1920 De Chirico trifft in Italien mit Carrà, Morandi und de Pisis zusammen; Gründung der Scuola Metafisica in Ferrara; Carlo Carrà: Das verwunschene Zimmer Ende des Ersten Weltkriegs; Giorgio Morandi: Metaphysisches Stillleben Nach einem Streit zwischen de Chirico und Carrà löst sich die Metaphysische Schule auf 137 138 Herausforderungen und Wandel ‚ Es liegt mehr Geheimnis im Schatten eines Mannes, der an einem sonnigen Tag zu Fuß geht, als in allen Religionen der Welt. Giorgio de Chirico ʻ verborgenen Seinsweise führt. Und wie de Chirico bemühte er sich darum, dass seine Malweise in der italienischen Tradition insbesondere eines Giotto oder Uccello steht. Die Metaphysische Schule Der Begriff „Pittura Metafisica“ taucht um 1913 bei Apollinaire als Beschreibung des Malstils von de Chirico auf. Carrà, der sich während des Zweiten Weltkriegs vom Futurismus abgewandt hatte, begegnete de Chirico 1917 während eines Klinikaufenthalts in Ferrara. Beide begannen zusammenzuarbeiten und schufen ihre seltsam Valori plastici realistischen Werke. Ihnen schloss sich de Zwischen 1918 und 1921 erschien in Rom die Chiricos jüngerer Bruder, Alberto Savinio Kunstzeitschrift Valori plastici („plastische (1891–1952) an, ein Schriftsteller und Werte“) auf Italienisch und Französisch. Der Komponist, sowie der Maler Giorgio Herausgeber war der Kritiker und Maler Mario Morandi (1890–1964) und der Dichter und spätere Maler Filippo de Pisis (1896– Broglio (1891–1948). Die ersten Ausgaben ent1956). Sie bildeten die Scuola Metafisica. hielten Artikel von de Chirico, Carrà und SaviSie diskutierten und erforschten die Ideen nio, die die Ideen der metaphysischen Malerei der deutschen Philosophen, die de Chirico erläuterten. Es gab darin auch Beiträge zur in München gelesen hatte: Schopenhauers Avantgardekunst, etwa zu Kubismus und NeoVorstellung vom antizipierenden Wissen plastizismus, aber die Zeitschrift stand der des Künstlers, Nietzsches Auffassung von modernen Kunst eher kritisch gegenüber und Gesicht und Rätsel sowie Weiningers propagierte eine Rückbesinnung auf die italieMetaphysik. Auch setzten sie sich mit den nische Tradition, ihre künstlerischen Techniken Werken des Symbolismus und Orphismus und gegenständliche Malweise. auseinander, mit denen Apollinaire de Chirico in Paris bekannt gemacht hatte. Anders als die Futuristen experimentierten die metaphysischen Maler nicht mit neuen Maltechniken, sondern stellten ihre ungewöhnlichen Visionen im gefälligen Stil eines modernen Klassizismus dar. Pittura Metafisica ‚ Wenn ein Kunstwerk wirklich unsterblich sein soll, muss es alle Schranken des Menschlichen sprengen: Es darf weder Vernunft noch Logik haben. Giorgio de Chirico ʻ Anstoß zum Surrealismus Im Herbst 1919 veröffentlichte de Chirico in Valori plastici einen Artikel, in dem er die Rückkehr zum „Handwerklichen“ forderte: zu traditionellen Malweisen und Darstellungen. Es begann eine erbitterte Auseinandersetzung mit Carrà, die ein Jahr darauf zur Auflösung der Gruppe führte, auch wenn Carrà und Morandi 1921 noch gemeinsam an der Ausstellung Das junge Italien teilnahmen. Die Pittura Metafisica war eine kurzzeitige Bewegung, aber ihre Ideen und Ideale blieben länger einflussreich: In Italien entwickelte sich daraus ein moderner Klassizismus und in Deutschland die Neue Sachlichkeit; in Frankreich aber gab die Pittura Metafisica den Anstoß zum Surrealismus. Worum es geht Aufdeckung der verborgenen Rätsel hinter dem äußeren Schein 139 140 Herausforderungen und Wandel 35 Harlem Renaissance (1920er--1930er Jahre) In den 1920er und 1930er Jahren gab es in New York bei einigen Afroamerikanern, die in Harlem lebten, einen regelrechten Ausbruch an künstlerischer Kreativität: Sie brachten ihr afrikanisches Erbe in Musik, Tanz, Film, Malerei, Theater und Kabarett ein und wurden als „New Negro Movement“ bekannt – benannt nach der 1925 erschienenen Anthologie The New Negro des Kunsthistorikers Alain Locke. Zwischen 1910 und 1939 kamen Millionen Afroamerikaner aus den Südstaaten in Städte des Nordens wie Chicago, Philadelphia, Cleveland und New York. Harlem entwickelte sich als neues Viertel Manhattans, wo viele wohlhabende und gebildete Afroamerikaner sich ansiedelten. Lockes Buch The New Negro ermutigte viele afroamerikanische Künstler, ihre Kreativität zu entfalten, indem sie ihr eigenes Erbe in den Mittelpunkt rückten. Die große Migration Bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs im Jahre 1865 hatten 95 Prozent der Afroamerikaner als Sklaven in den Südstaaten gelebt. Nach Kriegsende wurden die befreiten Sklaven allerdings in den Südstaaten um ihr Wahlrecht und andere Menschenrechte durch die nun eingeführte Rassentrennung betrogen. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im zunehmend industrialisierten Norden neue Arbeitsmöglichkeiten boten, wanderten viele Afroamerikaner aus dem Süden dorthin ab. Als Amerika 1917 in den Ersten Weltkrieg eintrat, kämpften Hunderttausende der Afroamerikaner als Soldaten für ihr Land, in dem sie keine vollen Bürgerrechte hatten und rassistischen Vorurteilen ausgeliefert waren. Nach der Rückkehr aus dem Krieg wurden das gesamte 369. Infanterieregiment („Harlem Hellfighters“) und auch einige andere afroamerikanische Kriegsteilnehmer als Hel- Zeitleiste 1919 1923 1925 Afroamerikaner protestieren gegen die verbreiteten Lynchmorde; in verschiedenen US-amerikanischen Städten kommt es zu Aufständen Am Broadway wird erstmals ein Stück eines Afroamerikaners gezeigt; der „Cotton Club“ wird eröffnet; Aaron Douglas entwickelt einen Kunststil, der ihn als Vertreter der Harlem Renaissance berühmt machte The New Negro, herausgegeben von Alain Locke, macht Texte der Harlem Renaissance bekannt Harlem Renaissance Die Krise Als 1909 die „National Association fort the Advancement of Coloured People“ (NAACP) als Institution der Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufen wurde, gehörte W. E. B. Du Bois (1868–1963) mit zu den Gründern. Du Bois war Sozialwissenschaftler und ein führender Vertreter der Bürgerrechtsbewegung. 1910 gab er das monatlich erscheinende Magazin The Crisis der NAACP heraus. Der Titel ging auf das Gedicht The Present Crisis von James Russell Lowell (1819–1891) zurück, das die nationale Krise infolge von Sklaverei und Bürgerkrieg zum Inhalt hat. Im Mittelpunkt dieses Magazins standen nicht politische Ziele und soziale Reformen, sondern kulturelle Bildung und Überzeugungsarbeit, mit der die herrschenden Bürgerschichten mit Gedichten, Artikeln, Erzählungen und Illustrationen von afroamerikanischen Schriftstellern und Künstlern der Harlem Renaissance vertraut gemacht werden sollten. Die Auflage stieg bis 1920 auf 100 000. den gefeiert, aber viele von ihnen waren nach wie vor nicht in den USA willkommen. Bis 1919 kamen immer mehr Afroamerikaner in den Norden, der Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Wohnungen schlug in Rassenunruhen und soziale Proteste um. In den 1920er Jahren begannen viele Afroamerikaner, die sich in den Nordstaaten angesiedelt hatten, ihre Wurzeln in Kunst, Literatur, Musik und Tanz auszuleben. Dieses Bekenntnis zu den eigenen Ursprüngen drückte sich in der Bezeichnung „New Negro Movement“ aus. Zu dieser Bewegung gehörten vor allem die aus den Südstaaten eingewanderten Afroamerikaner, aber auch afrokaribische Künstler und Intellektuelle aus den britischen Kolonien in Westindien oder aus Paris, die nach dem Ersten Weltkrieg in den USA ihr Glück zu finden hofften. Viele von ihnen wohnten in Harlem, weswegen die Bewegung bald in „Harlem Renaissance“ umbenannt wurde. ‚ Wir jüngeren Negro-Künstler wollen jetzt unser individuelles, dunkelhäutiges Selbst ausdrücken, ohne Angst oder Scham. Langston Hughes ʻ 929 1931 1934 Am Broadway wird der Song Ainʼt Misbehavinʼ des Jazzpianisten Fats Waller in einer Show präsentiert; der Börsenkrach an der Wall Street führt zur Großen Depression August Savage eröffnet in Harlem seine Kunst- und Kunstgewerbeschule Aaron Douglas wird beauftragt, eine Serie von Wandbildern für die New York Public Library in Harlem zu gestalten, unter dem Titel Aspects of Negro Life 141 142 Herausforderungen und Wandel Rassen- und Sozialintegration Als sich die Afroamerikaner in den Nordstaaten der USA zunehmend etablierten, setzten sie auch ihre Identität durch und machten ihre Emanzipation aus der Sklaverei sowie ihre afrikanischen Wurzeln deutlich. Viele, die in und um Harlem aufwuchsen, gehörten zur Mittelklasse und verfügten über eine gute Bildung. Sie übertrugen den Stolz auf ihr kulturelles Erbe und widerlegten rassistische Vorurteile. Und zum ersten Mal drangen Kunst, Musik, Literatur und der Tanz afroamerikanischer Künstler in das amerikanische Kulturleben. Trotz der immer noch bedrohlichen und bedrängenden Rassendiskriminierung wuchs in Harlem die Hoffnung auf ein besseres Leben, und dieser Optimismus drückte sich in neuen Kunstformen aus, die nun auch bei vielen anderen US-Bürgern Anklang fanden. Vielfältige Kulturen und Richtungen Die Harlem Renaissance entwickelte sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht als einheitlicher Stil, sondern umfasste viele kulturelle Elemente und Ansätze. Sie war so vielfältig wie die Kulturen, aus denen die Künstler kamen, die nach Harlem gezogen waren. Die Harlem Renaissance konnte sich zwar bereits auf afroamerikanische Mäzene stützen, hing aber nach wie vor auch von der Unterstützung durch die herrschende Oberschicht ab, die wichtige Verbindungen zur Kulturszene hatte und breitere Möglichkeiten eröffnen konnte. Viele euroamerikanische Mäzene interessierten sich nun insbesondere für die „primitive“ Kultur der Afroamerikaner. Zur Harlem Renaissance gehörten sehr unterschiedliche Künstler. Aaron Douglas (1898–1979) wurde mit seinen Wandbildern an öffentlichen Gebäuden und mit seinen vielen Coverillustrationen als „Vater der afroamerikanischen Kunst“ bekannt – er gestaltete auch die Titelseiten der beiden großen Zeitschriften The Crisis und Opportunity. William H. Johnson (1901–1970) kam 1918 aus South Carolina nach Harlem und war der erste Künstler afrikanischer Abstammung, den die amerikanische Kunstwelt nachhaltig anerkannte. Seine Bilder sind eine Mischung aus „primi- Jazz Ein starkes Element der Harlem Renaissance war der Jazz. Im „Cotton Club“ traten Berühmtheiten wie Duke Ellington (1899–1974) mit seiner Band und Louis Armstrong (1901–1971) auf, und oft wurde die Musik aus diesem berühmten Jazzclub im Rundfunk übertragen. Der Jazz bot den Künstlern der Harlem Renaissance eine Kommunikationsmöglichkeit. In vielen Gemälden sind Szenen aus dem Nachtleben mit Jazzbands, Kabarett und Tanz dargestellt. Im Laufe der Zeit trug der Jazz auch dazu bei, die strikte Rassentrennung zwischen den Amerikanern aufzuweichen. ‚ Harlem Renaissance tivem“ Stil mit modernistischen Elementen und Motiven aus dem Wenn Du fragen Alltag der Afroamerikaner. Lois Mailou Jones (1905–1998) war musst, was Jazz ist, wirst gebürtige Bostonerin und malte seit ihrer Kindheit bis zu ihrem Du es nie wissen. 19. Lebensjahr und wandte sich später der Textilgestaltung zu. Louis Armstrong Ihre leuchtenden Bilder und bunten Textilgestaltungen sind von der Kunst der Naturvölker und flächigen Mustern geprägt. Sargent Claude Johnson (1888–1967) war 1915 nach Kalifornien gegangen, wo er sich als Maler, Keramikkünstler und Grafikdesigner, vor allem aber als Bildhauer als einer der ersten Afroamerikaner öffentliche Anerkennung verschaffte. Seine Skulpturen, die afrikanische Traditionen aufgreifen, wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet. Charles Alston (1907–1977) kam 1913 aus North Carolina nach New York und malte in ganz Harlem Wandbilder. Zusammen mit dem Maler und Bildhauer Henry Bannarn (1910–1965) führte er den „Alsten-Bannarn Harlem Art Workshop“. ʻ Worum es geht Afroamerikanische Kunst und Kultur in Harlem 143 144 Herausforderungen und Wandel 36 Muralismo (ca. 1920--1940) Die Mexikanische Revolution von 1910 führte bis 1920 zum Bürgerkrieg, der auch in den 1920er Jahren immer wieder aufflammte. Damals schuf eine kleine Gruppe mexikanischer Künstler große Wandbilder an öffentlichen Plätzen, mit denen ein neues Nationalgefühl und eine sozialistische Identität propagiert werden sollte. Sie wurden als „Muralisten“ (Wandmaler) bekannt. Der Muralismo war eng mit der politischen Entwicklung und der traditionellen Kunst und Kultur Mexikos verbunden, insbesondere mit der dortigen Volkskunst. Er wurde aber auch von europäischen Kunstrichtungen wie Renaissance, Postimpressionismus, Kubismus, Expressionismus, Symbolismus und Surrealismus beeinflusst. Die drei berühmtesten Muralisten waren José Clemente Orozco (1883– 1949), Diego Rivera (1886–1957) und David Alfaro Siqueiros (1896–1974). Sie wurden als Los Tres Grandes – die großen Drei – bekannt. Öffentliche Kunst Zu den vielen Revolutionen in Mexikos Geschichte gehören die Machtkämpfe zwischen 1910 und 1920. In der neuen Revolutionsregierung sorgte insbesondere Bildungsminister José Vasconcelos (1882–1959) dafür, dass ab 1922 Kunst für die Staatspropaganda eingesetzt wurde. Es wurden einst ausgewiesene Maler beauftragt, mit öffentlichen Bildern ein neues nationales Bewusstsein zu schaffen und einen neuen mexikanischen Optimismus zu fördern, der auf dem Fortschritt gegenüber Unterdrückung und Benachteiligung vor der Revolution gründete. Mit großen Wandbildern an öffentlichen Gebäuden sollten Mexikos Stärken veranschaulicht und der Aufbau eines demokratischen Staats ohne Klassenschranken und Vorurteile unterstützt werden. Der Muralismo war das umfangreichste und wirkungsvollste republikanische Kunstprojekt seit der italienischen Renaissance. Die Wandbilder dokumentieren die Parteinahme der Künstler für die nachrevolutionäre linke Regierungspolitik. Siqueiros war der politisch aktivste unter den „großen Zeitleiste 1910 1917 1920 1921 Beginn der Mexikanischen Revolution José Clemente Orozco reist erstmals in die USA Mexiko bekommt eine demokratisch gewählte Revolutionsregierung; Einfluss der italienischen Renaissance-Freskomalerei auf Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros Rivera engagiert sich nach seiner Rückkehr aus Paris in einer revolutionären Künstlerkommune Muralismo Das größte Wandbild der Welt Dieses Werk von Siqueiros, das viele Jahre nach der Blütezeit des Muralismo entstand, verdeutlicht die Nachhaltigkeit dieser Kunstform insbesondere in Mexiko. Das Polyforum gehört zu einem Gebäudekomplex des Welthandelszentrums in Mexiko-Stadt, der kulturellen, politischen und sozialen Zwecken dient. Es wurde von dem Geschäftsmann und Kunstmäzen Manuel Suárez (1896–1987) finanziert und besteht außen aus zwölf riesigen Wandplatten, die gänzlich mit dem Marsch der Humanität bemalt sind. Siqueiros schuf so das größte Wandbild weltweit. Es stellt auf seinen zwölf Teilen die Entwicklung der Zivilisation von der Vergangenheit über die Gegenwart bis hinein in eine visionäre Zukunft dar. Das 1972 fertiggestellte „Polyforum Cultural Siqueiros“, Mexiko-Stadt. Drei“ – er hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft und kam später wegen eines Attentatsversuchs auf Leo Trotzki einige Zeit in Haft. Alle aber waren sie Patrioten und vertraten sozialistische Ansichten. Mit ihren Wandbildern wollten sie soziale und politische Botschaften jedermann übermitteln, insbesondere den Analphabeten. Die meisten Wandbilder entstanden an öffentlichen Gebäuden 1923 1928 1932/33 1935–1939 Rivera, Orozco und Siqueiros malen Wandbilder in der „Escuela Nacional Preparatoria“, MexikoStadt Diego Rivera: Die Nacht der Reichen Rivera malt 27 Wandbilder für die Fordwerke in Detroit; David Alfaro Siqueiros: Portrait of Mexico Today Orozco malt El pueblo y sus dirigentes (Das Volk und seine Führer) am Regierungspalast in Guadalajara 145 146 Herausforderungen und Wandel ‚ Wir verurteilen die sogenannte Staffeleimalerei und all die Kunst ultraintellektueller Kreise aus dem Grund, weil sie aristokratisch ist, und wir verherrlichen das Ausdrucksmittel der monumentalen Kunst, weil sie öffentliches Eigentum ist. David Siqueiros ʻ und Plätzen in der Hauptstadt Mexiko-Stadt und in Mexikos zweitgrößter Metropole Guadalajara. Sie drücken nicht nur den mexikanischen Stolz aus, sondern auch das indigene Erbe. Wandbilder wurden als Kunstform gezielt auch deshalb gefördert, weil sie in Mexiko eine lange Tradition haben, die nie ganz unterbrochen war. Beispielsweise gehörten Wandbilder ebenso zur Mayakultur wie zur Barockkunst der spanischen Eroberer. Realistischer Stil Die meisten mexikanischen Wandbilder sind realistisch gestaltet, mit einfachen Geschichten und klaren Botschaften, die für möglichst viele Betrachter verständlich sein sollen. Bei allen Werken mischen sich Einflüsse aus Tradition und Moderne, jeder Künstler fand seinen eigenen Weg, die Bilder mit den politisch vorgegebenen Themen mexikanisch, universell, dekorativ, aufklärerisch und anregend zu gestalten. Rivera, der als der führende Muralist gilt, schöpfte beispielsweise aus der modernen wie der prähispanischen Kunst (aus der Zeit vor der spanischen Kolonialisierung im 16. Jahrhundert). Zwischen 1907 und 1921 verbrachte er die meiste Zeit in Paris, wo er mit Picasso und Gris zusammentraf und seine eigene, ausdrucksstarke und farbenprächtige Form des Synthetischen Kubismus entwickelte. In seinen Wandbildern verwendete er Elemente der präkolumbischen Kulturen ebenso wie kubistische Techniken, etwa die Komposition anhand diagonaler Linienraster, ohne Verwendung von Perspektive und unter Einbeziehung Gauguin’scher Symbolik. Orozcos Werk mit seinen dunklen, beeindruckenden Farben ist vom Expressionismus geprägt und stellt die vorrevolutionären Leiden der mexikanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt. Siqueiros hingegen malte dynamisch und dramatisch mit stark kontrastierenden Farben; sein Werk zeigt starke Einflüsse des Surrealismus, der Volkskunst und auch der Kunst Michelangelos, die er bei seinem Europaaufenthalt zwischen 1919 und 1922 studiert hat. Muralismo in den USA Die mexikanischen Muralisten gewannen auch in den USA schnell an Einfluss und Ansehen, wo sie öffentliche Kunstprojekte mitgestalteten und in der Folge einige spätere Kunstrichtungen beeinflussten. Anfang der 1930er Jahre lebte Rivera in San Francisco, Detroit und New York, wo er Wandbilder für öffentliche Gebäude gestaltete. 