Kunst - ElectronicsAndBooks

Kunst
Susie Hodge
schlüssel
ideen
Susie Hodge
50 Schlüsselideen
Kunst
Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen
Springer Spektrum
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Inhalt
Einleitung 3
VON DEN ANFÄNGEN
BIS ZUR RENAISSANCE
01 Prähistorische Kunst 4
02 Ägyptische Kunst 8
03 Griechische Klassik 12
04 Buddhistische Kunst 16
05 Byzantinische Kunst 20
06 Gotik 24
07 Frührenaissance 28
08 Hochrenaissance 32
09 Manierismus 36
DIE AUSBREITUNG DES HUMANISMUS
10 Barock 40
11 Das Goldene Zeitalter der
Niederlande 44
12 Rokoko 48
13 Klassizismus 52
14 Romantik 56
15 Akademie 60
16 Ukiyo-e 64
DER BEGINN DER MODERNE
17 Präraffaeliten 68
18 Realismus 72
19 Impressionismus 76
20 Symbolismus und
Ästhetizismus 80
21 Postimpressionismus 84
22 Neoimpressionismus 88
23 Jugendstil 92
24 Fauvismus 96
25 Expressionismus 100
26 Kubismus 104
27 Futurismus 108
28 Shin-hanga 112
HERAUSFORDERUNGEN UND WANDEL
29 Dadaismus 116
30 Suprematismus 120
31 Konstruktivismus 124
32 Neoplastizismus 128
33 Bauhaus 132
34 Pittura Metafisica 136
35 Harlem Renaissance 140
36 Muralismo 144
37 Neue Sachlichkeit 148
38 Surrealismus 152
39 American Scene 156
40 Abstrakter Expressionismus 160
41 Colour-Field-Painting 164
NEUE RICHTUNGEN
42 Pop-Art 168
43 Op-Art 172
44 Minimal Art 176
45 Concept-Art 180
46 Performance 184
47 Land-Art 188
48 Neoexpressionismus 192
49 Hyperrealismus 196
50 Medienkunst 200
Glossar 204
Index 206
Einleitung
Einleitung
In der Geschichte erfüllte die Kunst zahlreiche Funktionen und war immer ein Spiegel ihrer
Zeit. In ihrer einfachsten Form diente sie der Kommunikation oder als Dekor, aber sie wurde
auch für viele andere Zwecke geschaffen: für religiöse Darstellungen, für Propaganda, zum
Erinnern und Gedenken, als gesellschaftlicher Kommentar, zur Darstellung der Wirklichkeit,
zur bildlichen Wiedergabe des Schönen, als Erzählung in Bildern oder zum Ausdrücken von
Empfindungen. Kunst ist oft rätselhaft, überraschend und widersprüchlich, so dass wir uns
gedrängt fühlen, sie verstehen oder definieren zu wollen.
Dieses Buch handelt von vielen Ideen, die sich hinter der bildenden Kunst verbergen, von
der Vorgeschichte bis heute. Betrachtet wird Kunst, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten geschaffen wurde. Dabei richtet sich der Blick darauf, wie die Verschmelzung von Traditionen, Techniken, Materialien, technischen Erfindungen, Umwelteinflüssen,
sozialen und politischen Ereignissen und Umständen zu unerwarteten, inspirierenden oder rätselhaften Innovationen geführt haben. Er konzentriert sich auch auf die Verbindungen zwischen
Kunst und den gesellschaftlichen Entwicklungen und Erwartungen im Hinblick auf die Wirkung von Kunst, die manchmal Ehrfurcht einflößt oder schockiert, die schön sein kann oder
abgrundtief hässlich.
Entsprechend einer weitgehend chronologischen Ordnung beginnt das Buch mit der frühesten Kunst und geht auf einige bahnbrechende Ideen ein, darunter beispielsweise die erstaunlichen Werke der Renaissance und die provozierenden Bilder und Skulpturen des 16. Jahrhunderts oder auch die japanischen „Bilder der fließenden Welt“. Es verdeutlicht, wie Künstler
verschiedener Zeiten, Kulturen und Länder eine Fülle von Verfahren, Stilen und Bildern
geschaffen haben und wie sich die Rolle der Künstler über Zeiten und Kontinente hinweg verändert hat. Zum Ende des Buches hin beschäftigen sich die Abschnitte mit der Explosion der
Ideen während des 19. und 20. Jahrhunderts von der revolutionären Leistung des Impressionismus und der Entwicklung der abstrakten Kunst bis hin zu den extensiven Reaktionen und
Neuinterpretationen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Das letzte Kapitel stellt
einige der neuesten Begriffe der Kunst vor, die auf neue aufregende, überraschende und unvorhergesehene Möglichkeiten für die Zukunft hindeuten.
3
4
Von den Anfängen bis zur Renaissance
01 Prähistorische
Kunst
(ca. 30 000--2000 v. Chr.)
Die Vorstellung, dass Kunst etwas Magisches beinhaltet, dass sie magische Kräfte hat und den Geist verzaubert, war in vielen frühen Gesellschaften ein weit verbreiteter Glaube. Nur wenige Beispiele prähistorischer Kunst haben sich erhalten, aber die wenigen, die überliefert sind,
weisen auf vielfältige soziale Strukturen und religiöse Vorstellungen hin,
die vielleicht vor einigen tausend Jahren allgemein bekannt waren, über
die wir heute aber nur spekulieren können.
Da die Anfänge der Kunst vor der schriftlichen Überlieferung datieren, wissen wir
nicht, ob das älteste Kunstwerk, das gefunden wurde, typisch für seine Zeit und
Kultur ist und ob es sich überhaupt um ein Kunstwerk handelt. Das älteste Fundstück, das sich sicher als Kunst klassifizieren lässt, stammt aus der späten Steinzeit
und wurde zwischen 15 000 und 10 000 v. Chr. hergestellt. Damals malten, drückten
oder kratzten die Menschen Bilder von Tieren, Jägern, Händen und verschiedenen
Mustern auf bzw. in Höhlen- oder Felswände.
Die Steinzeit umfasst drei Phasen: Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit, die auch als
Paläo-, Meso- und Neolithikum bezeichnet werden. Das Paläolithikum, das je nach
Angaben zwischen ca. 2,5 Millionen und 750 000 Jahren v. Chr. begann, endete um
10 000 v. Chr.; das Mesolithikum umspannte in Europa etwa 5000 Jahre und endete
um 5500 v. Chr. mit der neolithischen Revolution. wobei dann das Neolithikum bis
in die Zeit um 1500 v. Chr. reichte. Das Paläolithikum war die Zeit der Jäger und
Sammler. Danach wurden die Menschen zunehmend sesshafte Bauern, die Siedlungen anlegten. Während des Meso- und Neolithikums änderten sich zwar der Stil und
die Themen der steinzeitlichen Kunst, aber die Vorstellung blieb bestehen, dass
Zeitleiste
ca.
2,5 Mio.–40 000 v. Chr.
Frühes und Mittleres Paläolithikum mit mehreren
Eiszeiten; die Menschen stellen Steinwerkzeuge her,
die auch die Entwicklung ihrer Kunst beeinflussen
ca.
40 000–10 000 v. Chr.
Spätes Paläolothikum mit Höhlenmalereien und
Frauenfigurinen in Europa und den frühesten
bekannten Felsenbildern in Australien
Prähistorische Kunst
Der Saal der Stiere
Die großen, lebensnahen farbigen Bilder von Tieren an den Höhlenwänden und -decken von Lascaux lassen das Stampfen der Pferde, Bisons
oder Stiere spüren. Gemalt wurden sie mit Pigmentfarben, die aus rotem und gelbem Ocker,
Umbra und Holzkohle gewonnen und mit Kalk
gemischt wurden. Die Mineralien wurden auf
Steinpaletten gemahlen und gemischt und mit
Tierfett vermengt, das dann mit Fingern, Kno-
chenstücken, Zweigen, Moos- oder Fell-„Pinseln“
auf die Höhlenwände aufgetragen wurde. Viele
der Tiere wurden möglicherweise nach Originalen gezeichnet, die bereits tot waren. Die naturalistische Darstellung der Tiere, vielfach zusammen mit Pfeilen oder Speeren, und die gelegentliche Übermalung von Bildern auch an schwer
zugänglichen Stellen der Höhlen sprechen für
einen Zusammenhang mit Jagdritualen.
Höhlenbild, Lascaux, um 15 000 v. Chr.
ca.
10 000–8000 v. Chr.
Neolithische Revolution am Ende der Eiszeit – Jäger und Sammler
werden Bauern. Felsenbilder entstehen in Indien, Algerien und der
Sahara. In Frankreich, Deutschland, der Slowakei und Tschechien
sowie Persien werden Tonwaren hergestellt
ca.
8000–2000 v. Chr.
Neolithikum mit der Entwicklung der Keramik, dem Beginn der
Seidenproduktion in Asien und den ersten megalithischen
Monumenten. Die Ägypter und die Sumerer entwickeln die
Schrift. In Mexiko entstehen die Kolossalköpfe der Olmeken
5
6
Von den Anfängen bis zur Renaissance
‚
Zeichnen ist noch heute im Grunde dasselbe wie in
prähistorischer Zeit. Es verbindet Menschen und die Welt. Es lebt
von der Magie.
Keith Haring
ʻ
künstlerische Schöpfungen vom Hauch der Magie oder Vorhersage der Zukunft
berührt sein könnten.
Höhlenbilder, die in Frankreich, Spanien, Italien, Russland und der Mongolei vor
etwa 10 000 bis 30 000 Jahren entstanden, gehören zu den bekanntesten prähistorischen Kunstwerken. Besonders eindrucksvoll ist die Höhlenmalerei von Lascaux im
Südwesten Frankreichs, immerhin 300 farbige Felsbilder und zudem 1500 Ritzzeichnungen. Sie wurden im Dunkel der Höhlen bei schlechtem Licht geschaffen,
wirken aber bemerkenswert lebendig in den Farben und durch die kunstfertige Darstellung von Perspektive, Form und Bewegung der Tiere. Man vermutet, dass die
meisten Höhlenbilder dieser prähistorischen Kunst rituellen Zwecken dienten.
Fruchtbarkeit und Nahrung In Skulpturen und Plastiken wurden offenbar
auch übernatürliche Kräfte vermutet. Die ersten Figuren wurden aus Bein, Stein
oder Ton gefertigt. Insbesondere wurden kleine, rundliche Frauenfigurinen gefunden wie in Österreich die berühmte Venus von Willendorf, die etwa 11 cm hoch ist
und vor etwa 25 000 Jahren entstand. Aus Europa sind inzwischen zahlreiche
Venusstatuetten bekannt, die man als Fruchtbarkeitszeichen deutet.
Handlungsfähigkeit, Aberglaube und Religion Die Deutungen der prähistorischen Kunst variieren nach wie vor. Vor vielen Höhlenbildern finden sich
zahlreiche Fußspuren, die mit ziemlicher Sicherheit als Hinweis darauf gelten können, dass diese Bilder als Schutz vor Naturgewalten oder bösen Geistern angesehen
wurden und vor ihnen religiöse Zusammenkünfte stattfanden. Zudem sind Darstellungen von Menschen in den paläolithischen Höhlenbildern ungewöhnlich und
unrealistisch, was vermuten lässt, dass die Künstler an eine spirituelle Wirkung
glaubten. Man erhoffte sich Einfluss auf die unsicheren Nahrungsquellen, von
denen man abhängig war, und versuchte, mit den unsichtbaren Kräften, die man
überall vermutete, gute Beziehungen zu erreichen. Die Bilder könnten eine Form
der Kontrolle über die eigene Bestimmung gewesen sein. Ob die paläolithischen
Künstler an Götter oder höhere Wesen geglaubt haben, ist unklar, aber die Vorstellung von übernatürlichen Kräften, die durch Kunst geweckt werden, war mächtig
und hatte über Jahrtausende Bestand.
Im Mesolithikum begannen die Künstler zunehmend auf offenliegende Felswände zu malen und nicht nur auf die Wände in dunklen Höhlen. Die Bilder wur-
Prähistorische Kunst
den stilisierter, zeigten häufiger Menschen.
Die Darstellungen der menschlichen Gestalt
wurden abstrakter. Männer wurden oft als
Krieger gezeigt. Die mesolithische Vorstellung, dass Menschen ihre Umwelt gestalten
und nicht deren Opfer sein sollen, führte
dazu, dass sie sich selbst als zuversichtliche
Akteure wiedergaben und nicht nur auf religiöse Inhalte konzentrierten.
Frauen als Kunstschaffende
Es wurde oft angenommen, dass die prähistorischen Bilder nur von Männern gemalt wurden.
Woran nicht gedacht wurde, war die Möglichkeit, dass auch Frauen beteiligt gewesen sein
könnten. Eine neuere Untersuchung ergab
jedoch Hinweise darauf, dass unter den Künstlern tatsächlich auch Frauen waren – die demzufolge eine wichtigere Rolle in der prähistorischen Gesellschaft gespielt haben könnten, als
bislang vermutet wurde.
Funktion und Form Im Neolithikum
wurde das Leben stabiler und die Menschen
kultivierten Pflanzen und Tiere. Statt nur zu
jagen, begannen sie zu pflügen. In dieser Zeit
entstanden die bedeutenden megalithischen
Monumente wie Stonehenge in Südengland
oder Beltany in Irland, die für die astronomische Ausrichtung ihrer Steinreihen
berühmt sind. Es ist unbekannt, wie diese schweren Steine transportiert und aufgestellt wurden, und auch die Bedeutung der Megalithbauten ist unklar, zumal sie von
späteren Generationen für verschiedene Zwecke wiederverwendet wurden. Aber es
gibt einige Theorien, die darin Heilungs- oder Grabstätten, Tempel zur Verehrung
der Sonne oder des Mondes oder auch der Ahnen und sogar umfassende Kalendarien vermuten. Die archäologische Befunde sprechendafür, dass Stonehenge in den
ersten 500 Jahren als Begräbnisstätte genutzt wurde. Die Bezüge zu Sonne und
Mond galten lange als ein menschlicher Versuch, mit übernatürlichen Kräften in
Verbindung zu treten.
Ein bleibender Glaube Die frühesten Vorstellungen, die hinter dem Kunstschaffen stecken, wurden über Jahrhunderte tradiert. Eine Überzeugung hat sich in
vielen verschiedenen Kunstrichtungen unserer Geschichte besonders herausgebildet: Kunst kann, wenn sie einmal geschaffen ist, magische Wirkung in Verbindung
mit Aberglauben und dem Glauben an höhere Mächte in unserem Leben oder im
Jenseits entfalten, und Menschen haben die Fähigkeit, die Welt zu beeinflussen,
indem sie Symbole schaffen und ihre Erfahrungen in statischen Bildern festhalten.
Ohne schriftliche Überlieferung lässt sich über die Vorstellungen der prähistorischen Künstler nur spekulieren, aber die Hinweise durch die Fundorte, die Bildinhalte und die Art der Darstellung verdichten sich zur Wahrscheinlichkeit, dass die
Kunst für spirituelle Zwecke genutzt wurde.
Worum
es geht
Kunst
hatte magische
Kraft
7
8
Von den Anfängen bis zur Renaissance
02 Ägyptische Kunst
(ca. 3000 --30 v. Chr.)
Das alte Ägypten umfasst eine Zeitspanne von etwa 3000 Jahren, in
denen sich die Kunst kaum verändert hat. Die altägyptischen Künstler
entwickelten bald ein System, in dem sie alles darstellen konnten, und
setzten damit den Rahmen für die Künstler auch der nachfolgenden
Generationen. Ihre anfänglichen Vorstellungen wurden zur Regel, von
denen die späteren Künstler bei ihren Darstellungen nicht abwichen.
Daher konnten sie in ihre Werke keine individuelle Gestaltung einbringen.
Wie andere alte Kulturen war die ägyptische Kultur von Symbolik und dem Glauben an die Existenz von Göttern geprägt, die man bei Laune halten musste, um ihre
gutwillige Unterstützung zu sichern. Der Kern der ägyptischen Kultur war die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod.
Kunst für die Toten Die berühmtesten ägyptischen Kunstwerke wurden für
Gräber geschaffen und nicht für lebende Betrachter. Sie wurden nicht dafür
gemacht, dass wir sie bewundern. Einen Hinweis darauf liefert bereits das ägyptische Wort für Bildhauer: „der am Leben hält“. Die Aufgabe der ägyptischen Künstler, die diese Grabkunst schufen, bestand nicht darin, zu schmücken und zu verschönern oder die Lebenden zu beglücken. Vielmehr galt es, den (hochgestellten)
Toten beizustehen, damit sie nach dem Tod weiterleben können, von den Gottheiten
im Totenreich wohlwollend aufgenommen werden und dort die gleichen Annehmlichkeiten genießen wie im irdischen Leben. Entsprechend wurden die Gräber mit
Dingen des täglichen Bedarfs ausgestattet und mit Bildern aus dem irdischen Leben
der Toten geschmückt. Auch Statuen oder Statuetten der Toten wurden beigegeben,
die deren irdische Position darstellen, und schließlich Bilder von Personen ihrer
Umgebung, darunter Familienangehörige und Dienerschaft. Die Bilder, Skulpturen
oder Reliefs sollten nach dem Schließen des Grabes entsprechend dem Glauben der
Zeitleiste
2575–2467 v.Chr.
ca.
Die ersten Hieroglyphen – aus
der „Schrift der Gottesworte“ –
werden auf die Wände der
Königsgräber geschrieben
Eine rechteckige
Gruppierung setzt sich für
Gemälde und Skulpturen
durch
1991 v. Chr.
1550 v. Chr.
ab ca.
Mit der 18. Dynastie
erreicht die Kunstproduktion ihren
Höhepunkt
Die ägyptischen Gottheiten werden
in den Darstellungen zunehmend
gruppiert, um die familiären
Zusammenhänge zu zeigen
1540 v. Chr.
Ägyptische Kunst
Ägyptische Grabmalerei
Das Grab der Nefertari ist typisch für die
Königsgräber dieser Periode. Die Wände
sind mit Schriftzeichen und Szenen aus
dem Leben dieser Königin geschmückt,
um ihr den Eingang ins Jenseits zu
erleichtern. Entstanden um 1255 v. Chr.,
zeigt dieses Wandbild die Königin beim
Brettspiel. Es folgt festen Regeln der Portraitkunst. So sind der Rumpf und die
Augen in Frontalansicht dargestellt, Kopf,
Arme und Beine jedoch im Profil. Auch die
Spielfiguren sind in der Seitenansicht
gezeigt, um ihre typischen Merkmale hervorzuheben. Hieroglyphen als „Schrift der
Gottesworte“ sollten bewirken, dass Nefertari durch die Verwandlung in einen Vogel
ihren irdischen Leib verlassen und ins Jenseits der Unsterblichen gelangen konnte.
Die Schach spielende Königin, Wandbild im Grab der Nefertari, Theben ca. 1255 v. Chr.
1352–1336 v. Chr.
Regentschaft Echnatons, der
eine neue Hauptstadt baut und
neue Vorstellungen von Kunst
und Religion einführt
ca.
1336–1327 v. Chr.
Regentschaft von Tutanchamun
und Rückverlegung der
Hauptstadt nach Theben
ca.
1326 v. Chr.
Rückkehr zu den alten Göttern,
Weltanschauungen, Regeln und
Stilformen in Religion und Kunst
9
10
Von den Anfängen bis zur Renaissance
‚
Hier versteht man die Gegensätze. Prächtige Dinge liegen
im Staub.
Gustave Flaubert
ʻ
alten Ägypter Verwandlungskräfte entwickeln, die den dargestellten Dingen entsprachen. Mit der Abbildung eines Dieners beispielsweise sollte dem Toten auch im
Jenseits ein Diener zur Seite gestellt werden.
Ein präzises System Es gehörte zur Aufgabe der ägyptischen Künstler, alles
möglichst klar und eindeutig darzustellen. So war ihre Kunst im Wesentlichen schematisch. Persönliche Deutungen, das Zeichnen nach eigenen Beobachtungen aus
dem täglichen Leben, fantasievolle Ausschmückungen oder sonstige Normabweichungen waren streng verboten. Die Künstler mussten vielmehr in einer langwierigen Ausbildung den strengen Kodex der Darstellung auswendig lernen und bei
jedem Werk anwenden. Die Figuren und Formen der ägyptischen Kunst sehen zwar
einfach aus, aber es herrscht eine ziemlich komplexe Balance und Harmonie in der
geometrischen Regelmäßigkeit und der Anordnung aller Elemente. Ungeachtet des
Ziels, Stilisierungen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, führten die unveränderlichen Darstellungsformen zu einem einmaligen und einzigartigen Stil, der noch in
späteren Jahrhunderten bewundert und nachgeahmt wurde.
Die Methode Die Künstler gingen methodisch und systematisch ans Werk. Zur
Anfertigung von Wandbildern markierten sie zunächst auf der hierfür vorgesehenen
Malfläche ein Gitterraster, indem sie farbgetränkte Schnüre über die Wand spannten. Im nächsten Schritt wurde eine auf Papyrus angebrachte Vorzeichnung auf die
Wand übertragen und schließlich mit bunten, kräftigen Farben ausgemalt. Es wurde
kein Versuch unternommen, Tiefe, Perspektive oder Textur darzustellen. Alles
wurde unter dem Blickwinkel gezeigt, unter dem sich typische Merkmale hervorheben ließen. Reliefs wurden ähnlich erstellt, und auch Skulpturen wurden anhand
von Liniennetzen und strengen Darstellungsregeln gefertigt. Alles zielte auf den
Schutz der Seele der Toten, insbesondere Statuen aus Stein, deren Schutz für die
Ewigkeit Bestand hatte.
Darstellungsregeln Ähnlich wie der Blickwinkel nach dem typischen Aussehen gewählt wurde, diente die Größe der Abbildung zur Kennzeichnung der jeweiligen Bedeutung der dargestellten Personen. Männer beispielsweise sind größer wiedergegeben als Frauen, die ihrerseits aber ebenfalls größer sind als die Diener.
Frauen werden gewöhnlich untätig dargestellt, Männer eher in Aktion. Männer wer-
Ägyptische Kunst
den in dunkleren Farben zwischen Braun und
Echnaton
Rot gezeigt, Frauen meist in hellen Gelbtönen. Dinge wie Häuser, Bäume oder Boote
In den 3000 Jahren hat von allen Pharaonen
werden in Seitenansicht wiedergegeben,
nur einer den Versuch gemacht, die ägyptische
während Flüsse und Fische in Aufsicht dargeReligion und Kunst zu verändern: Echnaton
stellt sind. Jeder der über 2000 Götter hatte
glaubte an nur einen Gott, an Aton, die Quelle
ein genau vorgeschriebenes Aussehen. Und
des Lebens und des Lichts. Er ließ eine neue
oft finden sich in den Bildern Symbole, von
Hauptstadt bauen und ermutigte die Künstler,
denen man glaubte, dass die Götter sie versich mehr auf die Lebenden als auf die Toten
stehen: der Skarabäus als Lebens- und
zu konzentrieren sowie ihre Kunstwerke naturGlückssymbol oder Frosch und Ente als Zeigetreu und zwanglos zu gestalten. Aber diese
chen für Fruchtbarkeit. Sitzende Statuen sind
Periode der individuellen Gestaltung in der
mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln
Kunst war kurz. Die Priester- und Ältestenelite
gestaltet, stehende mit einem vorgestellten
sah darin eine Ketzerei und setzte nach EchnaBein. Wie Gemälde und Reliefs wurden auch
tons Tod die alten Regeln während der Regiedie Skulpturen nach vorgegebenen Regeln
rungszeit von dessen Schwiegersohn Tutanchgestaltet. Sie zeigen nicht das tatsächliche
amun wieder in Kraft. Die Hauptstadt wurde
Aussehen einer Person, so dass etwa die
nach Theben zurückverlegt.
königlichen Statuen kaum Ähnlichkeiten mit
den Portraitierten aufweisen. Die Ausgestaltung für die Ewigkeit war wichtiger als die
naturgetreue Wiedergabe. Leitend war der Glaube, dass die Toten (in der Regel
Könige, manchmal auch hochgestellte Adelige) im Schutz ihrer Gräber weiterleben
sollten. Die Götter würden all die Bilder, Bitten, Schriftzeichen und Opfergaben
verstehen und den Toten in das jenseitige Reich der Unsterblichen aufnehmen.
Drei Gesichtspunkte Die ägyptische Kunst begann, wie sie endete: Es gab
keine frühe Periode der Entwicklung und nur eine Stiländerung während der gesamten Zeit. Von Beginn an war sie meisterhaft und den späteren Werken ebenbürtig.
Sie entsprang drei wichtigen Grundgedanken der ägyptischen Kultur: Religion,
Totenkult und genaue regelgerechte Anwendung der etablierten Tradition.
Worum
Kunst
dientes
dengeht
Toten
11
12
Von den Anfängen bis zur Renaissance
03 Griechische Klassik
(ca. 500--320 v. Chr.)
Für die alten Griechen gehörten der Mensch, das rationale Denken und
die Wissenschaft zu den zentralen Themen, die sich auch in ihrer Kunst
widerspiegeln. Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschen
und der Natur ging mit einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit einher. Zugleich liebten sie die Ästhetik und die Idealisierung der verzeichneten Sachverhalte. Diese Mischung aus Idealismus und Naturalismus
hat die Kunst der griechischen Klassik geprägt.
Nach dem Sieg der Griechen über die Perser im Jahre 480 v. Chr. gab es über
30 Jahre hinweg einen neuen Bund von Stadtstaaten unter Führung Athens. In
dieser Zeit des Friedens, der politischen Stärke und Sicherheit blühte auch die
Kunst. Zwar hatte sich die Kunst bereits über Generationen rasant entwickelt, aber
nun stieg die Produktivität sprunghaft an.
Technische Meisterschaft Anders als die alten Ägypter beschäftigten sich
die griechischen Künstler mehr mit dem Leben als mit dem Tod. Neben dem Geist,
der sie in seinen Bann zog, galt ihr Interesse dem Körper und seinen Möglichkeiten
– entsprechend der Idee der Olympischen Spiele (die seit 776 v. Chr. belegt sind).
Man strebte nach geistiger und körperlicher Vervollkommnung, und diesem allgemeinen Leitbild folgend stellten die Künstler perfekte Körper in einem makellosen
Umfeld dar. Die Vorstellung von Schönheit und Makellosigkeit ergab sich aus den
göttlichen Idealen, in denen sich Götter und vollkommene Menschen gleichen.
In Athen gab es eine Welle des kreativen Schaffens für die Kunst an und in
öffentlichen sowie sakralen Gebäuden. Reliefs, Wandbilder und Statuen schmückten die Bauwerke und zeigten Götter und Helden der Sagen und Mythen. Statuen
wurden als kraftvolle jugendliche Körper gestaltet mit wohlproportioniertem Rumpf
und glatten, muskulösen Gliedmaßen. Dahinter standen umwälzende Ideen. War
zuvor die Kunst aller Kulturen durch eine stilisierende oder vereinfachende Darstel-
Zeitleiste
480 v. Chr.
474 v. Chr.
450 v. Chr.
Sieg der Griechen über die
angreifenden Perser und Beginn
der klassischen Antike
Beginn der Errichtung des
Parthenon für Athens
Stadtgöttin auf der Akropolis
Myron gießt den Diskobolos
(Diskuswerfer)
Griechische Klassik
Der Diskuswerfer
Die Mischung von naturalistischen und ideellen
Elementen appellierte
an das Faible der Griechen für schöne Körper und
die geistige Vervollkommnung in der Kunst. Das
Gestalten nach lebenden Modellen wurde nun zum
Standard, was es zuvor nicht gegeben hatte.
Myrons Diskuswerfer, der um 450 geschaffene
Diskobolos, ist eine überzeugende Darstellung
eines Körpers in Bewegung.