1931 gab es eine Rivera-Retrospektive im Muralismo Museum of Modern Art, für die der Künstler Mexikos indigene Kunst kleinformatige tragbare Fresken gemalt hatte. Von 1927 bis 1934 lebte auch Orozco in New Die Kunst etwa der Maya und Azteken wurde York und malte dort eine Reihe von Wandvon den europäischen Eroberern im 16. Jahrbildern für die „New School for Social hundert verachtet. Sie gestalteten ihre SiedlunResearch“. Und auch Siqueiros war Anfang gen und ihre Kultur völlig nach den Vorbildern der 1930er Jahre in New York, wo er an einer in ihren Herkunftsländern und löschten so die Ausstellung mexikanischer Grafikkunst teilindigene Kunst und Kultur weitgehend aus. nahm. Zusammen mit einer Gruppe von StuNach der Mexikanischen Revolution wurden denten schuf er ein Wandbild in Los Angeles. wieder die Kunsttraditionen Altmexikos und der Die „großen Drei“ waren in die USA präkolumbischen Hochkulturen gepflegt. gegangen, weil es für die Muralisten in Mexiko keine staatlichen Aufträge mehr gab. Auch mussten sie sich jetzt auf kleinere Leinwandformate umstellen, um ihr Talent außerhalb Mexikos präsentieren und ihren Unterhalt bestreiten zu können. So erhielten alle Drei jetzt private Aufträge für kleinere Bilder, oft von amerikanischen Kunstmäzenen. Worum es geht Große öffentliche Wandbilder für ein neues Mexiko 147 148 Herausforderungen und Wandel 37 Neue Sachlichkeit (1923--1933) Die Neue Sachlichkeit entwickelte sich in den 1920er Jahren in Deutschland. Ihr folgten viele Künstler, die sich zuvor dem Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder Dadaismus angeschlossen hatten. Sie war eine Gegenbewegung zur Avantgardekunst, insbesondere zu Expressionismus und Abstraktion, vor allem aber opponierte sie gegen den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegsgesellschaft. Die deutschen Künstler, die der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden, wollten die Verdorbenheit und Widersprüchlichkeit der Lebensverhältnisse abbilden, die sie um sich herum sahen. Der ernüchternde Schock nach dem verlorenen Krieg sowie die darauf folgenden Ereignisse und Entwicklungen hatten bei ihnen eher schmerzliche als hoffnungsvolle Gefühle geweckt. Anders als viele andere Kunstströmungen dieser Zeit richteten die Künstler der Neuen Sachlichkeit ihren Blick nicht auf eine bessere Welt, sondern auf das, was tatsächlich vorging. Denn sie glaubten, mit einer Darstellung der Realität besser gegen das protestieren bzw. das auf den Punkt bringen zu können, was falsch lief. Unparteiischer Ausdruck Die Neue Sachlichkeit war genauso emotional wie all die anderen Kunstrichtungen neben ihr. Aber ihre Künstler wollten in ihren Bildern sachlich und objektiv die Gesellschaft spiegeln, das wahre Gesicht des Krieges und der Weimarer Zeit ganz allgemein zeigen. Die Neue Sachlichkeit war eher ein Trend oder eine Tendenz, keine voll entwickelte, verbindliche Kunstströmung. Ihre Künstler arbeiteten für sich allein und schlossen sich nicht in irgendwelchen Gruppen zusammen. Deshalb streiten einige Kunsthistoriker darüber, ob es sich hier überhaupt um eine Kunstrichtung handelt. Aber alle Künstler der Neuen Sachlichkeit teilten ein Missbehagen gegenüber der abstrakten Kunst. Trotz stilistischer Ähnlicheiten drückten sie alle ihre Gefühle auf individuelle Weise aus. Sie waren in verschiedenen Städten vertreten: Berlin, Dresden, Karlsruhe, Köln, Düsseldorf, Zeitleiste 1918 1919 1920 1921 Nach Ende des Ersten Weltkriegs dankt Kaiser Wilhelm II. ab; Beginn der Weimarer Republik; einsetzende Inflation, soziale Not, Instabilität Der Vertrag von Versailles; Weimarer Verfassung Max Beckmann: Familienbild Adolf Hitler wird Führer der NSdAP; Hyperinflation und drohender Staatsbankrott Neue Sachlichkeit Hannover und München. Den Begriff „Neue Sachlichkeit“ prägte 1923 der Direktor der Mannheimer Kunsthalle Friedrich Hartlaub (1884–1963) für einen Stil, der sich von den Ideen der modernen Kunst abwendete und sich an traditionellen Werten der Malerei orientierte. Alltag in unwirklicher Szenerie Die Künstler der Neuen Sachlichkeit stützten sich auf den realistischen und detailgenauen Malstil der Renaissance. Sie legten Wert auf sorgfältige Komposition mit Perspektive, exakten Konturen und natürlichen oder gedämpften Farben und unauffälligem Pinselstrich dank verdünnter Farben. Die abgebildeten Menschen stehen immer im Mittelpunkt der Szenerie, meist Georg Schrimpf: Martha, 1925, Öl auf Leinwand; Privatsammlung. 1925 1926 1927 1933 Ausstellung Die Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim; der erste Teil von Hitlers Mein Kampf erscheint George Grosz: Die Stützen der Gesellschaft Christian Schad: Selbstportrait mit Modell; die Neue Sachlichkeit wird während der Weimarer Republik stilbildend; Otto Dix beginnt sein Triptychon Der Krieg Hitler wird als Reichskanzler vereidigt; er betrachtet auch die Neue Sachlichkeit als „entartete Kunst“ 149 150 Herausforderungen und Wandel einer häuslichen oder alltäglichen Umgebung in unwirklich entrückter Darstellungsweise. Die wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit waren Beckmann, Dix, Grosz, Herbert Böttger (1898–1954), Georg Scholz (1890–1945), Conrad Felixmüller (1897–1977), Georg Schrimpf (1889–1938), Christian Schad (1894–1982) und Rudolf Schlichter (1890–1955). Otto Dix und Mein Ziel ist es, von George Grosz hatten als Soldaten im Ersten Weltkrieg das jedem verstanden zu Grauen in den Schützengräben erlebt und prangerten nun heftig werden. Ich lehne die die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Nachkriegs‚Tiefeʻ, die die Leute deutschland an, äußerten ihren Unmut über die Entwicklung heutzutage erwarten, nach 1918. Dix malte die Schrecken des Krieges und die Ausschweifungen der Berliner Gesellschaft; Grosz stellte die Nachab. George Grosz kriegsgesellschaft insgesamt als abstoßend dar. 1925 lief in der Kunsthalle Mannheim unter der Leitung von Hartlaub die Ausstellung Die Neue Sachlichkeit: Deutsche Malerei seit dem Expressionismus, die 120 Gemälde von 32 Künstlern zeigte. In der Einführung zum Ausstellungskatalog unterschied Hartlaub zwei Richtungen von Neuer Sachlichkeit: die veristische und klassizistische. Die Veristen – Verkünder der Wahrheit – waren überwiegend politisch links und angriffslustig; sie wollten die grundlegende Unsicherheit und Magischer Realismus das Beängstigende ihrer Zeit, aber auch Der Journalist und Kritiker Franz Roh (1890– die schrecklichen Erinnerungen an den 1965) schrieb 1925 unter dem Titel NachKrieg abbilden. Die Klassizisten hingegen Expressionismus: Magischer Realismus ein standen ihrer Zeit nicht so feindselig Buch, in dem er den Begriff „Magischer Realisgegenüber und malten weniger verstömus“ für einige Werke in Hartlaubs Ausstellung rende, eher sachliche Bilder, um ZeitDie Neue Sachlichkeit prägte. Diese Werke losigkeit und Gesetzmäßigkeit herauszuhatte Hartlaub der klassizistischen Strömung stellen. Zu den Veristen, die das äußere der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Roh Erscheinungsbild bewusst verzerrten, um betonte, dass er das Adjektiv „magisch“ (und die Hässlichkeit zu betonen und im nicht „mystisch“) verwende, um den unwirkliBetrachter heftige Reaktionen zu provochen Zauber in vielen dieser Bilder auszudrüzieren, gehörten Dix und Grosz. Zu den cken. Dieser Begriff bürgerte sich danach ein, Klassizisten wurden dagegen Schrimpf wird aber nicht einheitlich verwendet. Der Magiund Carl Grossberg (1894–1940) gerechsche Realismus im Sinne des realismo mágico net, die inzwischen als Vertreter des Magibezeichnet einen seit den 1920er Jahren in schen Realismus eingeordnet werden. ‚ ʻ Europa und beiden Amerikas verbreiteten Stil in Literatur und Malerei. Neue Sachlichkeit ‚ Der Tag wird kommen, an dem der Künstler nicht mehr der Bohemien, dieser aufgeblasene Anarchist sein wird, sondern ein gesunder Mensch, der in Klarheit innerhalb einer kollektivistischen Gesellschaft arbeitet. George Grosz ʻ Soziale Parteinahme Im Gegensatz zu Surrealismus, Expressionismus und verschiedenen Kunstrichtungen der geometrischen Abstraktion nahm die Neue Sachlichkeit offen Stellung zu den sozialen Verhältnissen. Wie beim Dadaismus gab es nach dem Ersten Weltkrieg auch bei der Neuen Sachlichkeit einen wachsenden Zynismus, aber sie verwendete realistische Details auf spezifische Weise, um die Schrecken und Ausschweifungen von Mensch und Gesellschaft darzustellen. Die Neue Sachlichkeit ist dem Amerikanischen Realismus (American Scene) vergleichbar, auch wenn die Gesellschaftskritik in Deutschland ausgeprägter war. Die Maler der Neuen Sachlichkeit folgten verschiedenen Ansätzen, um die wirtschaftliche Not und gleichzeitig verschwenderische Extravaganz in der Weimarer Republik kritisch darzustellen. Beckmann malte bedrückende Szenen in einem Stil, der an den mittelalterlicher Glasgemälde erinnert. Schad schuf klare, oft erotisch wirkende Portraits. Dix und Grosz hielten die sozialen Unterschiede in provozierenden und satirischen Bildern fest und stellten die Folgen des für Deutschland kaum erfüllbaren Versailler Vertrags, die doppelbödige Moral und Korruption, die sie überall um sich herum sahen, durch verstörende Widersprüche und Kontraste dar. Worum es geht Realistische Darstellung der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg 151 152 Herausforderungen und Wandel 38 Surrealismus (1924--1950er Jahre) Der Surrealismus entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Paris aus dem Dadaismus. Er begann als literarische Bewegung mit dem Manifeste du surréalisme, das 1924 von den Schriftstellern André Breton, Louis Aragon (1897–1982) und Philippe Soupoult (1897–1990) veröffentlicht wurde. Darin erklärten sie als Ziel des Surrealismus, das Denken von Vernunft und Logik zu befreien, ungeachtet der Konsequenzen. Das Wort „surreal“ ist heute allgemein üblich, aber vor 1917 gab es dieses Wort noch nicht. Damals führte Guillaume Apollinaire, der bereits dem Orphismus und der Pittura Metafisica den Namen gegeben hatte, den Begriff „Surrealismus“ mit seinem „surrealistischen Drama“ ein. Dieser lässt sich als Realität über oder jenseits der Wirklichkeit deuten und wurde in diesem Sinne von den surrealistischen Schriftstellern in ihrem Manifest von 1924 verwendet. Traumdeutung Der Ex-Dadaist Breton war stark von den Theorien Sigmund Freuds (1856–1939) beeinflusst und erklärte, dass surrealistische Werke aus dem Bewusstsein in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche entstehen sollten – das, was Freud als Begründer der Psychoanalyse untersucht hatte. Im Oktober 1899 hatte Freud seine Traumdeutung veröffentlicht, in der er Träume als Ausdruck der menschlichen Psyche erklärt, insbesondere des Teils von ihr, in dem unbewusst viele Erinnerungen, Emotionen und Motivationen verborgen sind. Freud meinte, dass die Träume einen Schlüssel zu den Tiefen des Unbewussten bieten, wenn man sie psychoanalytisch deutet. Er nutzte auch andere Methoden, um das Unbewusste und die psychischen Prozesse zu analysieren. Dazu gehört das freie Assoziieren, bei dem man ohne rationale Kontrolle ausspricht, was einem intuitiv einfällt. Freuds Theorie der freien Assoziation wurde bald von verschiedenen surrealistischen Malern und Schriftstellern umgesetzt – Breton bezeichnete das als „rein psychischen Automatismus“. Dabei ließen es die schreibenden und bildenden Künstler Zeitleiste 1924 1925 1926 1928 Das erste Manifest des Surrealismus, im Wesentlichen von André Breton verfasst Erste Ausstellung der Surrealisten in der „Galerie Pierre“ in Paris unter dem Titel La peinture surréaliste Eröffnungsausstellung der „Galerie surréaliste“ mit Werken von Man Ray; Max Ernsts Buch Histoire naturelle erscheint Breton veröffentlicht Le surréalisme et la peinture ohne rationales Nachdenken zu, dass ihre Federn, Bleistifte oder Pinsel automatisch Linien, Formen bzw. Worte gestalteten. Auf diese Weise wollten sie in das Unbewusste vordringen und tiefliegende Empfindungen und Emotionen ausdrücken. Im Unbewussten sah man eine Quelle der Fantasie, und um eine möglichst hohe Kreativität zu erreichen, musste diese Quelle zugänglich gemacht werden. Die Surrealisten mischten Bewusstes und Unbewusstes in ihren Werken und verbanden Traum- und Fantasiewelten mit der alltäglichen Welt der Rationalität. Surrealismus ‚ Ich versuche, Farben so zu verwenden wie Worte, die einem Gedicht Form geben, oder wie Töne, die der Musik Form geben. René Magritte ʻ Die surrealistische Revolution Der Surrealismus hat zwar Wurzeln im Dadaismus, unterscheidet sich davon aber insofern, als er eine positive Haltung einnahm und sich nicht negativ als Protest formierte. Auch strebte er, anders als der zweckfreie und ziellose Dadaismus, nach Funktionalität. Weitere Anregungen kamen vom Symbolismus, von der Pittura Metafisica und auch von Bildern des Renaissancemalers Hieronymus Bosch (1453–1516), Goyas und Johann Heinrich Füsslis (1741–1825). Breton gab 1924 die Zeitschrift La révolution surréaliste heraus, von der in fünf Jahren zwölf Ausgaben erschienen. 1925 folgte in Paris die erste Ausstellung der Surrealisten, an der sich unter anderen die Ex-Dadaisten Max Ernst und Hans Arp sowie Man Ray, Joan Miró Die Zentrale der Surrealisten (1893–1983), Pierre Roy (1880–1950), Im gleichen Jahr, in dem das erste surrealistiPicasso und de Chirico beteiligten. Breton sche Manifest erschien, eröffnete Antonin veröffentlichte 1928 sein Buch über den SurArtaud (1896–1948) in Paris das Bureau de realismus und die Malerei mit Illustrationen recherches surréalistes als Surrealistenzenvon Picasso und 1929 das zweite Manifeste trum, in dem sich Schriftsteller und Künstler du surréalisme. Salvador Dalí (1904–1989) versammeln, ihre Meinungen austauschen und hatte 1929 mit dem Kurzfilm Ein andalusiverschiedene Theorien zum Unbewussten scher Hund, den er zusammen mit Luis recherchieren konnten. Die Gruppe nahm den Buñuel (1900–1983) gedreht hatte, seinen Betrieb ihrer Zentrale sehr ernst, die Brücken dramatischen Einstand in der Gruppe. Es gibt zu Öffentlichkeit und Wissenschaft bot. in diesem Film, der 16 Minuten dauert, keine Handlung, sondern nur freie Assoziationen – als er in Paris gezeigt wurde, war das eine Sensation. 1929 1934 1937 Zweites surrealistisches Manifest von Breton; Salvador Dalí zeigt seinen Film Ein andalusischer Hund Breton hält in Brüssel Vorlesungen über den Surrealismus, wobei er ihn mit der proletarischen Revolution verknüpft Dalí wird wegen seines klassizistischen Malstils und seiner Unterstützung des Faschismus aus der Gruppe der Surrealisten ausgeschlossen 153 154 Herausforderungen und Wandel Un chien andalou Dieser bizarre Kurzfilm von 1929 wurde durch das Fehlen eines rationalen Zusammenhangs und seine Schockwirkung berühmt. Ein andalusische Hund ist ein Schwarzweißfilm ohne Handlung und Chronologie; er folgt freien Assoziationen im Sinne der Freudʼschen Theorie. Das Standbild daraus zeigt die oft in Erinnerung gerufene Szene, in der ein Mann das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser aufschlitzt. Der gesamte Film geht der Absurdität unserer Träume und unseres Unbewussten nach. Der Surrealismus erfasste Fantasiewelten. Er wirkt bis heute nach – in Literatur und Film, Werbung und Mode, in verschiedenen Kunstrichtungen wie Fluxus oder Abstraktem Expressionismus, in der Medienkunst oder bei den Young British Artists. Luis Buñuel und Salvador Dalí: Standbild aus dem Film Un chien andalou. Drei Grundverfahren Der Surrealismus machte keinerlei Surrealismus ‚ Ein Surrealist zu sein Vorgaben zum Malstil, aber es gab drei grundverschiedene bedeutet, alles, was man Herangehensweisen. Die erste bestand darin, mit mechanischen bereits gesehen hat, aus Techniken Bilder so zu schaffen, dass sie die Vorstellungskraft dem Gedächtnis zu anregen. Hauptmittel dabei waren Collage und Frottage – ein verbannen und immer Abdruck von Oberflächenstrukturen, den man auf einem über die danach Ausschau zu Vorlage gebreiteten Papier durch Reiben mit Kreide oder Bleistift halten, was nie gewesen erzeugt. Max Ernst entwickelte diese Technik weiter zur Grattage, bei der verschiedene Farbschichten abgeschabt (statt aufge- ist. René Magritte rieben) werden. Die beiden anderen Verfahren waren nachhaltiger: Die veristische ist bei Malern wie Dalí oder René Magritte (1898–1967) zu finden, die reale Gegenstände traumähnlich in Zusammenhängen jenseits der Realität darstellen. Ein abstraktes Verfahren wählten Maler wie Miró oder André Masson (1896–1987). Miró behauptete, er habe oft gehungert, um Halluzinationen für seine Arbeit zu bekommen. So entstanden exzentrische Bilder voller Rätsel und Seltsamkeiten beim Zusammentreffen von Ereignissen, beim Zusammenhang von Orten oder der Komposition. Damit zwangen die Surrealisten die Betrachter, das zu hinterfragen, was sie sahen, und sich mit ihrem Unbewussten auseinanderzusetzen, um sich selbst besser verstehen zu können. Zu den wichtigsten surrealistischen Malern gehörten Arp, Ernst, Masson, Magritte, Yves Tanguy (1900–1955), Dalí, Roy, Paul Delvaux (1897–1994) und Miró. Die surrealistischen Bedingungen waren insofern außerordentlich radikal, als Breton einen entsprechenden Lebens-, Arbeits- und Verhaltensstil erwartete und jeden aus der Gruppe ausschloss, der nicht mit den gemeinsamen Überzeugungen konform ging oder sich nicht einfügte. Deshalb ist der Surrealismus bisweilen mit einer Religion vergleichbar. Zu den Ausgestoßenen gehörten Masson, Artaud und Dalí. Ende der 1920er Jahre gewann der Surrealismus international viele Anhänger. Er gehört bis heute zur einflussreichsten Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts. ʻ Worum es geht Das Unbewusste als Quelle der Kreativität 155 156 Herausforderungen und Wandel 39 American Scene (1920er--1940er Jahre) Der Amerikanische Realismus, heute in Deutschland allgemein „American Scene“ genannt, ist eine Kunstrichtung, die sich in den 1920er und 1930er Jahren in den USA entwickelte und als erster US-amerikanischer Nationalstil gilt. Dieser Realismus war oft sozialkritisch und brachte dann seinen Protest mit der Darstellung sozialer, politischer und rassistischer Ungerechtigkeiten und wirtschaftlicher Not zum Ausdruck. Seit der Industriellen Revolution haben sich viele Künstler mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Unterschichten befasst. Im 19. Jahrhundert haben Realisten wie Courbet und Millet oder die britischen Maler Luke Fildes (1843–1918) und Frank Holl (1845–1888) sowie der deutschstämmige Hubert von Herkomer (1849– 1914) Wert darauf gelegt, die Armen bei ihrer Arbeit zu zeigen. Viele dieser Bilder wurden in der britischen Illustrierten The Graphic abgedruckt und beeinflussten so wiederum jüngere Künstler. Sozialkritik In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der Amerikanische Realismus infolge sozialer Stellungnahme: Einige unabhängige Maler, Druckgrafiker, Fotografen und Filmemacher reagierten mit scharfer Kritik auf die idealisierende Darstellung harter Arbeit. Sie machten auf den Alltag der Arbeiter und der Armen aufmerksam und prangerten die soziale Ungerechtigkeit an, die solche Bedingungen erzeugten und zementierten. Entsprechend ihrer sozialen Einstellung zeigten sie die Armen gewöhnlich als edle und würdevolle Menschen, die Besseres verdient hätten und dennoch ihr Los tapfer trugen. Diese Ideen haben einiges mit dem offiziellen Sozialistischen Realismus der Kommunistischen Parteien Europas gemeinsam, doch der sozialkritische Realismus in den USA war keine staatlich verordnete und geförderte Kunstrichtung, sondern ein persönliches, subjektives Anliegen. Zeitleiste 1913 1918 1926 1929 Armory Show in New York, die erste offizielle Internationale Ausstellung moderner Kunst in den USA Ende des Ersten Weltkriegs Raphael Soyer: The Dancing Lesson Börsenzusammenbruch an der Wall Street, der die Weltwirtschaftskrise auslöst; Edward Hopper: Chop Suey American Scene Die Weltwirtschaftskrise Anfang der Sozialistischer Realismus 1920er Jahre wuchsen in Europa und den USA die Elendsviertel, während es den MitDer Sozialistische Realismus wurde für die telschichten gut ging. Aber es kam nach dem „Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutioErsten Weltkrieg auch ein neues soziales nären Entwicklung“ zum verbindlichen Stil Bewusstsein auf. Viele Künstler, Fotografen erklärt, als 1932 in der UdSSR alle unabhängiund Schriftsteller rückten das Elend der gen Kunstverbände abgeschafft und in einer Armen in den Mittelpunkt. In den 1930er Allunion zusammengeführt wurden, in der nur Jahren, auf dem Höhepunkt der Großen offizielle Kunst zugelassen war. Die Werke des Depression, dokumentierten die AmerikaniSozialistischen Realismus sollten für die Masschen Realisten leidenschaftslos und unvorsen, insbesondere die vielen russischen Analeingenommen die Entbehrungen der Armen. phabeten, verständlich sein und den erfolgreiViele dieser sozialkritischen Realisten waren chen und mutigen Kampf der Kommunisten vom Muralismo und von der „Ashcan gegen die Not darstellen. Sie sollten Hoffnung, School“ angeregt worden, einer Gruppe von Patriotismus, revolutionäres Handeln und Proamerikanischen Künstlern, die Anfang der duktivität fördern. Der Sozialistische Realismus 1920er Jahre die weniger schöne Seite des diente also der kommunistischen Propaganda Stadtbilds und Alltagslebens von New York und endete 1991 mit dem Untergang der Sowgemalt hatten. Die städtischen und ländlichen jetunion. Szenen in den Bildern von Edward Hopper (1882–1967) spiegeln den amerikanischen Alltag wider, zeigen aber nicht nur Aspekte des Verfalls in den Städten, so dass er streng genommen nicht zur Ashcan School gehört, auch wenn er ihr oft zugerechnet wird. Zur American Scene zählt Ben Shahn (1898–1969), der verschiedene grafische Techniken für seine sozialkritischen ‚ Wenn man über den Krieg oder die Armut redet, bewirkt das nicht sehr viel; wenn man das aber bis zu einem gewissen Grad darstellen kann, kann man sehr viel mehr davon rüberbringen, wie Menschen leben. Ben Shahn ʻ 1930 1936 Ein Jahr nach dem blutigen Massaker am Valentinstag in Chicago stellt Grant Wood sein Gemälde American Gothic aus; Reginald Marsh malt Tuesday Night at the Savoy Ballroom Dorothea Lange: Migrant Mother – das Foto dokumentiert das Elend vieler Familien in den USA während der Großen Depression 157 158 Herausforderungen und Wandel Die Brotschlange George Segal (1924–2000) ist mit seinen Plastiken zwar ein Künstler der Pop-Art, aber aus seiner Bread Line spricht der sozialkritische Realismus während der Großen Depression. Segal wurde durch seine lebensgroßen Gipsfiguren bekannt, für die er eine neue Technik erfunden hatte: Er verwendete medizinische Gipsbandagen, wie sie bei Knochenbrüchen eingesetzt werden. So konnte er Körperabformungen herstellen und daraus lebensgroße Gipsfiguren zusammensetzen. Die lebensgroßen Männer in der Brotschlange hat Segal 1997 für das Franklin D. Roosevelt Memorial in Washington (D. C.) geschaffen. Das Monument schildert die zwölf Jahre der Rooseveltʼschen Präsidentschaft von 1933 bis 1945, eine von der Großen Depression geprägte Zeit, in der viele Menschen Hunger und Elend ausgesetzt waren. George Segal: The Bread Line, 1997, Bronze; Washington (D. C.). Darstellungen im Dokumentationsstil verwendete. Er arbeitete auch als Assistent von Diego Rivera (während dessen USA-Aufenthalts). Reginald Marsh (1898– 1954) malte Menschenmassen und insbesondere Frauen in den New Yorker Straßen, U-Bahnen, Nachtclubs, Bars und Restaurants. Dorothea Lange (1895–1965) hielt als Dokumentarfotografin und Bildjournalistin die trostlose Lage während der Großen Depression fest – sie hat die Entwicklung der Dokumentarfotografie maßgeblich beeinflusst. Raphael Soyer (1899–1987), der bekannteste der drei Soyer-Brü- der, malte Menschen im Alltag von New York. Jack Levine (1915–2010) wurde durch seine satirischen Gemälde und Drucke bekannt. Und der Maler, Grafiker, Muralist und Kunstlehrer Arnold Blanch (1896–1968) wurde durch seine weich gezeichneten Bilder des amerikanischen Alltags bekannt. Regionalismus Wie viele andere Kunstrichtungen war der ‚ American Scene Fotografie greift einen Moment aus der Zeit heraus, verändert das Leben, indem sie ihn festhält. Dorothea Lange ʻ Amerikanische Realismus keine bewusst geplante und organisierte Bewegung, sondern er entstand dadurch, dass einige Künstler und Schriftsteller zur gleichen Zeit ähnliche Sichtweisen entwickelten und kreativ ausdrücken wollten. Die Verhältnisse lösten diese Bewegung aus, wobei die Deutungen der Künstler variierten. In der American Scene gibt es daher auch einen Regionalismus. Die Regionalisten stellten zwar auch den Alltag dar, vor allem – wie der Name sagt – das Land, aber im Gegensatz zu den sozialkritischen Realisten wirken die ländlichen Szenen eher nostalgisch. Ihre Bilder einer gleichbleibenden Landschaft mit fleißigen Menschen waren positiver, beruhigender und hoffnungsvoller als die Darstellungen der Sozialkritiker, die die verzweifelte Lage der Armen in den Städten während der Wirtschaftskrise ungeschminkt zeigten. Der Stil der sozialkritischen Maler war meist realistisch und objektiv, während die Regionalisten oft verschiedene Stile mischten und lebensähnliche Bilder mit Abstraktion verbanden. Die drei wichtigsten Regionalisten waren Thomas Hart Benton (1889– 1975), dessen lebendige und eindrucksvolle Szenen oft Ton in Ton gemalt sind, Grant Wood (1891–1942), der durch seine ländlichen Darstellungen des Mittleren Westens, insbesondere aber durch sein 1930 gemaltes Bild Amerikanische Gotik bekannt wurde, und John Steuart Curry (1897–1946), der es ablehnte, sich in seiner Malerei auf sozialkritische Kommentare oder politische Propaganda einzulassen. Europäische Parallelentwicklungen Der Amerikanische Realismus war zwar eine Kunstrichtung in den USA, aber auch manche europäische Künstler zeigten eine sozialkritische Gesinnung: gleichzeitig etwa Käthe Kollwitz (1867–1945), George Grosz oder auch Heinrich Zille (1858–1929) in Deutschland oder später Künstler der britischen Kitchen Sink School wie John Bratby (1928–1992), die kritisch den privaten Alltag der Arbeiter und deren soziale Verhältnisse darstellten. Worum geht Realistische Kunst alses sozialkritischer und politischer Kommentar 159 160 Herausforderungen und Wandel 40 Abstrakter Expressionismus (1943--1970) Während Europa unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatte, entwickelten sich die USA zur politischen und wirtschaftlichen Führungsmacht. Viele europäische Intellektuelle und Künstler waren dorthin emigriert, beispielsweise André Breton, Piet Mondrian oder Max Ernst. Als Künstler und Lehrer verbreiteten sie dort ihre Ideen. Die Zeit war reif für einen neuen Aufbruch, auch in der Kunst. Ende der 1940er Jahre breiteten sich in den USA zunehmend Optimismus und Patriotismus aus. Man interessierte sich zunehmend für Kultur und amerikanische Geschichte, einige Künstler begannen, auf eine neue, zuversichtliche Weise zu arbeiten. Natürlich war die Stimmung nicht überall in Amerika rosig. Die Zeitungen und Wochenschauen hatten über die Zerstörungen und das Elend des Kriegs in Europa und über die Explosion der ersten Atombombe über Hiroshima berichtet. Die Nachwirkungen der Großen Depression in einigen Regionen und die Angst vor dem beginnenden Kalten Krieg waren allgegenwärtig. Viele Künstler drückten entsprechend gemischte Gefühle aus Hoffnung und Sorge bezüglich des Zeitgeschehens aus. Spontaneität und Individualität Zwischen Kunst, Kultur und Gesellschaft besteht immer ein Zusammenhang, aber in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg war dieser Zusammenhang in den USA besonders ausgeprägt – die amerikanische Öffentlichkeit sah die Bilder der Zerstörung und anderen Kriegsfolgen in Europa und schickte Hilfspakete. Die Abstrakten Expressionisten waren eine kleine, locker verbundene Gruppe von Künstlern, die vor dem Krieg in verschiedenen Stilen gearbeitet hatten, aber in den 1940er Jahren sich in eine ganz neue Richtung Zeitleiste 1946 1948 Robert Coates verwendet in einem Beitrag im New Yorker den Begriff „Abstrakter Expressionismus“; Arshile Gorky: Untitled Jackson Pollock schafft erstmals Bilder mit der automatischen Methode des Action-Painting und hat seine erste Einzelausstellung in der „Betty Parsons Gallery“ in New York; Franz Kline beginnt die Arbeit an Ballantine Abstrakter Expressionismus Unentwirrbares Geflecht Pollock zeigte seine Werke des Action-Painting erstmals im Januar 1948. Dabei handelt es sich um eine radikal neue Maltechnik, bei der sehr große Leinwände auf den Boden gelegt und mit Farbe betropft oder bespritzt werden, die an einem Stab oder Spatel herabläuft. Diese Dripping-Technik trug ihm den Spitznamen „Jack the Dripper“ ein. Es sind Bilder, die – wie er es aus- drückt – „Energie und Bewegung sichtbar machen“. Diese Arbeiten sind keineswegs so zufällig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Für Pollock war der Akt des Malens ein subjektiver, instinktiver Prozess, der ein komplexes, dichtes Flechtwerk aus Farbflecken, Tropfspuren und Linien hervorbringt. Lauren Jade Goudie: Hommage to Pollock, Acryl – Das Bild imitiert Pollocks Dripping-Technik und expressive Farbgestaltung. 1950 1951 1952 1956 1957 Willem de Kooning beginnt mit Woman; Jackson Pollock: Lavender Mist (Lavendelnebel) David Smith: The Banquet, Installation Jackson Pollock: Blue Poles Number II Jackson Pollock stirbt nach einem Autounfall Robert Motherwell: Elegie auf die spanische Republik, Nr. 57 161 162 Herausforderungen und Wandel ‚ Der Abstrakte Expressionismus war die erste amerikanische Kunst, die gleichermaßen Angst und Schönheit enthielt. Robert Motherwell entwickelten, die den damaligen Zeitgeist widerspiegelte. Einige Künstler aus New York und Umgebung diskutierten Mitte der 1940er Jahre darüber, wie sie ausdrücken könnten, auf welche Weise sie und die amerikanische Nation den damaligen Zustand der Welt erlebten. Sie beschlossen, Farbe expressiv zu nutzen, und zwar nicht als Mittel der Darstellung von Geschichten oder anderen Themen. Farbe und Farbauftrag sollten selbst die Botschaft beinhalten. Der Abstrakte Expressionismus war kein spezieller Stil, sondern eher eine künstlerische Haltung. Die Künstler kannten sich, arbeiteten aber nicht in einer Gruppe zusammen, die eine gemeinsame Richtung vorgab und nach außen vertrat. Vielmehr ging es ihnen darum, ihre Gefühle und Empfindungen individuell und spontan auszudrücken. ʻ New York School Die europäische Avantgardekunst war die treibende Kraft für den Abstrakten Expressionismus. Viele Künstler, die als Flüchtlinge nach Amerika gekommen waren, vermittelten ihre Ideen, zudem gab es in New York einige Gelegenheiten, moderne Kunst zu sehen. Bereits 1929 war das Museum of Modern Art eröffnet wurden, und kurz darauf gab es dort Ausstellungen zum Kubismus, zur abstrakten Kunst, zum Dadaismus und Surrealismus oder auch Retrospektiven zum Werk von Matisse, Léger und Picasso. Andernorts wurden unter anderem Werke von Mondrian, Gabo und El Lissitzky gezeigt, und im Museum of Non-Objective Painting, das 1939 eröffnet wurde, gab es eine Ausstellung mit Werken von Kandinsky. Den Begriff „Abstrakter Expressionismus“ verwendete der Schriftsteller und Kritiker Robert Coates (1897–1973) im März 1946 in einem Artikel im New Yorker, in dem er die Werke von Arshile Gorky (1904–1948), Willem de Kooning (1904– 1997) und Jackson Pollock (1912–1956) beschrieb. Bald arbeiteten weitere Künstler in ähnlichem Stil, die als Abstrakte Expressionisten bezeichnet und, soweit sie in New York lebten, der New York School zugerechnet werden. Zu ihnen gehörte Lee Krasner (1908–1984), Robert Motherwell (1915–1991), William Baziotes (1912– 1963), Mark Rothko (1903–1970), Barnett Newman (1905–1970), Adolph Gottlieb (1903–1974), Richard Pousette-Dart (1916–1992), Clifford Still (1904–1980) und David Smith (1906–1965). Als Abstrakte Expressionisten wollten diese Künstler abstrakt und emotional-expressiv malen. Sie ließen sich zudem von der Kunst der Naturvölker und der Prähistorie inspirieren, aber auch vom Surrealismus, insbesondere von Mirós Automatismus. Obwohl alle diese Künstler ihre Ideen individuell ausdrückten, gab es einige Gemeinsamkeiten wie große Leinwände und mit Farbe gestaltete Flächen, kaum Bezüge zu realen Objekten und fehlende Rahmen. Die ers- Abstrakter Expressionismus ten Ausstellungen fanden Mitte der 1940er Jahre statt, wurden aber wenig beachtet, weil die meisten die Bilder nicht verstanden. Eine Bewegung, zwei Richtungen Das Aufblühen der abstrakten Kunst Die nicht gegenständliche abstrakte Kunst entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde aber vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg populär und blieb es bis in die 1980er Jahre. Viele Künstler hatten nach der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert nach adäquaten Ausdrucksformen zur Darstellung der einschneidenden Veränderungen und Ereignisse in der modernen Welt gesucht. Verschiedene Formen der nicht gegenständliche Kunst kamen in Mode, die oft als aufregend neu, intelligent und progressiv betrachtet wurden. Innerhalb des Abstrakten Expressionismus lassen sich zwei grundlegende Malstile unterscheiden, die man allerdings nur grob kategorisieren kann. Sie wurden unter den Bezeichnungen Action-Painting (Aktionsmalerei) und Colour-Field-Painting (Farbfeldmalerei) bekannt. Bei der Aktionsmalerei gestalteten die Künstler ihre Bilder intuitiv, ohne bewusste Planung; siewollten ihre inneren Emotionen ausdrücken, indem sie mit Bürsten oder anderen Mitteln ausladende, expressive und dynamische Farbstrukturen auf große Leinwände aufbrachten. Sie tropften, spritzten, schütteten, fegten oder schmierten Farbe auf die gesamte Leinwandfläche. Diese Malweise wurde auch als freie gestische Malerei bezeichnet, weil der Gestus des Farbauftrags wichtiger ist als das Endergebnis. Zu den Aktionsmalern gehörten Pollock, de Kooning und Franz Kline (1910–1962). Der andere abstrakt expressionistische Malstil war weniger wild und dynamisch. Die Farbfeldmaler, die auf den nächsten Seiten vorgestellt werden, füllten ihre großen Leinwände mit Farbflächen. Unabhängig von diesen Unterschieden interessierten sich alle Abstrakten Expressionisten für die psychologischen Theorien des Unterbewussten von Freud und C. G. Jung (1875–1961), dessen analytische Psychologie eine neue Sicht auf Religion, Träume und Gedächtnis eröffnete. Und sie versuchten alle, die Spannungen und Umbrüche in und nach den Kriegsjahren in ihren Werken auszudrücken. Worum es geht Ausdruck der weltweiten Spannung im Schatten des Krieges 163 164 Herausforderungen und Wandel 41 Colour-FieldPainting (1947--1960er Jahre) Die Farbfeldmalerei ist eine Stilrichtung des Abstrakten Expressionismus. Der hierfür heute auch in Deutschland übliche Begriff „ColourField–Painting“ wurde um 1950 eingeführt, um die Arbeiten einiger Künstler wie Mark Rothko, Barnett Newman und Clyfford Still zu beschreiben. Sie bemalten große Leinwände mit einer einzigen Farbfläche oder einer begrenzten Anzahl davon, um im Betrachter emotionale oder kontemplative Reaktionen auszulösen. Die USA waren nach den beiden Weltkriegen erstmals zum Zentrum von Kunst und Design geworden, nachdem viele Emigranten aus Europa sich hier niedergelassen hatten, die mit amerikanischen Künstlern und Kunstschulen zusammenarbeiteten. Schnell entstand ein Klima der Erneuerung und des Aufbruchs. Die Farbfeldmalerei entwickelte sich als kreative Ich bin für die Idee innerhalb des Abstrakten Expressionismus während der einfache Ausdrucks- 1950er Jahre. ‚ form komplizierter Ausdruck des Unendlichen In den späten 1940er Gedanken. Mark Rothko Jahren begannen einige Künstler mit einer individuellen Aus- ʻ prägung des Abstrakten Expressionismus und experimentierten hierfür mit neuen Möglichkeiten von Farbauftrag und Farbgestaltung. Die dabei entstandene Farbfeldmalerei ist durch große Farbflächen bzw. durch wenige Farbfelder auf einer extrem großen Leinwand gekennzeichnet und hat im Fauvismus, Expressionismus und Surrealismus ihre Vorformen. Die betreffenden Künstler schöpften die Ausdrucksmöglichkeiten der Farben aus, um den Betrachter zur Kontemplation anzuregen. Ihre riesigen Gemälde wurden Zeitleiste 1947 1948 1949 Mark Rothko und Clyfford Still stellen ihre Farbfeldmalereien aus Rothko, Newman und Motherwell gehören zu den Gründungsmitgliedern der Malschule „Subjects of the Artist“ in New York, in der man auf die abstrakte Kunst großen Wert legte; Newman beginnt mit seinen Zip-Bildern mit dünnen Linien auf farbiger Leinwand Rothko: Ohne Titel (Violett, schwarz, orange, gelb auf weiß und rot) ‚ Colour-Field-Painting gewöhnlich als Teile von Serien geschaffen und sollten deshalb Ich ziehe es vor, die immer im Zusammenhang gesehen werden. Die Maler suchten Bilder für sich selbst unabhängig voneinander nach ihrem jeweils eigenen abstrakten sprechen zu lassen. Weg. Sie wollten mehr schaffen als nur ein einfaches Abbild und Barnett Newman dem Betrachter zeigen, dass Kunst mehr vermitteln kann als nur ein Erscheinungsbild, ja unendlich viele Bedeutungen und Wirkungen in sich birgt. Um dies zu erreichen, ließen sie die Farben in großen Flächen auf den Betrachter wirken und weckten so bei ihm Emotionen. Da sie nicht den Versuch unternahmen, gegenständliche Bilder zu schaffen, brauchten sie sich auch nicht um Pinselführung oder Farbnuancen zu kümmern, sondern konnten sich darauf konzentrieren, die Leinwand mit gewaltigen monochromen Farbflächen zu bedecken. ʻ Keine Grenzen Die Farbfeldmalerei ging kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von New York aus. Dabei verfolgten ihre Künstler individuell ähnliche Ideen wie die anderen Abstrakten Expressionisten. Ihre Werke betonen die Zweidimensionalität der Leinwand und erzeugen Spannung durch das Zusammenspiel zwischen Farben und undeutlichen Formen. Verschwommene, sich überlappende Linien verwirren den Betrachter und verhindern, dass etwas in die Bilder hineingelesen wird. Die Malrituale Rothko sagte einmal: „Ich bin kein abstrakter Künstler; mich interessiert nur das Ausdrücken menschlicher Emotionen.“ Die Farbfeldmalerei war ursprünglich nicht allzu weit von den suprematistischen Ideen Malewitschs entfernt – es ging ihr um farbige Flächen, die Emotionen oder spirituelles Erwachen im Betrachter auslösen sollten. Doch sollten die Gemälde nicht nur Gefühle evozieren, sondern Emotionen begleiteten auch ihren Schaffensprozess. Rothko arbei- tete oft auf eine beinahe religiöse Weise und schwieg beharrlich über seine rituellen Methoden. Man weiß nur, dass er im grellen Licht von Bühnenscheinwerfern arbeitete, aber darauf bestand, dass die fertigen Werke im gedämpften Licht betrachtet werden, damit die Farben zu schweben scheinen. Er hatte auch eigenwillige Vorstellungen davon, wo, wann und wie seine Bilder betrachtet werden sollten. 1950 1955 1958 1959 1964 Barnett Newman: Vir Heroicus Sublimis; Clyfford Still: 1950-B Clement Greenberg schreibt den Essay American-Type Painting Rothko: Black on Maroon (Schwarz auf Kastanienbraun) Hans Hofmann: Pompeji In Los Angeles zeigt Greenberg in der Ausstellung Post-painterly Abstraction Arbeiten US-amerikanischer und kanadischer Maler 165 166 Herausforderungen und Wandel ‚ Ich hoffe, dass mein Gemälde jemandem ein Gefühl der eigenen Ganzheit, Eigenständigkeit und Individualität vermittelt, genauso wie mir selbst. Barnett Newman ʻ Farbfeldmalerei vermeidet erstmals entschlossen jeden Anschein, dass eine Form oder Masse vor einem Hintergrund stehen könnte. Vielmehr ist die gesamte Leinwand gleichermaßen bedeutsam, weil es keinen Fokus und kein Hauptelement im Bild gibt. Die Gemälde haben keine Rahmen, weil es keine Grenze zwischen dem Bild und dem Rest der Welt geben soll. Harte Kanten In den 1960er Jahren entwickelte sich innerhalb der Farbfeldmalerei eine Richtung, die als Hard-Edge-Painting oder Hard-Edge-Malerei bekannt wurde. Ihre Künstler brachten intensive Farben homogen auf die Leinwand auf und betonten deren Flächigkeit, malten aber die Ränder der Farbfelder nicht verschwommen oder verlaufend, sondern grenzten sie mit klaren Linien und harten Kanten ab. Die Hard-Edge-Maler waren insbesondere vom Synthetischen Kubismus, Neoplastizismus, Suprematismus und Bauhaus beeinflusst; sie lehnten den unstrukturierten Gestus des Abstrakten Expressionismus ab. Weglassen unnötiger Details Zu den Katalysatoren des Colour-Field-Pain- Steve Wood: Abstract – ein heutiges Akrylbild, das hier als Hommage an Rothko abgedruckt ist. ting gehörte der Künstler und Lehrer Hans Hofmann (1880– 1966), der in Paris mit Robert Delaunay und anderen Avantgardekünstlern zusammengearbeitet hatte und 1932 aus Deutschland in die USA emigriert war. In den 1940er Jahren malte er farbige Rechtecke auf die Leinwand, um eine Empfindung von Ruhe zu erzeugen. 