Das Original ist nicht erhalten, aber es
gibt einige römische Kopien davon –
darunter die hier abgebildete Darstellung
eines jungen Athleten beim Schleudern
eines Diskus aus der Körperdrehung
heraus. Die Griechen bewunderten das
physische Erscheinungsbild dieser Diskuswerfer, weil bei ihnen alle Muskeln in harmonischen Proportionen zueinander stehen. Die Figur ist ausdrucksstark, naturalistisch und makellos – allerdings sind
die Muskeln entspannt dargestellt, was
nicht unbedingt der besten Wurftechnik
entspricht.
Kopie von Myrons Diskobolos.
438 v. Chr.
435 v. Chr.
Phidias schafft die Athena Parthenos
für den Tempel der Stadtgöttin Athens
auf der Akropolis
Phidias vollendet die 12 m
hohe Zeusstatue, die als eines
der sieben Weltwunder galt
ca.
350 v. Chr.
Der Bildhauer Praxiteles schafft eine
Aphroditestatue, die erste Nacktdarstellung
eines weiblichen Körpers, die durch ihre
Schönheit berühmt wurde
13
14
Von den Anfängen bis zur Renaissance
lungsweise gekennzeichnet, so studierten
die Künstler nun erstmals die darzustellenden Dinge eingehend, um sie so abzubilEin Gestaltungselement der Bildhauerei, das in
den, wie man sie wahrnimmt. Zum ersten
der Renaissance die italienische Bezeichnung
Mal wurden realistische Darstellungselecontrapposto bekommen sollte, kennzeichnet
mente wie Verkürzung und Textur angeStatuen, bei denen das Körpergewicht auf
wandt und genaue Details eingefügt im
einem Standbein lastet und durch die Drehung
Bestreben, das Leben so wiederzugeben,
der Arme und Schultern in Verbindung mit dem
wie es sich den Augen bot. Trotz der
Spielbein ein statisches Gleichgewicht erreicht
Beschädigungen und Zerstörungen zeugt
wird. In der Renaissance galt diese Haltung
die Kunst dieser Periode immer noch von
einer Figur als ideal, und die damaligen Künsttechnischer Meisterschaft und genauer
ler kopierten sie frei in dem Wissen, dass sie
Beobachtung. Sie wurde dann weiter versich an Polyklet orientierten, der den Kontrabessert, um ihr ein perfektes Aussehen zu
post als erster Bildhauer anwendete.
geben. Die meisten griechischen Gemälde
haben sich jedoch nicht erhalten, weil sie
auf Holz gemalt oder der Witterung ausgesetzt waren. Aber viele sind durch römische Kopien überliefert. Auch die farbige
Fassung der Statuen ist meist verschwunden. Diese Kunstwerke müssen für die
Bürger Athens, die so etwas nie zuvor gesehen hatten, eindrucksvoll gewesen sein.
Kontrapost
Innovative Bildhauer Zum ersten Mal in der Geschichte hoben sich in der
griechischen Klassik einzelne Namen aus der Masse anonymer Künstler hervor.
Drei Bildhauer gelten hier als besonders stilbildend mit ihren Schulen, die noch
lange über den Tod ihrer Begründer hinaus einflussreich blieben. Myron aus Eleutherai hatte seine Schaffensperiode zwischen 480 und 440 v. Chr. Neben lebensnahen Statuen von Göttern und Helden hat er Darstellungen von Athleten in dynamischer Bewegung geschaffen, die ihn berühmt gemacht haben. Als einer der bekanntesten Bildhauer der Klassik, die im aufsteigenden Athen wirkten, gilt Phidias
(500–432 v. Chr.). Er soll bei vielen öffentlichen Bauaufgaben Aufsicht geführt
haben, insbesondere beim Parthenon und bei den dort geplanten Standbildern. Seine
Zeusstatue in Olympia war eines der sieben Weltwunder der Antike. Er gestaltete
auch zwei Athenestatuen auf der Akropolis, von denen eine groß genug war, um
vom Meer aus sichtbar zu sein. Sein Werk ist von Aufmerksamkeit für naturalistische Details und von kunstfertiger Drapierung der Kleidung gekennzeichnet. Der
dritte berühmte Bildhauer dieser Zeit war Polyklet, der um 480 v. Chr. geboren
wurde und um die Jahrhundertwende starb. Er schuf idealisierte Figuren in entspannter, natürlicher Haltung, wie sie später in der Renaissance wieder aufgenommen wurde. Sein besonderes Gestaltungselement war der Kontrapost.
Griechische Klassik
‚
Denn wir lieben das Schöne mit Einfachheit und wir erfreuen uns
am geistigen Genuss ohne Weichlichkeit.
Perikles
ʻ
Perfekte Proportionen Der Goldene Schnitt war schon bei den Griechen eine
der harmonischen Teilungsverhältnisse, die man als schön wahrnimmt. Er wurde
zuerst von den alten Ägyptern eingesetzt und viele Jahrhunderte später von Leonardo da Vinci mit dem Buchstaben Phi gekennzeichnet, nach Phidias, der diese
ausbalancierten Proportionen in seinem gesamten Werk angewendet hat. Die
Außenmaße des Parthenon folgen dem Goldenen Schnitt, und alle Skulpturen richten sich nach dieser Proportionsregel. Bei der Athenestatue beispielsweise entsprechen die Abstände zwischen Scheitel und Ohr, Stirn und Kinn sowie Nase und Ohrläppchen dem Goldenen Schnitt.
Griechische Vasen Zwar galt auch bei den alten Griechen die Töpferei nicht
als Kunst, aber sie wurde von ihnen in das Streben nach Perfektion einbezogen. Die
griechischen Tonvasen sind fein gearbeitet und besitzen glatte, reich dekorierte
Oberflächen. Harmonisch gruppierte Figuren bilden die Motive auf den gewölbten
Flächen der Tongefäße aus klassischer Zeit. Die Vasenmaler liefern uns Hinweise
auf die Kompositionen der verlorengegangenen Gemälde der großen zeitgenössischen Künstler, mit denen sie Schritt zu halten versuchten.
Worum
es geht
Gehobener,
idealisierender
Realismus
15
16
Von den Anfängen bis zur Renaissance
04 Buddhistische
Kunst
(ca. 600 v. Chr.--700 n. Chr.)
Der Buddhismus und seine Kunst umspannen inzwischen mehr als
2500 Jahre. Zwischen 600 und 500 v. Chr. haben indische Künstler
begonnen, die Lehren Buddhas in bildlichen und symbolischen Darstellungen zu verbreiten. Dabei übernahmen die buddhistischen Künstler
über 600 Jahre auch Vorstellungen der Römer, die ihrerseits stark von
den Griechen beeinflusst waren.
In der buddhistischen Kunst jener Zeit ging es um Darstellungen, die die Erlebnisse
und Erfahrungen des geistlichen Lehrers Siddhartha Gautama, genannt Buddha,
erläutern sollten. Die Religion, die er begründete, breitete sich von Nordindien über
Zentralasien nach Osten und Westen aus. In den ersten buddhistischen Kunstwerken
ist Buddha nicht als Mensch dargestellt, sondern seine Gegenwart wird durch Symbole angezeigt: eine Lotosblüte, Fußspuren, einen leeren Platz auf einem Thron
oder unter einem Schirm. Die Künstler schufen stilisierte, flach und flächig gestaltete Bilder und Reliefs. Der Betrachter sollte ein tiefes Verständnis des Buddhismus
gewinnen und vielleicht sogar selbst „erwachen“.
Darstellungen des ernsten Buddhas Das erste Bild eines menschlichen
Buddhas wurde im ersten vorchristlichen Jahrhundert in einem Teil Indiens geschaffen, der unter dem Namen Gandhara bekannt ist. Die Kunst, die sich dort damals
entwickelte, ist klar erkennbar von den Griechen und Römern beeinflusst: Buddha
wurde real als Mensch portraitiert, häufig mit ähnlichen Haarlocken wie bei den
römischen Darstellungen Apollos sowie mit Schmuck und Toga im römischen Stil.
Man ließ sich zunehmend vom lebensnahen, narrativen Realismus der römischen
Kunst inspirieren, schuf aber durch die Vermischung mit einem Symbolismus
Zeitleiste
ca.
563 v. Chr.
Siddhartha Gautama wird in
Lumbini (im heutigen Nepal)
in eine königliche Familie
hineingeboren
ca.
534 v. Chr.
Prinz Siddhartha wird
ein geistlicher Lehrer
ca.
400 v. Chr.
Buddhistische Künstler
verwenden Symbole zur
Darstellung von Buddhas
Leben
ca.
150 v. Chr.
In Gandhara übernehmen
Künstler die Ideen der Griechen
und Römer für ihre Darstellungen
Buddhas als Mensch
Buddhistische Kunst
eigene Ansätze. In anderen Teilen Indiens entstanden
andere Stile und Deutungen bei der Darstellung
Buddhas. Die Kunst Gandharas beeinflusste die
Bildhauer in Mathura, einer Stadt in Nordindien,
und strahlte bis in Teile von China, Korea und
Japan aus. Die Künstler von Mathura deuteten
die Buddha-Erzählungen neu. Sein Körper
wurde nun durch prana, den heiligen Atem,
aufgebläht und sein Gewand stets über die
linke Schulter gelegt. In Südindien dagegen
wurde Buddha mit einer über die rechte
Schulter gelegten Toga und mit ernstem
Gesichtsausdruck dargestellt. Dieser Stil
breitete sich nach Sri Lanka aus. Schließlich
wurden die Buddha-Darstellungen zu den
beliebtesten Kunstwerken des Buddhismus,
obwohl die ursprünglichen Symbole weiter-
Meditierender Buddha, ca. 4.–6. Jahrhundert n. Chr.
Das Gupta-Reich
Das Gupta-Reich zwischen dem 4. und
6. Jahrhundert n. Chr. wird manchmal als
das goldene oder klassische Zeitalter
Indiens bezeichnet. Es war eine Zeit der
Erfindungen und Entdeckungen in Wissenschaft, Technik, Literatur, Mathematik,
Astronomie, Philosophie und Kunst. Das
Königreich stützte sich auf eine klassische
Zivilisation; es herrschten Frieden und
120 v. Chr.
68 n. Chr.
Der chinesische Kaiser Han
Wudi erhält zwei goldene
Buddhastatuen
Der Buddhismus wird in China
offiziell eingeführt
Wohlstand. Die Künstler schufen zahllose
Werke und entwickelten ihr eigenes „Idealbild“ von Buddha, in das Elemente der
Kunst aus Gandhara und Mathura einflossen. Für Gupta-Buddhas sind die Haarlocken und die niedergeschlagenen Augen
typisch. Sie wurden zum Archetyp für
zukünftige Generationen buddhistischer
Künstler in ganz Asien.
ca.
320–500 n. Chr.
Die Gupta-Dynastie markiert
das goldene Zeitalter Indiens
am Höhepunkt der buddhistischen Kunst
ca.
650 n. Chr.
Nach Überschreiten des Zenits
kommt die buddhistische Kunst
in Indien zum Erliegen
17
18
Von den Anfängen bis zur Renaissance
hin ein wichtiges Gestaltungselement blieben, das freilich nicht mehr die entscheidende Bedeutung hatte.
Wie auch immer Buddha dargestellt wurde, sein Ausdruck war stets ernst und
seine Hände wurden in symbolischer Geste gezeigt. Sein Haar war schließlich auf
dem Kopf zu einem Knoten gebunden, und das togaähnliche Gewand glich sich
zunehmend dem traditionellen indischen Kleidungsstil an.
Religiöse Lehren Wie häufig in der religiösen Kunst strebte auch die
buddhistische Kunst danach, ein Mittel der religiösen Erziehung zu sein, das die
Gläubigen anziehen und ihre Aufmerksamkeit wecken sowie ihnen den Hintergrund
der Religion erläutern soll. Ein weiteres Ziel dieser Kunst war die Unterstützung
der Meditation. Der gläubige Betrachter wurde ermutigt, sich in die Kunst und ihre
vielschichtigen Symbole kontemplativ zu vertiefen. Dabei sollte er sich um die
Erfahrung spirituellen Erwachens bemühen.
In späteren Jahrhunderten entstand eine neue Form des Buddhismus, die neue
Götter und Rituale einschloss. Jetzt wurden außer Buddha und Symbolen völlig
neue Götter dargestellt. Anfangs gab es für die Wiedergabe dieser Götter keine festen Konventionen, aber mit der Zeit tauchten wiederkehrende Elemente auf, die
deutlich erkennbar und zunehmend bedeutsam wurden. Es kam darauf an, dass sie
sich wiederholten und der Betrachter in ihnen die Grundaufgabe der buddhistischen
Kunst wiedererkannte, nämlich in Klarheit vom Leben Buddhas zu zeugen. Der
Betrachter sollte verstehen, was er sieht, und in seinem Glauben ermutigt und gefestigt werden.
Die Erwachten Bodhisattvas sind Erwachte oder Erleuchtete, die Buddhas
werden und den Menschen helfen wollen. Ihr Name leitet sich aus dem Sanskrit ab:
bodhi heißt Erwachen und sattva Wesen. Ein Buddha ist zu unbegrenztem Mitgefühl und zu grenzenloser Weisheit fähig, und ein Bodhisattva wird jedes Leid ertra-
Perfekte Proportionen
Die klassischen Buddha-Darstellungen
drücken stets Harmonie und Ernsthaftigkeit aus, ungeachtet des Stils. Dies beruht
auf einem vorgegebenen System idealer
Proportionen, dem alle buddhistischen
Künstler verpflichtet waren. Ob es sich um
große oder kleine Buddha-Darstellungen
handelt, sie alle folgen den vorgegebenen
Proportionen und Größenverhältnissen.
Darin drückt sich eine Grundvorstellung
der buddhistischen Kunst aus: Die perfekten Proportionen symbolisieren eine der
zehn Kräfte eines Buddhas.
Buddhistische Kunst
‚
Eine Idee, die entwickelt und umgesetzt ist, ist wichtiger als eine
Idee, die nur als Idee existiert.
Buddha
ʻ
gen, um einem anderen Lebewesen zu helfen. Von Anfang haben die Künstler ihre
individuellen Deutungen in den Bodhisattwas verkörpert, auch als alles andere fest
vorgeschrieben war. Sie portraitierten sie als junge, schöne und gottgleiche Wesen
in prächtigen Seidengewändern und mit Juwelen geschmückt, fröhlich oder ernst
und in gelassener Haltung.
Während sich der Buddhismus in Asien verbreitete, gab es nicht nur verschiedene künstlerische Stile und Deutungen zu Buddha, sondern auch vielfältige Symbole in den einzelnen Kulturen. Einige Unterschiede vergrößerten sich mit der Zeit,
aber es blieben auch einige Gemeinsamkeiten kulturübergreifend bestehen wie die
Symbolik der Farben und Handgesten. Außerdem sind beispielsweise folgende
Symbole allgemeingültig: Das Auge steht für Weisheit, die Lotosblume für die Seelenwanderung; die Swastika, ein Kreuzsymbol, bedeutet Glück, ein Schirm symbolisiert Schutz, und das „Rad des Gesetzes“ stellt Buddhas Lehren für den Weg der
Erleuchtung dar. Bei den Farben gibt es in der buddhistischen Kunst universelle
Bedeutungen für Weiß, Gelb, Rot, Blau und Grün, die nach buddhistischem Glauben zu spirituellen Transformation verhelfen können, wenn der Betrachter zu einer
dieser Farben meditiert. Entsprechend häufig tauchen sie in der buddhistischen
Kunst verschiedener Länder auf. Jede Farbe hat ihre eigene spirituelle Kraft. Blau
zum Beispiel steht für Ruhe und kontemplative Weisheit, Weiß für Wissen und Lernen, Grün für Energie und Tatkraft.
Worumdie
esMeditation
geht und
Kunst unterstützt
spirituelle Transformation
19
20
Von den Anfängen bis zur Renaissance
05 Byzantinische
Kunst
(ca. 300--1204)
Mit der Verbreitung des Christentums über ganz Europa wurde in der
Kunst der Realismus der Griechen und Römer aufgegeben. In der
Verwendung von Kultstatuen sah man nun eine Form der Abgötterei.
Auch blickte man missbilligend auf – aus christlicher Sicht – überhöhende Portraits gewöhnlicher Menschen, da diese nicht über Gott
gestellt werden dürften. Die Fähigkeiten der Künstler wurden nun als
Gabe Gottes aufgefasst, die zum Überbringen seiner Botschaft genutzt
werden sollte.
Die Wurzeln der christlichen Kunst liegen in einer Zeit, lange bevor der römische
Kaiser Konstantin zum christlichen Glauben übertrat und ihn 313 legalisierte. Die
frühesten christlichen Kunstwerke finden sich an Decken und Wänden der Katakomben Roms, in denen die Gläubigen ihre verbotene Religion heimlich praktizierten. Diese Darstellungen sind ziemlich kunstlos, weil es hierbei um die Illustration
christlicher Vorstellungen und nicht um künstlerische Selbstverwirklichung ging. Es
handelt sich um biblische Themen, wobei Christus oft Ähnlichkeit mit Apollo hat
und Gottvater die Züge von Zeus bzw. Jupiter trägt. Das gab jedem Betrachter, der
mit der griechischen und römischen Kunst vertraut war, deutlich zu verstehen, dass
es sich hier um Gottesbilder handelt. Das waren allerdings wohl auch die einzigen
Bezüge zur Kunst der Griechen und Römer, denn die Christen lehnten in ihrem
Bemühen um die Lehren ihrer Kirche viele Vorstellungen der Künstler vor ihnen ab.
So finden sich bei ihnen beispielsweise keine Bilder von nackten Menschen. Die
Darstellungen waren auch kaum narrativ, denn sie wollten nicht so sehr die biblischen Geschichten lehren, als vielmehr vom Ruhm Gottes und der Heiligkeit der
Schrift künden.
Zeitleiste
313
323
476
730
Kaiser Konstantin
konvertiert zum
Christentum
Kaiser Konstantin revitalisiert
Byzantium und macht Konstantinopel,
zu einem Zentrum christlicher Kunst
im Römischen Reich
Das weströmische Reich
bricht zusammen
Kaiser Leo III. nimmt im
byzantinischen Bilderstreit Partei
gegen die Ikonenverehrung
Byzantinische Kunst
21
Inspiration für Unbelesene Im Jahre 323 machte Konstantin Byzantium
zum neuen Rom. Durch ihn wurde das Christentum kurz darauf zu einer bedeutenden Religion im Römischen Reich. In Konstantins Hauptstadt wurden Basiliken
gebaut, die mit Reliefs, Wandbildern oder Mosaiken als beliebten Dekoren ausgestattet wurden. Diese christliche Kunst verbreitete sich zusammen mit dem Glauben
im gesamten Römischen Reich und fand sich
schließlich auch in Städten wie Ravenna oder
Venedig, auf Sizilien sowie in Griechenland
Byzanz
und Russland. Man stellte Mosaike, Ikonen,
Vom Niedergang des Weströmischen Reiches,
illuminierte Handschriften, Fresken und
der sich immerhin über 300 Jahre hinzog, blieb
Reliefs her, um die Wunder der Heiligen
Ostrom – Byzantium – unbehelligt. Als byzantiSchrift überall zu verbreiten, öffentlich oder
nisch werden sowohl der oströmische Machtauch privat. Der einzige weltliche Bezug war
bereich als auch seine Kunst bezeichnet. Das
die Darstellung jenes menschlichen Verhalbyzantinische Reich erstreckte sich in seiner
tens, das den Weg in den Himmel ermöglicht.
größten Ausdehnung unter Kaiser Justinian fast
Und weil die meisten Gläubigen nicht lesen
über den gesamten Mittelmeerraum.
konnten, drückten die Kunstwerke eher den
Geist der Bibel als detailliert komplexe Glaubensangelegenheiten aus. Das Ziel war, den
Gläubigen beim Gottesdienst einen festen Halt zu bieten und möglichst viele neue
Anhänger zu gewinnen. Mit leuchtenden Mosaiken, goldenem Bildhintergrund und
Ehrfurcht gebietender Größe sollte diese Kunst das Christentum verbreiten helfen.
Zum Ruhme Gottes Byzantinische Künstler waren oft Mönche. Das zweite
der Zehn Gebote (Du sollst dir kein Bildnis von mir machen) verbietet menschenähnliche Gottesdarstellungen. Der Realismus bzw. Naturalismus und Statuen in der
Tradition der griechisch-römischen Antike waren bei den christlichen Künstlern
nicht populär. Die Figuren in den Gemälden oder Mosaiken sind zweidimensional
gestaltet, ohne Schatten und ohne Perspektive. Sie blicken frontal nach vorn und
unterscheiden sich kaum im Ausdruck. Sie sind in Gewanddraperien gehüllt, welche
die Körperformen verdecken. Während der Realismus der Antike eine lebensnahe
Darstellung anstrebte, folgten die byzantinischen Künstler einem eher symbolistischen Ansatz. Der Betrachter sollte weder die künstlerische Darstellung bewundern
noch die Wirklichkeit mit der Darstellung vermischen. Der goldene Hintergrund der
Ikonen symbolisiert die Transzendenz und Herrlichkeit Gottes. Die Pracht und der
843
1067–1070
1204
1261
1453
Ikonen werden bei den
Byzantinern offiziell wieder
erlaubt, die byzantinische
Kunst blüht wieder auf
In Südengland wird der
Teppich von Bayeux gestickt
– mit einfachen Materialien
und ohne die Pracht
byzantinischer Kunst
Beim vierten Kreuzzug
wird Konstantinopel
geplündert
Rückeroberung und
Wiederaufbau
Konstantinopels, aber das
byzantinische Reich ist
verkleinert und geschwächt
Konstantinopel fällt
an das Osmanische
Reich
22
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Ikonen
Zu den wichtigsten Elementen
byzantinischer Kunst gehören
Ikonen – Kultbilder von Christus,
seiner Mutter Maria und Heiligen.
Zur Andacht wurden Ikonen in
Kirchen und Häusern angebracht. Die Abbildungen sind
weder realistisch noch naturalistisch, sondern stilisiert und wurden verehrt, weil man an die
Aura des Heiligen glaubte.
Die hier abgebildete Maria als
Orantin in der Sophienkathedrale
von Kiew ist ein typisches Beispiel. Dieses Mosaik entstand im
11. Jahrhundert und zeigt deutlich den Einfluss der byzantinischen Kunst. Die Gottesmutter
hat ihre Arme zum Gebet erhoben. Das helle Tuch an ihrem
Gürtel demonstriert, dass sie
denen, die mit ihren Sorgen zu
ihr kommen, die Tränen trocknen
wird.
Maria als Orantin auf einem
zwischen 1037 und 1041 entstandenen Mosaik; Sophienkathedrale, Kiew.
Byzantinische Kunst
Reichtum der Kirchen, die überall aus dem Boden schossen, gehörten zu den wichtigsten Mitteln, um Ehrfurcht einzuflößen und die Gegenwart Gottes anzuzeigen.
Heilige Symbole wurden zum festen Bestandteil vieler Kunstwerke und in ihrer
Bedeutung wichtig für das Christentum. So symbolisiert der Schlüssel die Bindeund Lösegewalt der Kirche, der Kelch erinnert an das Letzte
Abendmahl und das Kreuz – als wichtigstes christliches Zeichen
Denn darum wurden in
– an den Erlösungstod Christi am Kreuz.
‚
den Kirchen Gemälde
Ikonoklasmus Das Hauptanliegen der christlich-byzantini- verwendet, damit die des
Lesens Unkundigen
schen Kunst war die Verherrlichung Gottes und der Heiligen.
Dementsprechend wurden unzählige Kultbilder vom dreifaltigen wenigstens durch den
Anblick der Wände lesen,
Gott, von Jesus allein, von Maria und diversen Heiligen bzw.
was sie in Büchern nicht
Märtyrern geschaffen. Um deren Erhabenheit zu verdeutlichen,
entwickelten die byzantinischen Künstler vielfältige Techniken. zu lesen vermögen
Die erste große Zeit der byzantinischen Sakralkunst fiel in die
Papst Gregor der Große
Regierungszeit Justinians (427–565), der das römische Recht mit
Blick auf das Christentum neu fasste und sich als Kaiser von Gottes Gnaden betrachtete – mit Folgen für die Kunst. Nach alttestamentlichem
Verständnis sind bildliche Darstellungen Gottes untersagt. Das führte unter Kaiser
Leo III. um 730 zum Bilderstreit und sogar zum Bildersturm – zum Ikonoklasmus,
der bis 834 andauerte und in dieser Zeit eine Weiterentwicklung der Sakralkunst
dort verhinderte.
ʻ
Illuminierte Handschriften Während sich das Christentum ausbreitete,
kamen auch reich illustrierte Handschriften in Umlauf, die liturgische Gebete oder
biblische Geschichten enthielten und von Schreibern von Hand gefertigt wurden.
Die kostbar mit Gold und erlauchten Farben illuminierten Handschriften waren
nicht für die ungebildete Allgemeinheit, sondern für Mitglieder des Klerus und des
Adels bestimmt, die lesen konnten.
Worum
es des
geht
Symbolische
Darstellung
Christentums
23
24
Von den Anfängen bis zur Renaissance
06 Gotik
(ca. 1140--1500)
Wie die byzantinische und auch die romanische Kunst, die der Gotik
vorausging, war die gotische Kunst vom Symbolismus und dem Anliegen beeinflusst, dem Betrachter die Herrlichkeit Gottes vor Augen zu
führen. Obwohl alle drei Stile zur christlichen Kunst gehören, unterscheiden sie sich grundlegend. Die Gotik begann als Baustil, in dem die
Kathedralen immer höher zum Himmel aufragten und immer größere
Fenster das Licht in den Innenraum fluten ließen.
Die gotische Architektur entwickelte sich im 12. Jahrhundert in Frankreich und
breitete sich schnell über ganz Europa aus, wo sie teilweise bis zu 400 Jahre bestimmend blieb. Sie begann um 1137 mit dem Neubau der Abteikirche von Saint-Denis
bei Paris, den Abt Suger (ca. 1081–1151) leitete. Zur Chorweihe 1144 war eine neuartige, hochaufragende Architektur fertiggestellt, die das Licht durch große Fenster
in den Innenraum fluten ließ – Abt Suger sprach vom einströmenden Himmelslicht.
Diese schwerelos wirkende Architektur mit ihren von großen Fenstern durchbrochenen Wänden wurde danach in vielen anderen Kirchenbauten umgesetzt. Die Ausstattungskünstler stellten sich den Herausforderungen der neuen Architektur.
Barbarischer Stil Das Wort „Gotik“ war ursprünglich eine verächtlich
gemeinte Beschreibung dieses Kunststils. Die Bezeichnung kam in der Renaissance
auf, die auf die Gotik folgte, und bezog sich auf die Goten, einen ostgermanischen
Volksstamm, der das Römische Reich angegriffen und viele Kunstschätze zerstört
hatte. Die Renaissancekünstler verachteten den gotischen Stil, der zu seiner Entstehungszeit freilich als groß und edel gegolten hatte – die gotischen Künstler hatten
nichts mit den Plünderungen im Römischen Reich zu tun. Erst viel später wurde die
gotische Kunst für ihre neuen Ideen wertgeschätzt, da sie die christliche Lehre auf
neue und lebendige Weise vermittelt hatte.
Zeitleiste
vor
1140
Abt Suger leitet den Neubau von
Saint-Denis bei Paris ein, der den
Beginn eines neuen Stils in
Architektur und Kunst markiert
1194–1220
1210
1215
Errichtung der Kathedrale
von Chartres, die reich mit
sakraler Kunst ausgestattet
ist
Franz von Assisi gründet
den Bettelorden der
Franziskaner
Gründung des Predigerordens
der Dominikaner
Gotik
Dominikaner und Franziskaner
Zwei mächtige Orden wurden im 13. Jahrhundert gegründet: der der Franziskaner
und der der Dominikaner. Beides waren
Bettelorden. Die Dominikaner sahen vor
allem Predigt, Studium und Seelsorge als
ihre zentralen Aufgaben an, die Franziskaner hingegen die Linderung von Armut und
Leid. Dementsprechend setzten Erstere in
ihrer Kunst mehr auf Belehrung und Letztere mehr auf volkstümliche Andacht. Die
Orden verdanken ihre Namen den Gründern, dem heiligen Franz von Assisi und
dem heiligen Dominikus.
Die meiste gotische Kunst wurde für den sakralen Bereich geschaffen und repräsentierte eine zunehmend wohlhabende und zivilisierte Gesellschaft. Architekten und
Künstler wurden gleichrangig mit der Gestaltung bzw. Ausgestaltung der großen
Kathedralen und Kirchen beauftragt. Abt Sugar glaubte, dass schöne Gegenstände
in der Umgebung der Gläubigen deren Seelen erheben und Gott näher bringen würden. Die Maler schufen riesige Kirchenfenster aus buntem Glas, die die Wände
großflächig durchbrachen, die zuvor massiv gebaut waren. Wie lichtdurchlässige
Mosaike zeigten die oft aufwendig und vielschichtig gestalteten gotischen Kirchenfenster biblische Geschichten und Heiligenlegenden. Im Kirchenraum wirken sie
wie bunte Edelsteine, die im hereinflutenden Licht in allen Farben des Regenbogens
leuchten.
Illustration von Ideen Den gotischen Künstlern kam es weniger darauf an,
naturalistische oder realistische Darstellungen zu schaffen, sondern sie wollten
Ideen abbilden. Die Kunst in den gotischen Kirchen diente vor allem dazu, die göttliche Allmacht auszudrücken, nicht als Selbstzweck. Anfangs wurde die handwerkliche Kunstfertigkeit höher geschätzt als die kreative Gestaltung, weshalb die
Künstler weniger geachtet waren als die Handwerker. Die Künstler, die mit unterschiedlichen Mitteln arbeiteten, versuchten sich mit neuen Herangehensweisen zu
behaupten. Bildhauer beispielsweise wandten sich stärker der Darstellung von Emotionen bei ihren Figuren zu, als es der mittelalterlichen Tradition entsprach. Gegen
Ende des 12. Jahrhunderts begannen sie, sich an den überlieferten griechischen und
römischen Vorbildern zu orientieren und davon einige Ideen zu übernehmen. Aber
ca.
1220
Geburt Nicola Pisanos, des
Begründers eines neuen
Bildhauerstils
ca.
1240
Geburt von Cimabue, der
vermutlich ein Lehrer Giottos
war
ca.
1250
Geburt des Bildhauers und
Architekten Giovanni Pisano,
des Sohns von Nicola Pisano
25
26
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Überzeugende Figuren
Die Bildhauer wollten für ihr Werk die gleiche
Aufmerksamkeit, wie sie die Architektur und
die bunten Glasfenster auf sich zogen. Waren
die Figuren zuvor als Teile der Wand gestaltet
worden, so standen sie nun frei – eine Gestaltungsart, die nach dem Untergang des Römischen Reiches kaum mehr bekannt war. Nach
dem Vorbild der byzantinischen und der romanischen Kunst wurden die Personen noch
überlang dargestellt, aber jetzt bemühten sich
die Künstler zudem um eine realistische Darstellung der Kleidung, des Gesichtsausdrucks
und der Gestik. Die abgebildeten Figuren am
Nordportal der Kathedrale von Chartres verdeutlichen die Absicht des Künstlers, sie
lebendig erscheinen zu lassen. Sie verkörpern
Personen aus dem Alten Testament: Abraham,
der den Blick zu Gott richtet, packt seinen
Sohn Isaak, den er zu opfern bereit ist; Mose
hält die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten
in der Hand; Samuel opfert ein Lamm; und
König David mit der Krone trägt die Lanze.
Figuren am Nordportal der Kathedrale von
Chartres, Frankreich.
während die griechischen Künstler in ihren Figuren die Schönheit der abgebildeten
Menschen festhielten, wollten die gotischen Künstler die Heiligenlegenden so überzeugend wie möglich darstellen. Künstler, Handwerker und Architekten arbeiteten
gemeinsam daran, Gottes Wort möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Allmählich wuchs der Einfluss der Künstler, die zunehmend wertgeschätzt wurden. Einige begannen, ihre Werke zu signieren, um bekannt und anerkannt zu werden. Neben farbigen Glasbildern und Figuren schufen sie Tafelbilder, Fresken, illuminierte Handschriften, Tapisserien und anderes. Die Maler begannen, ihre Bilder
durch Portraits zu beleben, die Menschen in natürlicher Haltung und richtig in ihren
Gewändern zu zeigen. Allerdings wurde noch nicht die Anatomie studiert, und man
Gotik
‚
[dass] das Werk, das edel erstrahlt, erleuchten möge die Geister,
die eingehen durch die wahren Lichter zum wahren Licht, wo
Christus das wahre Tor ist.
Abt Suger
ʻ
strebte auch nicht nach dem gehobenen Naturalismus der klassischen Antike. Aber
die Künstler versuchten bereits, ihre Werke etwas realistischer zu gestalten, als es in
der christlichen Kunst zuvor zulässig war. Im Allgemeinen betonten die gotischen
Künstler eher die Erlösung als die Verdammnis der Menschheit. Statt apokalyptischer Szenen hatten die Besucher der Kathedralen und anderen Gotteshäuser nun
Bilder aus dem Leben Jesu, der Jungfrau Maria und der Heiligen vor Augen – deren
Portraits mitfühlend und barmherzig wirkten. Statt Blattgold als Hintergrund zu verwenden, begann man, mit Darstellungen von Architektur und Landschaft im Hintergrund zu experimentieren.
Internationale Gotik Das 13. Jahrhundert war eine Zeit wachsenden Wohlstandes, der gegen Ende dieses Jahrhunderts seinen Gipfel erreichte. In Europa
blühte die Textilherstellung. Handelswege wurden ausgebaut, bis gegen Ende des
14. Jahrhunderts ein dichtes Straßennetz Europa überzog. Mit zunehmendem Handel wuchsen die Städte. Es kam zu Universitätsgründungen, es bildete sich eine
neue Bürgerschicht, und immer mehr Menschen lernten zu lesen. Die besseren Reisemöglichkeiten nutzten die Künstler für den Austausch ihrer Ideen und ihres technischen Wissens. Bald wurden in Frankreich, Italien, England, Deutschland, Österreich und Böhmen feinsinnige und raffinierte Bilder von vornehmen und anmutigen
Personen geschaffen. Zwar wirkten sie eher künstlich und weniger natürlich im Vergleich zur griechisch-römischen Tradition, aber es entwickelte sich ein Gespür für
Realismus und Details. Diese Stilrichtung bekam später den Namen Internationale
Gotik.
Worum
esGottes
gehtWort
Verbreitung
von
27
28
Von den Anfängen bis zur Renaissance
07 Frührenaissance
(ca. 1300--1500)
Der Begriff „Renaissance“ wurde im 19. Jahrhundert eingeführt, um eine
Epoche vom 14. bis 16. Jahrhundert zu beschreiben, in der es eine
Wiedergeburt der klassischen Antike gab, mit neuem Interesse an der
griechischen und römischen Philosophie, Literatur, Architektur und
Kunst sowie den tradierten Werten. Diese Entwicklung begann in Florenz
und Siena, als Künstler, Wissenschaftler und Philosophen ihre Vergangenheit wiederentdeckten und gleichzeitig ihre Individualität entwickelten.
Da die Renaissance eine sehr lange Epoche mit einer Flut neuer Ideen war, wird sie
gewöhnlich eingeteilt in Früh-, Hoch- und Spätrenaissance (Manierismus). Die Vorstellungen der Renaissance verbreiteten sich über Italien und Flandern (das damals
das heutige Belgien und die Niederlande umfasste) in ganz Europa, wirkten aber
nicht überall in der gleichen Weise. Doch diese komplexe und aufregende Kombination neuer Ideen prägte für über 200 Jahre die europäische Geschichte.
Im ausgehenden 15. Jahrhundert führten verschiedene Faktoren in Europa zu
einem zunehmenden Interesse der Menschen an ihrer Umwelt. Sie wandten sich
mehr und mehr von den mittelalterlichen Ideen ab, die die gotische Kunst und
Architektur geprägt hatten. Zu diesen Faktoren gehörten die Ausweitung des Handels, die Erfindung des Buchdrucks und das damit verbundene neue Interesse an der
Bildung. In Italien zogen einige Regionen Gelehrte und Reiche an. Italien hatte
zudem seine Wurzeln in der Antike wiederentdeckt und setzte sein Interesse an den
Griechen und Römern in die Tat um. Einige Gelehrte begannen, die Werke der antiken Philosophen und Architekten zu übersetzen. Die alten Ideen wurden wiederbelebt und neu gedeutet.
Humanismus Der Humanismus der antiken griechischen Philosophie gehört
zu den Ideen, die neu auftauchten. Die Humanisten schrieben dem Menschen die
Zeitleiste
1304
Giotto: Beweinung Christi
in der Cappella degli
Scrovegni in Padua
ca.
1308–1311
Duccio: Maestà im Dom
von Siena
ca.
1334
Giotto wird leitender
Baumeister am Dom
von Florenz
ca.
1390
Cennino Cennini schreibt
Il libro dellʼarte – ein Handbuch zur Renaissancekunst
1401
Ghiberti bekommt den
Auftrag, die Bronzetüren für
das Baptisterium am Dom in
Florenz zu schaffen
Frührenaissance
Fähigkeit zu, rational, logisch zu denken. Und es schien ihnen wichtiger, über das
Lernen des Individuums und dessen Wirken in der Welt nachzudenken, als die Zeit
damit zu verbringen, sich geistlich auf ein Leben nach dem Tod vorzubereiten. Die
Einführung des Buchdrucks erleichterte es den Humanisten, ihre Ideen zu verbreiten, die manchmal im Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre standen,
aber den Künstlern neue Anstöße gaben. Die Kirche blieb zwar ein wichtiger
Schirmherr der Kunst, aber nun entwickelten sich auch andere Ideen in der säkularen Welt der Städte. Hier bestellten die Aristokratie und die aufstrebende Elite der
Kaufleute Kunst ebenso für den eigenen Gebrauch wie für den in Kirchen. Weiterhin wurden christliche Themen dargestellt und die christlichen Ideale nicht aufgegeben, aber die Künstler trugen nun viel auch
zum wachsenden Interesse an säkularen TheSozialer Status
men und zum neuen Vertrauen in die Bedeutung des Menschen im Universum bei. Kunst
Zu den Ideen, in denen sich die Renaissance
wurde nicht mehr nur für religiöse Zwecke
von den mittelalterlichen Epochen so grundlegeschaffen, sondern hatte nun auch für sich
gend unterscheidet, gehört eine veränderte
selbst einen Wert. Unter dem Einfluss einer
Einstellung zu den Künstlern. Waren bislang
zunehmenden Aufmerksamkeit für die Natur,
die Kunstschaffenden, die Gottes Wort verbreieiner Belebung des Bildungsgedankens und
ten halfen, anonym geblieben, so strebten sie
einer Betonung des Individuums in Fragen
nun nach individuellem Renommee, teils um
der Menschheit bemühten sich die KunstAufträge zu bekommen und teils um den Status
schaffenden darum, die Welt so lebensecht
ihres Schirmherrn zu verbessern. Viele Renaiswiderzuspiegeln wie irgend möglich.
Naturbeobachtung und Perspektive
sancekünstler waren schon zu ihren Lebzeiten
außerordentlich berühmt.
Einige Künstler des Trecento und der Frührenaissance haben zur Revolutionierung der
Kunst beigetragen. Giotto di Bondone (1266/67–1337) modernisierte die Malerei in
Florenz in einer Zeit, in der Duccio di Buoninsegna (ca. 1255–1319) dasselbe in
Siena bewirkte. Giotto löste sich von der Stilisierung, die die byzantinische und die
gotische Kunst geprägt hatte, und führte Figuren mit natürlichem menschlichen
Aussehen und individuellem Ausdruck sowie realistischen Haltungen ein. Duccio
hingegen schuf Werke in reicher Farbgestaltung mit Figuren, die nahezu dreidimensional wirken und überzeugend in Kleidung gehüllt sind. Masaccio (1401–1428)
hatte mit seiner Anwendung der Linearperspektive enormen Einfluss auf die Ent-
1408
1454
1469
1470/80
Donatello: David, die erste
lebensgroße Statue seit der
Antike
Mit der ersten Gutenberg-Bibel
revolutioniert der Buchdruck die
europäische Literatur
Lorenzo deʼ Medici, genannt der
Prächtige, übernimmt die Führung
in Florenz, das nun eine Blütezeit
der Renaissance erlebt
Die Ölmalerei kommt
nach Italien
29
30
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Malen mit Tiefe
Im Vergleich zur formelhaften Symbolik byzantinischer Mosaiken und zur strengen Darstellungsweise der Gotik wirkt das in Giottos Werkstatt
entstandene Wandgemälde Anbetung der
Könige (um 1310) massig und kompakt. Es vermittelt jedoch immer noch den Eindruck von
Würde, die im betonten Interesse am Menschlichen und an den religiösen Gefühlen liegt. Indem
Giotto seine Figuren in Beziehung zueinander
und zur Architektur im Hintergrund setzt, schafft
er den Eindruck von Raumtiefe. Das war damals
revolutionär. Sie vermittelt dem Betrachter eine
Illusion von Wirklichkeit, welche die illustrierte
Bibelerzählung verständlich machen und den
Glauben daran festigen sollte. Darin spiegeln
sich aber auch ein erneutes Interesse am Menschen und ein Anknüpfen an die Errungenschaften der antiken Künstler.
Giotto di Bondone (Werkstatt): Anbetung der Heiligen Drei Könige, Fresko ca. 1310; Unterkirche von
San Francesco, Assisi.
Frührenaissance
‚
Sicherlich sind auch viele Maler, die nicht von der Perspektive
Gebrauch machen, Empfänger von Lob; allerdings werden sie aus
falschem Verständnis von Menschen ohne Wissen um den Wert
dieser Kunst gelobt.
Piero della Francesca
ʻ
wicklung der Malerei im 15. Jahrhundert, denn mit der perspektivischen Darstellung lässt sich auf zweidimensionalen Malflächen eine dreidimensionale Raumillusion erzeugen. Paolo Uccello (ca. 1397–1475) war ebenfalls ein enthusiastischer
Anhänger der neuen Methode der Linearperspektive. Auch Piero della Francesca
(ca. 1415–1492) wandte die neuen Ideen an und schuf so Illusionen aus Licht und
Farbe: Er übernahm von Giotto den lebensechten Ausdruck und die Haltung der
Figuren, integrierte die Linearperspektive in seine Bilder und verwendete helle wie
dunkle Farben, um dem Betrachter die Illusion von Tiefe und Wirklichkeitsnähe zu
vermitteln.
Die Renaissance nördlich der Alpen Inzwischen erlebte auch Flandern,
die Heimat vieler reicher Kaufleute, eine Neubelebung der Kunst, und gegen Ende
des 15. Jahrhunderts scheinen dort viele Ideen der italienischen Kunst auf. Die
erfolgreichsten Künstler Flanderns schufen zunächst lebendig wirkende Illustrationen in Handschriften. Bald wurden sie beauftragt, größere Bilder auf Holztafeln zu
malen, und um 1410 begannen sie, hierzu Ölfarben zu benutzen. Sie mischten die
Farbpigmente mit Öl, statt die traditionellen Temperafarben mit Ei zu verwenden,
mit denen in Italien immer noch gearbeitet wurde. Ölfarben lassen sich leichter auftragen, bringen die Farben zum Leuchten und entfalten einen besonderen Glanz. Jan
van Eyck (ca. 1390–1441) wandte mit Hilfe von Trockenmitteln eine Schichttechnik an, um die Farben und die Illusion von Licht zu verstärken. Robert Campin
(ca. 1375–1444), der Meister von Flémalle, schuf überaus realistische Gemälde, die
einen Eindruck von Tiefe und Raum hervorriefen. Zunehmend wurden auch die
Details des häuslichen Lebens betont, die oft mit symbolischen Bedeutungen verknüpft waren.
es gehtRealismus
Eine neueWorum
Zeit zunehmenden
31
32
Von den Anfängen bis zur Renaissance
08 Hochrenaissance
(ca. 1498--1527)
Während sich die neuen Ideen der Renaissance von Italien und Flandern
aus über ganz Europa ausbreiteten, wurden die Werke der jüngeren
Künstler immer kunstfertiger, vielfältiger und stilsicherer. Nie zuvor hatte
die Kunst in einer Epoche eine so weitreichende, tiefgreifende und produktive Blüte erlebt – so viele Ideen, so viel kreative Brillanz und so viel
Glauben an das eigene Tun.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts reifte die künstlerische Revolution der frühen
Renaissance zu dem, was wir als Hochrenaissance bezeichnen. Malerei und Bildhauerei erreichten einen Gipfel technischer Perfektion. Sie waren den Vorbildern
der Griechen und Römer ebenbürtig oder überlegen, was die Konzentration auf die
Deutung der Realität, kompositorische Ausgewogenheit, Raumaufteilung und Dramatik betrifft. Die Kunsthistoriker setzen den Übergang von der Frührenaissance
zur Hochrenaissance in die Zeit, als Leonardo da Vinci (1452–1519) in Mailand das
Abendmahl malte und sich das kulturelle Zentrum von Florenz nach Rom verlagerte, wo Papst Julius II. eine Vielzahl bedeutender Werke in Auftrag gab. Viele
herausragende Künstler wurden nun berühmt für ihre technischen und stilistischen
Errungenschaften. Zu ihnen gehören die venezianischen Maler Giorgone (ca. 1477–
1510) und Tizian (ca. 1488–1576), die leuchtende Farben verwendeten, um lichterfüllte, farbenreiche und dynamische Bildkomposition zu schaffen, oder Künstler
nördlich der Alpen wie Albrecht Dürer (1471–1528) und Hans Holbein der Jüngere
(ca. 1497–1543), die das Leben sehr genau und raffiniert darstellten, und natürlich
die großen Berühmtheiten Leonardo, Michelangelo (1475–1564) und Raffael
(1483–1520), die schon zu Lebzeiten als technisch und künstlerisch vollendet galten. Insbesondere Leonardos Werk hat zur Vorstellung vom Künstler als Genie beigetragen.
Zeitleiste
1498
1500
1503
1504
1505
1506–1615
Leonardo da Vinci:
Abendmahl
Michelangelo:
Pietà
Mit Papst Julius II
beginnt das sogenannte
Goldene Zeitalter Roms
Michelangelo vollendet
in Florenz den David;
Hieronymus Bosch malt
den Garten der Lüste
Leonardos
Mona Lisa;
Dürers
Italienreise
Beim Bau des Petersdoms wirken viele
Künstler mit
Hochrenaissance
33
Der vitruvianische Mensch
Um 1490 zeichnete Leonardo da Vinci den Vitruvianischen Menschen in eines seiner Tagebücher: eine männliche Figur in einem Kreis bzw.
Quadrat, die die idealen harmonischen Proportionen für die jeweilige Körperhaltung angeben.
Leonardo bezog sich dabei auf ein berühmtes
Buch des römischen Architekten Vitruv, in dem
die klassischen Proportionen in der Architektur
aus den Maßen des menschlichen Körpers
abgeleitet sind. Leonardos Zeichnung verdeutlicht sein Interesse an Proportionen und Anatomie ebenso wie die neue Vorstellung, dass Kunst
und Wissenschaft zusammenhängen. Leonardo
war überzeugt, dass die Funktionsweise des
menschlichen Körpers mit der des Universums in
Verbindung steht.
Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch, um 1490, Bleistift und Tinte.
1508–1512 1509–1511 1527
1533
1562–1563 1564
Michelangelo malt
die Sixtinische
Kapelle aus
Hans Holbein
d. J.: Die
Gesandten
Paolo Veronese:
Hochzeit zu Kana
Raffael: Schule von
Athen
Mit der Plünderung Roms
(Sacco di Roma) durch
kaiserliche Truppen
endet die italienische
Renaissance
Todesjahr
Michelangelos;
Geburtsjahr
Shakespeares
34
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Das Genie Leonardo war Maler, Bildhauer, Architekt, Ingenieur, Mathematiker,
Erfinder und Wissenschaftler. Seine Gemälde und Zeichnungen hatten mit ihrer
innovativen Komposition und der originellen Darstellung von Licht enormen Einfluss. Eine seiner Techniken, das sfumato, bestand darin, ein Bild künstlich zu „verrauchen“ und so verschwommene Farben und weiche Konturen zu schaffen. Seine
Notiz- und Tagebücher sind vollgepackt mit Studien und Skizzen zu naturwissenschaftlichen und technischen Fragen, die seinen Forschergeist und seine Erfindungsgabe belegen, wobei er viele seiner Ideen nicht umgesetzt hat. Auch Michelangelo war vielseitig begabt als vollendeter Bildhauer, Maler, Architekt und Dichter. Seit Beginn seiner langen Karriere war er unter den führenden Künstlern seines
Jahrhunderts berühmt für seine Portraitfiguren voller Ausdruck
Das wahre Kunstwerk und für seine revolutionären Ideen beim Umgang mit Farbe,
Marmor und sogar Beton. Er war ein vollendeter Maler und
ist nur ein Schatten
Architekt, den man für die Harmonie von Farbe und Komposider göttlichen tion und die weiche Klarheit seiner Darstellung bewunderte.
‚
ʻ
Vollkommenheit.
Michelangelo Anatomie Die Erforschung des menschlichen Körpers ist
keine Erfindung der Renaissance. Bereits im mittelalterlichen
Europa wurde er untersucht – auf der Grundlage medizinischer
Schriften der Antike. Im Christentum freilich galt die Vorstellung, Leichen aufzuschneiden, lange als Sakrileg. Wegen des enormen Interesses – und des zunehmenden Bedarfs – an lebensechten Darstellungen in der Kunst der Hochrenaissance
nahmen gleichwohl einige Künstler das Risiko auf sich, den menschlichen Körper
anhand von Leichenöffnungen zu studieren. Leonardo nahm an solchen (verbotenen) Sektionen teil, bei denen Leichen von Verbrechern verwendet wurden. Auch
Michelangelo hinterließ einige Zeichnungen, die seine intimen Kenntnisse der Anatomie erkennen lassen. Mit ihrem anatomischen Wissen setzten diese Künstler neue
Maßstäbe für die Darstellung des menschlichen Körpers.
Würde und Glanz Die Ideen der Frührenaissance: natürlichere Darstellung
und eine am Menschen orientierte Sichtweise bei der Gestaltung von Bildern, wurden von den Künstlern der Hochrenaissance bis zur Perfektion weiterverfolgt. Die
Eindeutigkeit von Details und die Klarheit der Linienführung in den Kunstwerken
der Frührenaissance wurden nun durch eine Gestalt- und Formgebung ersetzt, die
Schönheit, Würde, Strahlkraft, Dynamik, Tiefe und Bedeutung unterstreicht. Jetzt
wurden flüssigere und harmonischere Kompositionen geschaffen und jeweils eine
Stimmung ausgedrückt, um beim Betrachter Emotionen zu wecken. Die Künstler
der Hochrenaissance beschränkten sich nicht mehr auf christliche Themen, seit die
Hochrenaissance
Auftraggeber aus unterschiedlichen Bereichen kamen – es gab individuelle Förderer
wie Kardinäle, Regenten, Bankiers, Kaufleute oder reiche Familien und kirchliche
wie staatliche Institutionen. Die Kunst gehörte nun als wesentlicher Bestandteil
zum Leben, und Künstler kamen an den Höfen des Adels in Lohn und Brot.
Die Hochrenaissance basierte nicht nur auf
einer einzigen zentralen Idee, sondern – vielDisegno e colore
leicht mehr als die meisten der in diesem
Buch erwähnten Kunstrichtungen – auf
Das Zeichen nach der Natur (disegno) galt als
einem ganzen Bündel von Ideen. Und doch
wichtigste Übung für die angehenden Künstler
steht die Hochrenaissance insgesamt für ein
in Florenz, wollten sie erfolgreich werden. In
allgemeines Konzept: die offene Entfaltung
Venedig gehörte die richtige Platzierung der
menschlicher Möglichkeiten. Die EntwickFarben (colori) innerhalb der Bildkomposition
lung von individuellen Fähigkeiten und
zum entscheidenden Schwerpunkt in der
Begabungen wurde besonders gefördert,
Künstlerausbildung. Unter Humanisten und
gestärkt und belohnt; menschliches Bemühen
Künstlern wurde die Bedeutung dieser beiden
wurde bis an die Grenze des Möglichen
Vorgehensweisen während der gesamten
vorangetrieben, geistige Leistungen wurden
Renaissance diskutiert.
anerkannt und gewürdigt.
Worum
es geht und
Höhepunkt
wissenschaftlicher
künstlerischer Neuerungen
35
36
Von den Anfängen bis zur Renaissance
09 Manierismus
(ca. 1520--1600)
Der Manierismus am Übergang von der Renaissance zum Barock entwickelte sich nach 1520 in Florenz und Rom in einer Epoche, die von gleich
mehreren Ereignissen geprägt war: von der Reformation, die Europa
spaltete, von der Pest, die große Teile der Bevölkerung dahinraffte, und
von der Plünderung Roms im Jahre 1527. Angesichts der allgemeinen
Unsicherheit gaben einige Künstler die Harmonievorstellungen der
Renaissance auf und begannen, Bilder mit stärkerem Gefühlsausdruck
zu schaffen.
Der Manierismus dauerte ungefähr von Raffaels Tod im Jahre 1520 bis zum Beginn
des Barock um 1600. Er war eine Reaktion auf die sozialen und politischen Umwälzungen in ganz Europa und eine Folge des neuen sozialen Status der Künstler. Sie
waren nicht mehr die bescheidenen Kunsthandwerker, die ihre Arbeit zur Unterstützung des Glaubens ihrer Gesellschaft machten, sondern sie standen nun gleichrangig neben Wissenschaftlern, Dichtern und Philosophen. In einer Zeit, in der Anmut,
Feinsinnigkeit und Stil geschätzt wurden, schufen sie ihre Werke nicht nur für religiöse Zwecke, sondern auch als Wert an sich.
Stilistische Anleihen
Der Begriff „Manierismus“ leitet sich vom italienischen Wort maniera für Handschrift, Manier, Stil ab und war anfangs herabsetzend
gemeint. Hatten die Künstler der Renaissance versucht, die Natur möglichst genau
zu beobachten und darzustellen, so wiesen die Manieristen – die die Perfektion der
Hochrenaissance sehr wohl erkennen lassen – diesen Anspruch zurück und kopierten den Stil anderer, statt sich direkt nach der Natur zu richten. Sie übernahmen den
Stil ihrer bevorzugten Vorbilder und übertrieben ihn. Die Grundidee hierzu war
bereits in Michelangelos Spätwerk angelegt, das besonders dramatisch und emotional gestaltet ist. Verschiedene Künstler griffen dessen große, schwungvolle Formen
als Anstoß auf und schönten seinen Stil. Weiterhin ließen sie sich von Andrea del
Zeitleiste
1520
1527
1528
ca.
Tizian: Bacchus
und Ariadne
Die Plünderung Roms
bringt den Manierismus
über ganz Italien bis
nach Frankreich
Pantormo:
Heimsuchung
Corregio:
Jupiter und Io
1531
1534
Michelangelo beginnt die Arbeit am
Jüngsten Gericht in der Sixtinischen
Kapelle, das die Entwicklung des
Manierismus beeinflusst
Manierismus
Kreuzabnahme Christi
Dies ist ein typisch manieristisches Gemälde. Obwohl
der Manierismus bereits zu Lebzeiten Michelangelos einsetzte, zeigt dieses Bild deutlich
den Unterschied zwischen dessen
gewichtigen Figuren und ihrer manieristischen Interpretation. Die Dargestellten erscheinen weniger gewichtig. Sie balancieren scheinbar
nahezu schwerelos mit ihren langen Gliedmaßen, und ihre Köpfe
sind klein im Verhältnis zu den fülligen Kleidern. Die Figuren scheinen in den Bildrahmen eingesperrt
zu sein, sich in einem engen,
unwirklichen Raum zu bewegen.