1949 schuf Rothko ausladende Gemälde mit formlosen, in unscharfen Rändern verlaufenden Farbfeldern, wobei er jeden Bezug zur Natur vermied und mit unterschiedlichen Farbtönen und Colour-Field-Painting Farbintensitäten bestimmte Stimmungen herNachmalerische Abstraktion vorrief. Zunächst verwendete er blasse Farben, die auch Lichtwirkungen wiedergaben, Den vagen Sammelbegriff Post-painterly Absaber später wurde seine Palette immer dunktraction, zu Deutsch „Nachmalerische Abstrakler und intensiver. Außerdem malte er Serien tion“ oder auch nur „Neue Abstraktion“, führte von Bildern, die so an den Wänden eines 1964 der einflussreiche Kritiker Clement Ausstellungsraums aufgehängt werden sollGreenberg (1909–1994) für zeitgenössische ten, dass der Betrachter davon umringt ist. Kunstrichtungen wie Minimal Art, Colour-FieldAls Rothko seine Farbfeldmalerei zum ersten Painting und Hard-Edge-Painting ein. Er Mal ausstellte, zeigte auch Clyfford Still grenzte diese von der malerischen Abstraktion einige satt mit verschiedenen Farben in unterdes Abstrakten Expressionismus ab. Greenschiedlichen Formen gestaltete Leinwände. berg definierte die Nachmalerische Abstraktion Stills Bildgestaltung folgt keiner Regel und als abgelösten intellektuellen Ansatz der Malewirkt zerrissen, die Farbflächen erinnern an rei, der sich gegen Texturen und Linien richtet Papier- oder Stoffausrisse. Barnett Newmans und stattdessen die Leinwand mit Farben tränkt reife Werke sind noch einfacher gestaltet als und ihre Zweidimensionalität betont. die Bilder von Rothko und Still. Er bemalte die Leinwand monochrom mit Farbe und teilte die Farbfläche dann durch eine oder mehrere Linien. Ungeachtet dieser Unterschiede war die Farbfeldmalerei von einigen gemeinsamen Elementen bestimmt: Dazu gehörten das Eliminieren überflüssiger Details, die Betonung der Zweidimensionalität der Leinwand, der Vorsatz, emotionale Zustände darstellen zu wollen, und die Absicht, beim Betrachter Kontemplation und Nachdenken anzuregen. In der 1950er Jahren entwickelte Helen Frankenthaler (1928–2011) die Farbfeldmalerei weiter. Nachdem sie zunächst kubistisch gearbeitet hatte, begann sie mit dem stain painting, einer Art Fleckenmalerei: Sie ließ verdünnte Öl- oder Akrylfarben in die unvorbehandelte Leinwand einziehen und dort Flecken bilden. So entstanden Leinwände, deren Flecken integraler Bestandteil des Werks sind und den großen Farbflächen etwas Leichtes und Schwebendes verleihen. Frankenthalers Bilder wurden 1964 in einer Gemeinschaftsausstellung mehrerer Künstler in Los Angeles gezeigt, deren Werke Greenberg als Nachmalerische Abstraktion charakterisierte. Worum es geht Mit Farbfeldern auf großen Leinwänden zur Kontemplation anregen 167 168 Neue Richtungen 42 Pop-Art (1956--1970) In den 1950er Jahren erlebten Europa und die USA nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit den Siegeszug von Massenproduktion und Massenmedien. Der Konsum setzte ein, und einige Künstler in London und New York beschlossen, ihn zu ihrem Thema zu machen. Sie stellten die populäre und konsumorientierte Kultur in den Mittelpunkt, ihre Werke wurden als Pop-Art bekannt, die einen Gegensatz zum Abstrakten Expressionismus darstellte. Die 1950er und 1960er Jahre waren vom Konsum geprägt, der den Lebensmittelrationierungen der Nachkriegszeit in Großbritannien und Deutschland folgte. Auch in Amerika blühten Konsum, Massenproduktion und Massenmedien. Die Pop-Art, die sich damit auseinandersetzte, formierte sich ursprünglich nicht als ernstzunehmende Kunstrichtung, wurde dann aber ein wichtiger Teil der westlichen Kunstgeschichte und änderte die Haltung gegenüber der gehobenen bildenden Kunst. Symbole des Massenkonsums Die Pop-Art begann Mitte der 1950er Jahre und erreichte in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt. Sie war der erste künstlerische Ausdruck der Postmoderne. Die Künstler der Pop-Art wollten die trübe Nachkriegswelt aufhellen und die Zukunft feiern. Und sie wollten die populäre Konsumkultur aufgreifen, die abstrakte Kunst herausfordern und die Gesellschaft provozieren, die zwei Weltkriege zu verantworten hatte. In gewisser Hinsicht setzte sie in ihrer Revolte gegen die muffige, spießige Kunst und die sie fördernde Gesellschaft den Dadismus fort. Gleichzeitig teilten diese Künstler die Begeisterung für die Massenkultur ihrer Zeit, indem sie kommerzielle Bilder und Objekte verarbeiteten: Zeitungen, berühmte Personen, Werbung, Fast Food, Verpackungen, Popmusik, Fernsehen und Film. Zeitleiste 1956 1958 1961 In der „Whitechapel Gallery“ in London zeigt die Ausstellung This is Tomorrow die Werke vieler Künstler und Designer Lawrence Alloway verwendet erstmals den Begriff „Pop-Art“ für Kunst, die Alltagskultur und Massenmedien thematisierte. Jasper Jones: Drei Flaggen In London zeigt die Ausstellung The Young Contemporaries der „RBA gallery“ das Werk von David Hockney, Peter Blake und anderen Das war morgen In London fand 1956 in der „Whitechapel Pop-Art ‚ Pop Art is: popular, Gallery“ die Ausstellung This is Tomorrow statt, an der unabhän- transient, expendable, gige Künstler, Architekten, Musiker und Grafikdesigner der Inde- low-cost, masspendent Group teilnahmen und in Teams arbeiteten, während die produced, young, witty, ganze Zeit die Jukebox spielte. Thema der Ausstellung war das sexy, gimmicky, Alltagsleben, und die teilnehmenden Künstler verwerteten einige glamorous and big Vorstellungen und Techniken der Popkultur. Richard Hamilton business. (1922–2011) hatte für den Ausstellungskatalog eine Collage geschaffen, die fast ausschließlich aus Bildmaterial aus amerika- Richard Hamilton nischen Zeitschriften bestand und der er folgenden Titel gegeben hatte: Was macht unsere heutigen Wohnungen eigentlich so anders, so anziehend? In der Bildmitte ist ein roter Riesenlollipop mit der Aufschrift POP zu sehen, der nahezu sofort Kultstatus erhielt als Symbol für die damalige Kultur und Gesellschaft. This is Tomorrow gilt heute als entscheidende Wende in der Nachkriegskunst, die den britischen Pop einleitete. Allerdings wurde der Begriff „Pop-Art“ erst zwei Jahre später, 1958, im Architectural Digest von Lawrence Alloway (1926–1990) als Beschreibung dafür verwendet, wie einige Künstler die Bilder der Popkultur und des Konsums verwerten. Bald schufen weitere Künstler Werke auf der Grundlage von Bildern und Einstellungen der modernen Gesellschaft. So machte 1961 The Independent Group die Londoner Ausstellung Young ContempoDie Independent Group (IG) bestand aus raries zeitgenössische Künstler bekannt, Künstlern, Architekten und Intellektuellen, die darunter Peter Blake (*1932), Patrick Caulsich seit 1952 regelmäßig in London im „Instifield (1936–2005), David Hockney (*1937), tute of Contemporary Arts“ trafen. Man diskuDerek Boshier (*1937) und Allen Jones tierte über die Moderne und die Popkultur und (*1937). Die Arbeiten waren heiter und entwickelte Grundvorstellungen der Pop-Art. Zu beschwingt und entsprachen der Jugend und den Mitgliedern zählten Richard Hamilton, John der Popmusik in swinging London. GleichMcHale (1922–1978), Eduardo Paolozzi zeitig rebellierten in den USA einige Künstler (1924–2005) und William Turnbull (1922–2012) gegen die Vorherrschaft des Abstrakten sowie der Kritiker Lawrence Alloway und die Expressionismus und begannen ebenfalls, materialistische Bilder, oft auch kommerArchitekten Alison Smithson (1928–1993) und zielle Grafik und Drucktechnik zu verwenPeter Smithson (1923–2003). den, um Kunst an eine breite Öffentlichkeit ʻ 1962 1963 1967 International Exhibition of the New Realists in der „Sidney Janis Gallery“ in New York; Andy Warhol: Twenty Marilyns: Roy Lichtensteins erste Einzelausstellung; Claes Oldenburg: Floor Burger Roy Lichtenstein: Whaam! David Hockney: A Bigger Splash; Peter Blake gestaltet für die Beatles die Plattenhülle zu Sergeant Pepperʼs Lonely Hearts Club Band 169 170 Neue Richtungen Bilder im Cartoonstil Lichtenstein war in seinem Stil stark von Werbeanzeigen und Comics beeinflusst. Er verwendete einige Techniken der Comiczeichner wie dramatische Komposition, Beschneiden der Bilder und perspektivische Verkürzung. 1961 begann er, eigene übergroße Bilder im Cartoonstil zu malen, wobei sich seine Technik aus einem Druckverfahren ableitete, das ein ähnliches Raster wie die Benday Dots verwendet: Farbpunkte, die sich wie bei Pixeln auf dem Bildschirm, bei Rasterpunkten im Druck oder bei den Flecken in pointilistischen Bildern zu unterschiedlichen Farbtönen überlagern. Je nach Größe und Abstand der Rasterpunkte lassen sich verschiedene Farbtöne erzeugen. Eine heutige Illustration zum Stil von Roy Lichtenstein, dessen Pop-Art im Comicstil viele Nachahmer fand. heranzubringen. 1962 gab es in der New Yorker „Sidney Janis Gallery“ eine internationale Ausstellung der neuen Realisten. Künstler wie Claes Oldenburg (*1929) schufen riesige plastische Abbildungen alltäglicher Dinge; Roy Lichtenstein (1923– 1997) malte großformatige Comicbilder; Andy Warhol (1928–1987) schuf Siebdrucke von Prominentenportraits, Gebrauchswaren oder Kolportagen aus Zeitungen; Robert Rauschenberg (1925–2008) und Jasper Johns (*1930) zeigten in ihren Bildern und Skulpturen Symbole des Massenkonsums. Pop-Art ‚ Wir empfanden keinerlei Ablehnung gegenüber der Kommerzkultur wie üblicherweise die meisten Intellektuellen, sondern nahmen sie als Fakt, diskutierten sie im Detail und gebrauchten sie mit Begeisterung. Lawrence Alloway ʻ Missbilligung oder Unterstützung? Pop-Art war zuweilen kritisch gegenüber der Konsumgesellschaft, zuweilen aber auch damit einverstanden. Alle Popkünstler erteilten persönlichem Ausdruck eine Absage und entwickelten gegenständliche Stile. Sie wollten die Betrachter ihrer Bilder anregen, sich mit dem Geschmack und der Einstellung auseinanderzusetzen, der in der Öffentlichkeit verbreitet war – und die Grenzen der bildenden Kunst überschreiten. So beseitigten beispielsweise James Rosenquist (*1933) und Warhol die Trennung von Gebrauchsgrafik und bildender Kunst, indem sie ihre Erfahrungen aus der Gestaltung von Plakaten und anderen Werbemitteln einbrachten. Dabei gab es weder eine einheitliche Verfahrensweise oder Technik noch einen einheitlichen Stil. In der Pop-Art finden wir deshalb Vervielfältigungen, Drucke, Gemälde, Fotografien, Collagen oder dreidimensionale Werke, die sich in Material und Stil oft von der traditionellen bildenden Kunst unterscheiden. Viele Kritiker waren darüber entsetzt, wie hier „Triviales“ als Kunst präsentiert wurde. Ungeachtet der gemeinsamen ursprünglichen Anliegen und Einstellungen war die Pop-Art keine einheitliche Bewegung. Alle Künstler hatten ihre eigenen Ansätze und Absichten. Meist respektierten sie die Bilder, die sie zitierten. Ende der 1960er Jahre verlor die Pop-Art ihre Schockwirkung und es kamen neue Kunstrichtungen auf. Aber ihre Ideen haben dazu beigetragen, die Kunst aus der traditionellen elitären Enge herauszuholen in eine moderne, materialistische Konsumwelt. esAusdrucksformen geht GrellbunteWorum Kunst in den des Massenkonsums 171 172 Neue Richtungen 43 Op-Art (1960er Jahre) Im Herbst 1964 tauchte der Begriff „Op-Art“ im Magazin Time als Beschreibung eines neuen Kunststils auf, der optische Illusionen erzeugt. Diese „optische Kunst“ ist durch geometrische Muster und Verzerrungen gekennzeichnet, die im Auge des Betrachters die Illusion von Bewegung oder Flimmern hervorrufen. Der Beitrag im Magazin Time begann so: „Die Fehlbarkeit beim Sehen spielt und schlachtet die neue Bewegung der ‚optischen Kunst‘ aus, die überall in der westlichen Welt aus dem Boden schießt. Kein geringerer Bruch mit dem Abstrakten Expressionismus als die Pop-Art ist die Op-Art. Sie wurde von Wahrnehmungsforschern gemacht, um das Auge zu quälen, zu narren, ja, zu schmerzen, indem alle Zutaten für den Alptraum eines Optikers eingesetzt werden.“ Wahrnehmungsprozesse Die Op-Art war ebenso von Suprematismus und Konstruktivismus wie vom Neoimpressionismus, Neoplastizismus und von der Farbfeldmalerei beeinflusst. Die Künstler der Op-Art verwendeten geometrische Formen, Linien und Konturen, um optische Illusionen zu erzeugen. Dabei verwendeten sie manchmal nur schwarze und weiße Linien oder FläJede Form ist eine chen, aber auch Farbelemente konnten eingesetzt werden. Oft Grundlage für die Farbe; wiederholten sie ein Element musterartig über große Leinwände hinweg. Oder sie setzten Perspektive ein und trieben so ein subjede Farbe ist einer Form tiles Spiel mit den Prozessen der visuellen Wahrnehmung, das zugewiesen. beim Betrachter eine Illusion von Form, Tiefe oder Bewegung Victor Vasarely hervorzurufent. Immer abstrakt, scheinen diese Bilder bisweilen in sich bewegt, verzerrt oder flimmernd zu sein. Die meisten dieser Künstler stützten sich auf Farben- und Wahrnehmungstheorien und deren physische wie psychische Aspekte. Zu den führenden Vertretern gehörten: Bridget Riley (*1931), die viele Jahre lang nur schwarze und weiße Linien oder geometri- ‚ ʻ Zeitleiste 1938 1955 1956 1961 Victor Vasarely malt Zebra nur mit parallelen kurvigen Linien auf weißem Grund In Paris zeigt die Galerie von Denise René unter dem Titel Le Mouvement Op-Art und kinetische Kunst Alexander Calder: Rotes Mobile Bridget Riley: Movement in Squares Op-Art Bridget Riley Ein Gemälde von Bridget Riley lässt den Betrachter nicht zur Ruhe kommen, ob es nun eine Illusion von Wellen oder von abstrakten rhythmischen Linien auslöst. Viele Jahre arbeitete Riley nur mit schwarzen und weißen Elementen und variierte ihre Linien und Formen sehr subtil, um die diversen optischen Wirkungen zu untersuchen. Ihr ging es mit ihren jeweiligen Gemälden immer mehr um die dadurch ausgelösten Wahrnehmungsprozesse als nur darum, den Betrachter zu fesseln. Nach einem Ägyptenaufenthalt in den 1980er Jahren begann sie, Farbe zu verwenden. Viele ihrer Arbeiten sind durch ihre Erfahrungen und Beobachtungen etwa von Licht und Farbe in der Landschaft angeregt. Ein heutiges Beispiel für den Stil der Op-Art, das die typischen Schwarz-Weiß- Muster aus Linien und Flächen und ihre optische Wirkung verdeutlicht. 1962 1965 1969 Bridget Rileys erste Einzelausstellung Richard Anuszkiewicz: Intrinsic Harmony; Jesús Rafael Soto: Twelve Blacks and Four Silvers; Peter Sedgley (*1930): Yellow Attenuation; das Museum of Modern Art, New York, zeigt The Responsive Eye; der Modedesigner Larry Aldrich (1906–2001) entwirft Kleidung im Stil der Op-Art und wird später wegen Urheberrechtsverletzung von Riley verklagt Victor Vasarely: Vega-Nor 173 174 ‚ Neue Richtungen Für mich ist die Natur keine Landschaft, sondern die Dynamik visueller Kräfte … eher ein Ereignis als ein Erscheinungsbild. Diese Kräfte können nur angegangen werden, indem man Farbe und Form als grundlegende Einheit behandelt und sie von allen deskriptiven oder funktionalen Rollen befreit. Bridget Riley ʻ sche Muster auf ihre großen Leinwände malte, um den Anschein von Bewegung und Instabilität hervorzurufen; Victor Vasarely (1906–1997), der mosaikähnliche Bilder schuf, in denen die Mosaiksteine die Fläche vollständig ausfüllen und Raumillusionen entstehen lassen; sowie Jesús Rafael Soto (1923–2005), der Raum- und Tiefenillusionen mit Werken erzeugte, die in sich zu schwingen scheinen oder sich tatsächlich bewegen und somit eine Verbindung von Op-Art und kinetischer Kunst darstellen. Kinetische Kunst „Kinetisch“ bedeutet „mit Bewegung verbunden“. Kinetische Kunstwerke bewegen sich tatsächlich, im Gegensatz zur Op-Art, die nur den Anschein von Bewegung erweckt. Sie ist üblicherweise dreidimensional aus beweglichen Teilen gestaltet, die durch einen integrierten Mechanismus oder äußeren Anstoß in Happenings Bewegung gesetzt werden können. In den 1950er und 1960er Jahren, also etwas vor der Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre Entwicklung der Op-Art, begannen einige kamen Happenings in Mode, eine Form der Künstler, kinetische Skulpturen zu entwerfen. Aktionskunst, die sich in den USA entwickelte, Zu ihnen gehörten Alexander Calder (1898– als Künstler Vorführungen oder Geschehnisse 1976), George Rickey (1907–2002) und Jean vor Zuschauern gestalteten. Happenings werTinguely (1925–1991). Sie arbeiteten unabhänden oft als Weiterentwicklung der kinetischen gig voneinander an Mobiles, die sich im LuftKunst oder auch des Dadaismus und Surrealiszug drehen, oder kinetischen Skulpturen, die mus gesehen. Der Name taucht erstmals 1959 sich zufällig ein- und ausschalten oder auch in einer Ankündigung des Künstlers Allan selbst zerstören. Bereits Duchamp, Gabo und Kaprow (1937–2006) für ein Event in New York einige Konstruktivisten hatten kinetischen auf: 18 Happenings in 6 Parts. Dabei liefen Kunstformen den Weg geebnet, die aber erst in gleichzeitig verschiedene Aktionen – oder den 1960er Jahren populär wurden. Die genauer: Geschehnisse – in abgeteilten RaumBezeichnung „kinetische Kunst“ wurde um die bereichen ab. Happenings wurden zwar vorab Mitte der 1950er Jahre für Werke geprägt, die geplant, bezogen aber das Publikum in das Künstler wie Soto neben solchen der Op-Art Geschehen ein, mussten demnach improvisiert schufen. Viele kinetische Kunstwerke sind aus werden und sollten überall stattfinden können. geometrischen Formen komponiert. Op-Art Das reagierende Auge 1965 brachte die Ausstellung The Responsive Eye im New Yorker Museum of Modern Art die Op-Art der amerikanischen Öffentlichkeit ins Bewusstsein. Zum ersten Mal wurde die optische Kunst von Riley, Vasarely, Albers, Richard Anuszkiewicz (*1930), Julian Stanczak (*1928), Tadasky (*1935) und anderen gezeigt. Einige Besucher kamen dorthin, voll Bewunderung sogar in eine von der Op-Art inspirierte Mode gekleidet. Manche Kritiker dagegen verdammten diese Kunst als mit trickreichen visuellen Gags überladen. Aber da die Op-Art der Mode der 1960er Jahre entsprach, wurde sie rasch Ich glaube, je mehr ich populär, insbesondere in den Printmedien, im Fernsehen, in der Werbung, Grafik und Innenraumgestaltung. Trotzdem erreichte mein Bewusstsein die Op-Art nie ein so breites Ansehen und einen derart internaschärfe, desto mehr tionalen Bekanntheitsgrad wie die Pop-Art. Möglichkeit haben die Das primäre Ziel der Op-Art bestand darin, das Auge zu täuDinge, mich zu schen und mit statischen Kunstwerken Bewegungsillusionen zu durchdringen. erzeugen. Farben, Linien und Formen wurden nicht ausgewählt Bridget Riley und gestaltet, um besondere Stimmungen oder Atmosphären zu erzeugen oder um Geschichten darzustellen, sondern um bestimmte visuelle Wahrnehmungen auszulösen. Farben, Formen, Linienführung und Perspektive wurden so eingesetzt, dass sie den Betrachter mit optischen Illusionen verwirren. Diese Werke leben erst, wenn sie angeschaut werden. Aber die Künstler der Op-Art begrüßten nicht jeden Beifall der Öffentlichkeit. So drohte Bridget Riley einem Stofffabrikanten, der ihre Arbeiten zur Grundlage von Stoffmustern gemacht hatte, mit einer Urheberrechtsklage, weil sie