Ihre Kleidung ist in Pastelltönen
gehalten – eine deutliche Veränderung gegenüber den lebensnahen
Farben der Renaissance. Insgesamt wird eine Atmosphäre
erzeugt, die den Betrachter in eine
andere Welt versetzt. Die Figuren
scheinen nicht von dieser Welt zu
sein, sondern wirken wie
Geschöpfe eines fremden Planeten. Diese fantastische Seite des
Manierismus drückt die zeitgenössischen Vorstellungen aus.
Pontormo: Kreuzabnahme
Christi, ca. 1526, Öl auf Holz;
Santa Felicità, Florenz.
1535
ca.
Parmigianino: Madonna
mit dem langen Hals
Bronzino: Venus, Cupido,
Wahnsinn und Zeit
1546
1550
Giorgio Vasari (1511–1574) veröffentlicht in seinen
Künstlerviten die Biografien der großen Meister der
italienischen Renaissance, darunter die von Michelangelo
als einzig damals noch lebendem Künstler
37
38
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Sarto (1486–1531) inspirieren, ebenfalls eine Berühmtheit der Hochrenaissance,
dessen Bilder von ausdrucksvollen Farben und vielfältigen Posen geprägt sind. Als
Dritter schließlich hatte Correggio (ca. 1489–1534) starken Einfluss auf die Manieristen. Auch er war ein Künstler der italienischen Hochrenaissance, der spektakuläre, augenfällige Wirkungen in seinen religiösen Darstellungen erzeugte, indem er
mächtige Strahlkraft mit Feinheit und emotionalem Ausdruck verband. Correggio
rief in seinen Gemälden durch extensive Ausnutzung der Perspektive die Illusion
weiter offener Räume hervor. Seine besondere Art, Figuren aus Untersicht darzustellen, inspirierte die manieristischen Maler, ihre Figuren aus ungewöhnlichen
Blickwinkeln und in ausgefallenen Posen zu zeigen und somit beeindruckende Bilder zu schaffen. Die Maler machten intensiven Gebrauch von Farbe und lang ausgezogenen Pinselstrichen, während die Bildhauer ihre Figuren in eindrucksvolle
Posen und dramatischen Gesten wiedergaben.
Überlängung und Übertreibung Die unkonventionellen manieristischen
Darstellungen tauchten etwa zur gleichen Zeit in Florenz und Rom auf. Zu den
Lieblingssujets der Manieristen gehörten Nackte. Sie kopierten diese und auch
andere beliebte Figuren aus Werken der Hochrenaissance und übertrieben dabei verschiedene Aspekte dieser Figuren. Oft werden sie verzerrt und überlang dargestellt,
häufig mit schmalen Schultern und breiten Hüften oder auch mit langen, dünnen
Händen und Füßen. Auch werden die Figuren in raffinierten und verwickelten
Posen – und nicht im entspannten Kontrapost der Frührenaissance – gezeigt. Meist
wurden keine naturgetreuen Farben verwendet, sondern helle Pastelltöne oder unnatürlich kräftige Farben. Malerei und Bildhauerei waren fantasievoll und einfallsreich, und bei beiden standen Stil und Inhalt gleichermaßen im Mittelpunkt. Während die Künstler der Hochrenaissance nach Gleichgewicht und Harmonie strebten,
ging es den Manieristen um freie Gestaltung von Unausgewogenheit und Spannung.
Populäre Themen waren oft eine Mischung aus Christlichem und Mythologischem.
Der Manierismus war teilweise eine
beabsichtigte neue Gestaltungsweise, aber
teilweise auch ein Weg, um die hohen
Manieristische Portraits
künsterischen Anforderungen der HochreBeim Portraitieren gestalteten die Manieristen
naissance umgehen zu können. Indem die
nicht einfach ein (gemaltes oder plastisches)
Künstler nun erfindungsreicher sein wollAbbild der Person vor ihnen, sondern sie verten als ihre Vorgänger, arbeiteten sie in ihre
suchten erstmals, auch die Persönlichkeit hinWerke andere Elemente ein, um so die
ter dem äußeren Erscheinungsbild darzustelBetrachter zu fesseln. Die Absicht war, die
len. Das heißt, sie bemühten sich, mehr zu zeiKunst mehr in den Blickpunkt zu rücken,
gen als nur die sichtbaren Merkmale.
sie prachtvoll, interessant und anregend zu
gestalten und zu demonstrieren, dass die
Manierismus
‚
Inspiration verlangt nach tätiger Mitwirkung von Geist in
Verbindung mit Enthusiasmus, und unter diesen Voraussetzungen
können wunderbare Vorstellungen, mit allem was vorzüglich und
göttlich ist, entstehen.
Giorgio Vasari
ʻ
Künstler mit den klassischen Proportionen und Stilen souverän umgehen können.
Sie mussten das Leben nicht unbedingt so darstellen, wie es aussah, sondern konnten es nach Belieben elegant, raffiniert oder stilisiert wiedergeben.
Die wichtigsten Manieristen Zwei Schüler des berühmten Andrea del Sarto
wurden prominente Manieristen: Jacopo da Pontormo (1494–1557) und Rosso Fiorentino (1494–1540). Pontormos Schüler Agnolo Bronzino (1503–1572) war ab
1540 Hofmaler bei Cosimo I. de’ Medici, dem berühmten Herzog der Toskana, und
galt als einer der führenden Künstler in Florenz, die den Manierismus populär
machten. Bartolomeo Ammanati (1511–1592) und der aus Flandern stammende
Giambologna (1529–1608) gehörten zu den bekanntesten Bildhauern des Manierismus, die oft durch halb Europa reisten und mit überlangen Figuren in gedrehter
Körperhaltung fließende, in sich verschlungene Formen schufen. Der Maler Parmigianino (1503–1540) wurde dagegen durch seine idealisierten jugendlichen Figuren
in ausgeklügelten Posen und Arrangements berühmt – und einflussreich. Bartholomäus Spranger (1546–1611) und Hans von Aachen (1552–1615) gehörten zu den
nordischen Malern, die sich an den Höfen Europas aufhielten und sich dort durch
ihren manieristischen Stil einen Namen machten.
Die Ausbreitung des Manierismus
Die Manieristen durchstreiften viele
Länder, um Aufträge zu bekommen und neue Ideen kennenzulernen. Zudem führte
1527 die Plünderung Roms zu einem Exodus von Künstlern der Ewigen Stadt in
das übrige Europa, insbesondere nach Frankreich, wo König Franz I. italienische
Künstler an seine bevorzugte Residenz in Fontainebleau holte und dort den Manierismus zum beherrschenden Stil machte. Mitte des 16. Jahrhunderts war deshalb der
Manierismus weit über Rom und Florenz hinaus verbreitet.
Worum
es gehtErfindung
Übertreibung
und Stilisierung,
und Raffinement
39
40
Die Ausbreitung des Humanismus
10 Barock
(ca. 1600--1750)
Vor dem Hintergrund der religiösen Umbrüche des 16. Jahrhunderts
erlebte die europäische Kunst einen erneuten Wandel. Die barocke
Kunst entwickelte sich aus der Absicht, die Stärke des römischen Katholizismus, aber auch der Herrscherhäuser ins Bild zu setzen. Das Barock
umfasst ein breites Spektrum von Stilen, mit denen Gefühle, Bewegung
und Dramatik dargestellt werden. Dazu kommen neue Methoden insbesondere in der Maltechnik, um Licht und Farbtöne darzustellen.
Die religiösen Spannungen nahmen ab Beginn der Reformation mit Luthers Thesenanschlag von 1517 zu. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (ca. 1398–1468) hatte zur Entwicklung einer Presse geführt, die zunehmend in
allen Schichten gelesen wurde. Nachdem die ersten Bibeln im Druck erschienen
waren, begann man Fragen zur Deutung der biblischen Geschichten und zur Glaubwürdigkeit einiger Standpunkte der katholischen Kirche zu stellen. Die Reformatoren setzten den Protestantismus als neue christliche Glaubensrichtung durch – was
eine Reihe von Religionskriegen mit sich brachte. Die Autorität der katholischen
Kirche wurde erschüttert und die Einheit Mitteleuropas zerstört, als immer mehr
Herrscher sich vom Katholizismus abwandten und zum Protestantismus konvertierten. Schließlich schlug die katholische Kirche zurück. Beim Konzil von Trient wurden Kirchenreformen beschlossen, um den wichtigsten Kritikpunkten der Protestanten den Boden zu entziehen und eine weitere religiöse Abspaltung zu verhindern.
Diese als Gegenreformation bezeichnete Reaktion der katholischen Kirche bedeutete für die Kunst, dass die Kirchenoberen viele Kunstwerke in Auftrag gaben, die
eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen sollten.
Inspirierende Betrachtung Das Konzil von Trient, das in vielen Sessionen
mehrere Jahre lang tagte, legte fest, dass alle künftigen Kunstwerke der römisch-
Zeitleiste
ca.
1599/1600
Caravaggio: Judith köpft
Holofernes
1628
1635
Velázquez und Rubens
treffen sich in Madrid
Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar;
Rubens: Die drei Grazien; van Dycks Portrait
Karls I. von drei Seiten wird nach Rom zu
Bernini geschickt als Vorlage für eine Statue
Barock
katholischen Kirche verständlich und emotional bewegend eine klare religiöse Botschaft vermitteln sollten. Als Mittel zur Unterstützung der römisch-katholischen
Glaubensverkündigung zeichnet sich die Barockkunst zunächst durch reich ausgestaltete Bilder, helles, strahlendes Licht und emotionale Inhalte aus, die beim
Betrachter Mitgefühl und auch gedankliche Reflexion auslösen sollten. Die Künstler begannen, wie von ihnen gefordert, mit spektakulären und kunstfertigen Techniken Wahrnehmungsillusionen zu wecken: In der Bildhauerei und Malerei wurde ein
Eindruck von Bewegung und Energie geschaffen, wobei in den Gemälden zusätzlich starke Kontraste von Licht und Schatten genutzt wurden, um die Dramatik der
Szenen zu verstärken.
Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die Barockkunst zunehmend auch außerhalb der katholischen Kirche bei Herrschern und Aristokraten beliebt. In dieser Zeit
hatten einige Herrscherhäuser Schwierigkeiten, bei ihren Untertanen den Glauben
an eine Herrschaft „von Gottes Gnaden“ aufrecht zu erhalten. Daher sollten prachtvolle
Gemälde, Skulpturen und Architekturen das
Unregelmäßige Perle
öffentliche Erscheinungsbild des Herrschers
bestimmen. Der blühende Handel brachte
Die Bezeichnung „Barock“ leitet sich wahrdem protestantischen Norden Europas Wohlscheinlich vom portugiesischen Wort barroco
stand, und auch dort gewann der Stil des
für eine Perle mit unregelmäßiger Form ab.
Barock Anhänger, auch wenn die Ziele und
Wie viele Etikettierungen in der Kunst wurde
Themen der Kunst andere waren. Die untersie nachträglich von Kritikern und nicht von den
schiedlichen Motivationen für die Kunst diezeitgenössischen Kommentatoren eingeführt.
ser Epoche ließen ein breites Stilspektrum
Sie war zunächst als Einwand gegen die Überentstehen. In manchen Bereichen war die
triebenheit und Überladenheit der Barockkunst
Barockkunst eher verschwenderisch, in andegemeint, die im Gegensatz zur Harmonie und
ren blieb sie auf einen eher reservierten
Stimmigkeit der Renaissancekunst steht.
Geschmack beschränkt. Die emotionale italienische Kunst steht beispielsweise der
zurückhaltenderen niederländischen Variante
gegenüber. Aber die grundlegenden Merkmale sind immer vorhanden: Realismus,
Dramatik, Anregung der Sinne und glanzvolle Lichteffekte. In verschiedener Hinsicht begann das Barock als Reaktion auf die manieristische Stilisierung und als
eine Art Werbemittel für die römisch-katholische Glaubensverkündigung.
1641
1647
1648
1650
Poussin wird Kunstintendant
der königlichen Bauten
Ludwigs XIII.
Bernini: Die Verzückung
der heiligen Theresia
Poussin: Die Heilige Familie auf der Treppe;
Claude Lorrain: Hafen mit der Einschiffung
der Königin von Saba; Ende des
Dreißigjährigen Kriegs
Velázquez: Papst
Innozenz I.
41
42
Die Ausbreitung des Humanismus
Grablegung Christi
Dieses Bild zeigt, wie Nikodemus und
der heilige Johannes nach der Kreuzigung den Leichnam Jesu ins Grab
hinabsenken. Drei Frauen dahinter drücken in unterschiedlichen Formen ihren
Schmerz aus. Die sechs Figuren sind
auf engem Raum zusammengestellt
und setzen sich von dem dunklen Hintergrund ab, der Tod und Leiden symbolisiert. Der Leichnam Jesu, die
unterste der Figuren, befindet sich im
Zentrum des Bildes, während die übrigen Personen dynamisch in einer nach
rechts oben strebenden Diagonale
angeordnet sind. Alle Merkmale des
Barock sind hier versammelt: chiaroscuro – der Kontrast von Licht und
Schatten, Figuren in gedrehter Körperhaltung oder in Bewegung, Emotionalität, Dramatik und kontrastierende Elemente in der Komposition, die Spannung erzeugen.
Caravaggio: Grablegung Christi,
um 1602/03, Öl auf Leinwand;
Vatikanische Museen, Rom.
Eine Freude für die Sinne In den katholischen Ländern blieb die Barockkunst spektakulär, intensiv und dramatisch, um die beabsichtigte emotionale Bewegung beim Betrachter zu erzeugen. Im protestantischen Nordeuropa mussten die
Künstler, als der Barockstil bei den reichen Bürgern in Mode kam, die Grundideen
in verschiedener Hinsicht modifizieren. Es ging hier nicht mehr darum, die Betrachter zu fesseln, um sie in der Kirche zu halten oder mit der Pracht der Monarchen zu
beeindrucken. Mit der Blüte der Barockkunst stieg das Ansehen der Künstler in der
Gesellschaft. Sie wurden geschätzt wie wenige Künstler vor ihnen. Die Kunst, die
als Mittel zum Berühren und Beeinflussen der Menschen begonnen hatte, wurde bald zur beherrschenden Mode eines ganzen
Kontinents. In den großen Städten entstanden Statuen, Brunnen,
Kirchen und Paläste in diesem Stil; Gemälde wurden ebenso für
die öffentliche und private Nutzung geschaffen.
Die wichtigsten Barockkünstler Annibale Carracci
‚
Barock
Mein Talent ist so
geartet, dass keine
Unternehmung, sei sie
noch so groß und
mannigfaltig im
Gegenstand, mein
Selbstvertrauen jemals
überstiegen hat.
Peter Paul Rubens
(1560–1609) trug mit farbenprächtigen und lebendigen Bildern
zum Durchbruch des Barockstils in Italien bei. Caravaggio
(1571–1610) stellte in seinen ausdrucksstarken realistischen
Gemälden mit übertriebenem Kontrast von Licht und Schatten
das menschliche Leid in den Mittelpunkt. Der führende Bildhauer
des Barock war Gianlorenzo Bernini (1598–1680), der auch als Architekt, Maler,
Dramatiker und Bühnenbildner arbeitete. Sein überaus einflussreiches Werk zeigt
einen besonderen Ausdruck von Raum und Bewegung – zwei Stilelemente, die bald
für die gesamte Barockkunst kennzeichnend wurden. Im katholischen Flandern war
Peter Paul Rubens (1577–1640) einer der gefragtesten Künstler seiner Zeit, der den
Barockstil vollständig aufnahm und kraftvoll mit differenzierten Farbtönen üppige
Bilder malte. Sein Schüler Anthonis van Dyck (1599–1641) wurde der führende
Hofmaler in England. Nicolas Poussin (1594–1665) war der wichtigste und einflussreichste französische Maler des 17. Jahrhunderts. Sein Werk drückt einmal
mehr, wenn auch anders als bei vielen anderen Barockmalern, Lebenskraft, Empfindung und Spannung aus. Der spanische Maler Diego Velázquez (1599–1660) nutzte
die Stilmittel des Barock in Form kräftiger Farben, starker Kontraste von Licht und
Schatten und einer Tiefenillusion des Raumes. Die Epoche endete um 1750, auch
wenn einige stilbildende Elemente noch bis ins späte 18. Jahrhundert beibehalten
wurden.
ʻ
Worum
es geht
Leben, Licht
und Dramatik
wecken gezielt
Emotionen
43
44
Die Ausbreitung des Humanismus
11 Das Goldene Zeitalter der Niederlande
(ca. 1620--1700)
Als unmittelbare Folge des Barockstils, der Zersplitterung durch die
Reformation und des Aufstiegs des Protestantismus entwickelte sich in
den nördlichen Niederlanden im 17. Jahrhundert ein unglaublich realistischer Malstil. Religiöse und politische Konflikte hatten die Niederlande
gespalten: Die spanischen Niederlande („Flandern“) waren römischkatholisch geblieben, während die nördlichen Niederlande („Holland“)
protestantisch geworden waren.
Die Niederlande gehörten zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in der Blütezeit des
Überseehandels und der Seefahrt, zu den reichsten Gegenden der Welt. Dort gab es
die höchste Alphabetisierung Europas, einen gewissen Stolz und religiöse Toleranz.
Das Land brach mit der katholischen Kirche und dem Heiligen Römischen Reich.
Die Bevölkerung wuchs rasch an und viele hochrangige Künstler kamen, um für
reiche Kunden zu arbeiten gleichtun. Die Maler sahen sich ermutigt, neue Sujets
darzustellen und auch neue philosophische Ideen auszudrücken.
Das Goldene Zeitalter der Niederlande umfasst den Zeitraum von etwa 1620 bis
1700, fällt also in das Barock, aber die Kunst und die Einstellung waren dort in vieler Hinsicht anders als im übrigen Europa. In der holländischen Kunst fehlen die für
das Barock typischen Idealisierungen und Übertreibungen. Das liegt daran, dass sie
für Menschen geschaffen wurde, die andere Lebens- und Glaubenseinstellungen
hatten. Sie waren klug und verlässlich, ihr Geschmack war eher zurückhaltend. Die
holländischen Künstler werden dennoch dem Barock zugerechnet, weil sie so viele
stilbildende Elemente dieser Epoche aufnahmen, zum Beispiel die Aufmerksamkeit
für Details und den Realismus, unglaubliche Licht- und Farbeffekte sowie dramatische Kompositionen.
Zeitleiste
1624
1632–1648
1635
1637
1642
Frans Hals: Der
lachende Kavalier
Das Tadsch Mahal
wird gebaut
Rembrandt:
Das Gastmahl
des Belsazar
Der Tulpenhandel bricht
zusammen. Unter holländischen
Kaufleuten grassieren Bankrott,
Angst und Selbstmord
Die Vereinigten Niederlande
verdrängen die Portugiesen von
der westafrikanischen Goldküste
Das Goldene Zeitalter der Niederlande
Spiegel der Realität
Unglaublich lebensnahe
Gemälde waren in dieser
Epoche beliebt. Licht, das
durch die Fenster fällt, war
ein Element, das direkt aus
dem italienischen Barock
kam. Im hier wiedergegebenen Bild ist ein Maler –
vermutlich ein Selbstportrait Vermeers, auch wenn
das Gesicht nicht zu sehen
ist – beim Portraitieren
einer jungen Frau in seinem Atelier dargestellt. Sie
steht am Fenster vor einer
großen Wandkarte der Niederlande. Ein Riss geht
durch das Land und symbolisiert die politische und
religiöse Teilung zwischen
Süden und Norden. Einige
weitere Symbole finden
sich in dem Bild, darunter
Anspielungen auf den
Katholizismus und seine
Unterdrückung in Holland.
Vermeer blieb in dem überwiegend protestantischen
Land Katholik.
Jan Vermeer: Die Malkunst, ca. 1666, Öl auf Leinwand; Kunsthistorisches Museum, Wien.
1648
ca.
Salomon van Ruysdael:
Flussmündung mit befestigter
Stadt
Aelbert Cuyp: Flusslandschaft mit Reiter und
Bauern
1658–1660
1660/61
1678
1689
Jan Vermeer:
Ansicht von Delft
Aus Japan kommen
Chrysanthemen
nach Holland
Meindert Hobbema:
Allee von Middelharnis
45
46
Die Ausbreitung des Humanismus
Alltagsszenen Während in Flandern die geistlichen, religiösen und dramatischen Kompositionen vorherrschten, wandten sich die holländischen Maler weltlichen Themen zu und unterstützten die protestantische Vorstellung, dass Menschen
sich keine Götzenbilder schaffen sollten. Die Kaufleute der Niederlande waren
keine mächtigen Herrscher, die Kunst für ihre Paläste bestellten, und auch keine
Kirchenfürsten, die ihre Gotteshäuser prächtig ausstatten wollten, sondern einfach
Menschen, die Kunst gerne betrachten und als Zeichen ihres Wohlstands zeigen
wollten. Infolgedessen malten die Künstler Bilder, die den reichen Bürgerschichten
gefielen: Portraits, historische Szenen, Alltagssituationen, Stillleben und Landschaften. Sie konzentrierten sich auf raffinierte Maltechniken und eine realistische bzw.
naturalistische Darstellungsweise. Die Gemälde waren vergleichsweise klein, passend für Kontore, Läden oder Wohnungen.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nahm auch der Bedarf an Kunst in den
Niederlanden zu. Die Gemälde mussten dem Käufer gefallen und so malten die
Künstler das, was dem lokalen Zeitgeschmack entsprach, und wählten immer spezifischere Themen. Altniederländische Künstler wie van Eyck, der auf lebensnahe
Details geachtet hatte, galten als unerreichte Vorbilder. Dementsprechend feilten die
Künstler an ihren Techniken und malten so realistisch wie möglich, um an dieses
Niveau heranzukommen. Amsterdam gehörte zu den reichsten Städten, von denen
es in den Niederlanden damals mehr gab
als sonst in Europa. Dort blühte die Kunst
besonders, aber auch in anderen Zentren.
Malen für die Allgemeinheit
So gab es in Utrecht einige Künstler, die in
Kunst für gewöhnliche Kunden zu schaffen,
Rom gewesen und in ihrem Malstil deutwar in diesem Ausmaß bislang noch nicht vorlich von Caravaggio beeinflusst waren.
gekommen. Und dieser Trend sollte sich einmal
Diese Maler, die wie ihr italienischer Meisin ganz Europa durchsetzen. Ein Gast aus
ter starke Lichtkontraste und dunkle FarbEngland berichtete mit Staunen darüber, wie
töne bevorzugten, wurden als „Utrechter
viele Gemälde er in Amsterdams Läden und
Caravaggisten“ bekannt.
Privatwohnungen gesehen hatte und wie sehr
die breite Bevölkerung die Malerei förderte und
stolz auf ihre Künstler war.
Kunst als Ware Es gab in den Vereinigten Niederlanden zu jener Zeit fast
keine Bildhauerei, die vorherrschenden
Kunstgattungen waren Malerei und Grafik.
Die Künstler eigneten sich ihre technischen Fähigkeiten während einer mehrjährigen Lehrzeit an, bevor sie selbstständig zu arbeiten begannen. Anders als im übrigen Europa, wo Künstler im Großen und Ganzen Auftragswerke mit vorgegebenen
Inhalten malten, schufen holländische Künstler aus eigenem Antrieb Bilder, die sie
zu verkaufen hofften. Große Kunstmessen wurden abgehalten, auf denen viele
Künstler mit ihren Werken vertreten waren und viele Käufer hofften, etwas Passen-
Das Goldene Zeitalter der Niederlande
‚
des zu einem guten Preis zu finden. All dies gehörte zum wirtDas tiefste und am
schaftlichen Umfeld, und man war stolz auf die Kunst im eigenen ehesten lebenswahre
Land.
Gefühl wurde ausgedrückt, und das ist der
Themen Die meisten Künstler spezialisierten sich auf
Grund, warum es so
bestimmte Themenbereiche, wobei einige besonders beliebt
waren. Dazu gehörten Darstellungen, die Ereignisse oder Errun- lange gedauert hat, sie
genschaften der Geschichte zeigten („Historienmalerei“), ebenso [die Gemälde] zu
wie biblische, mythologische, literarische oder allegorische Sze- vollenden.
nen. Gemälde von Landschaften und Meeresküsten wurden
Rembrandt van Rijn
ʻ
wegen der Wiedererkennbarkeit der dargestellten Örtlichkeiten
bewundert. Auch Landschaften, die zu unterschiedlichen Jahreszeiten gemalt wurden, verkauften sich gut, Seebilder sowieso. Auch Innenansichten
vom Alltag der Menschen („Genrebilder“) waren in Mode. Die Künstler nahmen
darin oft symbolische Hinweise auf, die auf eine bestimmte Moral zielten, und der
Impuls, dieser moralischen Botschaft im Bild nachzuspüren, gefiel dem kunstsammelnden Publikum. Stillleben wurden mit eindrücklich festgehaltenen Details angereichert und viele von ihnen verwiesen auf die Vanitas, die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens. Der Portraitmalerei fiel im aufstrebenden Bürgertum vermutlich die Hauptaufgabe zu – man wollte sein Bild der Nachwelt erhalten.
Eine zuvor nie erreichte Zahl von herausragenden Malern prägte diese Kunstepoche. Darunter finden sich beispielsweise Rembrandt van Rijn (1606–1669), Frans
Hals (ca. 1580–1666), Salomon van Ruysdael (ca. 1602–1670), Harmen Steenwyck
(ca. 1612–1659), Pieter de Hooch (1629–1684) und Jan Vermeer (1632–1679).
Worum
es geht
Unglaublicher
Realismus
in Farbe
47
48
Die Ausbreitung des Humanismus
12 Rokoko
(ca. 1720--1780)
Zunächst entstand das Rokoko als Stil der Innenausstattung von Räumen. Die ersten Gemälde in diesem Stil wurden nur zur Komplettierung
der Rokokoräume in Auftrag gegeben – sie hatten eher mit Dekoration zu
tun als mit ernsthaften Inhalten. Bald jedoch fanden solche zierlichen,
leichten und sinnenfrohen Kunstwerke auch unabhängig davon Anklang,
und der Rokokostil setzte sich ebenso in anderen Kunstgattungen
durch.
Die Zeit der Aufklärung Vor allem das 18. Jahrhundert wird auch als die Zeit
der Aufklärung bezeichnet, die Vernunft und Rationalität zum Ausgangspunkt radikal neuer Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Kunst machte und traditionelle gesellschaftliche Strukturen infrage stellte. Die Aufklärer behaupteten, dass
Vernunft und Verstehen den Menschen von Aberglauben und religiöser Unterdrückung befreien könnten, die in der Geschichte viel Unheil und
Wer hat Ihnen denn Millionen Menschen den Tod gebracht hatten. Dieses Denken
hatte mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Enzyklopädien zu
gesagt, dass man mit tun. Durch den Buchdruck hatte sich das Wissen weit verbreitet,
Farben malt? Man die neuen Bürgerschichten konnten Bücher und Presseerzeugverwendet Farben, aber nisse kaufen, sich durch Lesen bilden und zunehmend Unabhänman malt mit Gefühlen.
gigkeit im Denken entwickeln. Der neue Geist und die sozialen
Jean-Siméon Chardin wie politischen Reformen gaben den Bürgern neue Hoffnung für
die Zukunft, und das hatte Auswirkungen auf die Kunst.
Während der Aufklärung herrschten in einigen Teilen Europas nicht ganz so
große Spannungen wie im 16. und 17. Jahrhundert. Die Philosophen erfanden den
Begriff der persönlichen Freiheit und Demokratie neu, und die Wohlhabenden
begannen, offen nach Glück zu streben, ohne sich hiervon durch eine Obrigkeit von
Gottes Gnaden moralisch abhalten zu lassen. Das Rokoko war die künstlerische
Manifestation eines Optimismus dieser Zeit. Es sprach die Sinne und weniger den
‚
ʻ
Zeitleiste
1715
1718
1731
Tod Ludwigs XIV.
Antoine Watteau: Die Annehmlichkeiten des Lebens
Johann Joachim Kändler wird
Modellmeister der Porzellanmanufaktur Meißen
ca.
1736
Jean-Siméon Chardin:
Die junge Lehrerin
Rokoko
Geist an und betonte Schönheit gegenüber
geistiger Betrachtung.
Französischer Stil Das Rokoko wurde
Muschelwerk
Der Begriff „Rokoko“ wird seit Ende des 18.
Jahrhunderts verwendet. Er greift ein Element
heraus, das als Leitmotiv im Zusammenhang
mit der künstlerischen Ausgestaltung von Räumen auftaucht: die rocaille, ein c-förmiges
Muschelwerk. Vom klassizistischen Standpunkt
aus wurde dieser Stil als bizarrer Auswuchs,
seine Thematik als frivol verachtet.
ursprünglich wegen seiner Herkunft als
„französischer Stil“ bezeichnet. Das Versailler Schloss von Ludwig XIV. (1638–
1715) war prachtvoll und pompös ausgestattet und repräsentierte das absolutistische Sonnenkönigtum. Der Thronfolger, Ludwig XV.
(1710–1774), umgab sich ebenfalls mit opulenter Pracht, bevorzugte aber – nicht zuletzt
unter dem Einfluss seiner Mätresse Madame
de Pompadour (1721–1764) – einen unbeschwerteren, intimeren Rahmen. Dieser
Wandel vom Offiziellen zum Privaten, vom Schweren zum Leichten begann als
höfische Mode und wurde dann in der gesamten französischen Oberschicht und
schließlich im Volk beliebt. In Malerei und Bildhauerei bevorzugte man Sujets aus
Literatur und Mythologie gegenüber historischen oder religiösen Themen. Der Stil
war beschwingt, reich an Ornamenten und sonstigen Verzierungen, von feiner Kolorierung und geschickter Pinselführung. Die eleganten wie raffinierten Gemälde und
Skulpturen brachten die dazu korrespondierende Architektur und Innenausstattung
zur Geltung. Das Rokoko behielt zwar einige komplexe Formen und Muster des
Barock bei, liebte aber ein kleineres Format und nahm einige andere Elemente auf,
darunter asiatische Motive (Chinoiserien) und asymmetrische Kompositionen. Nach
etwa 1730 kam das Rokoko vor allem durch Werke der Druckgrafik von Frankreich
in andere Teile Europas.
Die Freuden des Lebens
Das Rokoko ist eine leichtlebige, verspielte
Kunstrichtung, die Freude am Leben – joie de vivre – widerspiegelt. Typische
Rokokofiguren sind sorglose Aristokraten in fantastischen Umgebungen, die scherzen oder kokettieren, Musik machen oder hören, picknicken oder Ausflüge aufs
Land unternehmen. Sie werden oft vor einem erlesenen und idyllisch-anmutigen
Hintergrund in der Natur oder in prächtigen Boudoirs gezeigt. Zu den stilbildenden
Künstlern des Rokoko gehören Antoine Watteau (1684–1721), der für seine fêtes
galantes und idyllischen Szenen mit eleganten Damen und Herren berühmt wurde,
1750–1753
1756
1767
1770
1775
Giambattista Tiepolo malt in der
Residenz Würzburg das größte
Deckenfresko der Welt mit Allegorien
der Planeten und Kontinente
Boucher: Portrait
der Madame de
Pompadour
Jean-Honoré
Fragonard:
Die Schaukel
Thomas
Gainsborough:
Knabe in Blau
Boucher wird Direktor
der Französischen
Akademie
49
50
Die Ausbreitung des Humanismus
Die Toilette der Venus
Mythologie, sinnliche Frauen und
die Liebe gehören zu den beherrschenden Themen des Rokoko,
wobei sanfte Linien, Asymmetrie
und pastellige Farben den Stil
prägen.
Dieses erotische Venusgemälde wurde von der Mätresse
Ludwigs XIV., Madame de Pompadour, für ihr Schloss Bellevue
bei Paris in Auftrag gegeben. Wie
bei einem Bühnenbild ist die
junge, füllige Venus mit Amoretten auf einem Sofa dargestellt,
dessen Schnitzereien vergoldet
sind. Reich drapierte Vorhänge
und Tücher veranschaulichen die
Badekultur des Rokoko.
François Boucher: Die Toilette
der Venus, 1751, Öl auf Leinwand; Metropolitan Museum of
Art, New York.
die in fantastischen Landschaften entspannen. François Boucher (1703–1770) war
der Hofmaler Ludwigs XV. und damals berühmt für seine ruhigen galanten
Gemälde und Gobelins mit mythologischen Sujets, Allegorien und Portraits. JeanHonoré Fragonard (1732–1806) steht für eine lockere Malweise, die perfekt die
Unbekümmertheit der Aristokratie vor der Französischen Revolution in eleganten,
üppigen und verspielten Bildern darstellt. Jean-Siméon Chardin (1699–1779) hielt
das Leben der Pariser Bourgeoisie in detailreichen Stillleben und häuslichen Szenen
fest, wobei seine Werke weniger zierlich und dekorativ sind als das Gros der Roko-
Rokoko
kokunst. Bei Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun (1755–1842) zeigt sich der Einfluss
des Rokokostils insbesondere bei ihren Portraits der Königin Marie Antoinette,
ihrer flotten Pinselführung und ihre Farbpalette. Étienne-Maurice
Falconet (1716–1791) schuf asymmetrische Statuen mit fein
Ein reiner Kopierer
gestalteten Rundungen, oft zum Thema Liebe oder Vergnügunkann
niemals
gen.
irgendetwas
Großes
In England malten Sir Joshua Reynolds (1723–1792), Thomas
schaffen.
Gainsborough (1727–1788) und William Hogarth (1697–1764)
idealisierende Bilder im Stil des Rokoko. Der venezianische
Joshua Reynolds
Maler Giambattista Tiepolo (1696–1770) schuf berühmte
Decken- und Wandgemälde, während Giovanni Antonio Canal,
genannt Canaletto (1697–1768), und Francesco Guardi (1712–1793) für ihre großen
Veduten (Stadtansichten) mit klaren, hellen Szenen voller Details bekannt wurden.
Der Rokokostil blieb nicht nachhaltig. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden
Zopf und Perücke unmodern und galten nun insbesondere in Deutschland als Inbegriff von Dekadenz und Rückständigkeit. Bald setzte sich eine strengere Neuinterpretation der antiken griechischen und römischen Kunst durch: der Klassizismus.
‚
ʻ
Worum
geht
Dekorative
höfischees
Kunst,
die gefällt
51
52
Die Ausbreitung des Humanismus
13 Klassizismus
(ca. 1750--1850)
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es eine Wiederbelebung
der disziplinierten, exakten Stilformen der klassisch griechischen und
römischen Antike sowie der Renaissance – einerseits als Gegenbewegung zum leichten, heiteren Rokokostil und andererseits als Reaktion
auf die Ausgrabung der unter Vulkanasche verschütteten römischen
Städte am Fuß des Vesuvs.
Die Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji, die 1738 bzw. 1748 begannen,
gehören zu den spektakulärsten archäologischen Projekten überhaupt. Innerhalb
weniger Jahre wurden aus der Vulkanasche des Vesuvs große Stadtgebiete freigelegt, die 79 v. Chr. verschüttet worden waren. Die Funde waren beispiellos und ließen die Welt staunen: Menschen, Tiere, Häuser, Straßen, Läden und Besitz waren
unter dem Ascheregen konserviert worden. Die erhaltenen Reste der Gebäude und
Kunstwerke regten eine neue Architektur und Kunst an, die sich an den klaren
Linien und vollendeten Konturen der Antike orientierte. Neben den Ausgrabungen
in Herculaneum und Pompeji gab der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) mit seinen 1755 publizierten Gedanken über die Nachahmung
der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst dieser Bewegung einen
wichtigen Anstoß. Mit seiner Formel „edle Einfalt, stille Größe“ hat er eine Generation von Künstlern inspiriert.
Patriotismus, Heldentum, Ehrfurcht und Moral Der Klassizismus
begann als Rebellion gegen die verschnörkelte Frivolität des Rokoko, das primär
eine höfische Kunst war. In den 1760er Jahren übernahmen Künstler zunehmend
Motive aus der griechischen und römischen Antike und stellten Werte wie strenge
Einfachheit, Mut, Ehre, Tugend und persönliche Einsatzbereitschaft dar, um beim
Betrachter Vergleiche zwischen den Republiken der Antike und dem Kampf um
Zeitleiste
1764
1777
1780
1784
1787
1789
Johann Joachim
Winckelmann:
Geschichte der Kunst
des Altertums
Anton Raphael
Mengs: Perseus
und Andromeda
Beginn der
Industriellen
Revolution in
England
Jaques-Louis
David: Der
Schwur der
Horatier
Wilhelm
Tischbein:
Goethe in der
Campagna
Mit dem Sturm auf
die Bastille beginnt
die Französische
Revolution
Klassizismus
‚
In den Künsten ist die Art, wie eine Idee dargeboten wird, und die
Art, wie sie ausgedrückt wird, viel wichtiger als die Idee selbst.
Jacques-Louis David
ʻ
bürgerliche Freiheitsrechte in Frankreich nahezulegen. Nach der Französischen
Revolution, mit der die Aristokratie abgeschafft wurde, wurde Frankreich eine
Republik gleichgestellter Bürger. Nach der Restauration durch Napoleon wurde ein
Herrscherbild propagiert, das sich an den hohen Prinzipien römischer Tugend und
Moral orientierte. Entsprechend wurden die Künstler beauftragt, mehr Kunstwerke
zu schaffen, die begeisternde Szenen aus der römischen Geschichte darstellen. Die
Maler arbeiteten mit scharfer Linienführung, klarer Komposition sowie kühl wirkenden Farben. Dieser Trend erfasste ganz Westeuropa, wo die Monarchen Nationalismus, Heldenmut, Ehre, Würde und Tradition fördern wollten.
Klassizistische Kunst unterlag strengen Regeln. Die Künstler arbeiteten mit präzisen Techniken, die Formen und Inhalte der klassischen Vorbilder nachahmten. Die
Maler wählten eine bühnenartige Beleuchtung mit Streiflicht und Schlagschatten.
Die Qualität der Linien und Konturen war für sie aber wichtiger als Farbe, Licht
und Stimmung. Die Bildhauer strebten ebenfalls nach klaren, ruhigen Umrisslinien,
schufen glatt polierte Oberflächen und mieden scharfe Kanten. Diese akribische
Strenge war zum Teil eine Gegenbewegung zum Hedonismus des Rokoko und zur
Dramatik des Barock. Viele ernste und eindrucksvolle Motive leiteten sich aus der
Geschichte und Mythologie der klassischen Antike ab, aus den Werken von Homer
und Plutarch, aber auch aus den Illustrationen zu Ilias und Odyssee, die der englische Künstler John Flaxman (1755–1826) gezeichnet hatte.
Napoleons Einfluss Als Napoleon 1799 in Frankreich die Macht übernahm,
begann auch sein Einfluss auf den Klassizismus dort: Er beauftragte die Künstler,
analog zu antiken Themen auch Ereignisse der jüngsten Geschichte Frankreichs
darzustellen. So ließ er sich von Malern als Nationalheld abbilden, der Bewunderung und Respekt einflößt. Während der Herrschaft Napoleons nahmen die Künstler
zwar weiterhin Säulen, Podeste, Friese und Gewänder nach dem Vorbild der Antike
in ihre Darstellungen auf, aber ihre Bilder waren komplizierter aufgebaut als die
früheren klassizistischen Werke.
1793
1804
1814–1817
1815
1852
Hinrichtung Ludwig XVI
und Marie Antoinettes;
David: Tod des Marat;
Canova: Amor und Psyche
Napoleon
krönt sich
zum Kaiser
Antonio Canova:
Die drei Grazien
Napoleon wird
bei Waterloo
geschlagen
Beginn des Zweiten
Kaiserreichs und der
Herrschaft von
Napoleon III.
53
54
Die Ausbreitung des Humanismus
Der Schwur der Horatier
Dieses Bild begründete Davids Ruhm. Die einfache Komposition mit Figuren, die im Dreieck
oder Viereck gruppiert sind, entspricht klassizistischen Vorstellungen. Die dramatische Lichtführung verdeckt nicht den strengen Aufbau des Bildes. Es zeigt die Auseinandersetzung zwischen
Rom und Alba Longa um 660 v. Chr., bei der drei
Horatier-Brüder (für Rom) gegen drei Curatier-
Brüder (für Alba Longa) kämpften. Allerdings war
eine Schwester der Curatier mit einem Horatier
verheiratet und eine Schwester der Horatier mit
einem Curatier verlobt. Trotz der Wehklagen der
Frauen besteht der Vater der Horatier auf dem
Zweikampf. David malte dieses Werk absichtlich
als Proklamation vorrevolutionärer Ideen – der
Staat kommt vor der Familie.
Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier, 1784, Öl auf Leinwand; Musée du Louvre, Paris.
Klassizismus
Die klassizistischen Bilder von Jaques-Louis David (1748–1825), der zugleich
politisch aktiv war, sind zunächst untrennbar mit der Französischen Revolution verknüpft: Sie dienten als Propaganda für die Aufstände. Nach der
Machtergreifung Napoleons unterstützte David in seinen GemälDen Gedanken einen
den den Kaiser. Zu den vielen Künstlern, die in Davids großer
Körper
und eine
Werkstatt lernten, gehörte auch Jean Auguste Dominique Ingres
vollkommene Form zu
(1780–1867). Ingres mischte sich selbst nicht politisch ein und
verbrachte den größten Teil seiner Jugend in Italien. Er kam erst geben, das und nur das
nach der Restauration der Monarchie zurück nach Frankreich. Im ist es, was einen
Laufe seines langen Lebens wurde er zunehmend zum „Papst“
Künstler ausmacht.
des Klassizismus. Er konzentrierte sich auf die Präzision von
Jacques-Louis David
Linien und auf klassische Themen. Und er prägte die französische
Malerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und führte den
Klassizismus noch weiter, als dieser Stil bereits aus der Mode kam.
Ein weiterer bedeutender klassizistischer Maler war Anton Raphael Mengs
(1728–1779), der zu seiner Zeit weithin als Europas größter lebender Maler galt.
Sein Buch Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey
von 1762 hatte enormen Einfluss. Der führende klassizistische Bildhauer war der
Venezianer Antonio Canova (1757–1822), der anmutige und elegante Marmorstatuen schuf und für seine feine Wiedergabe von Haut und Muskeln bekannt war.
Jean-Antoine Houdon (1741–1828) wurde vor allem durch seine Büsten und Statuen von berühmten Philosophen, Erfindern und politischen Führern der Aufklärung
bekannt.
‚
ʻ
Worum
es geht des
Revolutionäre
Wiederbelebung
Strebens nach Schönheit und
Vollkommenheit
55
56
Die Ausbreitung des Humanismus
14 Romantik
(ca. 1790--1840)
Im Gegensatz zur Stringenz des Klassizismus standen in der Romantik
die Emotionen im Mittelpunkt, wobei die Romantik nicht nur eine Gegenbewegung war, sondern in gewisser Hinsicht auch auf den gleichzeitigen
Klassizismus zurückgriff. In der Romantik gab es viele Facetten, verkörpert in vielen Künstlern, Komponisten und Schriftstellern. Es war eine
vielschichtige Entwicklung, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die
Mitte des 19. Jahrhunderts reichte und lange noch nachhallte.
Die Romantik spiegelt wie der Klassizismus die revolutionären Ideen ihrer Zeit
wider. Während der Klassizismus die politischen Umstürze aufgriff und die Beherrschung der Emotionen, klare Linien und Themen bevorzugte, die bürgerliche
Würde und Stolz ausstrahlen, wendet sich die romantische Kunst dem sozialen
Wandel zu und drückt Gefühle drastisch mit geschickter Pinselführung, lebhafter
Farbpalette und phantastischer Komposition der Figuren aus. Die Ideen der Romantik lassen sich nicht so klar definieren wie die des Klassizismus – es gibt keine einfachen Kriterien dafür. Das liegt zum Teil daran, dass die Romantiker in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten mit differierenden Stilmitteln und
Techniken arbeiteten. Die Grundideen waren ähnlich, aber deren Deutung variierte.
Man findet Einflüsse des Barock, der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und der Amerikanischen Revolution, aber auch der zeitgenössichen
Literatur: etwa von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Lord Byron (1788–1824)
oder William Wordsworth (1770–1850) und natürlich den vielen Vertretern der
deutschen Romantik mit ihren Bezügen zu Märchen, Sagen oder zur Natur.
Individueller Ausdruck Die Romantik entwickelte sich aus einer Auseinandersetzung der Künstler mit einer Zeit des schnellen und einschneidenden Wandels.
Nach den politischen Umwälzungen und der Industriellen Revolution verfielen die
traditionellen Werte, und was als sicher und verlässlich gegolten hatte, geriet ins
Zeitleiste
1776
1780
1789
1794
Amerikanische
Unabhängigkeitserklärung
Beginn der Industriellen Revolution,
die beachtlichen Einfluss auch auf
die Künstler und Schriftsteller der
Romantik hatte
Beginn der Französischen
Revolution; William Blakes
Songs of Innocence
William Blake: The
Ancient of Days
Romantik
Jakobs Kampf mit dem Engel
Als bedeutendster Maler der französischen
Romantik wird oft Eugène Delacroix genannt, der
auf seine Zeitgenossen und auf spätere Künstler
großen Einfluss hatte. Mit beeindruckenden dramatischen Kompositionen, kräftigen Farben und
lebhafter Pinselführung schuf er leidenschaftliche
und dynamische Bilder, die die Emotionen der
Betrachter ansprachen. Er arbeitete sehr spontan und wandte verschiedene Techniken an, um
ohne die traditionellen Vorzeichnungen und ohne
zeitaufwendige Planung unmittelbar auf die Leinwand malen zu können. Er gestaltete eine Wand
der Engelskapelle von Saint-Sulpice in Paris mit
der Jakobsgeschichte aus. Demnach rang Jakob
eine Nacht lang mit einem Unbekannten, der
sich am Morgen als Engel zu erkennen gab und
ihn segnete.
Eugène Delacroix: Jakobs Kampf mit dem Engel (Ausschnitt), 1861, Öl auf Leinwand; Saint-Sulpice,
Paris.
1814
1819
John Constable: Das Stourtal
mit der Kirche von Dedham;
Francisco Goya: Die Erschießung
der Aufständischen
Théodore Géricault: Das Floß
der Medusa; John Keats: Ode
an die Nachtigall und Ode auf
eine griechische Urne
ca.
1835
Caspar David Friedrich:
Die Lebensstufen
ca.
1840
William Turner: Regen,
Dampf und Geschwindigkeit – Die Große Westeisenbahn
57
58
Die Ausbreitung des Humanismus
Wanken. Auch die neuen Erkenntnisse zur Natur, die die Wissenschaft als völlig
rational zu erklären suchte, schienen im Gegensatz zu all dem zu stehen, was nicht
nur die Künstler zuvor als gültig erachtet hatten. Nun schufen sie Bilder voller
Sehnsucht, Wehmut und Besinnlichkeit. Viele Romantiker knüpften an das Interesse
für die Natur an und drückten ihre inneren Gefühle in ihrer Kunst aus. Fast alle
rebellierten gegen fest etablierte Regeln und Konventionen der künstlerische Darstellung, benutzten eine reiche Farbpalette und lebendige Pinselführung, um ihrem
Werk in einem zuvor nur selten anzutreffenden Maße Ausdruck
zu verleihen.
Die Romantik liegt
Die meisten romantischen Künstler waren gegen die Indusnicht in der Wahl des trialisierung und Mechanisierung, die sich in fast allen LebensSujets oder in der bereichen ausbreitete, und stellten als Kontrast – oder aus Proexakten Wahrheit, test – Themen dar, die die Natur, Volksmärchen, das Mittelalter,
sondern in der Art zu Exotisches und Fantastisches sowie Mythisches und Übernatürliches betrafen. Viele bevorzugten emotionale Themen aus Lieempfinden.
Charles Beaudelaire besdramen oder Tragödien. Ihre Kunst war subjektiv, leidenschaftlich, fantasievoll, ausdrucksstark und gefühlsbetont. Einfühlung und Empfindung waren für sie wichtiger als reiner
Verstand und Vernunft. Anstelle strenger Logik und Rationalität drückten die Künstler nun Leiden und Tränen aus, die gewöhnlich aus Gründen der Etikette unterdrückt wurden. Diese Kunst war kühn, ausdrucksstark und erfindungsreich. Gefühle
wurden übersteigert dargestellt und wahrgenommen. Nie zuvor hatten Künstler ihre
individuellen Gefühle so freizügig gezeigt, und nie zuvor standen Spontaneität und
genialer Einfall so hoch im Kurs.
‚
ʻ
Farbe, Drama und Intuition Um 1800 setzt sich der Begriff „Romantik“
durch, um den aufkommenden Stil zu charakterisieren, der damals Kunst aller Art,
Philosophie, Politik und auch die Wissenschaften einbezog. Die Romantik begann
in Frankreich, entwickelte sich dann in den anderen europäischen Ländern und
Amerika zu unterschiedlichen Zeiten und Formen und erlebte besonders in Frankreich, Großbritannien und Deutschland eine Blüte. Auch wenn es keinen einheitlichen Stil unter all den Künstlern gab, die als Vertreter der Romantik gelten, so standen in der romantischen Kunst stets Emotionen und Expressivität gegenüber Struktur und Stabilität im Vordergrund. Die Künstler versuchten, persönliche Gefühle zu
vermitteln und ihr Mistrauen gegenüber modernen Entwicklungen und Ereignissen
klar zu machen. Die führenden Romantiker griffen Ideen aus verschiedenen Disziplinen auf, experimentierten mit technischen Innovationen und schufen Werke, die
oft Aufsehen erregten, dick auftrugen, persönlich waren und auf umstrittene Weise
mit der Tradition brachen. Zu ihnen gehörte Eugène Delacroix (1798–1863), der als
einer der größten und einflussreichsten Maler Frankreichs gilt, was den Umgang
Romantik
mit Farbe betrifft. Seine lebendigen Bilder
Das Erhabene
sind von historischen wie zeitgenössischen
Ereignissen geprägt sowie von der Literatur
Der Begriff sublime – für das Erhabene –
und von exotischen Orten, die er besuchte.
wurde 1757 von Edmund Burke neu diskutiert,
Der britische Maler, Dichter und Grafiker
um die Kunst zu charakterisieren, die den
William Blake (1757–1827) schuf fantastiBetrachter erschauern lässt. So sind eindruckssche, stimmungsvolle und sinnbildliche
volle Darstellungen etwa hoher Berge oder hefWerke, die seine starke Vorstellungs- und
tiger Stürme, aber auch Gemälde von SchreckSchöpfungskraft zeigen. In Spanien setzte
gespenstern erhaben. Die Vorstellung, dass
Francisco de Goya (1746–1828) die SchreBilder in delightful horror erschaudern lassen,
cken des Kriegs ausdrucksstark ins Bild und
war neu und ein wichtiger Aspekt der Romantik
malte zunehmend fantasievolle, mit spötti– und ist es bis heute geblieben.
schen Beobachtungen angereicherte Bilder
der menschlichen Natur. Théodore Géricault
(1791–1824) gehörte zu den Pionieren der
Romantik und hatte mit seinem dramatischen, ausdrucksstarken und unkonventionellen Malstil starken Einfluss auf Delacroix. In Deutschland gab Caspar David
Friedrich (1774–1840) stimmungsvolle, flüchtige Landschaftseindrücke wieder, bei
denen oft Abgeschiedenheit und Einsamkeit im Mittelpunkt stehen. William Turner
(1775–1851) ist mit seinen fruchtbaren, ausdrucksstarken und stimmungsvollen
Naturstudien der berühmteste Landschaftsmaler der Romantik. John Constable
(1776–1837), ebenfalls englischer Landschaftsmaler, setzte nostalgisch die Gegenden seiner Heimat ins Bild, die seinem Empfinden nach von der Industrialisierung
zerstört zu werden drohten.
Worum
es geht
Betonung
der Gefühle
gegenüber
Konventionen
59
60
Die Ausbreitung des Humanismus
15 Akademie
(ca. 17.--19. Jahrhundert)
Im 19. Jahrhundert hing der Ruf eines Künstlers in hohem Maße davon
ab, was sich an den Akademien, den offiziellen Ausbildungsstätten
Europas, etabliert hatte. Die Akademien wurden zunehmend konservativ,
wehrten sich gegen Veränderungen und lehnten innovative oder avantgardistische Ideen ab. Nur ihre eigene Kunst wurde von den Akademien
als solche anerkannt, insbesondere die der Académie des Beaux-Arts in
Paris – der wichtigsten Akademie von allen.
Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert war die europäische Kunstwelt durch die Akademien bestimmt. Angehende Künstler hofften, dort studieren zu können und später
dort Mitglied zu werden. Diese öffentlichen Institutionen setzten letztlich fest, was
Kunst ist, indem sie Kunstwerke offiziell förderten, auszeichneten und ausstellten.
Akademien waren bereits im 16. Jahrhundert in Italien gegründet worden, hatten
sich dann auch im übrigen Europa etabliert und das mittelalterliche Zunftsystem
ersetzt. Sie waren nun der verlässlichste Weg für eine Künstlerkarriere – durch Ausbildung, Wettbewerbe, Ausstellungen und Preise. Um in eine Akademie aufgenommen zu werden, nahmen die Bewerber anspruchsvolle Examen auf sich, und wenn
sie aufgenommen waren, studierten sie einige Jahre dort. Die 1648 gegründete Pariser Akademie der schönen Künste vereinigte sich 1816 mit zwei anderen Akademien und benannte sich in École des Beaux-Arts um. Sie wurde die führende
Kunstinstitution Europas, nach der sich alle richteten.
Reputation und Status Das System der Akademien diente ursprünglich dazu,
den Künstlern ein höheres Ansehen als den Handwerkern zu verschaffen und die
intellektuelle Seite der Kunst herauszustellen. Die akademische Kunstausbildung
umfasste ein mühsames Studium über Jahre, in denen die Techniken vorangegangener Künstler gelernt und perfektioniert wurden – und das alles, nachdem die Studenten ein Empfehlungsschreiben eines renommierten akademischen Lehrers vor-
Zeitleiste
1830
1833
1837–1840
1839
Ölfarben in transportablen
Blechtuben kommen
erstmals in den Handel
Paul Delaroche: Die
Hinrichtung der Lady
Jane Grey
Es werden neue chemische
Pigmente für die Ölfarben
Mauve, Violett, Hellgrün und
Gelb eingeführt
Erfindung der vermarktbaren
Fotografie durch Louis
Daguerre und Fox Talbot
Akademie
gelegt und das Aufnahmeexamen bestanden
Das Romstipendium
hatten. Einige Jahre verbrachten die Studenten damit, Drucke von vorbildlichen GemälIn Paris gab es an der Akademie seit 1663 in
den, Skulpturen oder Plastiken zu kopieren,
jedem Jahr ein Kunststipendium zu gewinnen.
um zu verstehen, wie Farbe und Konturen
Die Stipendiaten mussten männlich, franzöanzuwenden sind. Wenn das geschafft war,
sisch, ledig und unter dreißig sein. Es war ein
wurde nach Gipsabgüssen von berühmten
harter Wettbewerb, der verschiedene Stufen
Werken gezeichnet, und wenn die Studenten
einschloss und dem Gewinner einen bezahlten
auch hier die Erwartungen erfüllten, durften
Romaufenthalt von drei bis fünf Jahren ermögsie lebende Modelle zeichnen. Keiner durfte
lichte. In dieser Zeit hatte er die dortige Kunst
malen, bevor er nicht das Zeichnen perfektioder klassischen Antike und der Renaissance
niert hatte. Und das Malen erlernte man
eingehend zu studieren. Den Gewinnern winkte
dann, indem man in das Atelier eines Akadezudem eine gleichsam garantierte Künstlermielehrers eintrat. Malerei wurde nur von
karriere.
offiziellen Akademiemitgliedern – „Akademikern“ – unterrichtet. Am Ende wurden die
Studenten, wenn sie alle diese Stufen durchlaufen hatten, als „Assoziierte“ der Akademie anerkannt. Das bedeutete, dass sie
nun beruflich als Künstler arbeiten konnten. Wenn sie danach weiterhin Kunstwerke schufen, die von Vertretern der Akademie gutgeheißen wurden, bestand die
Möglichkeit, dass sie auch selbst den angesehenen Titel eines Akademikers erhielten.