meinte, dass Kommerzialisierung, Trittbrettfahrerei und Sensationsgier die Welt der Kunst zerstören würden. ‚ ʻ Erstaunliche Wirkungen Die Op-Art schöpfte aus mehreren Quellen. Vasarely beispielsweise war ursprünglich Grafiker gewesen, und sein Werk lässt sich als unmittelbare Fortentwicklung davon sehen. Seine Gemälde zielen nicht darauf ab, den Betrachter zu verwirren, sondern ihn zu fesseln und einen Eindruck von Farben und Formen bei ihm hervorzurufen. Rileys Bilder dagegen mögen manchen eher wissenschaftlich und mathematisch ausgerichtet erscheinen, aber sie selbst sagte, dass sie immer intuitiv gearbeitet habe, wenn auch mit großer Sorgfalt. Viele Bilder der Op-Art sind desorientierend, verblüffend oder verwirrend. Und obwohl diese Bilder meist abstrakt sind, glaubt man mitunter in ihnen Elemente wie Wasser, Feuer oder Wind wiederzuerkennen. Worum es geht Auslösen von optischen Illusionen 175 176 Neue Richtungen 44 Minimal Art (1960er Jahre) Der britische Philosoph Richard Wollheim (1923–2003) schrieb 1965 einen Artikel über Colour-Field-Painting und Dadaismus unter der Überschrift Minimal Art. Dieser Begriff wurde dann für eine Form abstrakter Kunst verwendet, die sich damals in New York entwickelte. Es war eine extreme Kunstform, die aus verschiedenen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts hervorging. Die Minimal Art war eine Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus. Die Minimal-Künstler wollten dessen emotionale Subjektivität durch Rationalität und unparteiische Objektivität ersetzen. Statt ihre Farben auf die Leinwand zu spritzen oder zu tropfen, arbeiteten sie mit nüchterner mathematischer Genauigkeit. Kunst sollte aus minimalistischer Sicht kein Abbild von irgendetwas sein, sondern ihre eigene Identität haben. Und sie richtete sich gegen die Extreme und Eitelkeiten, die diese Künstler dem Abstrakten Expressionismus unterstellten. Die Minimal-Künstler übernahmen aber die konstruktivistische Vorstellung, dass Kunst aus industriell gefertigten Werkstoffen und Werkstücken gestaltet werden sollte wie Ziegel, Leuchtstoffröhren oder Blech. Reduktion der Kunst auf das Wesentliche Bei dem Versuch, die Kunst aus den Fesseln der Tradition zu befreien, konzentrierten sich die Minimal-Künstler auf die Ideen hinter der Kunst und beließen die verwendeten Materialien im vorgefundenen Zustand. Sie gestalteten ihre Werke auf der Grundlage einfacher geometrischer Formen und nahmen Farben, Formen, Linien und Texturen zurück, um jeden Anschein persönlichen Ausdrucks zu vermeiden. Sie wollten, dass ihre Werke ohne Ablenkung durch abgebildete Gegenstände, Geschichten oder Binnendifferenzierung betrachtet und erlebt werden. Die meisten Minimal-Künstler schufen dreidimensionale Installationen, aber einige wenige malten auch, wobei sie jeden Versuch vermieden, etwas darzustellen oder Wahrnehmungsillusionen zu erzeugen. Zu den Zeitleiste 1959 1962 1963 Die Ausstellung Sixteen Americans im Museum of Modern Art, New York, zeigt unter anderem Frank Stellas schwarze Bilder Sol LeWitt beginnt mit seinen „Strukturen“, die der Betrachter bei der Wahrnehmung komplettiert; Ad Reinhardt: Abstract Painting No. 5 Dan Flavin: Diagonal of May 25, 1963 (to Constantin Brancusi) – Beginn der Lichtinstallationen mit Leuchtstoffröhren Minimal Art führenden Minimal-Künstlern gehören Frank Stella (*1936), Carl Andre (*1935), Ellsworth Kelly (*1923), Ad Reinhardt (1913–1967), Dan Flavin (1933–1996), Donald Judd (1928–1994), Sol LeWitt (1928–2007), Robert Morris (*1931) und Richard Serra (*1939). Theoretische Konzepte Die Kunstrichtung begann mit den Black Paintings von Frank Stella, einer Serie von Gemälden, die aus dicht nebeneinandergemalten schwarzen Streifen auf weißer Leinwand bestehen und keine verborgene Bedeutung, Symbolik oder Bezüge haben. Ein Bild ist für Stella „eine flache Oberfläche mit Farbe darauf – mehr nicht“. Diese schwarzen Bilder wurden erstmals 1959 im Museum of Modern Art in New York bei der Ausstellung Sixteen Americans gezeigt Dieser Ausstellungsraum ist in Schwarz und Weiß gestaltet gemäß den Prinzipien der Minimal Art: leerer Raum, klare Linien und reduzierte Elemente. 1964 1965 1966 Donald Judd beginnt, mit Plexiglas zu arbeiten – neben anderen Werkstoffen Richard Wollheim verwendet den Begriff „Minimal Art“ Im Artforum versucht Robert Morris die Minimal Art zu erklären – anhand seiner Notes on Sculpture 1–3; Carl Andre: Equivalent VIII 177 178 Neue Richtungen ‚ Man muss Licht nicht als Tatsache verstehen, aber ich tue das, und es ist, wie ich gesagt habe, so klar, offen und unmittelbar eine Kunst, die ihresgleichen sucht. Dan Flavin ʻ und regten einige Künstler an, nach ähnlichen Prinzipien zu arbeiten, oft auch unter Einbeziehung der dritten Dimension. Die Minimal Art entwickelte sich aus theoretischen, nicht so sehr aus praktischen Überlegungen und wurde in den 1960er Jahren unter Künstlern populär. So verwendete Donald Judd (der sich heftig dagegen wehrte, als Minimal-Künstler bezeichnet zu werden) industrieübliche Werkstoffe, um abstrakte Werke zu schaffen, die die Reinheit von Farbe, Form und Raum betonen und jede Illusion vermeiden. In den 1960er Jahren begann er mit der Gestaltung dreidimensionaler Werke, die er specific objects nannte und die die Beziehung zwischen Werk, Betrachter und umgebendem Raum in den Mittelpunkt rücken. Carl Andre war von Constantin Brancusi (1876–1957) und Stella beeinflusst; er lehnte wie die anderen Minimal-Künstler die Traditionen künstlerischen Ausdrucks und kunstfertiger Techniken ab, setzte industriell gefertigte Teile wie Ziegel oder Metall-, Plexiglas- und Holzstücke ein und arrangierte diese in einfachen geometrischen Anordnungen zu Bodenskulpturen. Dan Flavin arbeitete mehr als 30 Jahre lang mit farbigen Leuchtstoffröhren, um deren Wirkung auf Raum, Licht und Farbe zu erforschen. Sol LeWitt begann 1962, mit abstrakten Reliefs in Schwarz und Weiß zu experimentieren; später folgten einfache geometrische Kompositionen aus einigen wenigen Grundformen wie Würfel, Kugel oder Dreieck in den Farben Rot, Gelb, Blau oder Schwarz. Manchmal wirken seine Skulpturen völlig logisch, dann wieder unlogisch, aber das war beabsichtigt, Prinzip der Reduktion Bei der Minimal Art ging es darum, die Kunst auf das absolute Minimum zu reduzieren, um die Grundidee herauszustellen. Es gab keine Vieldeutigkeiten oder emotionalen Anspielungen – im Gegensatz zum Abstrakten Expressionismus. Für Minimal-Künstler existierte nicht mehr nur Malerei oder Bildhauerei, vielmehr ver- wendeten sie übergreifend neue Materialien, um innovative Konzepte umzusetzen. Künstler wie Dan Flavin und – viel später – Iván Navarro (*1972) verwendeten Leuchtstoffröhren, um die Wahrnehmung des Raumes zu verändern. Die Minimal Art strebte nach Nüchternheit: Was man sieht, ist das, was es ist. Minimal Art damit jeder Betrachter sie deuten kann, wie er mag. Hohl- und Zwischenräume sind – wie beim Konstruktivismus – ebenso bedeutend wie das Objekte selbst. Ad Reinhardts monochrome Gemälde hatten, wie seine Schriften und seine Lehrtätigkeit, deutlichen Einfluss auf die Minimal Art. The Bricks Andre schuf 1966 acht Bodenskulpturen, die jeweils aus 120 gebrannten Ziegelsteinen bestehen, und nannte sie Equivalents. Obwohl sich die acht Werke nicht gleichen, ist die Anzahl der verwendeten Ziegelsteine immer „äquivalent“ im Sinne von Mathematik und Logik, deren Konzept hier aufgegriffen wird. Equivalent VIII ist die letzte Skulptur dieser Serie und wird oft einfach nur The Bricks genannt. Als die Tate Gallery in London 1972 dieses Werk erwarb, zog sie massive Kritik auf sich, weil man das für Verschwendung von Steuergeldern hielt. Was man sieht … Die Minimal-Künstler gingen über die Ideen der Pop-Art und der Readymades des Dadaismus hinaus, indem sie Baumaterialien verwendeten – Aluminium, feuerverzinkten Stahl, Ziegelsteine, Holz und Leuchtröhren. Diese Materialien aus industrieller Fertigung sollten das Werk unpersönlich machen. Wenn Farbe mit im Spiel war, diente sie nicht dazu, Stimmungen oder Gefühle auszudrücken oder irgendetwas zu symbolisieren, sondern Farben sollten einfach eine Balance in das Werk bringen oder zur Unterscheidung Was man sieht, ist, von Formen, Raum oder Material beitragen. Die Minimal-Künst- was man sieht. ler waren häufig an Geometrie interessiert, arbeiteten oft mit Frank Stella Linienrastern und brachten mathematische Ideen in ihre Werke ein. Zudem waren sie entschlossen, jede Andeutung eines persönlichen Einflusses in ihren Werken zu vermeiden. Immer galt: Man bekommt das, was man sieht. Jedes Werk der Minimal Art sollte ohne verborgene Absichten, tiefere Bedeutung oder emotionale Assoziationen angelegt sein. Das Interesse der Künstler, die nach dem Wesen der Kunst und ihrem Platz in der Gesellschaft fragten, galt mehr der Reaktion des Betrachters als den Objekten selbst. Es war ein vollkommen revolutionärer Ansatz, der – trotz allen Hohns und Spotts – die nachfolgende Kunst inklusive Design und Architektur stark beeinflusst hat. ‚ ʻ Worum es geht Abkehr von sozialer Botschaft, emotionalem Ausdruck und Anmaßung 179 180 Neue Richtungen 45 Concept-Art (seit den 1970er Jahren) In den späten 1960er Jahren kam der Begriff „Concept-Art“ (Konzeptkunst) auf, mit dem eine Form von Kunstwerken beschrieben wurde, die offensichtlich nicht der traditionellen Form von Kunstobjekten entsprach. Die Prinzipien der Concept-Art bestehen darin, den Ideen Vorrang vor den traditionellen Materialien, Techniken und künstlerischen Fertigkeiten einzuräumen. Einen wesentlichen Einfluss auf die Concept-Art übte Duchamps Hinterfragen (und Verspotten) von Regeln der Kunst aus. Aber man kann die Wurzeln auch allgemein in einer Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts sehen, zu der der Expressionismus Kandinsky’scher Prägung, der Neoplastizismus, der Abstrakte Expressionismus, die Colour-Field-Painting und die Minimal Art beitrugen. Vermittlung von Ideen Concept-Art wird als Sammelbegriff für unterschiedliche Kunstformen verwendet, darunter Performance und sonstige Aktionskunst, Installationen, Videokunst, Earthworks und Land-Art. Wie bei der Minimal Art geht es bei dieser Kunst eher um Fragen als um Antworten. Nicht nur daher gibt es viele Überschneidungen zwischen diesen beiden Richtungen – einige Künstler können beiden zugerechnet werden. Sol LeWitt etwa betrachtet sich selbst als Konzeptkünstler, aber viele seiner Werke lassen sich als minimalistisch klassifizieren. Die Skulpturen von Robert Morris gehören zur Minimal Art, aber ein Großteil seines Werks muss der Concept-Art zugerechnet werden. Der Name „Concept-Art“ macht schon klar, dass darunter fast alles gemeint sein kann, denn es geht schlicht um die Art, wie Künstler ihre Ideen vermitteln. Die Konzeptkünstler gehen in ihrem Denken über die Grenzen der traditionellen Kunst hinaus und präsentieren ihre Vorstellungen in der jeweils passenden Form, was immer das sein mag. Die Idee ist immer wichtiger als das Endergebnis. Zeitleiste 1960 1962 1963 1967 Yves Klein scheint in seiner Fotomontage Sprung in die Leere aus dem Fenster zu springen Yves Klein: S 41 (Blaue Venus) Henry Flynt veröffentlicht seinen Artikel Concept Art in dem Sammelband An Anthology of Chance Operations Sol LeWitt grenzt in seinen Paragraphs on Conceptual Art die Concept-Art gegen die Minimal Art ab Concept-Art ‚ Ideen allein können Kunstwerke sein; sie gehören zu einer Entwicklungskette, die am Ende irgendeine Form findet. Nicht alle Ideen müssen physisch fassbar gemacht werden. Sol LeWitt ʻ Die Concept-Art, wie wir sie heute verstehen, begann in den 1960er Jahren, als einige Künstler Dadaismus und Minimal Art miteinander verbanden. Sie setzte gleichzeitig in verschiedenen Ländern ein und wurde trotz heftiger Kritik von vielen Seiten sehr einflussreich. Viele Künstler, die ihr zugerechnet werden, haben sich die Concept-Art nicht ausgesucht. Die meisten schlossen sich keiner Gruppe an und schrieben keine Manifeste, sondern drückten auf vielfältige neue Weise ihre Gefühle und Einstellungen aus, oft im Gegensatz zur konventionellen Kunst. Zu den Konzeptkünstlern gehören beispielsweise: Joseph Beuys (1921–1986), der durch viele spektakuläre Aktionen bekannt wurde; Marcel Broodthaers (1924– 1976), der Alltagsgegenstände, Worte, einfache Zeichnungen, Kurzfilme und dreidimensionale Strukturen präsentierte; Victor Burgin (*1941), der Text und Bild nebeneinanderstellt und Videoinstallationen produziert; Michael Craig-Martin IKB 1957 führte Klein sein eigenes Blau ein, eine Farbmischung aus dem Ultramarinpigment mit verschiedenen Chemikalien, die ein reines, leuchtendes Blau liefert: das International Klein Blue IKB. Das Ultramarinblau war in der Kunst seit Jahrhunderten eine besondere, mit verschiedener Symbolik verbundene Farbe, die vor der Renaissance aus kostbarem Lapisla- zuli hergestellt wurde. Beispielsweise malte man den Umhang Mariens in dieser Farbe, die später auch Kandinsky und Marc als Künstler des „Blauen Reiters“ verwendeten. Klein färbte mit seinem IKB alles, von der riesigen Leinwand bis zur antik gestalteten Skulptur, womit er die Unterschiede zwischen Malerei und Bildhauerei verdeckte. 1970 1971 1973 Erste Kunstausstellung zur Concept-Art im „New York Cultural Centre“ Gilbert & George schaffen ihre ersten photo pieces Lucy Lippard (*1937) publiziert ihr Buch Six Years, in dem sie die Ideen der Concept-Art detailliert beschreibt 181 182 Neue Richtungen (*1941), der Readymades mit Texten zusammenstellt und Lehrer einiger Konzeptkünstler war; das Künstlerpaar Gilbert & George, zu dem sich Gilbert Proesch (*1943) und George Passmore (*1942) zusammengetan haben und das für seine living art mit besonderen formalen Elementen und Farbkonzeptionen bekannt ist; Yves Klein, der mit vielen Techniken des Farbauftrags experimentierte; Joseph Kosuth (*1945), der das Wesen der Kunst und weniger die Kunst selbst untersucht, und Henry Flynt (*1940), der den Begriff der Konzeptkunst prägte. Kampfansage an etablierte Konzepte Die Vorstellung, dass Künstler immer irgendwelche materiellen Kunstobjekte schaffen müssten, gehörte zu den Annahmen, die die Konzeptkünstler als Erstes infrage stellten. Sie hielten das Endprodukt für weniger wichtig als die Konzeption und ihre Entwicklung. Unter diesem Aspekt ist auch die technische Kunstfertigkeit zweitrangig. Entsprechend hat sich die Concept-Art auf vielfältige Weise manifestiert und werden ihr sehr unterschiedliche Strömungen zugeordnet, so dass man nicht leicht sagen kann, was genau sie ist, wann sie begann und wer sie letztendlich begründete. Darüber wird weiter diskutiert, aber es herrscht Einigkeit darin, dass die Concept-Art eine Kunstform ist, die – wie die Minimal Art – die traditionelle Vorstellung von Kunstschaffen infrage stellt, ja, Position dagegen bezieht, auch im Hinblick auf Ausstellungen und Betrachtungsweisen. Künstler beider Richtungen betonten, dass dem individuellen Kunstwerk früher eine viel zu große Bedeutung beigemessen wurde. Dadurch sei eine unflexible und elitäre Kunst entstanden, die von den Massen ferngehalten werde und daher nicht von allen genossen werden könne – wie bereits das Konzept der Pop-Art beanstandete. Konzeptkünstler verfolgen ihre Ideen, ohne sich auf traditionelle Malerei, Bildhauerei oder auch Ausstellungen in Galerien beschränken zu müssen. Sie haben sich davon befreit und etwas geschaffen, das sich mit traditionellen Maßstäben schwer beurteilen lässt. Manchmal sind ihre Ideen extrem einfach, Kunst und Sprache Ende 1968 gründete sich die britische Gruppe „Art & Language“, ein Zusammenschluss von Künstlern, die sich in Coventry als Lehrer begegnet waren. Es waren dies Terry Atkinson (*1939), David Bainbridge (*1941), Michael Baldwin (*1945) und Harold Hurrell (*1940). Später kamen noch andere Künstler hinzu, schließlich verbarg sich unter dem Namen eine ständig wechselnde Gruppe von Konzeptkünstlern. Mit ihrer Zeitschrift ArtLanguage, in der individuelle Konzepte eines sprachbezogenen Kunstschaffens diskutiert wurden, haben sie die ConceptArt insbesondere in den USA und in Großbritannien beeinflusst. Concept-Art ‚ Alle wichtige Kunst von heute kommt aus der Concept-Art. Dazu gehören Installationskunst, politische, feministische und sozial orientierte Kunst. Sol LeWitt ʻ dann wieder tiefgründig oder komplex, bisweilen auch bewusst unsinnig oder beschränkt. Bei den Konzeptkünstlern steht der Protest gegen Armut und Krieg nicht so im Vordergrund wie bei anderen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts, aber sie reflektieren ihre Irritation und Enttäuschung über die politische und soziale Situation durchaus. 1967 beschrieb LeWitt die Concept-Art in seinem Artikel Paragraphs on Conceptual Art in der amerikanischen Zeitschrift Artforum als eine Kunstrichtung, bei der Kunst gemacht werde, die stärker den Geist des Betrachters als dessen Auge oder Empfindungen beschäftige. Wie LeWitt weiter erläuterte, sei auch Kunst, die gerade erst als Idee geboren wurde und noch nicht geschaffen sei, bereits Kunst. Dementsprechend haben Konzeptkünstler ihre Ideen oft bewusst schlicht visualisiert, um den Betrachter auf das Wesentliche ihrer Botschaft zu fokussieren. Seit ihrer Blüte in den 1970er Jahren ist die Concept-Art eine international verbreitete Richtung geblieben. Worum es geht Herausfordernde Antworten auf die Frage „Was ist Kunst?