Der Rang der Sujets Neben Kunstfertigkeit, Stilkenntnisssen und dem
Beherrschen der Techniken gab es an der Akademie auch eine Rangfolge von Themen, deren Darstellung von einem Künstler erwartet wurde: Historienbilder einschließlich mythologischer, biblischer und sonstiger literarischer Szenen waren am
angesehensten. Es folgten Portraits und Landschaftsbilder. Den niedrigsten Staus
hatten Stillleben und Genrebilder. Während des 19. Jahrhunderts gab es zwei Stile,
die an der Académie des Beaux-Arts gleichermaßen anerkannt waren: der Klassizismus mit seiner Betonung klarer Linien und die Romantik mit ihrer ausdrucksvollen
Farbgebung. Die Studenten sollten die besonderen Elemente dieser beiden Stile
kombinieren, um einen idealen Akademiestil zu erreichen.
1847
1861
1870/71
1887
ca.
Thomas Couture: Die
Römer der Verfallszeit
Beginn des amerikanischen
Bürgerkriegs
Deutsch-Französischer
Krieg
Alexandre Cabanel:
Kleopatra erprobt Gift
an Verurteilten
Jean-Léon Gérôme:
Pygmalion und
Galatea
1890
61
62
Die Ausbreitung des Humanismus
Die Geburt der Venus
Dieses Gemälde – ein typisches Beispiel für Akademiekunst – hat Napoleon III. gekauft, nachdem
es im Pariser Salon ausgestellt worden war.
Cabanel, der Gewinner des Romstipendiums von
1845, hat darin den klassizistischen Stil von
Ingres mit schwungvoller Romantik gemischt. Mit
akribischer Pinselführung und Sorgfalt im Detail
hat er in der ausgestreckten Figur ein Idealbild
der Göttin Venus geschaffen – genau die Art von
tadellos kunstfertigen Gemälden, die in der Akademie anerkannt und von reichen Kunstsammlern gern gekauft wurden. Mit dem Hinweis auf
die römische Mythologie im Titel war das Thema
für alle auch akzeptabel, auch wenn es tatsächlich nur ein Vorwand war, um eine nackte Frau
malen zu können.
Alexandre Cabanel: Die Geburt der Venus, 1863, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris.
Der Pariser Salon Der Salon de Paris war die offizielle Kunstausstellung der
Académie des Beaux-Arts. Von 1725 bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert fand der
Salon ein- bis zweimal im Jahr statt und galt als größtes Ereignis in der Kunstszene
Europas. Künstler reichten ihre Werke ein, um von der offiziellen Jury des Salons in
die Auswahl aufgenommen oder abgelehnt zu werden, wobei nur der konventionelle Akademiestil akzeptiert wurde. Es wurden jeweils tausende von Bildern ange-
‚
Akademie
Man sollte nicht an alle diese angeblichen Neuerungen glauben.
Es gibt nur eine Natur und nur einen Weg, sie zu betrachten.
William-Adolphe Bouguereau
ʻ
nommen und in den Ausstellungsräumen vom Fußboden bis zur Decke dicht nebeneinandergepackt gezeigt. Dabei entschied die Jury auch, wo die einzelnen Bilder
und Skulpturen zu platzieren waren – eine gute Sichtbarkeit seiner Werke konnte
dabei die Karriere eines Künstlers begründen, eine schlechte sie zerstören. Auf
diese Weise war jeder Künstler auch nach jahrelangem Studium an der École des
Beaux-Arts auf die Akademie angewiesen, wenn er Ansehen gewinnen wollte.
Führende akademische Künstler Im 19. Jahrhundert war Kunst beim aufstrebenden Mittelstand zunehmend gefragt. Offizielle Ausstellungen, Kunsthändler
und Drucke in hohen Auflagen führten zur Verbreitung von Kunst; dabei war die
Akademiekunst besonders beliebt. Zu den führenden akademischen Künstlern
Frankreichs gehörte William-Adolphe Bouguereau (1825–1905), der überwiegend
religiöse und historische Gemälde im klassizistischen Stil schuf, auch wenn seine
makellos gemalten Nackten und mythologischen Figuren berühmter waren. JeanLéon Gérôme (1824–1904) wurde für seine historischen und mythologischen Bilder
und Portraits in zum Teil orientalisch beeinflusstem Stil bekannt. Paul Delaroche
(1797–1856) malte lebensgroße historische Szenen mit durchgehend seidenglattem
Firnis. Alexandre Cabanel (1823–1899), der Lieblingsmaler von Napoleon III.,
malte Portraits und ebenso historische, mythologische und biblische Themen. Thomas Couture (1815–1879) schuf Historienbilder und war ein einflussreicher Lehrer.
Alle diese Künstler kombinierten in ihren Werken erfolgreich die Theorien und
Ansätze des Klassizismus und der Romantik und lieferten eine moderne Deutung
der klassischen Sujets, wobei sie durch eine nicht wahrnehmbare Pinselführung
einen idealisierten Realismus in ihrer Darstellung erreichten. Die Themen waren oft
sentimental, entsprechend der damaligen Mode und den Anforderungen der Akademie.
Worum
esdie
geht
Konservative
Kunst,
den Lehren
der Akademie folgt
63
64
Die Ausbreitung des Humanismus
16 Ukiyo-e
(ca. 17.--20. Jahrhundert)
Der Name „Ukiyo-e“ kennzeichnet einen Typ von Gemälden und Holzschnitten, die in Edo, dem heutigen Tokio, hergestellt wurden. Der
Bestandteil ukiyo bezeichnet im Buddhismus die „fließende Welt“ der
vergänglichen Lebenssituationen, das e steht für Bild. Mithin bedeutet
Ukiyo-e „Bilder der fließenden Welt“. Zwischen 1603 und 1868, der EdoZeit, wurde Japan von den Schogunen der Samurei regiert und Tokio zu
einer der größten Weltstädte.
Vom 17. bis 19. Jahrhundert erließen die Schogune viele repressive Dekrete; Vergnügungen wurden lizenziert und die Vergnügungsviertel in den japanischen Städten kontrolliert. Das förderte die Erwartung, dass leichtes Leben und Vergnügen
nicht einfach zu haben sind. Dennoch wurde die Lust auf Vergnügen, Entspannung
und Unterhaltung Trend. In den Vergnügungsvierteln lebten Kurtisanen, Geishas,
Sumo-Ringer und Kabuki-Schauspieler – die Berühmtheiten der
Edo-Zeit. Sie wurden zum wichtigsten Thema der ukiyo-zoshiMeine gesamte Arbeit Romane, der Erzählungen von der fließenden Welt, sowie der
beruht bis zu einem Ukiyo-e-Gemälde und -Holzschnitte. Die „fließende Welt“, die
gewissen Grad auf ursprünglich als Vergänglichkeit des Lebens verstanden wurde,
bekam nun die Bedeutung einer sorgenfreien, angenehmen
japanischer Kunst.
Vincent van Gogh Atmosphäre in den Vergnügungsvierteln mit ihren Theatern,
Restaurants und Teehäusern abseits des allgegenwärtigen Alltags
in den wachsenden Städten. Für die meisten Menschen schien
das pulsierende Leben der Berühmtheiten über der düsteren Wirklichkeit des
gewöhnlichen Daseins zu schweben. Die Künstler begannen, den Glanz dieser verlockenden Welt darzustellen, denn solche Bilder waren gefragt. Später fügte man
Tiere, Vögel, Szenen aus der Überlieferung und Landschaften hinzu. Auch diese
weitere Art, die „fließende Welt“ jenseits des Alltags darzustellen, wurde außeror-
‚
ʻ
Zeitleiste
1617
1633–1639
1685
1720
In Tokio wird das Vergnügungsviertel Yoshiwara offiziell lizenziert,
mit Theatern, Teehäusern,
Restaurants und Bordellen
Der Schogun sperrt die Häfen für
ausländische Handelsschiffe außer den
holländischen. Auslandshandel und
ausländische Bücher werden verboten
Hishikawa Moronobu:
Szenen im Teehaus
eines Theaters
Das Verbot ausländischer Bücher
wird gelockert
Ukiyo-e
Hiroshige
Das Bild von Andō Hiroshige zeigt
eine Fuchsversammlung unter
einem großen Zürgelbaum. Diese
Szene schmückt den Oji-InariSchrein im Norden von Tokio. Der
Zürgelbaum vor diesem Schrein
galt als Treffpunkt der Füchse aus
der Region Kanto, die sich in der
Neujahrsnacht in Menschen verwandelten. Die Einheimischen versuchten, die mit dem Atem der
Füchse in Verbindung gebrachte
Biolumineszenz (Leuchten) des
Holzes als Omen für die nächste
Ernte zu deuten. Hiroshige gilt als
letzter großer Meister des Ukiyo-e,
der die Tradition des Portraitierens
von Berühmtheiten zugunsten
scharfsinniger Naturbeobachtung
zurückstellte – auch bei diesem
mythologischen Bild. Durch die
Dynamik der wechselnden Perspektiven ohne festen Bildmittelpunkt wirkt die Komposition dramatisch, wobei sich dieser Effekt verstärkt, wenn man die japanische
Leserichtung von rechts nach links
zugrunde legt.
Andō Hiroshige: Fuchsfeuer in der Silvesternacht am Oji-InariSchrein, 1857, Holzschnitt; Yale University Art Gallery,
New Haven.
1765
1794
1831
1855–1860
1868
Suzuki Harunobu ermöglicht
mit seiner neuen Technik
farbige Holzschnitte
Tōshūsai Sharaku
portraitiert den KabukiSchauspieler Otani
Oniji II.
Katsushika Hokusai:
Die große Welle vor
Kanagawa
Japan öffnet seinen
Handel für einige
westliche Staaten
Mit der Meiji-Restauration
beendet der Tenno
Mutsuhito die Edo-Zeit
65
66
Die Ausbreitung des Humanismus
‚
Ich beneide die japanischen Künstler wegen ihrer unglaublichen
Klarheit.
Vincent van Gogh
ʻ
dentlich beliebt. Zum ersten Mal in der japanischen Geschichte schufen die Künstler Bilder, wie sie von einer breiten Öffentlichkeit gewünscht wurden.
Schweben jenseits der Realität Ukiyo war ursprünglich der Inbegriff von
Jenseitigkeit, mit der man auf die Welt hinabblickte, die die Künstler darstellten. In
gleicher Weise wurden die Bilder später gestaltet, um dem Betrachter den Eindruck
zu vermitteln, von oben auf die angenehmen Seiten des Lebens zu blicken, ohne
daran wirklich teilzunehmen und gegen die Gebote des Schoguns zu verstoßen. Zu
diesem Zweck werden in Ukiyo-e-Bildern oft ungewöhnliche Perspektiven genutzt,
die eine Szene von einem erhöhten Standpunkt aus wiedergeben. Häufig zeigen
diese Bilder Ausschnitte des Blickfelds, ähnlich wie Fotografien, obwohl die meisten vor der Erfindung der Fotografie entstanden. Dadurch entsteht der Eindruck
eines eher flüchtigen Blicks auf eine Szene und weniger der einer umfassenden
Ansicht. Der ungewöhnliche Bildaufbau passt zu den traumähnlichen Fantasiethemen. Oft ziehen sich Diagonalen durch das Bild, die den Eindruck von Bewegung
wecken und die Zweidimensionalität der Papierebene hervorheben. Es wurde auch
kaum versucht, Farbtöne und Texturen einzusetzen – Bilder waren Bilder, ohne den
Anspruch, als Realität zu erscheinen. Harmonie war wichtig, bei der die Leerräume
und die überreich ausgestalteten Flächen voll intensiver Farben und Muster im
Gleichgewicht stehen.
Farbholzschnitte Ukiyo-e-Holzschnitte waren bei vielen Japanern beliebt, die
sich Gemälde nicht leisten konnten. Die ersten alternativen Bilder wurden mit
Tusche gezeichnet, aber auch die waren relativ teuer. Dann begann 1670 Hishikawa
Moronobu (ca. 1618–1694), der als Vater des Ukiyo-e gilt, mit monochromen Holzschnitten zu experimentieren. Diese Drucke, die sich in Massenauflagen preisgünstig herstellen ließen, wurden schnell populär. Einige dieser Drucke wurden von
Hand koloriert, bis Suzuki Harunobu (ca. 1724–1770) im Jahr 1765 den Farbdruck
entwickelte. Es war eine anspruchsvolle Technik, die große Genauigkeit erforderte.
Aber von nun an entstanden Ukiyo-e-Drucke in lebhaften Farben, die ein Gegengewicht zum strengen Aufbau bildeten. Auch Okomura Masanobu (ca. 1686–1764)
hat die Ukiyo-e-Kunst seiner Zeit wesentlich beeinflusst. Anfangs dienten viele
Drucke wie die von Kitagawa Utamaro (ca. 1753–1806) und Tōshūsai Sharaku (der
1794/95 in Edo arbeitete) als Plakate, mit denen für Theatervorstellungen oder Bor-
Ukiyo-e
delle geworben wurde, oder als eine Art Pinup von Schauspielern, Kurtisanen und Geishas. Schließlich kamen im 19. Jahrhundert
zu diesen Darstellungen der städtischen Kultur Landschaftsbilder hinzu. Künstler wie
Katsushika Hokusai (1760–1849) und Andō
Hiroshige (1797–1858) schufen anmutige,
einfühlsame und kunstvolle Darstellungen
des Wetters und Ansichten der natürlichen
Umgebung unter verschiedenen Aspekten.
Die Edo- und die Meiji-Zeit
Die ruhige Edo-Periode wurde um 1867 von
der weniger geruhsamen Meiji-Zeit abgelöst,
die bis 1912 dauerte und in der mit der Restauration der Tenno an die Macht kam. Mit dem
Wiederaufblühen des Handels mit den westlichen Ländern wandelte sich auch das Ukiyo-e,
das sich damit verbundenen neuen Einflüssen
öffnete.
Der Japonismus Zwischen 1639 und
1854 beschränkte sich der japanische Außenhandel auf China und die Niederlande. Aber trotz dieser Isolation verbreiteten sich
in Japan westliche Ideen und wissenschaftliche Entdeckungen durch die Niederländer, die zugleich Nachrichten aus Japan nach Europa brachten. Nach der Meiji-Restauration von 1868 beeinflussten westliche Errungenschaften wie Fotografie oder
Linearperspektive die japanischen Künstler. Das Ukiyo-e wirkte allmählich veraltet,
seine Drucke wurden praktisch wertlos und schließlich sogar als Packpapier für
exportierte Handelswaren verwendet. In Europa war die japanische Kunst eine Entdeckung. Viele Künstler waren überwältigt von deren Ideen, insbesondere von den
Themen aus dem Alltag, von der „Verschachtelung der Ebenen“ und Perspektiven,
von den kräftigen Farbflächen und den starken Konturen. So etwas hatte man im
Westen nie zuvor gesehen. Das Ukiyo-e hat deshalb einige der größten Impressionisten inspiriert, ebenso die Nachimpressionisten und die Künstler und Designer
des Jugendstils. In Frankreich wurde die japanische Modewelle, die dort in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte, als Le Japonisme bezeichnet.
es–geht
JapanischeWorum
Holzschnitte
Bilder einer Welt
im Wandel
67
68
Der Beginn der Moderne
17 Präraffaeliten
(1848--ca. 1853)
Eine Gruppe aus sieben jungen Künstlern gründete 1848 in England eine
„Bruderschaft“, deren Ziel es war, zum Malstil der frühen Renaissance
vor Raffael und Michelangelo zurückzukehren. Mit Blick auf die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts, des Quattrocento, schufen sie
raffinierte, detailreiche Gemälde in leuchtenden Farben, oft auch mit vielfältiger Symbolik.
Die Gruppe nannte sich selbst „Prä-Raffaelitische Bruderschaft (PRB)“, weil sie
glaubte, dass die Kunst seit Raffael vom rechten Weg abgekommen sei. Die Ideen
der Präraffaeliten waren eine Reaktion auf die tradierten akademischen Konventionen in der Kunst, die sie für geistlos, überheblich und aufgesetzt hielten. Die offiziellen Kunstakademien lehrten damals, dass die Hochrenaissance und der Manierismus die höchsten Stilentwicklungen seien und von allen Künstlern möglichst perfekt nachgeahmt werden sollten. Die Präraffaeliten hielten den sich daraus
ergebenden Akademiestil, der eine Mischung aus Klassizismus und Romantik war,
für formelhaft und gekünstelt. Sie strebten dagegen eine Rückkehr zur Schönheit
und Einfachheit an, die sie in der mittelalterlichen Welt sahen. Und sie wollten –
wie vor ihnen schon die Nazarener – die künstlerischen Ideale dieser Zeit wieder
aufgreifen, besonders die italienische Malerei des Mittelalters, die sie für ehrlich
und gradlinig hielten. Tatsächlich kannten sie diese nicht besonders gut, aber sie
betrachteten die Kunst Raffaels als übertrieben und zu pathetisch und hielten die
Malerei vor ihm für weniger verwirrend und für bescheidener. So rebellierten sie
gegen die akademischen Traditionen und vereinbarten, nur „naturgetreu“ zu malen.
Das hieß, dass sie Idealisierungen in der Malerei zurückwiesen und sich auf realistische Darstellungen mit genauen Details, raffinierter Komposition und leuchtenden
Farben verlegten.
Zeitleiste
1848
1850
1851
Die Künstlervereinigung der
Präraffaeliten konstituiert sich
Millaisʻ Bild Christus im Haus seiner Eltern
löst heftige Kritik an den Präraffaeliten
aus; Gründung der Zeitschrift The Germ
Die erste Weltausstellung im Kristallpalast im
Hyde-Park von London; Ruskin veröffentlicht
seine Verteidigungsschrift der Präraffaeliten
Präraffaeliten
Das Licht der Welt
Dies ist eines der vielen allegorischen Werke der Präraffaeliten.
Jesus klopft an eine seit Langem
verschlossene Tür, vor der bereits
dornige Ranken gewachsen sind.
Auf dem Rahmen stehen Worte
aus der Offenbarung des Johannes (3,20): „Ich stehe vor der Tür
und klopfe an. Wer meine Stimme
hört und die Tür öffnet, bei dem
werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und
er mit mir.“ Dass die Tür außen
keinen Griff hat, verdeutlicht, wie
es Hunt selbst erläutert, das
„starre, verschlossene Herz“. Die
sieben Seiten von Jesu Lampe
verweisen auf die sieben Kirchen
in der Offenbarung. Das Bild ist
wie jedes Werk der Präraffaeliten
mit „PRB“ signiert und entstand in
einem verdunkelten, nur von Kerzenlicht erhellten Raum.
William Holman Hunt: Das Licht
der Welt, 1851–1853, Öl auf Leinwand; Keble College, Oxford.
1855
1857
1860
Ford Madox Brown: Der letzte Blick
auf England
Bei der Weltausstellung der Kunst, der
Manchester Art Treasures Exhibition, werden
auch Werke der Präraffeliten gezeigt
Holman Hunt: Die Auffindung
Jesu im Tempel; Rossetti:
Beata Beatrix
69
70
Der Beginn der Moderne
Die Gründer Die sieben Gründer der Künstlervereinigung waren: der Maler
und Dichter Dante Gabriel Rossetti (1828–1882), die Maler John Everett Millais
(1829–1896) und William Holman Hunt (1827–1910), der Bildhauer und Dichter
Thomas Woolner (1825–1892), der Maler James Collinson (1825–1881), der
Schriftsteller und Kunstkritiker William Michael Rossetti (1829–1919) und der
Kunstkritiker George Stephens (1828–1907). Im Gründungsjahr 1848 waren sie alle
noch jung, zwischen 19 und 23 Jahre alt, und entschiedene Kritiker der Industrialisierung und der Engstirnigkeit der Akademieleitungen. Ihre Werke erregten damals
heftige Kontroversen, auch wenn man sich das heute nur schwer vorstellen kann.
Die Präraffaeliten waren die erste wirklich avantgardistische Bewegung, die den
weltweiten Vorgaben in der akademischen
Kunst den Gehorsam verweigerte. Es war
Dante Gabriel Rossettis Idee, die Gruppe
Die weiße feuchte Grundierung
als Bruderschaft zu bezeichnen und sie vor
Um die Farben zum Leuchten zu bringen und
der Royal Academy geheim zu halten.
Licht darzustellen, benutzten die Präraffaeliten,
Wofür das Signet „PRB“ in einer Ecke
angeregt durch die Freskomalerei, eine Nassihrer Bilder stand, wusste anfangs niemand
technik. Wie der Name sagt, werden Fresken
außerhalb der Gruppe; man wusste nur,
auf feuchten weißen Putz gemalt. Die Prärafdass sich dahinter ein Geheimbund verfaeliten grundierten deshalb ihre Leinwand mit
birgt, was Misstrauen weckte.
zwei Schichten aus weißer Farbe und malten
dann auf die noch feuchte Grundierung. Die
Farben kamen daher brillant heraus und wirkten lebendiger als in der übrigen Malerei des
19. Jahrhunderts.
Positive und negative Tradition
Die Präraffaeliten entwickelten bei allem,
was sie darstellten, eine – fast fotografische
– Genauigkeit im Detail, sie übersahen
nichts. Oft finden sich in ihren Bildern
Symbole und Allegorien, häufig zeigen
sich darin auch Einflüsse von Tennyson,
Browning, Keats und Shakespeare sowie mittelalterlichen Sujets. Es war den Präraffaeliten wichtig, sich nicht nach Sir Joshua Reynolds zu richten, dem Begründer
der Royal Academy of Arts, dem damals die meisten jungen Künstler nacheiferten.
Sie hielten dessen Malstil für unseriöse Pfuscherei (slapdash) und gaben ihm den
Spitznamen „Sir Sloshua“. Dagegen bewunderten sie die Theorien des Kunstkritikers John Ruskin (1819–1900), der ihnen bei einem persönlichen Treffen seine
hohe Wertschätzung ausgesprochen hatte und Leserbriefe an die Times schrieb, in
denen er ihre Werke verteidigte. Er veröffentlichte 1851 eine Streitschrift unter dem
Titel Pre-Raphaelitism, in der er die Ansätze und Ansichten der Künstlergruppe
erklärte und lobte.
Präraffaeliten
Abkehr von der Tradition Die Präraffaeliten nahmen ihre Grundsätze sehr
ernst und hielten sie in einer schriftlichen Vereinbarung fest. Darin versichern sie,
dass sie in ihrer Malerei ernste und wichtige Themen lebensnah und so realistisch
wie möglich in den brillantesten Farben darstellen wollen, die ihnen zur Verfügung
stehen. Auch nahmen sie sich vor, konventionelle Malweisen zu meiden, die man an
den Akademien beigebracht bekam und die sich über Jahrzehnte nicht verändert
hatten. Sie brachten eine eigene Zeitschrift heraus, The Germ (Keim), um ihre Ideen
zu verbreiten; dies rief allerdings noch mehr Kritik hervor, insbesondere auch bei Charles Dickens (1812–1870). Schon in den
Die Vorstellungsfünf Jahren, in denen die „Bruderschaft“ bestand, wurden die
kraft,
mein Junge, die
Unterschiede zwischen den Werken von Rossetti, Hunt und Milgrundlegende Tätigkeit
lais deutlich. Hunt und Millais entwickelten sich in Richtung
des Gehirns, ist das, was
Naturalismus, wobei Hunt zunehmend moralischer und Millais
zunehmend gefälliger malte und schließlich sogar in die königli- in der Kunst alles
che Akademie aufgenommen wurde. Rossettis Werk dagegen
ausmacht.
wurde zunehmend fantastisch, mystisch und dichterisch. Nach
Dante Gabriel Rossetti
einer harschen Kritik an einem Gemälde von Millais hörte die
Gruppe 1850 auf, ihre Werke mit „PRB“ zu signieren, Collinson
trat sogar aus. Bald löste sich die Gruppe ganz auf, aber ihr Einfluss blieb über viele
Jahre bestehen; einige Künstler arbeiteten mit ähnlichen Grundsätzen, Stilen und
Techniken weiter. Zu ihnen gehörten neben anderen Edward Burne-Jones (1833–
1898), Walter Howard Deverell (1827–1854), Ford Madox Brown (1821–1893),
Arthur Hughes (1832–1915), Simeon Solomon (1840–1905), Henry Wallis (1830–
1916) und Charles Allston Collins (1828 – 1873). Die Arbeiten dieser neuen Künstlergeneration werden oft als zweite Phase der Präraffaeliten charakterisiert.
‚
ʻ
es geht Detail
Romantik, Worum
Farbe und künstlerisches
in Anlehnung an frühere Epochen
71
72
Der Beginn der Moderne
18 Realismus
(ca. 1830--1870)
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es eine wachsende Zahl
von Künstlern, die die konventionellen Vorstellungen und Einstellungen
in der Kunst offen ablehnten. Sie befassten sich mehr mit den sozialen
Verhältnissen als mit Vorstellungen und Gefühlen. Sie wiesen alles
zurück, was sie für eine Erfindung der Akademiekunst, des Klassizismus
oder der Romantik hielten, und konzentrierten sich auf eine genaue und
objektive Darstellung der Alltagswelt.
Die Künstler, welche die seit Jahrzehnten anerkannte Kunsttradition aufgaben,
waren oft überzeugte Revolutionäre. Sie glaubten an die neuen wissenschaftlichen
und technischen Errungenschaften sowie die Menschenrechte, die nach dem Revolutionsjahr 1848 zunehmend eingefordert wurden. Einer der wichtigsten Einwände
gegen die Akademiekunst lautete, dass sie das Leben nicht so wiedergibt, wie es
sich für die meisten Menschen wirklich darstellt. Der Realismus wurde damals in
Frankreich von Künstlern entwickelt, die danach strebten, die Natur und die
gewöhnlichen Menschen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten abzubilden, und mit
ihren Gemälden für die Freiheit der Kunst und der Menschen eintraten.
Die Schule von Barbizon Ein Realismus deutete sich bereits im Werk englischer Künstler wie Turner und Constable an, die darangingen, unmittelbar nach der
Natur zu malen. Sie regten einige französische Künstler an, in einem Stil zu malen,
der für die Schule von Barbizon charakteristisch wurde. Ab 1830 arbeitete eine
Gruppe von Landschaftsmalern im Wald von Fontainebleau bei dem Dorf Barbizon.
Sie malten im Freien, en plain air, was vor den 1860er Jahren nicht selbstverständlich war, und schärften den künstlerischen Blick auf die Landschaft. Die wichtigsten Barbizonmaler waren Charles-François Daubigny (1817–1878), Théodore
Rousseau (1812–1867), Camille Corot (1796–1875), Constant Troyon (1810–1865)
und Narcisse Diaz de la Peña (1807–1876).
Zeitleiste
1824
1839
1848
1849
Ein Bild des englischen Landschaftsmalers
Constable, das im Pariser Salon ausgestellt wird,
löst in Frankreich eine Anglomanie aus – Kunst
und Design im englischen Stil werden dort Mode
Die ersten
Fotografien
Abdankung des letzten französischen
Königs; das erste deutsche Parlament
tagt in der Frankfurter Paulskirche;
Honoré Daumier: Die Republik
Rosa Bonheur: Pflügen
mit Ochsen im Nivernais
Realismus
Die Art, wie die Realisten ihre Themen
Soziale Aufstände
darstellten, indem sie Ideen der Schule von
Barbizon und auch wissenschaftliche TheoNach dem Abzug der deutschen Truppen aus
rien aufgriffen, unterschied sich vom StilrahParis am Ende des Deutsch-Französischen
men der Akademie. Die Realisten versuchten,
Kriegs versuchten dort 1871 Revolutionäre, die
Objekte genau so wiederzugeben, wie sie sie
Macht zu übernehmen und soziale Gleichheit
vor sich sahen. Sie hielten sich nicht mit
durchzusetzen. Sie nannten ihren demokraübermäßig ausgefeilten Techniken wie
tisch gewählten Stadtrat die Pariser Kommune.
unsichtbarem Pinselstrich oder feinsten FarbNach wenigen Monaten eroberten französische
nuancen auf, sondern konzentrierten sich auf
Regierungstruppen Paris zurück. Courbet, der
die wahrheitsgetreue Darstellung und betonzu den vielen Sympathisanten der Kommune
ten dabei auch die Zweidimensionalität der
gehört hatte, wurde mit Haft und EntschädiLeinwand. Als Demokraten thematisierten sie
gungsforderungen hart bestraft – auch an ihm
neben Landschaften vielfältige Alltagsszewurde nach der Wiederherstellung der Ordnen, etwa Menschen bei der Arbeit. Ihre Bilnung ein Exempel statuiert.
der von Bauern und Arbeitern zeigen die harten Lebensbedingungen, Armut und Entbehrung der unteren Schichten, wie es wirklich
war, und schockierten damit die Traditionalisten. Diese Themen sind anders als bei
den historischen, allegorischen oder mythologischen Gemälden, die von der Akademie gefördert wurden, und lösten bei den damaligen Betrachtern meist Empörung
aus. Die Konfrontation mit diesen Realitäten entsprach nicht den Erwartungen an
die Kunst. Statt des Ideals der Schönheit gab es nun harte Realität, der man nicht
eskapistisch ausweichen konnte wie zuvor bei den romantisierenden Darstellungen
der Armen. Zum ersten Mal wurden solche alltäglichen Themen
ohne Beschönigung gezeigt – ein Affront für die Akademien, an
Ich habe noch nie
denen diese Werke als hässlich und provokant galten.
‚
Fotografie Mit der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839
einen Engel gesehen.
Zeig mir einen, und ich
werde ihn malen .
Gustave Courbet
begann eine Debatte um das Wesen und den Sinn der Malerei.
Statt die Malerei überflüssig zu machen, wie viele damals
befürchteten, regte die Fotografie die Künstler zu vielen neuen
Ideen an. Der Realismus war einer der Stile, die aufkamen, als
die Künstler erkannten, dass Alltagsdinge Schönheit und Sinn in sich selbst haben
können – und dass die Fotografie für sie ein Hilfsmittel sein kann. Mit ihrem
ʻ
1855
1857
1861
1870/71
Courbet eröffnet seine eigene Ausstellung im
Pavillon du Réalisme – mit sieben Bildern von
ihm selbst – und verbreitet sein Manifest des
Realismus; Courbet: Das Atelier des Künstlers
Jean-François Millet:
Die Ährenleserinnen;
Jules Breton: Segnung
des Weizens im Artois
Ausbruch des
Amerikanischen
Bürgerkriegs
Deutsch-Französischer
Krieg und in der Folge die
kurze Zeit der Pariser
Kommune
73
74
Der Beginn der Moderne
Das Angelusläuten
Ein Mann und ein Frau beten den „Angelus“ –
vom Engel des Herrn, der Maria die Geburt Jesu
verkündigt –, nachdem sie das Läuten der Kirchenglocken gehört und ihre Arbeit bei der Kartoffelernte unterbrochen haben. Ihre Arbeitsgeräte – die Gabel, den Korb, die Säcke und die
Handkarre – haben sie zur Seite gestellt. Millet
wurde durch eine Kindheitserinnerung zu diesem
Bild angeregt und wollte damit bäuerliches
Leben und Arbeiten darstellen. Er lässt sich als
Realist einordnen und gehörte zur Schule von
Barbizon. Die Realisten hatten keinen verbindlichen Stil – ihnen ging es allein darum, reale
Dinge ohne künstlerische Überhöhung wiederzugeben. Millet malte daher in Stil und Technik
ganz anders als Courbet.
Jean-François Millet: Das Angelusläuten, 1857–1859, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris.
Realismus
‚
Ich glaube auch, dass die Malerei eine essentiell konkrete Kunst
ist und nichts anderes sein sollte als die Darstellung der realen und
existierenden Dinge … ein abstraktes, nicht sichtbares, nicht
existierendes Objekt gehört nicht in den Bereich der Malerei.
Gustave Courbet
ʻ
Ansatz, nur das zu malen, was sie vor sich sehen, stellten sich die Realisten nicht
nur gegen die Regeln und die künstlerische Abgehobenheit der Akademie, sondern
entwickelten ein neues Wesensmerkmal für eine Kunst, die die gesamte Gesellschaft und nicht nur eine kleine Elite widerspiegelt.
Le Réalisme Während der Weltausstellung von 1855, einem der größten
Ereignisse in Paris unter der Herrschaft Kaiser Napoleons III., stellte Gustave Courbet (1819–1877) seine zurückgewiesenen Bilder in einem auf eigene Kosten errichteten „Pavillon des Realismus“ aus. Viele davon waren großformatige Ölgemälde
auf Leinwand im Stil der Akademiekunst, aber statt deren vornehmer Themen zeigten sie wenig Bezauberndes. Nach den akademischen Regeln durften im Großformat nur historische, biblische, mythologische oder allegorische Themen dargestellt
werden. Courbet sprengte diesen Rahmen nicht nur inhaltlich. Er malte freizügig,
kraftvoll und intensiv – eine Herausforderung bis hin zur Spachteltechnik, mit der
er die Farben dick – impasto – auftrug und die bei den Offiziellen als stillos galt.
Zusammen mit dem Romancier und Kritiker Jules Champfleury (1820–1889)
schrieb er ein Manifest mit dem Titel Le Réalisme, das er an alle Besucher seines
Pavillons verteilte. Weitere führende Realisten Frankreichs waren der schon
genannte Millet (1814–1875), Rosa Bonheur (1822–1899), Honoré Daumier (1808–
1879), Jules Breton (1827–1906) und Édouard Manet (1832–1883). Für Amerika
sind die Künstler Thomas Eakins (1844–1916) und Winslow Homer (1836–1910)
hervorzuheben. Die Präraffaeliten können ebenfalls als Realisten eingeordnet werden. Einer der bedeutendsten deutschen Vertreter ist Adolph Menzel (1815–1905).
Der Realismus war keine einheitliche Stilrichtung, aber für viele ein Anstoß zu
eigenen Ideen.
Worum
es geht
Realistische
Darstellung
der Alltagswelt
75
76
Der Beginn der Moderne
19 Impressionismus
(ca. 1860--1890)
Die Bezeichnung „Impressionismus“ stammt aus einer verletzenden
Kritik einer Gruppenausstellung von 1874 in Paris. Die bahnbrechenden
Ideen dieser Künstler waren aus der Sicht des Kritikers sinnlos, widerspenstig und empörend. Sie hielten den flüchtigen Eindruck fest, ohne
viele Details, aber mit deutlich hervortretender Pinselführung und oft
ungemischten Farben. Für zeitgenössische Betrachter wirkten diese
Bilder unfertig und daher lächerlich.
Die Impressionisten taten sich in den 1860er Jahren, als die meisten von ihnen an
Pariser Privatschulen wie der „Académie Suisse“ oder Gleyres Atelier Kunst studierten, zusammen. Es war eine bunt gemischte Gruppe: Claude Monet (1840–
1926) gehörte ebenso dazu wie Camille Pissarro (1830–1903), Paul Cézanne
(1839–1906), Alfred Sisley (1839–1899), Frédéric Bazille (1841–1870), Berthe
Morisot (1841–1895) und Auguste Renoir (1840–1919). Um 1862 begannen sie,
sich im Café Guerbois in der Grande Rue
des Batignolles in Paris mit Édouard Manet
und einigen anderen Künstlern und SchriftJapanische Holzschnitte
stellern zu treffen, um über die Zukunft der
Nach 250 Jahren Isolation hatte Japan 1854
Kunst zu diskutieren. Die meisten bewunden Handel mit der westlichen Welt wieder aufderten Manet, der bereits in Künstlerkreigenommen. Hier war man fasziniert von all den
sen für Aufregung sorgte. Sie nahmen vielDingen aus Japan, insbesondere in Frankreich
fältige Anregungen von der Schule von
und da besonders in Künstlerkreisen. Die meisBarbizon, von Turner, Constable, dem Reaten Impressionisten waren von den erstaunlich
lismus sowie von neuen wissenschaftlichen
klaren und hellen Farben überwältigt und samTheorien und Techniken auf. Die Fotografie beschäftigte sie im Hinblick auf den
melten Ukiyo-e-Drucke. Deshalb zeigen sich in
Umgang mit Licht und als Arbeitshilfe stärihren Werken viele japanische Einflüsse.
ker als alle anderen Kunstrichtungen davor.
Zeitleiste
1863
1870
1872/73
Der „Salon des Refusés“ zeigt die
für den Pariser Salon abgelehnten
Bilder; Édouard Manet: Das
Frühstück im Grünen
Die Beliebtheit der Freiluftmalerei steigt
mit der Einführung der Blechtuben und
der tragbaren Staffelei
Claude Monet: Impression –
Sonnenaufgang; Berthe Morisot:
Die Wiege
Impressionismus
Claude Monet: Mohnfeld bei Argenteuil, 1873, Öl auf Leinwand; Musée dʼOrsay, Paris.
Auch neue Farbenlehren, die Industrialisierung und japanische Druckgrafik eröffneten weitere Dimensionen für sie.
Die Académie des Beaux-Arts beherrschte die Kunst in Frankreich auch nach
den Modernisierungen durch Kaiser Napoleon III., indem sie Regeln setzte sowie
den Salon und Kunstwettbewerbe organisierte. Nach der Schule von Barbizon und
den Realisten rebellierte nun eine weitere Gruppe. 1863 reichten Manet und Courbet Gemälde für den Salon ein, die jedoch abgelehnt wurden. Da auch ungewöhn-
1874
1877
1878
Die erste unabhängige
Ausstellung; Auguste Renoir:
Die Loge
Camille Pissaro: Die roten Dächer; Edgar Degas: Die
Probe; Paul Cézanne: Stillleben mit offener Schublade;
Alfred Sisley: Die Brücke bei Sèvres; Gustave
Caillebotte: Straße in Paris an einem regnerischen Tag
Mary Cassatt: Selbstportrait
77
78
Der Beginn der Moderne
‚
Nach der Natur zu malen, heißt nicht, das Vorgegebene zu
kopieren, sondern die eigenen Sinneseindrücke zu realisieren.
Paul Cézanne
ʻ
lich viele andere Werke von der Jury zurückgewiesen wurden, ordnete Napoleon an,
dass die Öffentlichkeit sich selbst ein Bild machen soll, und so wurde der „Salon
des Refusés“ (der Salon der Zurückgewiesenen) eingerichtet. Viele kamen, um sich
lustig zu machen, andere wurden aber auch zur Einsicht gebracht, dass Kunst
anders sein könnte als die offiziell zugelassene.
Die anonyme Gesellschaft Die Künstler, die sich im Café Guerbois trafen,
hatten gemeinsame Vorstellungen vom Malen, aber sehr unterschiedliche Stile. Sie
alle handelten gegen die Vorgaben der Académie und sie alle malten im Freien. Sie
alle waren von Manet inspiriert und fühlten sich durch den „Salon des Refusés“
ermutigt, eine eigene, unabhängige Gesellschaft zu bilden. 1873 gründeten Monet,
Renoir, Pissarro und Sisley die „Société anonyme coopérative des artistes peintres,
sculpteurs, graveurs …“, der auch Cézanne, Morisot und Degas beitraten. Die erste
gemeinsame Ausstellung fand 1874 statt. Der Kritiker Louis Leroy schrieb eine sarkastische Kritik über diese Schau, der er nach Monets Bild Impression – Sonnenaufgang den Titel L’Exposition des Impressionnistes gab. Die Ausstellung beschrieb er
als mangelhaft und blamabel. Zwischen 1874 und 1886 gab es acht solche Ausstellungen, wobei nicht immer alle Mitglieder der Gesellschaft ihre Bilder zeigten.
Nach und nach ließen die Anfeindungen nach, und schließlich wurden die Werke
der Impressionisten akzeptiert.
Farbentheorien
Trotz der Unterschiede im Stil und in der Wahl der Themen
setzten die Impressionisten gemeinsam eine Modernisierung der Kunst in Gang. Sie
begannen, Konventionen aufzubrechen, indem sie Courbet und Delacroix darin
folgten, mit hellen, oft ungemischten Farben und sichtbaren Pinselstrichen zu
malen, und viele ihrer Ölgemälde im Freien zu schaffen, wo sie flüchtige Eindrücke
und das wechselnde Licht auf die Leinwand bannten. Neben Landschaften, Stillleben und Portraits malten sie Szenen des modernen Alltags, von denen sie den
Gesamteindruck einfingen, ohne ins Detail zu gehen. Sie beschäftigten sich mit den
dramatischen Stimmungen und dem wechselnden Lichtspiel im Freien und versuchten, deren Wirkung auf Mensch und Umwelt in unterschiedlichen Farben auf der
Leinwand wiederzugeben. Viele dunklere Töne wurden meist nicht durch Mischen,
sondern durch Überlagerung reiner Farben gewonnen. Diese Technik entwickelte
sich aus den Farbentheorien der Zeit. So wurden Schatten nicht grau, sondern farbig
Impressionismus
gemalt und durch Abstufungen auf der Bildfläche „vibrierende Farben“ erzeugt, die auch
das Flimmern der Luft wiedergaben. Kein
Objekt wurde nur durch eine Farbe dargestellt, sondern durch viele Pinselstriche in
verschiedenen Farben, die sich erst im Auge
des Betrachters mischen. Die Komplementärfarben wurden so nebeneinander gesetzt, dass
sie wechselseitig heller erscheinen. Entsprechend wurde mit den Lokalfarben und auch
mit den Farbreflexen verfahren.
Die meisten Impressionisten widmeten
sich dem Malen nach der Natur, ungeachtet
der Unterschiede in Stil und Themenwahl.
Doch auch Edgar Degas (1834–1917) beispielsweise gilt als Impressionist, obwohl er
kaum Landschaftsbilder schuf. Aber er stellte
mit der Gruppe aus und malte direkt vor Ort
das Leben – inspiriert von der Fotografie und
der japanischen Druckgrafik. Alle Impressionisten blieben ihren innovativen Ideen trotz
aller Anfeindungen treu und setzten sich in
den 1880er Jahren als führende Vertreter der
Avantgarde in Europa durch.
Ernsthafte Kunst
Monet und die anderen Impressionisten lehnten die akademische Schulung, die sie durchlaufen hatten, ab, weil sie die Methode, nur das
zu malen, was sich dem Auge darbietet, als
aufrichtiger ansahen als die akademische
Schönfärberei. Sie alle verfolgten das gemeinsame Ziel, Sinneswahrnehmungen einzufangen – das, was sie beim Malen vor sich sahen.
Diese Wahrnehmungen werden durch das
wechselnde Licht erzeugt, das in unser Auge
dringt, wenn wir eine Szene betrachten. Im
Gegensatz zur Akademie unternahmen die
Impressionisten keinen Versuch, ihre Maltechnik zu verbergen. Sie malten gewöhnliche zeitgenössische Alltagsumgebungen und Menschen und vermieden narrative oder symbolische Elemente, um die Betrachter vom „Lesen“
im Bild abzuhalten. Die Gemälde sollten einen
bestimmten Augenblick festhalten und dessen
Wahrnehmungseindruck für den Betrachter
wiedergeben.
Worum
Den Augenblick
und es
das geht
Licht mit reinen
Farben festhalten
79
80
Der Beginn der Moderne
20 Symbolismus und
Ästhetizismus
(ca. 1860--1910)
Zur gleichen Zeit, als die Realisten und Impressionisten eigene Vorstellungen und Stile entwickelten, rückten auch andere Künstler von den
Konventionen der Akademiekunst ab. Zu ihnen gehören die Symbolisten
und die Ästhetizisten. Der Symbolismus begann in Frankreich mit dem
Versuch, die verborgenen Wahrheiten und Geheimnisse hinter dem
äußeren Erscheinungsbild darzustellen. In Großbritannien konzentrierten
sich die Ästhetizisten auf Schönheit und betonten dabei die Form mehr
als den Inhalt.
Symbolismus und Ästhetizismus waren Gegenbewegungen zum Realismus und sich
insofern ähnlich. Der Ästhetizismus war besessen von der Schönheit, die im Realismus abgelehnt wurde; und die Symbolisten drückten das Unfassbare aus, während
die Realisten sich ganz der sichtbaren Wirklichkeit verschrieben. Symbolisten wie
Ästhetizisten waren Ästheten, die die üblichen Ansätze in Kunst und Literatur
ablehnten und verneinten, dass Kunst der moralischen Belehrung des Betrachters
dienen soll.
Lʼart pour lʼart Der Symbolismus wurde von dem französischen Schriftsteller
und Kritiker Théophile Gaultier (1811–1872) eingeführt, einem überzeugten
Romantiker, der die Vorstellung vom Ausdruck bzw. von der Wahrnehmung der
„reinen Empfindung“ vertrat. Er ermutigte Autoren und bildende Künstler, ihre
Ideen und Intuitionen umzusetzen, was die Vorstellung von einer Kunst um ihrer
selbst willen initiierte. Zum ersten Mal wurde Kunst nicht für geistliche, politische
oder andere Zwecke geschaffen, auch nicht als Schmuck oder Dekor wie im
Rokoko oder zur Bewunderung, sondern als Kunst um der Kunst willen, als „l’art
Zeitleiste
1835
1864
1876
1881
Théophile Gaultier stellt die
Doktrin lʼart pour lʼart (Kunst
um ihrer selbst willen) auf
J. M. Whistler: Symphonie
in Weiß, Nr. 2 Das weiße
Mädchen
Gustave Moreau:
Salome
Albert Moore: Blossoms
(Blüten); Puvis de Chavannes:
Der arme Fischer
Symbolismus und Ästhetizismus
Vision nach der Predigt
Gewöhnlich gilt dieses Bild als das erste wirklich
symbolistische Gemälde. Sein Thema sind das
Gewissen und innere Konflikte. Einige bretonische Frauen sind mit der Vision vom nächtlichen
Kampf Jakobs mit dem Engel gezeigt, von dem
sie offenbar in der Predigt gehört haben. Bei
Sonnenaufgang gab der Engel den Kampf auf
und segnete Jakob. Die Frauen sind vor einem
roten Hintergrund zu sehen, der vom Ast eines
Baumes diagonal in zwei Bereiche geteilt wird: in
einen weltlichen (säkularen) und einen visionären (geistlichen). Die Kuh steht für das einfache
Landleben in der Bretagne, die frommen Frauen
drücken Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit aus. Gauguin stellte damit zugleich der
erwerbsorientierten Gesellschaft die Besinnung
gegenüber.
Paul Gauguin: Vision nach der Predigt (Jakobs Kampf mit dem Engel), 1888, Öl auf Leinwand;
National Gallery of Scotland, Edinburgh.
1885
1886
1895
Whistler erklärt bei einem seiner
berühmten Zehnuhrvorlesungen den
Selbstzweck der Kunst: „Art exists
only for itself.“
Fernand Khnopff: In Fosset,
ein Abend
Frederic Leighton: Flammende Juno; Carlos
Schwabe: La Vierge aux Colombes (Jungfrau
Maria mit Tauben); am 3. April beginnt der
Verleumdungsprozess Oscar Wildes
81
82
Der Beginn der Moderne
pour l’art“. Diese Kunst sollte sich von sozialen, politischen oder moralischen
Inhalten fernhalten und ausschließlich auf das Schaffen von Schönem konzentrieren. Die Ästheten des Symbolismus und Ästhetizismus spielten mit der Idee, Kunst
und Alltag zu trennen und Kunst nicht als Erweiterung des Alltags zu sehen.
Ästhetizismus Im Rahmen der Gaultier’schen Theorien bewunderten die
Ästhetizisten durchaus die Romantiker, wandten sich jedoch gegen die Darstellung
moralischer oder sozialer Themen und betonten vielmehr den künstlerischen Wert.
Sie waren angewidert von den maschinell gefertigten Produkten der Industriellen
Revolution und von den übertrieben dramatischen Bildern der Viktorianischen Zeit
mit ihren starren und oft engstirnigen Moralvorstellungen. Hingegen waren sie
offen für neue Moden und interessierten sich für die äußere Erscheinung, weil sie
Schönheit als zwingenden Bestandteil des Lebens ansahen. Diese Kunstauffassung
war zum Teil eine Reaktion auf die Industrialisierung und bewirkte eine radikale
Veränderung in der Beziehung zwischen Künstlern und Gesellschaft.
Der Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900) wurde ein Wortführer des Ästhetizismus, dessen Ideen er an der Universität
Behalte nichts in Oxford begeistert aufgenommen hatte und zeitlebens mit InteDeinem Haus, von dem resse verfolgte. So achtete er darauf, schöne Dinge um sich zu
Du nicht weißt, dass es haben. Seine respektlosen Witze, die vielen damals oberflächlich
nützlich ist, oder nicht und gedankenlos schienen, kultivierte er bewusst als Ästhet.
glaubst, dass es schön Kurz nach seinem Prozess im Jahre 1895 endete nach allgemeiner Datierung der Ästhetizismus.
ist.
Zu den Künstlern des Ästhetizismus gehören James Abbott
William Morris
McNeill Whistler (1834–1903), Albert Moore (1841–1893), Frederic Leighton (1830–1896), Edward Burne-Jones (1833–1898)
und William Morris (1834–1896). Sie strebten nach einem vollkommen schönen
Umfeld, was sich letztlich in ihren Werken wie eine soziale und sogar politische
Agenda niederschlug, die das Leben der Menschen verändern wollte. Die Präraffaeliten mit ihrer Idealisierung des mittelalterlichen Lebens waren Vorläufer dieser
Ästhetizisten.
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ʻ
Das Manifest der Symbolisten Die Symbolisten waren keiner formalen
oder technischen Sichtweise verhaftet, sondern durch ein Manifest geprägt, das der
Dichter Jean Moréas (1856–1910) im Figaro unter dem Titel Le Symbolisme veröffentlichte. Darin wies er viele Prinzipien des Naturalismus und Realismus zurück
und nannte drei Schriftsteller als führende Vertreter des Symbolismus: Charles Baudelaire (1821–1867), Stéphane Mallarmé (1842–1898) und Paul Valéry (1871–
1945). Baudelaire vertrat die Ansicht, dass Gedanken und Gefühle nicht nur durch
die Bedeutung der Worte ausgelöst werden, sondern auch durch deren Klang und
Symbolismus und Ästhetizismus
Rhythmus. Das hat die Symbolisten allgemein beeinflusst. Paul Gauguin (1848–1903)
experimentierte in den 1880er Jahren mit
eigenen Ideen, die er in Farbe, Muster und
Rhythmus umsetzte. Er glaubte, dass die
europäische Kunst zu rational geworden sei
und zu wenig symbolisch denke, und drückte
grundlegende Bedeutungen des Gesehenen in
seinen Bildern aus. Weitere wichtige Symbolisten, die aus Mythen und Träumen den Stoff
für ihre Bilder holten, waren Gustave Moreau
(1826–1898), Pierre Puvis de Chavannes
(1824–1898) und Odilon Redon (1840–1916)
oder in Deutschland Max Klinger (1857–
1920).
Symbolistische Zeitschriften
Mit der Verbreitung des Symbolismus in
Europa entstanden auch verschiedene, regelmäßig erscheinende Journale, in denen dessen
Ideen publiziert wurden (beispielsweise La
Wallonie). Meist wurde darin der Ablehnung
des Naturalismus, Akademismus, Realismus
oder Impressionismus sowie der Industrialisierung das Wort geredet und die Begeisterung
für die Darstellung geheimnisvoller und aufrüttelnder Ideen ausgedrückt. Diese Publikationen, in denen aus Überzeugung und mit Leidenschaft geschrieben wurde, gewannen viele
weitere Künstler für die Ideen des Symbolismus.
Widersprüche Einige Künstler, die
gemeinhin als Realisten bezeichnet werden,
lassen sich auch als Symbolisten beschreiben
– allen Gegensätzen zwischen beiden Richtungen zum Trotz. Millet beispielsweise
bezog in seine Bilder von Bauern bei der Arbeit auch Symbole ein. Auch Courbet
scheint in seinen Gemälden von gewöhnlichen Menschen zusätzliche Bedeutungsebenen aufzuweisen. Die Symbolisten meinten, dass Kunst subjektiv und geheimnisvoll sein sollte und in der Sache von Gefühlen, Träumen und innerer Empfindung ausgehen müsse. So schufen sie eigene, oft vieldeutige Symbole, die nicht den
religiösen Traditionen oder anderen den Betrachtern vertrauten Sinnbildern entsprachen.
Der Symbolismus, der in den kleinen Zirkeln aus avantgardistischen Malern,
Bildhauern, Schriftstellern, Architekten und Designern begann, wurde schon bald
zu einem breiten Trend, der sich von Frankreich bis nach Russland, in Großbritannien, Italien, Spanien und Skandinavien ausbreitete. Eine Reihe von Künstlern in
ganz Europa nahm den Symbolismus auf – zwar mit unterschiedlichen Techniken
und Sichtweisen, aber mit einhelliger Begrüßung seiner Gegenposition zu den herrschenden Kunstrichtungen der Zeit. Sie wollten künstlerisch etwas Neues ausdrücken.
es geht
SchönheitWorum
und Geheimnisse
in der Kunst
83
84
Der Beginn der Moderne
21 Postimpressionismus
(ca. 1880--1910)
In den 1880er und 1890er Jahren beschlossen einige wegweisende
Künstler, die bis dahin im Stil der Impressionisten gearbeitet hatten, über
diesen Stil hinauszugehen. Denn er schien ihnen zu vereinfachend und
Elemente wie die Struktur und Stabilität von Objekten oder den emotionalen Ausdruck durch Farben nicht genügend zu berücksichtigen. Sie
entwickelten verschiedene Ansätze und Lösungen und wurden später
insgesamt als Postimpressionisten bezeichnet.
Die Bezeichnung „Postimpressionismus“ kam erst nach 1910 auf, nach dem Tod
der vier wichtigsten mit diesem Etikett beschriebenen Künstler. Es ist ein Sammelbegriff, der die Individualität und Originalität nicht klar genug erfasst, sich aber eingebürgert hat für einige bahnbrechende Künstler, die durch ihre bunten und erfindungsreichen Bilder kurz nach dem Impressionismus weltberühmt wurden.
Vielfalt der Stile In London organisierte 1910 der britische Künstler und
Kunstkritiker Roger Fry (1866–1934) eine Ausstellung zum Werk von Manet,
Cézanne, Gauguin, Vincent van Gogh (1853–1890), Georges Seurat (1859–1891)
und einigen anderen. Es war der Versuch, den Briten das Werk der Impressionisten
nahezubringen. Fry nannte seine Ausstellung Manet and the Post-Impressionists
und erklärte, es sei aus Gründen der Zweckmäßigkeit notwendig gewesen, diesen
Künstlern einen Namen zu geben. Deshalb habe er als möglichst vagen und wenig
kompromittierenden Namen „Postimpressionismus“ gewählt. Der Name blieb hängen.