“ 183 184 Neue Richtungen 46 Performance (1970er--1980er Jahre) Performance, eine Form der Aktionskunst, wird oft der Concept-Art zugerechnet. Ihre Wurzeln liegen in den theatralischen Inszenierungen der Futuristen, Surrealisten und Dadaisten, insbesondere in den Vorstellungen im „Cabaret Voltaire“, sowie in den Action-Paintings und Happenings der 1960er Jahre. Performance verwirklichte eine Idee, die sich im 20. Jahrhundert in verschiedenen Kunstrichtungen entwickelt hatte – nämlich die, dass Künstler und Betrachter wechselseitig voneinander abhängen. In den 1960er Jahren kam der Begriff „Performance“ für Auftritte und Inszenierungen auf, mit denen Künstler ihre Ideen auf verschiedene Weise körperlich ausdrückten – etwa durch Tanzen, Singen, Pantomime, schauspielerische Darbietung oder andere Formen der Vorführung. Diese Performances konnten einmal oder mehrfach gezeigt werden, an erwarteten oder unerwarteten Orten stattfinden, geplant oder spontan entstehen. In Deutschland spricht man auch von „Aktionskunst“ und in Österreich von „Aktionismus“. Sie waren in den 1960er und 1970er Jahren ein verbreitetes Phänomen. Performance wird heute als Teil der Aktionskunst und damit der Concept-Art betrachtet. Aktionsfotografie Ein wichtiger Impuls ging von einer Fotoserie aus, die 1950 der Fotograf Hans Namuth (1915–1990) von Jackson Pollock während des Schaffens von Gemälden aufgenommen hatte. Diese Fotos machten bei Künstlern, Kritikern und Kunstfreunden die Ideen des Action-Painting bekannt und regten weitere Methoden des Kunstschaffens an, bei denen der gesamten menschliche Körper eingesetzt wird. Zudem kamen etwa zur gleichen Zeit die „Happenings“ auf, vor allem in New York, die sich rasch weltweit verbreiteten. Diese Vorform der Performance erforderte ebenso eine Beteiligung der Zuschauer wie des Künstlers selbst und wurde deshalb auch zur Aktionskunst gerechnet. Ein bedeutender Pionier der Akti- Zeitleiste 1950 1952 1963 1965 Hans Namuth nimmt Jackson Pollock beim Action-Painting auf Der Komponist John Cage vollzieht am Black Mountain College in North Carolina mit Untitled Event das Ur-Happening Joseph Beuys inszeniert seine ersten Kunstaktionen an der Akademie Düsseldorf Bruce Nauman gibt die Malerei auf und wendet sich der Performance zu Performance ‚ onskunst war Joseph Beuys, der im Zweiten Weltkrieg als In Zukunft wird jeder Kampfpilot der deutschen Luftwaffe abgestürzt war und blei15 Minuten lang berühmt bende Verletzungen davongetragen hatte. Ab 1963 beeindruckte sein. er mit Aktionen, die einige seiner Erfahrungen reflektierten. In Andy Warhol vielfältigen Metaphern und Anspielungen drückten sie soziale und politische Fragen und menschliches Leid aus. In Großbritannien präsentierten Gilbert & George ab 1969 Performances, die sie selbst allerdings als living art bezeichneten. Aktionskunst umfasst viele Formen. Aktionen wie Performances sind naturgemäß nicht von Dauer. Eines der anfänglichen Probleme war daher das Fehlen einer Dokumentation in Form von Fotos, Filmen oder Videoaufnahmen, durch die die neuen Ideen einem breiteren Publikum nahegebracht werden konnten. Meist gab es auch kein Skript wie bei Theateraufführungen. Eine Performance beruhte gewöhnlich auf einem inhaltlichen Konzept und war kein Fluxus Bühnenstück, auch wenn dabei Geschichten Das lateinische Wort steht für das Fließen oder aufgeführt werden konnten. Die Aktionen den Fluss und wurde von einer Künstlergruppe waren nicht zur reinen Unterhaltung gedacht, um George Maciunas (1931–1978) und John sondern die Künstler wollten das Publikum Cage (1912–1992) in New York als Titel einer anregen, seine Einstellung zu Leben, Politik geplanten Zeitschrift gewählt. Der Fluxus war und Gesellschaft, Psychologie und vielen eine Wiederaufnahme des Dadaismus und anderen den Künstlern wichtigen Themen zu unterstützte gleichermaßen living art (lebende überprüfen. Einige Performances persiflierten Kunst) wie Antikunst, wobei die Grenzen zwidas Leben, andere drückten Protest aus und schen Leben und Kunst fließend sein sollten. wieder andere forderten das Publikum auf, Viele Künstler weltweit griffen den Fluxus auf. allgemein akzeptierte Einstellungen, MeinunEinige nahmen 1963 am internationalen Fesgen und Verhaltensweisen zu hinterfragen. tum Fluxorum Fluxus teil, einem instrumentalen Aktionskunst wollte eine Form der unmittelTheater der Musik und Antimusik an der Kunstbaren Kommunikation mit dem Publikum akademie Düsseldorf, wo Joseph Beuys lehrte. sein, die Aufmerksamkeit weckt, zum NachAnders als die traditionellen Kunstrichtungen denken anregt und immer darauf aus ist, Verstellte der Fluxus nicht das geschaffene Kunständerungen von Standpunkten oder Wahrnehwerk in den Mittelpunkt, sondern die Aktionen mungsgewohnheiten anzustoßen. ʻ und Emotionen von Künstler und Betrachter. 1968 1969 1970 Stuart Brisley (*1933) inszeniert seine erste Performance Ritual Murder im Londoner Hyde Park John Lennon (1940–1980) und Yoko Ono (*1933) demonstrieren mit einem bed-in gegen den Vietnamkrieg und für den Frieden, indem sie zwei Wochen in einem Doppelbett verbringen Gilbert & George treten in feinen Anzügen und mit goldgeschminkter Haut als „singende Skulptur“ auf, die sich roboterartig bewegt und den Song Underneath the Arches vorträgt, der vom Elend unter den Brücken während der Großen Depression handelt 185 186 Neue Richtungen ‚ Menschen kommen zur Kunst, um etwas zu verstehen, das sie noch nicht verstehen, das noch nicht in ihrem Leben existiert. Gilbert & George Die Deutung der Künstler Bei Yves Klein war die Perfor- mance mit Malen verbunden. So ließ er 1961 mit drei nackten Modellen, die er mit seiner blauen Patentfarbe IKB angemalt hatte, als lebendigen Farbträgern weiße Papierbahnen bedrucken; die so entstandenen Werke nannte er „Anthropometrien“. Andy Warhol war berühmt für neue Formen von Events und Performances, die er mit seinen Freunden bei Partys oder öffentlichen Veranstaltungen in New York inszenierte, seien es Musikoder Filmaufführungen bzw. Diashows. 1970 traten Gilbert & George als lebende Skulptur auf – mit vergoldeten Gesichtern und Händen. Sie sangen Underneath the Arches und bewegten sich dazu lange bei Playback-Begleitung. Seitdem zeigen sie sich selten in der Öffentlichleit ohne die Anzüge, die sie bei dieser Performance trugen, und bestehen darauf, dass alles, was sie tun, als Kunst betrachtet wird. Ana Mendieta (1948–1985) machte in ihren Per- ʻ Silent Performance Aktionskunst ist etwas anderes als künstlerische Aktion. Das Publikum mag Unterhaltung erwarten wie bei anderen Vorführungen, aber das ist nicht die Intention von Performancekünstlern. Sofern die Performance nicht in eine Veranstaltung eingebunden ist, gibt es keine Eintrittskarten, und die Aktion ist einmalig. Der Komponist John Cage inszenierte 1952 ein berühmtes Happening in New York, das die gesamte nachfolgende Performance geprägt hat. Es war die Uraufführung des Stücks 433ʼʼ für Orchester, bei dem die Musiker mit ihren Instrumenten vier Minuten und 33 Sekunden vor dem Publikum saßen, ohne einen einzigen Ton zu spielen. Die Publikumsgeräusche, etwa Husten oder Gescharre, wurden Teil der Aktion, die Fragen zu den Erwartungen an Musikaufführungen aufwarf. John Cage präpariert einen Flügel, indem er Gegenstände zwischen und auf den Saiten und Hämmern anbringt – fotografiert 1957. Performance ‚ Ich wollte ganz nach draußen gehen und einen symbolischen Beginn machen für ein Unternehmen, das Leben der Menschheit zu regenerieren innerhalb des Körpers der menschlichen Gesellschaft, und um eine positive Zukunft in diesem Zusammenhang vorzubereiten. Joseph Beuys ʻ formances der 1970er Jahre die kulturelle und geschlechtliche Identität zum Thema und spielte ihre Erfahrungen als Exilkubanerin in Amerika aus. Beuys’ unkonventionelle Aktionen und sein Auftreten mit Anglerweste und Filzhut wurden zum Markenzeichen seiner Kunst, die seine Überlegungen etwa zu Nuklearwaffen oder Umweltproblemen ausdrückte – wie die 7000 Documenta-Eichen in Kassel, mit denen er „nach draußen“ ging. Der Grundsatz, dem Konzept der Kunst Vorrang vor dem Kunstwerk einzuräumen, geht auf verschiedene Bewegungen der Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts zurück. Performance- und Aktionskünstler wollten die Kunst aus den Galerien herausholen – entgegen der Tradition, die nur wenigen Privilegierten ein Kunstverständnis zusprach. Nebenbei ging es ihnen auch darum, den Kapitalismus im Kunstbetrieb zu beseitigen – es sollte keine Agenten, keinen kostbaren Wandschmuck und keine teuren Ankäufe mehr geben. Die Kunst sollte wirklich für alle da sein. Natürlich ließ sich diese utopische Idee kaum verwirklichen, aber viele dieser Künstler hatten politische Absichten und wollten die Betrachter dazu anzuregen, über einige Dinge neu nachzudenken. Worum esKünstler geht neue Aktionen, mit denen Sichtweisen initiieren und bestärken 187 188 Neue Richtungen 47 Land-Art (1960er Jahre -- Beginn des 21. Jahrhunderts) Ende der 1960er Jahre entwickelte sich die Land-Art als eine der vielen Kunstrichtungen, mit denen die Künstler sich von dem in ihren Augen krassen Kommerz in der Kunstwelt absetzen wollten. Bei der Suche nach neuen Materialien, Themenbereichen und Örtlichkeiten für das Kunstschaffen und das Ausstellen von Kunst verfielen einige auf Großraumskulpturen aus natürlichen Materialien, die sie oft in die Landschaft stellten. Land-Art zeichnet sich dadurch aus, dass die Kunst in unmittelbarem Zusammenhang mit der Landschaft geschaffen wird. Sie entwickelte sich als Richtung innerhalb der Concept-Art in den 1960er und 1970er Jahren. Die Künstler der Land-Art verwendeten natürliche Materialien, um Meine Aufgabe ist es, die Landschaft auf verschiedene Weise umzugestalten. Anfängmit der Natur als Ganzer lich veränderten sie die Landschaft nur mit bildhauerischen Mitteln. Einige dokumentierten mit vergänglichen Werken in ihrer zu arbeiten. Andy Goldsworthy künstlerischen Handschrift, wo sie in der Landschaft gewesen waren. Später brachten andere natürliche Objekte wie Steine, Erde, Zweige oder Felsen in die Galerien, um Installationen daraus zusammenzufügen, oder sie machten daraus Kunstwerke, die sie im Freien aufstellten. Viele dieser Werke waren dann in Galerien in Foto- und Filmaufnahmen zu sehen. ‚ ʻ Vergänglich und einmalig Zu den bekanntesten Vertretern der Land-Art gehörten bzw. gehören Robert Smithson (1938–1973), Richard Long (*1945), Andy Goldsworthy (*1956), Michael Heizer (*1944), Walter De Maria (*1935), Nancy Holt (*1938) und Dennis Oppenheim (1938–2011). Die Land-Art begann in den Zeitleiste 1967 1968 1969 1970 Richard Long: A Line Made by Walking – Foto eines Trampelpfads, den er beim Laufen durch eine Wiese in England geschaffen hatte Eröffnung der Ausstellung Earthworks in der „Dwan Gallery“ in New York Ausstellung Earth Art an der Cornell University in New York Robert Smithson: Spiral Jetty – der zur Spirale umgestaltete Uferbereich des Großen Salzsees in Utah Land-Art Spiral Jetty Robert Smithson verwandelte 1970 einen öden Uferbereich in eine spiralförmige Großraumskulptur der Land-Art. Spiral Jetty ist ein spiralförmiger Damm aus Salzschlamm, schwarzen Basaltsteinen und Erde im Großen Salzsee in Utah. Der Damm ist 460 Meter lang und 4,60 Meter breit und nur dann zu sehen, wenn der Wasserstand des Sees unter 1279,50 Meter fällt. Ursprünglich ragte die Spirale schwarz aus dem von Bakterien rot gefärbten See. Inzwischen hat der Damm eine helle Salzkruste angesetzt. Das Foto stammt von 2005. Robert Smithson: Spiral Jetty, 2005. 1973–1976 1977 1997/98 Nancy Holt: Sun Tunnels – vier x-förmig auf dem Wüstenboden von Utah angeordnete Betonröhren, deren Orientierung dem Sonnenstand bei der Sommer- und Wintersonnenwende entspricht Walter De Maria: The Lightning Field – eine Anordnung von 20 × 20 Stahlmasten, die als Blitzableiter fungieren Andy Goldsworthy: Storm King Wall – eine Mauer im Skulpturenpark King Wall Center in New York 189 190 Neue Richtungen ‚ Wenn ein Kunstwerk in einer Galerie platziert wird, verliert es seine Sprengkraft und wird zu einem tragbaren Objekt ohne Bezug zur Außenwelt. Robert Smithson ʻ USA, wurde dann aber auch in Europa populär. Die Werke waren überwiegend Großraumskulpturen, geschaffen aus den natürlichen Materialien vor Ort. Sie lagen gewöhnlich weitab von den städtischen Ballungsräumen. Viele der frühen Landschaftsmonumente wurden in den Wüsten von Nevada, Neumexiko, Utah oder Arizona geschaffen und sind heute nur noch auf Fotos oder in Videoaufzeichnungen zu sehen. Da sie ortsgebunden sind, sind solche Werke der Öffentlichkeit nicht leicht zugänglich. Außerdem sind sie Wind und Wetter ausgesetzt und verfallen daher mehr oder weniger rasch. Ihre Vergänglichkeit und Einmaligkeit ist durchaus gewollt. Die Künstler der Land-Art waren oft gegen die Übermacht des kommerziellen Kunstmarkts und wollten sich in Werken, die niemand besitzen oder exakt reproduzieren kann, frei ausdrücken. Einige waren auch am Umweltschutz interessiert und strebten an, die Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung herauszuarbeiten. Die Land-Art ist großenteils durch natürliche Prozesse geprägt, ähnlich wie bei Spiral Jetty. Smithson war wie die meisten anderen Künstler der Land-Art fasziniert von den physikalischen Vorgängen in der Umwelt und von der Art, wie die Natur wirkt, zerstört, reagiert oder verändert. Nancy Holt schafft unter anderem Großraumstrukturen, die an megalithische Monumente wie Stonehenge erinnern und astronomischen Abläufen entsprechend arrangiert sind. Walter de Maria (*1935), ein Künstler der Minimal, Concept- und Neue Wahrnehmung Land-Art, hat großräumige Werke in den Die Verhüllungskünstler Christo (*1935) & amerikanischen Wüsten aufgestellt, wofür Jeanne-Claude (*1935–2009) können als Aktier oft industrielle Bauteile verwendete, um ons- oder Concept-Künstler betrachtet werden. deren Veränderungen durch Wind und WetFür sie sind die Ideen hinter ihrer Kunst und ter sichtbar werden zu lassen. Außerdem der Entstehungsprozess ebenso wichtig wie will er durch seine Werke zum Nachdenken das Endergebnis. Mit ihren Werken aus langen über die Erde und ihre Beziehung zum UniTuchbahnen, die in der Umwelt aufgehängt versum anregen. Ein Großteil von Werken sind oder Bauwerke verhüllen, sollen die der Land-Art lässt sich nur aus der Luft Betrachter angeregt werden, darüber nachzuvollständig überblicken – Smithson starb denken, was sie sehen. beim Absturz eines Flugzeugs, von dem aus er eines seiner Werke begutachtete. Land-Art Solche Werke sind also nur von wenigen Wohlhabenden richtig zu genießen, die sich den Blick aus dem Flugzeug leisten können, sagen einige Kritiker und verweisen darauf, dass die Land-Art ursprünglich für alle gedacht war. Antipathie gegen Kommerz und Industriealisierung Die Land-Art war eine Reaktion auf die Kunstentwicklung der späten 1960er Jahre, die zunehmend als unnatürlich, aufgesetzt und kommerzialisiert empfunden wurde, und auch auf die zunehmende Zerstörung der Landschaft durch die Industrialisierung. 1968 fand in der „Dwan Gallery“ in New York die Ausstellung Earthworks statt, im Jahr darauf folgte ebenfalls in New York die Ausstellung Earth Art. Beide Ausstellungen fanden in den Medien und der Öffentlichkeit breite Aufmerksamkeit, und für einige Jahre bezeichnete man alle vom Umweltgedanken inspirierten bildhauerischen Werke als Earthworks. Viele Kunstkritiker begrüßten diese Richtung, die sie der Minimal oder Concept-Art zurechneten, ebenso wie einige Umweltbewusste und andere, die gegen die Urbanisierung und den Materialismus dieser Zeit protestierten. Andy Goldsworthy schafft in der Natur oder in urbanen Räumen teils vergängliche, teils dauerhafte Werke aus natürlichem Material wie Zweigen, Steinen, Schnee oder Blättern. Seine Werke können großräuIch bin für eine Kunst, mig oder klein, bunt oder monochrom, offensichtlich oder versteckt sein. Er will die Gefahren aufzeigen, die in der Loslö- die den unmittelbaren Einfluss der Elemente sung der Gesellschaft von der Natur liegen. Zu den Werken der Land-Art gehören neben den aus natürlizeigt, so wie sie Tag für chen Materialen geschaffenen Skulpturen auch Fotos, Gedichte, Tag jenseits der Texte und Kunstobjekte aus anderen Materialien. BeispielsweiDarstellung existieren. se dokumentiert Richard Long seine Reisen und Wanderungen Robert Smithson durch abgelegene Landstriche und oft wilde Natur auf Karten oder Fotos und in Gedichten. Manchmal hinterlässt er auf seinen Wegen Spuren aus Steinen oder Trampelpfade im Gras und fotografiert sie. Und gewöhnlich sammelt er Dinge, die er auf seinem Weg findet, wie Treibholz oder Steine, die er nach der Rückkehr für Installationen in Galerien verwendet. ‚ ʻ es geht NatürlicheWorum Materialien und Landschaften neu wahrnehmen 191 192 Neue Richtungen 48 Neoexpressionismus (1970er--1990er Jahre) In den 1970er Jahren entwickelte sich der Neoexpressionismus als Gegenbewegung zur Minimal und Concept-Art. Er wurde in den 1980er Jahren zur Hauptrichtung der Avantgardekunst – vor allem in Amerika, Deutschland und Italien. Im Grunde lebte hier die Malerei im expressionistischen Stil wieder auf, beeinflusst von Picassos Spätwerk und vielen anderen Künstlern. Die Expressionisten zeigten in ihren Werken heftige Emotionen mit rohen und derben Ausdrucksmitteln. Aus Unbehagen an der introspektiven Intellektualität einiger zeitgenössischer Kunst- und Designrichtungen begannen einige Künstler Ende der 1970er Jahre – vor allem in Deutschland, den USA und Italien – in einer expressiven und wilden Art zu arbeiten. Sie wehrten sich gegen die Anmaßung, die sie in Minimal und Concept-Art sahen, und setzten sich in ihrer Malweise davon ab, indem sie Emotionen zum Ausdruck brachten, statt nüchterne Überlegungen und Betrachtungen anzustellen. So kehrten sie zum gegenständlichen Malen an die Staffelei zurück und bezogen autobiografische und narrative Elemente sowie eigene Symbole in ihre Bilder ein. Es war keine einheitliche Bewegung, und so gab es verschiedene Bezeichnungen dafür: etwa New Fauvism, Punk oder Bad Painting in den USA, Neue Wilde in Deutschland, Figuration libre in Frankreich und Transavantgarde in Italien. Öffentlicher Skandal Nach dem Niedergang des Expressionismus in den 1930er Jahren haben viele Künstler Stilelemente des Expressionismus beibehalten. Als 1963 Georg Baselitz (*1938) seine Bilder in Westberlin ausstellte, die extrem expressiv und provozierend waren, lösten einige als schamlos empfundene Werke einen Skandal aus. Bilder wie Der nackte Mann und Die große Nacht im Eimer Zeitleiste 1963 1971 1973 1977 Georg Baselitz löst mit seiner Einzelausstellung in der Galerie „Werner & Katz“ in Berlin einen Skandal aus, weswegen die Polizei einige Bilder beschlagnahmt und die Ausstellung schließt A. R. Penck: Standart – mit dem Strichmännchenmotiv Julian Schnabel: Parsifal I Eine Gruppe deutscher Künstler gründet in Berlin die Selbsthilfegalerie am Moritzplatz, die zum Treffpunkt der Berliner Neuen Wilden wird Neoexpressionismus ‚ Ich fange mit einer Idee an, aber während des Arbeitens übernimmt das Bild die Führung. Und dann ist da der Kampf zwischen der Idee, die ich mir vorher ausgedacht habe, und dem Bild, das um sein Eigenleben kämpft. Georg Baselitz ʻ wurden von der Polizei konfisziert, die gesamte Ausstellung wurde geschlossen. Baselitz’ späteres Werk war nicht mehr so umstritten, aber er sorgte mit Bildern oder auch Skulpturen mit Figuren, die auf dem Kopf stehen, und mit seiner groben Malweise weiterhin für Diskussion. In den 1970er Jahren galt er als führender Vertreter der Neuen Wilden, einer Gruppe deutscher Künstler, die impulsiv gemalte Bilder schufen. Zu den Neuen Wilden gehörten auch die Maler und Bildhauer Anselm Kiefer (*1945), der in seinen Werken auch Materialien wie Glas oder Pflanzenteile verwendete, und Markus Lüpertz (*1941) sowie der Maler Eugen Schönebeck (*1936) und der Maler, Grafiker und Bildhauer A. R. Penck (*1939). Francesco Clemente Der italienische Autodidakt Francesco Clemente (*1952) schöpft wie viele andere neoexpressionistische Maler aus vielfältigen Quellen, darunter Theosophie, Hinduismus und anderen nicht-europäischen Kulturen einschließlich deren Handwerkskunst, und schließlich auch aus Expressionismus und Surrealismus. Seine Themen sind die menschliche Gestalt, Selbstportraits, Sexualität, Mythen und Spiritualität, nicht-westliche Symbole und traumähnli- che Visionen. Er kam 1981 nach New York, wo er große Ölbilder malte und mit Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat (1960–1988) in Gemeinschaftsarbeit einige Gemälde schuf. Fasziniert von den inneren und äußeren Grenzen des Menschen geht er den Konflikten und Widersprüchen nach, die in jedem von uns zwischen dem rationalen und irrationalen Selbst, zwischen Vernunft und Fantasie auftreten. 1978 1980 1981 Neoexpressionistische Werke einiger italienischer Künstler wie Sandro Chia und Francesco Clemente werden mit dem Begriff „Transavantgarde“ beschrieben Baselitz und Anselm Kiefer sorgen mit Nazi-Symbolen in ihren Bildern bei der Biennale in Venedig für einen Skandal Die neoexpressionistische französische Gruppe „Figuration libre“ formiert sich 193 194 Neue Richtungen Ein Vertreter des amerikanischen Neoexpressionismus war Philip Guston (1913– 1980), der in den ausgehenden 1960er Jahren vom Abstrakten Expressionismus zum Neoexpressionismus überging und in einem eigenen Cartoonstil Bilder mit reicher Symbolik schuf. Dazu zählen auch der Maler und Filmemacher Julian Schnabel (*1951) und der Maler, Zeichner, Grafiker und Performancekünstler David Salle (*1952), in dessen Installationen und Gemälden sich zumeist mehrere Bilder verschiedener Stile und Inhalte überlagern. Zu Die Realität ist das den italienischen Neoexpressionisten gehören Sandro Chia Bild, sie ist ziemlich (*1946), Francesco Clemente, Enzo Cucchi (*1950), Nicola de sicher nicht in dem Maria (*1954) und Mimmo Paladino (*1948). Christopher Le Bild. Brun (*1951) und Paula Rego (*1935) werden oft den NeoexGeorg Baselitz pressionisten Großbritanniens zugeordnet. In Frankreich gehörten Robert Combas (*1957), Rémi Blanchard (1958–1993), François Boisrond (*1959) und Hervé di Rosa (*1963) zur Künstlergruppe, die sich „Figuration libre“ nannte. Zwischen 1982 und 1985 stellten diese Künstler zusammen mit ihren amerikanischen Pendants Keith Haring (1958–1990), Jean-Michel Basquiat und Kenny Scharf (*1958) in New York, London, Pittsburgh und Paris aus. ‚ ʻ Gemeinsame Merkmale Der Neoexpressionismus war eine Kunstrichtung mit sehr vielen Strömungen. Dennoch gab es einige generelle Grundvorstellungen, darunter insbesondere die Überzeugung, dass Minimal, Concept- und Pop-Art nicht die Fantasie anregen. Ihre Inspiration bezogen diese Künstler aus vielen Einflüssen. Darunter fallen Picassos späte Werke, die Kunst von George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Edvard Munch und Willem de Kooning, der Fluxus, Graffiti, auch die Kunst der Naturvölker sowie psychisch labiler Menschen, die Theorien C. G. Jungs und schließlich ihre eigenen heftigen Gefühle. Die Neoexpressionisten nahmen Motive aus der Werbung, von Buchcovern und Comics, aber auch aus Texten der Kommerz in der Kontroverse Der Neoexpressionismus setzte sich in den 1980er Jahren fort, einer Dekade des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels, in der in vielen Ländern Wohlstand, Konsum und Materialismus neue Ausmaße erreichten. Viele Künstler, denen die damalige Kunstwelt überheblich und korrupt erschien, begrüßten den Neoexpressionismus. Einer der vielen Streitpunkte lag in der Frage, inwieweit Neoexpressionisten den Kommerz unterstützen und sich selbst von Kunsthändlern vermarkten lassen sollten, statt dagegen zu protestieren. Neoexpressionismus ‚ Ich kümmere mich eigentlich nicht um Anatomie. Etwas perfekt Gezeichnetes steht für mich einfach nur für jemanden, der zeigt, dass er zeichnen kann. Julian Schnabel ʻ Rockmusik, aus Geschichte und Mythologie auf. Die traditionell geforderte Kunstfertigkeit im Zeichnen und Malen war nicht mehr gefragt, die konventionellen Kompositions- und Designregeln waren verpönt. Im Mittelpunkt stand der Ausdruck spontaner Emotionen. Die meisten Gemälde waren grob gemalt und erschienen chaotisch, manchmal in grellen oder sich beißenden Farben und gegensätzlichen Stilen. Mit Pinseln, Fingern oder anderen ungewöhnlichen Malgeräten wurden Zeichen ziemlich planlos wirkend gesetzt. Die Künstler befassten sich mit vielfältigen Themen, etwa inneren Spannungen, Zorn, Anfeindung oder Nostalgie. Sie waren meist nicht so erbittert wie ihre expressionistischen Vorgänger, sondern stellten einfach die Welt in allen den Härten dar, die sie darin sahen, ohne Rücksicht auf Schönheit und Ästhetik. Das löste Debatten über das Anliegen und den Wert der Malerei aus, wobei der Neoexpressionismus oft als Beispiel für all das herangezogen wurde, was bei diesem Medium schiefging. Mitte der 1990er Jahre verlor der Neoexpressionismus an Schwung. Worum geht und Wiederkehr eineres intensiven expressiven Malweise von großer Subjektivität 195 196 Neue Richtungen 49 Hyperrealismus (1990er Jahre bis frühes 21. Jahrhundert) Der Hyperrealismus entwickelte sich aus dem Fotorealismus, der Ende der 1960er Jahre in Amerika aufgekommen war und – ähnlich wie verschiedene andere Kunstrichtungen – das konzeptuelle und abstrakte Kunstschaffen herausgefordert hatte. Der Fotorealismus war eine ungemein exakte Malweise, bei der die Bilder genauso naturalistisch und scharf wirken sollten wie Fotos. Die Aufgabe des Künstlers lag also schlicht darin, seine perfekte Malfertigkeit akkurat zu nutzen, um reproduzierende Darstellungen zu schaffen. Auch wenn man die Wurzeln des Hyperrealismus im Fotorealismus sehen muss, handelte es sich bei ihm keineswegs um eine direkte Weiterentwicklung. Am Ende des 20. Jahrhunderts begannen einige Künstler, Werke zu schaffen, die zwar ebenso exakt ausgeführt und detailgetreu waren wie fotorealistische, jedoch einige meist subtile Stiländerungen aufwiesen, mit denen menschliche Botschaften ausgedrückt werden sollten. Die Hyperrealisten arbeiteten an unterschiedlichen Sujets und in diversen Kunstgattungen – darunter Portraits, Landschaften, Stadtbilder, Figuren sowie narrative oder alltägliche Szenen. Die Werke sollten zwar neutral und objektiv wirken, sind aber für gewöhnlich bewusst emotional gestaltet und oft ebenso ausgeprägt individuell wie beim Expressionismus. Soziales Bewusstsein Der Fotorealismus entwickelte sich, so wie er sich in den 1960er Jahren durchsetzte, aus der Pop-Art und stellte verbreitet Alltagsthemen und akribische Malkunst in den Mittelpunkt. Oft wurden dabei menschliche Emotionen, politische Wertungen und narrative Elemente bewusst vermieden. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der Hyperrealismus mit Gegenwartskultur, Politik und sozialen Fragen und bringt eine Reihe von Problemen zum Ausdruck: das Vul- Zeitleiste 1973 1987 1988 Ein belgischer Galeriebesitzer verwendet die Bezeichnung „Hyperréalisme“ für den Fotorealismus Richard Estes: Hotel Empire Duane Hanson: Queenie II – eine polychrome Bronzefigur einer übergewichtigen Putzkraft; Chuck Close erleidet nach einem RückenmarksBlutgerinnsel eine Querschnittslähmung Hyperrealismus gäre des Konsumismus, die Extreme des Leidens, die Misere der Arbeiterklasse oder die Fragilität des Menschen. Wie der Fotorealismus begann der Hyperrealismus in Amerika. Zu seinen Vertretern gehören Denis Peterson (*1945), Richard Estes (*1936), Audrey Flack (*1931) und Chuck Close (*1940). Da sie so akkurat und exakt malen, erfordert jedes Bild monatelanges Arbeiten. Für Gemälde mit unsichtbarem Pinselduktus werden feine Pinsel verwendet, für Skulpturen vielfältige Materialien genutzt, die sich zu naturalistischen Gestalten formen lassen. Viele Hyperrealisten verwenden Fotos als Vorlagen, um Bilder zu schaffen, die wie Fotos aussehen. Daher gehört es zu den einschlägigen Vergnügen, die Betrachter zu fragen, ob das Bild ein Foto oder Gemälde bzw. ob eine menschliche Figur real oder künstlich ist. Wie real ist real? Hyperrealismus ist fast immer subjektiv. Mit akribischer Detailgenauigkeit wird eine Illusion von Realität erzeugt, die noch schärfer und deutlicher ist als bei einem Foto oder sogar der realen Umgebung. Es geht nicht um den Abklatsch eines Fotos oder der Wirklichkeit, sondern um eine Verschärfung oder Überspitzung bestimmter Aspekte der Realität, auf die der Künstler das Augenmerk richten will. Texturen, Oberflächen, Lichteffekte, Schatten und Farben erscheinen schärfer und deutlicher als auf den Technische Hilfsmittel Fotovorlagen oder beim realen Gegenstand Hyperrealismus setzt ein hohes Maß an techniselbst. Der Hyperrealismus hat deshalb nicht scher Perfektion und Präzision voraus, aber die nur den Fotorealismus, sondern auch die meisten Künstler setzen auch Hilfsmittel wie hochaufgelösten digitalen Bilder und Videofotografische oder multimediale Projektion auf aufnahmen zur Voraussetzung. Und er leitet die Leinwand ein, um ihre Bilder danach zu fersich aus den Ideen verschiedener Theoretiker tigen. Einige verwenden auch traditionelle Liniab, insbesondere denen des Soziologen, Phienraster, um die Bilder in mühsamer Kleinarbeit losophen, Fotografen und politischen Komauf die Leinwand zu übertragen. Viele benutmentators Jean Baudrillard (1929–2007), der zen Airbrush-Techniken und sprühen die Fardie Unfähigkeit unserer Gesellschaft herausben auf, um Pinselstriche zu vermeiden. Bildstellte, zwischen Wirklichkeit und Zeichen zu hauer gießen Polyester in Abgussformen oder unterscheiden. Er stellte wie andere Mediendirekt auf das Modell, um das gewünschte theoretiker die Frage, was Realität in einer Abbild zu erreichen. Welt bedeutet, in der bestimmte Medien Ereignisse oder Erfahrungen manipulieren 1997 2000 2006 Chuck Close: Self-portrait – dieses 2,5 Meter hohe Selbstportrait malte Close mit einer Pinselhalterung am Handgelenk; Ron Mueck: Mask Ron Mueck: Boy – eine fünf Meter hohe Skulptur eines hockenden Jungen, die im Millenium Dome in London erstmals gezeigt wurde Denis Peterson: Donʼt Shed No Tears – eine Serie von Bildern zum Thema Genozid, Leiden und Überleben 197 198 Neue Richtungen ‚ Ich denke, die meisten Gemälde sind eine Aufzeichnung der Entscheidungen, die der Künstler getroffen hat. Ich treffe sie vielleicht ein wenig genauer als andere Leute. Chuck Close ʻ oder komplett gestalten können. Je nach künstlerischem Interesse variieren beim Hyperrealismus auch die Werke: Estes stellt Städte als leere Plätze mit reflektierenden Flächen und unpersönlichen Strukturen dar (nicht allzu weit von de Chiricos Pittura Metafisica entfernt). Close konfrontiert den Betrachter seiner massiven Portraits mit unnatürlichen und unerwarteten Proportionen und Bedeutungen. Gottfried Helnwein (*1948) thematisiert Holocaust und NS-Diktatur. Peterson zeigt das Ron Mueck Das Werk des australischen Bildhauers Ron Mueck (*1958) ist exemplarisch für den Hyperrealismus. Auf den ersten Blick lebensähnlich, konfrontiert es den Betrachter mit schockierendem Naturalismus – oft auch mit übermäßiger Vergrößerung oder Verkleinerung. Mit Materialien wie Silikon, Polyesterharzen oder Polyurethan, die eine Reproduktion komplizierter Details ermöglichen, stellt Mueck akribisch genau Einzelheiten wie Falten, Runzeln, Bartstoppeln, Hautflecken und Haare dar. Das soll den Betrachter aufrütteln, über die sonst unbeachteten Selbstverständlichkeiten des Lebens neu nachzudenken. Von 1997 bis 2000 Ron Mueck: Mask II, 2002. nahm Mueck an der Wanderausstellung Sensation teil, die ihn in Großbritannien, Deutschland, den USA und Australien bekannt machte und den Hyperrealismus ins Blickfeld der Kunstwelt katapultierte. Hyperrealismus ‚ Der Gegenstand ist ein eigenes Medium, das den Betrachter über die Falschheit und Simulation des Bildes, das paradoxerweise überzeugt, mit der Realität verbindet. Denis Peterson ʻ menschliche Leid in sachlichen Details und weckt damit eine heftige Empathie beim Betrachter. Das Unerwartete Viele Hyperrealisten haben Bilder und Objekte geschaffen, die ihre emotionale Reaktion auf die politische und soziale Situation ausdrücken, etwa auf totalitäre Regime, rassistische oder religiöse Intoleranz, Diskriminierung und Verfolgung oder die Missachtung der sozial Schwachen und Benachteiligten. Hyperrealistische Werke fordern den Betrachter oft heraus, indem sie Unerwartetes zeigen. Das können unpassende Gegenüberstellungen, eine überraschende Größe oder verstörende Wahrheiten sein, die wir ansonsten ignorieren würden. So sind Skulpturen von Ron Mueck wie Mask von 1997, seine kleine nackte Silikonfigur Dead Dad von 1996/97 oder die übergroße Skulptur In Bed von 2005, die eine Frau im Bett zeigt, zwar auffallend lebensähnlich, irritieren aber durch ihren ungewöhnlichen Maßstab und zwingen den Betrachter, das Gesehene neu zu bewerten. Duane Hanson (1925–1996) schuf ebenfalls hyperrealistische Skulpturen von gewöhnlichen Menschen, und zwar immer in Lebensgröße und schockierend naturalistisch, so dass sie vertraut wie die nächste Nachbarschaft erscheinen und die Betrachter anregen, ihre Einstellungen zu überdenken. Viele hyperrealistische Gemälde sind mit Spritzpistolen gesprühte Akryl- oder Ölbilder – oder auch in einer Mischtechnik gestaltet. Denis Petersons Bilder, meist als Teile von Serien geschaffen, fesseln das Auge und wirken häufig verstörend; thematisch stehen unbequeme Tatsachen im Mittelpunkt: Leid und Konflikt, Überlebenskampf und Genozid. Die Menschen und Szenen werden verstörend akribisch bis ins feinste Detail dargestellt, oft bewusst im Ausschnitt, um den Betrachter in die unbehagliche Lage des Voyeurs zu versetzen, der nicht alles mitbekommt. Diese Bilder kommentieren zwar die dargestellten Sachverhalte, aber Peterson lässt seine persönlichen Emotionen außen vor, damit der Betrachter selbst urteilen kann. Worum es geht Überscharfer Realismus, der zum Nachdenken herausfordert 199 200 Neue Richtungen 50 Medienkunst (seit den 1970er Jahren) Künstler haben schon immer neue Bildträger als Medien genutzt. So war es unausweichlich, dass einige auch neue Medien wie Video, Computer oder Internet entdeckten, um damit originelle Kunst zu schaffen. Seit den Anfängen der ersten Computergrafik in den USA und in Deutschland Mitte der 1960er Jahre hat sich die Medienkunst oft auf unvorhergesehene Weise bis hin zu den interaktiven Internetevents entwickelt. Mit dem Buchdruck im 15. Jahrhundert oder der Fotografie im 19. Jahrhundert kann man die Ursprünge der Medienkunst verbinden. Aber der Begriff „Medienkunst“ bezieht sich nicht darauf, sondern wird erst für Kunst verwendet, für die die neuen Medien des 20. und 21. Jahrhunderts zur Erstellung, Vermittlung oder als Träger genutzt werden. Diese künstlerische Entwicklung ging von technischen Medien wie Videos aus, die in den Experimenten von Künstlern wie Nam June Paik (1932–2006) eingesetzt wurden. Das World Wide Web Der Begriff „digitale Kunst“ kam in den 1980er Jahren auf, als das Internet startete. Das World Wide Web begann 1989 am CERN, wo Timothy Berners-Lee (*1955) die Hypertext-Sprache HTML entwickelte, um für diese europäische Großforschungseinrichtung für Teilchenphysik eine weltweite Kommunikation über Computer zu ermöglichen, die an das Internet angeschlossen sind. Zu den Ersten, die nach den Wissenschaftlern das World Wide Web benutzten, gehörten Künstler, die im Netz ein davor unerreichtes Potenzial von Ausdrucksmöglichkeiten erkannten. Die Medienkunst entwickelte sich seit der Jahrtausendwende naturgemäß ebenso rasant und international wie die neuen Computertechnologien, ist aber auch so kurzlebig wie diese. Medienkunst ist ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von Kunst, die unter Heranziehung der neuen digitalen Medien entsteht, wie Internet, Video, Computeranimation, Digitalfotografie oder Smartphone. Von Anfang an Zeitleiste 1972 1974 1985/86 1993 Gilbert & George produzieren Videokunst, die sie sculptures on video tape nennen Das Museum of Modern Art in New York richtet die weltweit erste Abteilung für Videokunst ein Andy Warhol verwendet einen Amiga-Computer für ein Selbstportrait und ein Portrait von Debbie Harry Der erste „Digital Salon“ in New York; er findet mittlerweile jährlich statt Medienkunst Heath Bunting Durch seine Beteiligung an der Entwicklung der Netzkunst wurde Heath Bunting in den 1990er Jahren bekannt. Er erstellt mit den verschiedensten Medien Aktionen, Dokumentationen und Bilder. Da bei ihm immer die Idee von entscheidender Bedeutung ist, kann er ebenso als Medien- wie als Konzeptkünstler gesehen werden. Sein Werk durchbricht die Trennung zwischen Kunst und Alltag; oft soll es unterhalten, bisweilen kontrovers sein und den Betrachter auf unkonventionelle Weise ansprechen. In seinen Werken wie Irational.org geht es meist Heith Bunting: Irational.org, 2010. um Kommerz oder Netzwerke im Internet und um die Frage nach den Grenzen zwischen Leben und Kunst bzw. Internet, zwischen Wahrnehmung und Kommunikation. haben die digitalen Medien auch die traditionellen künstlerischen Techniken – Malerei, Zeichnung, Bildhauerei – beeinflusst, bis sie sich schließlich als das zeitgemäße künstlerische Mittel durchsetzten. Als die Preise für allgemein zugängliche und benutzerfreundliche Computertechnik sanken, begannen einige bekannte Künstler, damit zu arbeiten, darunter Richard Hamilton, der 1986 mit dem Computergrafiksystem Quantel Paintbox seine Pop-Art-Collage Just What is it that Makes Today’s Homes so Different, so Appealing? erneuerte. Das Ergebnis war eine aus Scans und digitalen Bildern zusammengestellte Collage mit dem Titel Just What is it that Makes Today’s Homes so Different? Ohne Elektrizität kann David Hockney begann 2009, mit seinem iPhone Minikunstes keine Kunst geben. werke zu schaffen, und demonstrierte damit, dass sich iPhones wie andere neue Medien für das Kunstschaffen nutzen lassen. Nam June Paik ‚ ʻ 1994 1997 2002 2010/11 Jake Tilson startet sein Internetwerk The Cooker; Heath Bunting startet Irational.org Gillian Wearing (*1963) gewinnt für seine „lebende Fotografie“ 60 Minutes Silence den Turner-Preis – dabei stehen 26 als Polizisten kostümierte Akteure regungslos Bill Viola: Emergence – ein hochauflösendes Video Heath Bunting: Travel Jog 201 202 Neue Richtungen Konservieren von Medienkunst Durch die rasante Entwicklung neuer Techniken und Medien wird es immer schwieriger, Kunst zu konservieren, zu erhalten und zu zeigen, die beispielsweise per Video, Film, Tonband oder ältere Software entstanden ist und noch vor relativ kurzer Zeit innovativ war, deren Technik jetzt aber veraltet ist. Die Konservierung von Kunstwerken war immer sehr wichtig und ist es bis heute geblieben – nun aber befrachtet mit neuen Herausforderungen durch neue Methoden des Kunstschaffens. Die Möglichkeit zur Teilhabe Als sich in den 1980er Jahren die PCs durchsetzten, machten auch immer mehr Künstler davon Gebrauch. Jeff Wall (*1946) schuf so mit digital manipulierten Fotos fantastische Bilder, die wirklichkeitsgetreu aussehen, aber vom Surrealismus inspiriert sind. Bunting dagegen geht seit dem Start von Irational.org im Jahr 1994 weiterhin den Vernetzungsmöglichkeiten im World Wide Web nach, wo jeder mit jedem kommunizieren kann und jeder Kunstbetrachter die Möglichkeit zur Beteiligung und Partizipation hat. Bill Viola (*1951) arbeitet mit Videos und setzt Bild, Licht und Ton ein, um Lebens- und Existenzfragen darzustellen. Mitte der 1990er Jahre schufen Dirk Paesmans (*1965) und Joan Heemskerk (*1968) gemeinsam Jodi.org. Oft Technik ist zur neuen entstehen ihre respektlosen und witzigen Werke aus abgeänderkörpereigenen Hülle der ten Computerspielen und enthalten Animationen, Grafiken, Existenz geworden. unerwartete Pop-ups oder wechselnde URLs. Peter Stanick Nam June Paik (*1953) schafft digitale Bilder im Pop-Art-Stil, die New Yorker Straßenszenen zeigen. Christophe Bruno (*1964) geht Fragen zur Sprache nach. Jake Tilson (*1958) startete 1994 sein Website The Cooker, die viele Bilder, Texte und Erfahrungen aus aller Welt zeigt und jedem Computernutzer zugänglich ist; hier kann Kunst also von jedem nach Belieben betrachtet und genutzt werden. Bei The Cooker hat alles mit Kochen und Essen zu tun, wobei jede neue Seite den Besucher in einen anderen Bereich entführt. Man findet dort beispielsweise Geräusche, die beim Zubereiten von Speisen entstehen, Bilder von Restaurants überall auf der Welt oder von Reisen zu irgendeinem Ort, an dem etwas gekocht wird. Die Medienkunst entwickelt sich weiter, und es ist nicht abzusehen, zu welchem Ziel sie führt und welchen Stellenwert sie besitzen wird. Durch den technischen Fortschritt ist sie ist an viele Veränderungen und Entwicklungen gebunden, und neue Künstler werden eigene Ideen ausprobieren. Es gibt bislang kein einheitliches ‚ ʻ Medienkunst ‚ Man muss die Ungewissheit in die Kunst hineinlassen. Es ist dieser Tropfen Chaos, der einsickert – man muss darauf eingestellt sein. Jake Tilson ʻ Konzept und keine allgemeinen, verbindlichen Standards, sondern eine große Vielfalt von Arbeitsweisen. Die Idee, die neuen Medien zu nutzen und mit ihnen zu experimentieren, lässt so viel Bandbreite zu, wie es Vorstellungen und Fähigkeiten von Künstlern gibt, die mit sehr verschiedenem Hintergrund zur Medienkunst kommen: als ausgebildete Maler oder Bildhauer, Grafikdesigner, Fotografen, Computerexperten, Tontechniker oder Informatiker. Worum es geht Neue Kunst mit neuen Technologien 203 204 Glossar Glossar Abstrakte Kunst Kunst, die nicht die Darstellung konkreter Dinge der realen Welt intendiert. Abstraktion Betonung dessen, was der Künstler als wesentlich wahrnimmt an den Gegenständen, deren Erscheinungsbild er nicht nachahmend, sondern vereinfacht darstellt. Akademiekunst Ein klassischer Malstil, der – ausgehend von Frankreich – an den staatlich geförderten Akademien gepflegt wurde, insbesondere während des 18. und 19. Jahrhunderts. Akrylfarbe Schnell trocknende Farbe aus Kunstharz und Pigmenten. Allegorie Darstellung eines abstrakten Begriffs oder Vorgangs. Amorph Formlos, gestaltlos. Anthropometrie Von Yves Klein eingeführter Begriff für Bilder, die unter Verwendung bemalter Menschenkörper statt des Pinsels entstanden. Assemblage Zusammenfügung von vorgefundenen (vgl. Objets trouvés) oder vorgefertigten Gegenständen (vgl. Readymades) auf einem zweidimensionalen Bildträger zu einem reliefartigen Kunstwerk. Avantgarde Künstler, die unkonventionell nach vorn, in die Zukunft gerichtet denken. Benday Dots Punkte gleicher oder verschiedener Farbe, die, zusammen gedruckt, intensivere Farbwerte oder weitere Farbtöne erzeugen. Chiaroscuro Italienische Bezeichnung für die Verwendung von Helldunkelkontrasten zur Darstellung von Tiefe. Collage Technik, bei der verschiedene Materialien wie Stoff, Zeitung, Seidenpapier etc. auf die Bildfläche geklebt werden. Divisionismus Aufbringen von unterschiedlichen Farbpunkten oder -strichen im Kontrast nebeneinander, um für einen Betrachter aus einer gewissen Entfernung eine hellere Wirkung der Farben zu erzielen – eine Anwendung der Gegenfarbentheorie. Vgl. Pointillismus. Figurative Kunst Eine Darstellungsweise, die die reale Welt so zeigt, dass bestimmte Einzelheiten wiedererkennbar sind. Fotogramm Fotografische Aufnahme ohne Kamera, wobei das Objekt direkt auf lichtempfindliches Papier oder eine Fotoplatte gelegt wird, die dann belichtet werden. Fotorealismus Eine Strömung der 1960er Jahre, die sich aus der Kritik an der Minimal Art und der abstrakten Kunst entwickelte, besonders in Amerika, und deren Besonderheit darin lag, Bilder zu schaffen, die gemalten Fotos gleichen. Fresko Maltechnik, bei der die Farbe auf feuchten Putz aufgebracht wird. Frottage Ein in „Reibetechnik“ erstelltes Bild, bei dem eine Struktur (beispielsweise eines Reliefs) auf das darübergebreitete Papier übertragen wird, indem man mit einem Stift darüberstreicht. Genre Alltagsszene verschiedenster Art; Bilder, die eine solche zeigen, heißen Genrebilder. Grattage Eine Technik in der Ölmalerei, bei der der Künstler in die dickflüssige Farbe Strukturen, Muster oder auch Bilder kratzt bzw. durch Abschaben erzeugt. Humanismus Eine Denktradition, die den Menschen, insbesondere seine Würde und Rationalität, und die Ausbildung menschlicher Stärken in den Mittelpunkt stellt. Impasto Sehr dicker Farbauftrag. Kinetische Kunst Kunstwerke unter Einbeziehung von Bewegung, z.B. Mobile. Klassizismus Kunststil, der sich an den Werken und Maßstäben der klassischen Antike orientiert. Komplementärfarben Sich im Farbkreis gegenüberliegendes Farbenpaar, das besonders hell wirkt, wenn beide Farben aneinandergrenzen. Komposition Anordnung der einzelnen Elemente eines Kunstwerks. Glossar Kontrapost Körperhaltung einer dargestellten Figur, bei der das Gewicht des Körpers auf dem gestreckten Standbein liegt, während das entlastete Spielbein leicht angewinkelt ist, was zu einer S-förmigen Biegung der Körperachse führt. Erstmals in der griechischen Klassik verwendet, wurde der Kontrapost in der Renaissance wiederbelebt. Lasur Dünne, transparente Farbschicht, welche die Farben darunter durchscheinen lässt. Moderne Eine im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Realismus beginnende Kunstepoche, die durch die Abkehr von tradierten Kunststilen und durch das Schaffen neuer Kunstformen gekennzeichnet ist, die zeitgemäßer schienen. Sie war anfangs generell mit einem gewissen Idealismus und insbesondere mit dem Fortschrittsgedanken verbunden. Mosaik Bilder aus vielen bunten „Steinchen“, die im Mörtel fixiert sind, wobei diese Elemente aus Glas, Stein oder Ton bestehen können. Muralismo Mexikanische Wandmalerei, benannt nach span. mural = Wandbild. Narrativ Erzählend. Naturalismus Eine unklar definierte Stilrichtung des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die von den neuen Ideen der Naturwissenschaften inspiriert war und sich eine naturgetreue Darstellung zum Ziel setzte. Allgemein meint der Begriff eine bis ins Detail naturgetreue Abbildung des Sichtbaren. Sujet Thema oder Gegenstand eines Kunstwerks. Objets trouvés Fundstücke, die Künstler in ihre Kunstwerke integrieren (vgl. Assemblage) oder zu solchen erklären. Sfumato Malweise mit verwischten Konturen (von ital. fuma = Rauch), die Renaissancekünstler wie Leonardo da Vinci einsetzten. Pleinairmalerei Das Malen von Bildern vollständig im Freien, statt deren Ausführung nach Naturskizzen im Atelier. Vanitas-Stillleben Der vom lateinischen Wort für Vergänglichkeit abgeleitete Begriff bezeichnet ein Stillleben, in dem die dargestellten Objekte die Vergänglichkeit des Lebens symbolisieren und so dem Betrachter die eigen Sterblichkeit vor Augen führen. Pointilismus Punktförmiger Farbauftrag. Verwendung der Technik, um die Farben für einen etwas entfernt stehenden Betrachter zum Leuchten zu bringen. Vgl. Divisionismus. Postmoderne Die Gegenbewegung zur Moderne in Literatur, Kunst, Design, Philosophie, Architektur und Kultur kam in den 1960er Jahren auf. Zwei wichtige Kennzeichen dieser Strömung sind die Überwindung der Barrieren zwischen Elite- und Massenkultur sowie die Weigerung, einen bestimmten Stil vorzuschreiben und zu definieren, was Kunst ist. Quattrocento Kunst und Kultur im Italien des 15. Jahrhunderts, Epoche der Frührenaissance. Readymades Objekte, die ein Künstler vorgefertigt vorfindet und in einem neuen Kontext als Kunstwerk ausstellt. Serifenlose Schrift Eine Druckschrift, die keinen Abschluss- oder Begrenzungsstrich an Fuß und Kopf der Buchstaben aufweist, beispielsweise Helvetica oder Arial. Verist Mit diesem Wort wurde im alten Rom ein Künstler bezeichnet, der Portraits nicht schönte, sondern darin auch die vorgefundenen Runzeln und Warzen wahrheitsgemäß wiedergab. Später wurde die Bezeichnung für Künstler übernommen, die im Zuge der Neuen Sachlichkeit schwer zu akzeptierende Wahrheiten ungeschminkt darstellten. Verkürzung Eine perspektivische Darstellung von Gegenständen im Raum, bei der die im Hintergrund des Bildes gezeigten Objekte kleiner wiedergegeben sind als die im Vordergrund. 205 206 Index Index A Abstrakter Expressionismus 154, 160–164, 166, 168, 170, 176, 178, 180, 194 Abstraktion 107, 148, 162 Académie des Beaux-Arts, Paris 60–62, 77 f. Action-Painting 161, 163, 184 Akademiekunst 60–63, 72, 75, 80 Albers, Josef 133, 175 Altägyptische Kunst 8–11 American Scene 151, 156– 159, 162 Analytischer Kubismus 105 f. Andalusischer Hund, Ein (Film) 153 f. Andre, Carl 177–179 Anuszkiewicz, Richard 173, 175 Archipenko, Alexander 105, 107, 109 Armory Show (New York, 1913) 156 Arp, Jean (Hans) 116, 118, 153, 155 Art & Language, Gruppe 182 Art déco 107, 111 Arts and Crafts 132 f. Ashcan School 157 Ästhetizismus 80, 82 B Ball, Hugo 116–118 Balla, Giacomo 108 f. Barbizon, Schule von 72–74, 76, 78 Barock 40–44, 46, 49, 53, 56 Baselitz, Georg 192 f. Basquiat, Jean-Michel 193 f. Bauhaus 123, 126, 129, 131– 135, 166 Bayer, Herbert 132, 134 Beardsley, Aubrey 93, 95 Beckmann, Max 104, 148, 150 f. Bernard, Émile 84, 86 Bernini, Gianlorenzo 40 f. Beuys, Joseph 181, 184 f., 187 Black Paintings 176–178 Blake, Peter 168 f. Blake, William 56, 59 Boccioni, Umberto 108–111 Bonheur, Rosa 72, 75 Bonnard, Pierre 85 Bosch, Hieronymus 32, 155 Boucher, François 49–51 Brancusi, Constantin 178 Braque, Georges 96, 104– 107 Breton, André 119, 152 f., 155, 160 Breton, Jules 73, 75 Breuer, Marcel 132 f. Brisley, Stuart 185 Bronzino, Agnolo 37, 39 Broodthaers, Marcel 181 f. Brown, Ford Madox 69, 71 Brücke, Die 101–103 Bruno, Christophe 203 Buddhistische Kunst 16–19 Bunting, Heath 201 f. Burgin, Victor 182 Burne-Jones, Edward 71, 82 Byzantinische Kunst 20–23 C Cabanel, Alexandre 61–63 Cage, John 184, 186 Caillebotte, Gustave 77 Calder, Alexander 172, 174 Campin, Robert 31 Canova, Antonio 52 f., 55 Caravaggio 40, 42 f., 46 Carrà, Carlo 108–110, 136– 139 Carraccu, Annibale 43 Cassatt, Mary 77 Cézanne, Paul 76–79, 84–87, 96 f., 104 f. Champfleury 75 Chardin, Jean-Siméon 48, 51 Chartres, Kathedrale 24, 26 Chirico, Giorgio de 136–39, 153, 197 f. Christo und Jeanne-Claude 190 Claude Lorraine 41 Close, Chuck 196–198 Collinson, James 70 f. Colour-Field-Painting 163– 167, 172, 176, 180 Concept-Art 180–184, 191 f., 195 Constable, John 57, 59, 72, 76 Correggio 36, 38 Courbet, Gustave 73–75, 78, 83, 156 Couture, Thomas 61, 63 Craig-Martin, Michael 182 Crane, Walter 93, 95 D Dadaismus 107, 111, 116– 119, 151 f., 155, 162, 168, 174, 176, 179, 181, 184 Dalí, Salvador 153, 155 David, Jacques-Louis 52–55 De Maria, Walter 188–190 De Stijl 128–131 Degas, Edgar 77–79 Delacroix, Eugène 57, 59, 78 Delaroche, Paul 60, 63 Delaunay, Robert 104, 107, 166 Delaunay, Sonia 105, 107 Derain, André 91, 96 f., 99 Divisionismus 86, 89–91, 98 Dix, Otto 103, 149–151 Doesburg, Theo van 128–131 Donatello 29 Dongen, Kees van 97, 99, 101 Douglas, Aaron 140 f., 143 Duccio di Buoninsegna 28–30 Duchamp, Marcel 116, 118 f., 174, 180 Duchamp-Villon, Raymond 105, 107, 109 Dufy, Raoul 96 f. Dyck, Anthonis van 40, 43 E El Lissitzky 121, 123, 162 Ernst, Max 117, 152 f., 155, 160 Estes, Richard 196 f. Expressionismus 100–103, 110, 130, 146, 148, 151, 164, 180, 193, 196 Eyck, Jan van 31, 46 F Falconet, Étienne-Maurice 51 Fauvismus 87, 96–99, 100, 105, 136, 164 Feininger, Lionel 103, 133 Figuration libre 193 f. Flavin, Dan 176–178 Flaxman, John 53 Fluxus 154, 185, 195 Fotorealismus 196 f. Fragonard, Jean-Honoré 49, 51 Frankenthaler, Helen 167 Friedrich, Caspar David 57, 59 Frührenaissance 28–32 Futurismus 108–111, 120 f., 124 f., 136, 138 f., 184 G Gabo, Naum 124–127, 162, 174 Gaudí, Antonio 92, 95 Gauguin, Paul 81, 83, 85–87, 96 f., 100, 102, 146 Gaultier, Théophile 80, 82 Géricault, Théodore 57, 59 Gérôme, Jean-Léon 61, 63 Ghiberti, Lorenzo 28 Gilbert and George 181, 185– 187, 200 Giotto di Bondone 25, 28–31, 138 Gleizes, Albert 105, 107 Gogh, Vincent van 64, 66, 84 f., 87, 91, 96 f., 100, 102 Goldener Schnitt 15 Goldenes Zeitalter der Niederlande 44–47 Goldsworthy, Andy 188 f., 191 Gotik 24–7 Goya, Francisco de 57, 59, 155 Goyō, Hashiguchi 114 Griechische Klassik 12–15 Greenberg, Clement 165, 167 Gris, Juan 105 f., 146 Gropius, Walter 132–135 Grosz, George 101, 103, 149–151, 159, 195 H Hals, Frans 44, 47 Hamilton, Richard 169, 202 Hanson, Duane 196, 199 Happening 174–177 Hard-Edge-Painting 166 f. Harlem Renaissance 140– 143 Hartlaub, Gustav Friedrich 149 f. Harunobu, Suzuki 64, 66 Helnwein, Gottfried 198 Hiroshi, Yoshida 113 f. Hiroshige, Andō 65, 67 Hobbema, Meindert 45 Hochrenaissance 28, 32–36, 38, 68 Hockney, David 168 f., 202 Hofmann, Hans 165–167 Höhlenbilder 4–7 Hokusai, Katsushika 63, 67 Holbein d. J., Hans 32 f. Holt, Nancy 188–190 Hopper, Edward 156 f. Houdon, Jean-Antoine 55 Hunt, William Holman 69–71 Hyperrealismus 196–199 I Impressionismus 67, 76–80, 84, 86 f., 89, 91 f., 96, 100, 113 Independent Group 169 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 55, 62 Itten, Johannes 133 J Japanische Grafik 64–67, 79, 86, 93 Jawlensky, Alexej von 101, 103 Jodi.org 202 Johns, Jasper 168, 170 Johnson, Sargent Claude 143 Johnson, William H. 143 Jones, Lois Mailou 143 Judd, Donald 177 f. Jugendstil 67, 86, 92–95 K Kandinsky, Wassily 101–103, 125 f., 132 f., 162, 180 f. Kaprow, Allan 174 Kawase, Hasui 112–114 Khnopff, Fernand 81 Kiefer, Anselm 193 f. Kinetische Kunst 172, 174 Kirchner, Ernst Ludwig 101 f. Kitchen Sink School 159 Klassizismus 51, 52–56, 61– 63, 68, 72 Klee, Paul 101 f., 132 f. Klein, Yves 180, 182, 186 Klimt, Gustav 93–95 Kline, Franz 160, 163 Konstruktivismus 107, 111, 124–127, 130, 172, 174, 176, 179 Index Kooning, Willem de 161–163, 195 Koson, Ohara 114 Kosuth, Joseph 182 Kubismus 87, 104–107, 110 f., 119–121, 124 f., 136, 138, 146, 162 L Lalique, René 95 Land-Art 188–191 Lange, Dorothea 157–159 Lascaux, Höhlenbilder 5 f. Leck, Bart van der 128, 130 Léger, Fernand 105–107, 162 Leighton, Frederic 81 f. Leonardo da Vinci 15, 32–34 LeWitt, Sol 176–181, 183 Lichtenstein, Roy 169 f. Long, Richard 188, 191 M Macke, Auguste 101–103 Mackintosh, Charles Rennie 93 Mackmurdo, Arthur Heygate 92, 94 Magritte, René 153 Malewitsch, Kasimir 120–123, 125 f., 165 Man Ray 119, 152 f. Manierismus 36–39, 68 Marc, Franz 101–103, 181 Marinetti, Tommaso 108, 110 f. Marquet, Albert 96 f. Marsh, Reginald 157 Masaccio 30 f. Masanobu, Okomura 66 Matisse, Henri 91, 96–99, 162 Medienkunst 154, 200–203 Mendieta, Ana 187 Mengs, Anton Raphael 52, 55 Metzinger, Jean 104 f., 107 Meyer, Hannes 133 f. Michelangelo 32–34, 36–38, 147 Mies van der Rohe, Ludwig 133 f. Millais, John Everett 68, 70 f. Millet, Jean-François 73–75, 83, 156 Minimal Art 167, 176–181, 191 f., 195 Miró, Joan 153, 155, 163 Moholy-Nagy, László 126, 134 Mondrian, Piet 128–131, 160, 162 Monet, Claude 76–78 Moore, Albert 80, 82 Morandi, Giorgio 137–139 Moreau, Gustave 80, 83, 97 Morisot, Berthe 76, 78 Moronobu, Hishikawa 64, 66 Morris, Robert 177, 180 Morris, William 82, 133 Motherwell, Robert 161 f., 164 Mucha, Alphonse 93–95 Mueck, Ron 197–199 Munch, Edvard 100–102, 195 Muralismo 144–147, 157 Myron 12–14 N Nabis 86 Navarro, Iván 178 Neoexpressionismus 192– 195 Neoimpressionismus 88–91, 98, 110, 172 Neoplastizismus 124 f., 128– 131, 138, 166, 172, 180 Neue Künstlervereinigung, München 100 Neue Sachlichkeit 148–151 Neue Wilde 192, 194 New York School 162 Newman, Barnett 162, 164– 167 Nietzsche, Friedrich 103 O Oldenburg, Claes 169 f. Op-Art 172–175 Orozco, José Clemente 144– 147 Orphismus 107, 139, 152 P Paik, Nam June 200–202 Pariser Salon 48, 62 f., 72, 77, 91 Parmigianino 37, 39 Penck, A. R. 192 Peploe, Samuel John 98 Performance 184–187 Peterson, Denis 197, 199 Pevsner, Antoine 125 f. Phidias 13–15 Picabia, Francis 118 f. Picasso, Pablo 104–107, 124, 137, 146, 153, 162, 192 Pissarro, Camille 76–78, 84, 87, 89, 91 Pissarro, Lucien 89, 91 Pittura Metafisica 136–139, 152, 155 Pointillismus 86, 89, 170 Pollock, Jackson 160–163, 184 Polyklet 15 Pontormo, Jacopo da 36 f., 39 Pop-Art 168–171, 175, 179, 183, 195 f., 202 Postimpressionismus 67, 84– 87, 98 Postmoderne 168 Poussin, Nicolas 41, 43 Praxiteles 13 Präraffaeliten 68–72, 82 Prähistorische Kunst 4–7 Puvis de Chavannes, Pierre 80, 83, 85 R Raffael 33 f., 36, 68 Rauschenberg, Robert 170 Realismus 72–76, 78, 80, 82, 113, 156 Regionalismus 159, 162 Reinhardt, Ad 176 f., 179 Rembrandt van Rijn 40, 44, 47 Renaissance 28–36, 38, 47, 52, 68 Renoir, Auguste 76–78 Reynolds, Sir Joshua 51, 70 Rietveld, Gerrit 128, 131 Riley, Bridget 172–175 Rivera, Diego 144–147, 157 Rodtschenko, Alexander 124 f. Rokoko 48–51, 53, 80 Rom, Petersdom 32 Romantik 56–59, 61–63, 68, 72 Rossetti, Dante Gabriel 69– 71 Rossetti, William Michael 70 Rothko, Mark 162, 164–167 Rouault, Georges 96 f., 103 Roy, Pierre 153, 155 Rubens, Peter Paul 40, 43 Ruskin, John 68, 70 f. Russell, John Peter 97 Russischer Futurismus 111 Russolo, Luigi 108, 111 Ruysdael, Salomon van 45, 47 Rysselberghe, Théo van 89 S Salle, David 194 Salon dʼAutomne 96, 99, 136 f. Salon des Indépendants 88, 136 f. Salon des Refusés 76, 78 Sarto, Andrea del 38 f. Schad, Christian 149–151 Schnabel, Julian 192, 194 f. Schrimpf, Georg 149–151 Schwabe, Carlos 81 Schwitters, Kurt 117–119 Sezession 93 f. Segal, George 158 Sérusier, Paul 84 Seurat, Georges 88, 90 f. Severini, Gino 108 f. Shahn, Ben 157 Sharaku, Tōshūsai 66 f. Shin-hanga 112–115 Shinsui, Itō 113 f. Shōzaburō, Watanabe 112, 114 f. Shunsen, Natori 112, 114 Signac, Paul 86, 89, 91 Siqueiros, David Alfaro 144– 147 Sisley, Alfred 76–78 Smith, David 161 Smithson, Robert 188–191 Sōsaku-hanga 113 Soto, Jesús Rafael 173 f. Soyer, Raphael 156, 158 Sozialistischer Realismus 123, 125, 156 f. Stanick, Peter 202 f. Stella, Frank 178 f. Stephens, Frederic George 70 Still, Clyfford 163–165, 167 Suprematismus 120–126, 130, 165 f., 172 Surrealismus 107, 111, 139, 147, 151–155, 162, 164, 174, 184, 193 Symbolismus 80, 82 f., 86, 92, 94, 101, 136, 139, 146, 155 Synthetischer Kubismus 106– 107, 146, 166 Synthetismus 85 f. T Tatlin, Wladimir 124–127 Theosophie 130 f. Tiepolo, Giambattista 49, 51 Tiffany, Louis Comfort 93, 95 Tilson, Jake 201, 203 Tizian 32, 36 Toshi, Yoshida 114 Toulouse-Lautrec, Henri de 85–87 Turner, William 57, 59, 72 Tzara, Tristan 117, 119 U Uccello, Paolo 31, 138 Ukiyo-e 64–67, 76, 112 f., 115 UNOWIS 123 Utamaro, Kitagawa 66 V Vasarely, Victor 172, 174 f. Vasari, Giorgio 37, 39 Vauxcelles, Louis 97, 105 Velázquez, Diego 40 f., 43 Vermeer, Jan 45, 47 Veronese, Paolo 33 Vigée-Lebrun, Élisabeth-Louise 51 Viola, Bill 201 f. Vlaminck, Maurice de 96, 99 Vortizismus 111 W Wall, Jeff 202 Warhol, Andy 169–171, 185 f., 193, 200 Watteau, Antoine 48, 50 Weltausstellungen 68, 75, 96 Weyden, Rogier van der 31 Whistler, James A. M. 80–82 Wilde, Oscar 81, 82 Wood, Grant 157, 159 207 208 Titel der Originalausgabe: 50 Art Ideas You Really Need to Know Copyright © 2011 Quercus Publishing plc Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen Published by arrangement with Quercus Publishing PLC (UK) Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag und die Übersetzerin haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-spektrum.de 14 15 16 17 5 4 3 2 1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Frank Wigger, Stefanie Adam Redaktion: Dr. Lothar Altmann Satz: TypoDesign Hecker, Leimen Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg ISBN 978-3-642-39327-3 Bildnachweise 5 Scala/BPK, Bildagentur fuer Kunst, Kultur und Geschichte; 9 Scala, Florence; 13 iStock/Carmen Ruiz; 17 Scala; 22 Andrea Jemolo/Scala; 26 Dean Conger/ CORBIS; 30 Scala; 33 Shutterstock/Reed; 37 Scala; 42 Scala; 45 Austrian Archives/Scala; 50 The Metropolitan Museum of Art/Art Resource/Scala; 54 Scala; 57 Scala; 62 Scala; 65 Yale University Art Gallery/Art Resource, NY/ Scala; 69 The Print Collector/Heritage-Images/Scala; 74 Scala; 77 Scala; 81 The Art Archive/National Gallery of Scotland/Superstock; 85 Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala; 90 The Art Archive/Musée du Jeu de Paume, Paris/Laurie Platt Winfrey; 94 Scala – courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali; 98 Getty Images/The Bridgeman Art Library; 102 Bettmann/CORBIS 104 iStock/Richard Weiss; 109 Getty Images/The Bridgeman Art Library; 122 The Gallery Collection/Corbis; 129 Shutterstock/Reinhold Leitner; 135 Wikimedia.com; 145 The Art Archive/Dagli Orti; 149 Private Collection/The Bridgeman Art Library; 154 The Kobal Collection/ Bunuel-Dali; 158 Shutterstock/Nicholas R. Ellermann; 161 Shutterstock/Lauren Jade Goudie; 166 Shutterstock / Steve Wood; 170 Shutterstock/brushingup; 173 Shutterstock/Lisa Fischer; 177 Shutterstock/telesniuk; 186 Getty Images/Fred W. McDarrah; 189 Shutterstock / Eric Broder Van Dyke; 198 Getty Images/EyesWideOpen; 201 Heath Bunting
© Copyright 2024 ExpyDoc