Die Kategorisierung sagt nicht viel mehr, als dass die Maler der Londoner Ausstellung zeitlich nach den Impressionisten kommen. Als Sammelbegriff umfasst sie
Zeitleiste
1872
1886
1888
Cézanne zieht nach Pontoise, in
die Nähe von Pissarro, um dessen
Maltechnik zu lernen
Van Gogh kommt aus Antwerpen
nach Paris und trifft dort viele
Impressionisten und
Postimpressionisten
Paul Sérusier: Der Talisman;
Émile Bernard: Die
Buchweizenernte
Postimpressionismus
Sternennacht
Mit einigen Stilelementen, die er von den Impressionisten übernahm, malte van Gogh diese
beschwingte Nachtszene, wobei er mit noch helleren Farben experimentierte und die Impastotechnik, kurze Pinselstriche und rhythmische
Muster anwendete. Der Himmel ist voller wirbelnder Wolken und leuchtender Sterne sowie mit
zunehmendem Mond dargestellt. Hinter einer
Zypresse schmiegt sich die Stadt Saint-Rémy in
die Hügellandschaft der Provence. Diese einsame Zypresse wird oft in Zusammenhang mit
van Goghs Persönlichkeit gedeutet. Auch wird
der Himmel bisweilen als Symbol Gottes interpretiert oder mit Jakobs Traum in Verbindung
gebracht, in dem sich elf Sterne und der Mond
vor Jakob verneigen.
Vincent van Gogh: Sternennacht, 1889, Öl auf Leinwand; Museum of Modern Art, New York.
1889
1890
1895
Eine kleine Ausstellung der Synthetisten findet
während der Weltausstellung im Pariser Café Volpini
statt, aber niemand kauft die Werke; Paul Gauguin:
Der gelbe Christus; Vincent van Gogh: Sternennacht
Henri de Toulouse-Lautrec:
Im Moulin Rouge; Puvis de
Chavannes: Der arme
Fischer
Paul Cézanne: Stillleben
mit Cupido; Pierre Bonnard
(1867–1947): Der große
Garten
85
86
Der Beginn der Moderne
Synthetisten und Nabis
Im Kontext des Postimpressionismus entwickelten Émile Bernard und Paul Gauguin aus
dem Symbolismus den Synthetismus. Die Synthetisten untersuchten die Empfindungen, die
sie oft mit flächiger Farbgestaltung ausdrückten. Manche setzten ausgearbeitete Details
ein, während andere mit fast kindlicher Einfachheit malten. Die Nabis, deren Name sich vom
hebräischen Wort für Prophet ableitet, waren
einerseits vom Synthetismus inspiriert, andererseits aber auch von der japanischen Kunst
und vom Jugendstil beeinflusst.
einige Entwicklungen, die sich aus dem
Impressionismus ergaben und sehr unterschiedliche Stile und Ansätze in der Kunst
zwischen 1880 und etwa 1910 einschließen. Vertreter dieser weiteren Malstile sind
Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901),
Paul Signac (1863–1935), Émile Bernard
(1868–1941) und Maurice Denis (1870–
1943). Keiner von ihnen lässt sich leicht
kategorisieren; daher gibt es für sie neben
der Sammelbezeichnung „Postimpressionisten“ noch verschiedene andere Etikettierungen, etwa Neoimpressionismus, Pointillismus, Nabis und Schule von Pont-Aven.
Persönlicher Ausdruck Die Impressionisten hielten die flüchtigen Wirkungen
von Farbe und Licht beim unmittelbaren Sehen dessen, was sie vor Augen hatten,
fest. Die Postimpressionisten malten zwar inhaltlich Ähnliches wie die Impressionisten, rückten aber vom naturalistischen Stil ihrer Vorgänger ab und gingen zur Stilisierung über. Die Postimpressionisten begrüßten diesen Wandel großenteils als
eine revolutionäre Wende, weil sie ihnen neue eigene Wege öffnete; den Impressionismus hielten sie für zu starr. Sie verwendeten weiterhin die reinen, lebhaften Farben, entfernten sich aber von den subjektiven Anliegen der Impressionisten und gingen zu kurzen Pinselstrichen und gebrochenen Farben über, um den Eindruck von
Bewegung und Lebendigkeit zu erzeugen. Was immer sie vom Impressionismus
übernahmen, sie verwandelten es alle auf ihre Weise und schufen so überaus persönliche und ausdrucksstarke Werke, die neue Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts beeinflussten.
Individuelles Arbeiten Im Gegensatz zu den Impressionisten, die sich in
Gruppen zusammenschlossen und gemeinsam ausstellten, arbeiteten die Postimpressionisten allein und trafen sich nicht regelmäßig zum Austausch ihrer Ideen.
Cézanne malte überwiegend in Aix-en-Provence in Südfrankreich, Gauguin verbrachte die meiste Zeit in Großbritannien oder auf Tahiti, van Gogh lebte im südfranzösischen Arles und später in Auvers-sur-Oise nördlich von Paris, und Toulouse-Lautrec fand seine Motive vor allem auf dem Montmartre in Paris. Gauguin
und van Gogh schufen Bilder, die ihre persönlichen Ansichten und Visionen ausdrückten.
‚
Postimpressionismus
Die Kompositionen und der Farbauftrag der PostimpressionisIch träume meine
ten wirken oft einfacher und weniger raffiniert als bei den
Malerei, und dann male
Impressionisten, aber hinter dem äußeren Erscheinungsbild gibt ich meinen Traum.
es grundlegende Bedeutungen. Gauguin griff die monochromen
Vincent van Gogh
Farbflächen, die starken Umrisse und den Schmuckcharakter von
mittelalterlichen Glasgemälden und Buchmalereien auf. Van
Gogh verwendete kurvige, farbintensive sowie kurze dicke Pinselstriche, um seine
Vorstellungen und Gefühle darzustellen. Cézanne (der oft wegen seiner Wirkung
auf spätere Künstlergenerationen als Vater der modernen Kunst bezeichnet wird)
studierte an der Académie Suisse in Paris zusammen mit einigen Impressionisten.
Von Camille Pissarro lernte er die Grundlagen des Impressionismus, insbesondere
die Darstellung von Licht und Farbe durch unmittelbare Bobachtung. Cézanne nahm an zwei Ausstellungen der Impressionisten
Ein Kunstwerk, das
teil, entfernte sich dann aber vom Festhalten flüchtiger Augenblinicht
mit den
cke und malte Objekte aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig, wobei er die Vorstellung fester Strukturen durch Farbflächen Empfindungen beginnt,
und kleine Pinselstriche erzeugte. Toulouse-Lautrec malte und
ist kein Kunstwerk.
druckte Bilder von Bohemecafés, Bordellen und Nachtclubs in
Paul Cézanne
Paris. Er zeigte die anrüchigen Orte mit ihren Besuchern und
Bediensteten mit Empathie und aus eigener Anschauung. Seine
fließenden Konturen und die hellen Farben waren etwas völlig Neues und wurden
zeittypisch.
Insgesamt führten die Postimpressionisten die Kunst vom Naturalismus des
Impressionismus weg und gaben ihr eine Richtung, aus der sich im frühen 20. Jahrhundert etwa der Kubismus und der Fauvismus entwickelten.
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Worum
es geht
Individuelle
Antworten
auf den
Impressionismus
87
88
Der Beginn der Moderne
22 Neoimpressionismus
(1886--ca. 1900)
Der Impressionismus hatte großen und nachhaltigen Einfluss, schien
aber vielen Künstlern gegen Ende der 1880er Jahre an seine Grenzen zu
stoßen und revisionsbedürftig zu sein. Der Begriff „Neoimpressionismus“ stammt von dem Schriftsteller und Kritiker Félix Fénéon (1861–
1944), der 1886 bei der letzten Ausstellung der Impressionisten ein Bild
von Georges Seurat (1859–1891) sah und so charakterisierte.
Seurat fing als ganz gewöhnlicher Student bei der führenden Kunsthochschule in
Paris, der École des Beaux-Arts, an. Er studierte die Kunstwerke der Antike und der
Renaissance im Louvre und bewunderte auch die Impressionisten. In seiner Entwicklung zum Künstler wandte er sich zunehmend einem besonderen Element des Impressionismus zu: Er bewunderte dessen
Sie sehen Poesie in leuchtende Farben und versuchte deshalb, die wissenschaftlichen
dem, was ich mache … Farbtheorien noch stärker heranzuziehen als die Impressionisten.
ich wende meine Diese hatten Farbe meist eher intuitiv eingesetzt, wobei sie sich
Methode an, und das ist auf die Wahrnehmung der Objekte vor ihnen stützten und Farben
in allen Schattierungen einsetzten, Schwarz aber vermieden.
alles.
Auch Seurat wollte Farbe und Licht darstellen, aber er bevorGeorges Seurat
zugte eine eher rationale, wissenschaftliche Methode des
Umgangs mit Farbe in seinen Gemälden. Er lehnte die flüchtigen Eindrücke ab, die die Impressionisten festhielten, und entwickelte eine hochgradig formalisierte und stilisierte Farbgebung. Dabei stand er unter dem Einfluss
der Farbentheorien, von denen damals in Büchern und Zeitschriften zu lesen war.
‚
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Zeitleiste
1839
1867
1884
1886
Eugène Chevreul: De la loi du
contraste simultané des couleurs
et de lʼassortiment des objets
colorés
Charles Blanc: Grammaire
des arts du dessin
Der erste „Salon des
Indépendants“ findet
in Paris statt
Die letzte Ausstellung der Impressionisten
zeigt unter anderem Georges Seurats Ein
Sonntagnachmittag auf der Île de la
Grande Jatte
Neoimpressionismus
Farbpunkte Wie bei allen Kunstrichtun-
Farbtheorien
gen mit der Vorsilbe „neo“ bezeichnet der
Name „Neoimpressionismus“, den Fénéon
Im 19. Jahrhundert veröffentlichten verschieals positive Beschreibung für Seurats Werk
dene Wissenschaftler allgemein zugängliche
einführte, eine neue Phase. NeoimpressionisSchriften über Farbentheorien, optische Phänomus beinhaltet eine Maltechnik, bei der die
mene und unsere Farbwahrnehmung. Zu ihnen
Farben nicht auf der Palette oder auf der
gehörten Johann Wolfgang von Goethe (1749–
Leinwand gemischt werden, sondern die rei1832), Charles Blanc (1813–1882), Eugène
nen Farben als Punkte oder Fleckchen nebenChevreul (1786–1889) und Ogden Rood
einander gesetzt werden und zusammen den
(1831–1902). Diese Theorien über das Zusamgesamten Bildeindruck ausmachen. Im Auge
menwirken von Farben, ihre Kontraste und
desjenigen, der das Bild aus größerer EntferHarmonien, haben die Künstler stark beeinnung betrachtet, mischen sich dann die Farflusst und wurden zur Grundlage für die Techniben und werden intensiver. In den frühen
ken des Neoimpressionismus.
1880er Jahren hatte sich Seurat mit den Farbentheorien von Chevreul, Rood und Blanc
beschäftigt und sich entschieden, sie anzuwenden, weil er überzeugt war, durch die Illusion aus brillanten Farben die Aufmerksamkeit des Betrachters zu gewinnen. Das Gesetz des simultanen Farbkontrasts beeindruckte ihn besonders. Danach erscheinen Komplementärfarben, wenn
sie aneinandergrenzen, wechselseitig leuchtender. Seurat bezeichnete seine neue
Technik als „Farbentrennung“ oder „Divisionismus“. Sie wird oft auch „Pointilismus“ genannt, ein Begriff, den Seurat aber ablehnte. Diese Technik der Farbentrennung ermöglicht auch die Darstellung der flimmernden Wirkung von Licht.
Komplementäre Kontraste Komplementärfarben sind Orange und Blau,
Violett und Gelb sowie Rot und Grün. Setzt man solche Gegenfarbenpaare nebeneinander, so wirken sie lebendiger. In einem Brief von 1890 erläutert Seurat, dass
seine Malerei aus Kontrasten zwischen hell und dunkel sowie den genannten Komplementärfarben bestehe. Seine divisionistische Methode basierte auf den Gesetzmäßigkeiten der Farbentheorie. Nach diesen Regeln wurden von ihm die Farben der
einzelnen Pinselstriche auf der Leinwand – gewöhnlich tausende kleiner Punkte –
bestimmt.
Seurats großes Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Île de La Grande Jatte,
entstanden 1864 bis 1866, gilt als erstes Meisterwerk des Divisionismus. Es regte
1887
1890
1892
1894
Charles Angrand:
Die Ernte
Paul Signac: Portrait von Félix Fénéon;
Henri-Edmond Cross: Zypressen in
Cagnes; Camille Pissarro: Paysans dans
le champ(Bauern auf dem Feld)
Théo van Rysselberghe
(1862–1926): Küstenansicht
Lucien Pissarro: April,
Epping
89
90
Der Beginn der Moderne
Les Poseuses
Dies ist das dritte große Gemälde, das Seurat
ausstellte, und sein zweites vollständig divisionistisches oder neoimpressionistisches Werk.
Wie bei den meisten seiner Arbeiten lässt die
große Leinwand die Punkte sehr klein erscheinen und hebt den mühsamen Prozess des
Malens hervor. Seurat tupfte Punkte in allen Farben auf die Leinwand, um die Farbtöne des fertigen Gemäldes zu erreichen. Das Bild zeigt ein
und dasselbe Modell von drei Seiten: beim Ent-
kleiden, Posieren und Ankleiden, in Seurats Atelier vor dem an der Wand lehnenden Gemälde
Sonntagnachmittag auf der Île de La Grande
Jatte. Vermutlich wollte Seurat damit zeigen,
dass traditionelle Inhalte genauso zu seiner
Technik passen wie die von den Impressionisten
bevorzugten Themen. Auf dem Boden liegen
noch Gegenstände vom Ausflug auf Grande
Jatte – Hüte, Schuhe, Sonnenschirm und Blumenkorb.
Georges Seurat: Les Poseuses, 1888, Öl auf Leinwand; Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris.
Neoimpressionismus
Fénéon zu seiner Stilbezeichnung „Neoimpressionismus“ an, als es 1886 bei der
letzten Ausstellung der Impressionisten in Paris erstmals gezeigt und auf bedrückende Weise verunglimpft wurde. Da der Divisionismus als übermäßig mechanisch und als Verstoß gegen das allgemein akzeptierte Kunstverständnis betrachtet
wurde, löste Seurats Bild eine noch größere Kontroverse aus als zuvor die Werke
des Impressionismus. Die moderne urbane Szene bei Seurat ähnelt der auf vielen
Gemälden der Impressionisten, aber statt flüchtiger Eindrücke wollte Seurat etwas
Wesentliches festhalten.
Der Einfluss des Neoimpressionismus Beim ersten „Salon des Indépendants“ von 1884 (der als Alternative zum offiziellen Pariser Salon von da ab jährlich stattfand) traf Seurat mit Paul Signac (1863–1935) zusammen, der von den
Farbtheorien und Farbtechniken unmittelbar inspiriert war und damals begann, mit
divisionistischen Methoden zu experimentieren. Seine Punkte sind weniger fein,
lockerer und in größerem Abstand gesetzt als bei Seurat, weswegen seine Leinwandbilder noch heller erscheinen. Signac war
Der anarchistische
ziemlich produktiv, malte bevorzugt mediterrane Landschaften,
Maler
ist niemand, der
meist mit Küste, Meer und Schiffen. Nach Seurats frühem Tod im
Anarchistenbilder
Jahr 1891 übernahm Signac die Führung bei den Neoimpressionisten. Er hatte eine starke Wirkung auf spätere Malergeneratio- schafft, sondern jemand,
der mit seiner ganzen
nen, darunter Henri Matisse (1869–1954) und André Derain
(1880–1954). Außer Signac stellten noch andere Maler im „Salon Individualität gegen
des Indépendants“ aus, die später Neoimpressionisten wurden:
offizielle Konventionen
Albert Dubois-Pillet (1846–1890), Charles Angrand (1856–1926) kämpft.
und Henri-Edmond Cross (1856–1910). Schon von Anfang an
Paul Signac
waren Camille Pissarro und sein Sohn Lucien (1863–1944) bei
den Neoimpressionisten dabei und malten eine Zeit lang in divisionistischer Technik, wobei sie eher kleine Striche als Punkte setzten. Camille Pissarro kehrte später wieder zu einem eher impressionistischen Stil zurück. Als van
Gogh 1888 nach Paris kam, war auch er von den neuen Theorien fasziniert und
gestaltete einige Werke danach. Doch war der Neoimpressionismus nur eine kurze
Übergangserscheinung, übte aber auf die Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluss aus.
‚
ʻ
Worum es
geht
Farbentheorien
in der
Malerei
91
92
Der Beginn der Moderne
23 Jugendstil
(1890--ca. 1914)
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert beschloss eine Generation tatkräftiger Künstler und Designer, einen modernen internationalen Stil zu
entwickeln. In vieler Hinsicht war dies eine Antwort auf die Industrielle
Revolution. Die neue Kunst, die Art nouveau oder auch der Modern
Style, breitete sich von England (Arts and Crafts Movement) über den
gesamten Globus aus, wurde aber trotz grundlegender Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Ländern unterschiedlich benannt – unter
anderem in Deutschland als „Jugendstil“ und in Österreich als
„Sezessionsstil“.
Um 1890 kam die Idee auf, dass ein völlig neuer Stil in Kunst und Design das neue
Jahrhundert einläuten sollte. Weltweit waren Künstler und Designer entweder von
den neuen Technologien, Entdeckungen und Materialien begeistert oder von den
maschinell produzierten Waren abgestoßen und eher zum Rückzug in die Vergangenheit bereit. In diesem Spannungsfeld entstand der Jugendstil, eine Kombination
aus einem breiten Spektrum von Gestaltungsideen, die überall in der Welt entwickelt und umgesetzt wurden. Die Künstler und Designer dieses Stils strebten
danach, aus der Kunst mehr zu machen als etwas, das man in Galerien an die
Wände hängt. Sie wollten die Barrieren zwischen der gehobeneren bildenden und
der alltäglichen angewandten Kunst beseitigen.
Geschwungene Linien Die meisten Vertreter des Jugendstils traten leidenschaftlich dafür ein, dem kunstvollen Dekor den gleichen Rang einzuräumen wie
der bildenden Kunst, und distanzierten sich von den historistischen Stilen. Der
Jugendstil war ebenso vom Symbolismus wie von keltischer oder japanischer Tradition beeinflusst und mit Beginn des Ersten Weltkriegs im Wesentlichen vorbei. Egal
ob bildende oder angewandte Kunst, er ist durch stark stilisierte, geschwungene
Linien, vegetabile Formen und rhythmisch-dekorative Muster geprägt. Weibliche
Zeitleiste
ca.
1870
Beginn der Blütezeit der
Arts-and-Crafts-Bewegung
in Großbritannien
1882
1883
1887–1889
Antonio Gaudí beginnt mit
dem Bau der Sagrada
Familia in Barcelona
Arthur Heygate Mackmurdo entwirft
das Cover zum Buch Wrenʼs City
Churches; der erste Wolkenkratzer
entsteht in Chicago
Der Eiffelturm wird für die
Pariser Weltausstellung
errichtet
Figuren sind häufige Motive, oft in Verbindung mit Blumen,
Blattranken, prächigen Haarlocken und Pfauenfedern, oder auch
Tiere und Pflanzen allein. Auch die Bevorzugung der Materialien
waren neu: Glas, Zinn, Eisen oder Silber. Und die Farben waren
entweder weich und verhalten oder kräftig wie in der japanischen
Druckgrafik.
Jugendstil
‚
Leben, das sind die
Blätter, die eine Pflanze
gestalten und ernähren,
aber Kunst ist die Blüte,
die seine Bedeutung
verkörpert.
Charles Rennie Mackintosh
ʻ
Wiener Sezession In Österreich entwickelte sich als eine
lokale Ausprägung des Jugendstils der Wiener Sezessionsstil.
Bedeutende Vertreter waren Gustav Klimt (1862–1918), Koloman Moser (1868–1918), Josef Hoffmann (1870–1956), Joseph Maria Olbrich
(1867–1908) und andere, die sich 1897 nach dem Vorbild der Münchener Sezession
um Franz von Stuck (1863–1928) zusammengeschlossen hatten. Die Sezessionisten
– ob in München, Wien oder Berlin – trennten sich vom offiziellen, konservativen
Kunstbetrieb. Ihnen ging es vor allem um die Möglichkeit, außerhalb von Akademie und Künstlerhaus Freiräume zu gewinnen. Sie hofften, ungebunden einen völlig neuen Stil in der Kunst entwickeln zu können, wie die Devise auf dem Wiener
Sezessionsgebäude verkündet: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. In
den Zeitschriften Ver Sacrum (1898–1903)
und Jugend (1896–1940), nach der der
Jugendstil benannt ist, wurden die neuen
Viele Namen
Ideen „für Kunst und Leben“ diskutiert und
Die Bezeichnung „Art nouveau“ geht auf die
illustriert.
Ein internationaler Stil Als Gegenbewegung zur offiziellen Kunst des 19. Jahrhunderts war der Jugendstil in seinem Bestreben, die Kunst in den Alltag zu bringen, überall mit seinen organischen, floralen und
fließenden Formen präsent: in der bildenden
Kunst und Architektur, bei Mobiliar,
Schmuck und Gebrauchsgegenständen. Zu
Beginn wurde der Jugendstil stark von Arthur
Heygate Mackmurdo (1851–1942) und
Alfons Mucha (1860–1939) beeinflusst.
gleichnamige Galerie in Paris zurück, in der
nach 1895 Kunst und Kunsthandwerk im neuen
Stil angeboten wurde. In verschiedenen Ländern bürgerten sich unterschiedliche Bezeichnungen für diesen Stil ein: „Jugendstil“ nach
der Zeitschrift Jugend in Deutschland, „Stile
Floreale“ oder „Stile Liberty“ in Italien, „Sezessionsstil“ in Österreich, „Modernisme“ in Katalonien, „Modern“ in Russland oder „Modern
Style“ in England. In Frankreich wird der Stil
auch dem „Fin de Siècle“ zugeordnet.
1894
1896
1902
1905
Alfons Mucha: Gismonda;
Aubrey Beardsley: Das
Pfauenkleid
Charles Rennie Mackintosh entwirft die
Ausstattung des ersten Willow-Tearooms
in Glasgow; Walter Crane publiziert The
Decorative Illustration of Books
Gustav Klimts Beethovenfries wird in einer Ausstellung der Wiener
Sezession gezeigt
Louis Comfort Tiffany gestaltet
elf Glasgemälde für die Brown
Memorial Presbyterian Church
in Baltimore
93
94
Der Beginn der Moderne
Die drei Lebensalter der Frau
Dieses erste große Ölgemälde von
Gustav Klimt ist auch unter dem
Titel Mutter und Kind bekannt und
zeigt drei Phasen im Leben einer
Frau: Kindheit, Mutterschaft und
Alter. Gemäß dem Jugendstil malte
Klimt die Figuren überlängt, umgab
sie allerdings mit fließenden, undulierenden Konturen und dekorativen
Mustern. Das Gemälde nimmt
damit, aber auch mit seinen Farben
und Texturen Gestaltungselemente
des Designs auf. Der Einfluss des
Symbolismus ist unverkennbar.
Klimt erklärt sich so: „Wer über
mich – als Künstler, der allein
beachtenswert ist – etwas wissen
will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu
erkennen suchen, was ich bin und
was ich will.“
Gustav Klimt: Die drei Lebensalter
der Frau, 1905, Öl auf Leinwand;
Galleria Nazionale dʼArte Moderna,
Rom.
Mackmurdos Covergestaltung des Buches Wren’s City Churches war 1883 eine Sensation. Und Mucha gestaltete 1894 das Plakat für die Ankündigung des Theaterstücks Gismonda in Paris mit Sarah Bernhardt als Hauptdarstellerin. Dieses langgezogene, fließende Design wurde mit enormer Begeisterung aufgenommen und eine
Zeit lang sogar als „Muchastil“ bezeichnet. Danach breitete sich der Jugensdstil in
ganz Europa aus und wurde schließlich weltweit prägend. Zu den führenden Vertretern gehörten außer Klimt und Mucha beispielsweise die Illustratoren Aubrey
Beardsley (1872–1898) und Walter Crane (1845–1915), die Architekten Henry van
Jugendstil
‚
Wir wollen eine im Alltag heimische Kunst, nicht nur eine
sprachliche oder formale Übereinkunft oder einen toten Grad an
Uniformität, sondern diese selbstverständliche und harmonische
Einheit der individuellen Vielfalt, die Menschen in politischer und
sozialer Freiheit entwickeln können.
Walter Crane
ʻ
de Velde (1863–1957), Victor Horta (1861–1947), Antonio Gaudí (1852–1926),
Hector Guimard (1867–1942) und Louis Sullivan (1856–1924), der Designer,
Künstler und Architekt Charles Rennie Mackintosh (1868–1928), der Schmuckund Glasgestalter René Lalique (1860–1945) sowie die Glasdesigner Louis Comfort
Tiffany (1848–1933) und Émile Gallé (1846–1904). Sie kamen aus verschiedenen
Ländern und verfolgten eigene Varianten innerhalb des Jugendstils. Alle ihre Ausdrucksmittel bewegten sich im akzeptierten Rahmen dieses neuen Kunststils, bei
Plakaten und Schmuckstücken ebenso wie bei Häusern, Skulpturen oder Gemälden.
Die moderne Gesellschaft Der Jugendstil war mehr als eine Kunstrichtung.
Er war die Geisteshaltung der modernen Gesellschaft oder neuer Produktionsmethoden und ein Versuch, neu zu definieren, was ein Kunstwerk ausmacht. Zentral
darin war die Idee, dass ein Kunststil alles erfassen müsse, von Alltagsdingen über
Gebäude bis hin zu Werken der bildenden Kunst. Dieser Ansatz hat Kunst und
Design des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise geprägt.
Worumvon
esKunst
gehtund Design
Zusammenführung
mit international gültigen Stilmitteln
95
96
Der Beginn der Moderne
24 Fauvismus
(ca. 1900--1920)
Als erste große Stilrichtung in der europäischen Avantgarde-Kunst des
20. Jahrhunderts zeichnet sich der Fauvismus dadurch aus, dass die
Bilder nicht lebensnah wirken, sondern durch intensive, lebendige Farben, freie Pinselführung, durchbrochene Linien und freie Komposition
gekennzeichnet sind. Er war nur kurze Zeit von Bestand und ohne
formelle Organisationsform, übte aber einen nachhaltigen Einfluss
auf Kunst und Design im weiteren 20. Jahrhundert aus.
Der Fauvismus begann als ein ausdrucksstarker Stil Anfang des 20. Jahrhunderts in
Paris, zueiner Zeit des technologischen Umbruchs: Das Automobil, der Rundfunk
und die allgemeine Stromversorgung der Haushalte veränderten die Gesellschaft
grundlegend. In vieler Hinsicht folgte diese Kunstrichtung dem Vorbild van Goghs,
Cézannes und Gauguins. Wie die Postimpressionisten lehnten die Fauvisten die
Objektivität und den delikaten Pinselstrich der Impressionisten ab, um emotionaler
und expressiver malen zu können.
Wilde Bestien Der Fauvismus dauerte im Grunde nur drei Jahre, auch wenn
einige Künstler noch mehr als zehn Jahre den Stil und Ansatz beibehielten. Auch
hatten die maßgeblichen Künstler nur drei gemeinsame Ausstellungen. Zu ihnen
gehörten Henri Matisse (1869–1954), André Derain (1880–1954), Maurice de Vlaminck (1876–1958), Georges Braques (1882–1963), Georges Rouault (1871–1958),
Albert Marquet (1875–1947) und Raoul Dufy (1877–1953). Den Namen Les Fauves – „Wilde Bestien“ – erhielten sie 1905, als sie alle in einer relativ neuen Galerie
ausstellten, dem „Salon d’Automne“ in Paris. Es war, ähnlich wie bei den Impressionisten, eine abwertende Etikettierung. Der Kritiker Louis Vauxcelles (1887–
1945) sah die Ausstellung in der Galerie, in der gleichzeitig auch eine Renaissanceskulptur stand, und beschrieb den Kontrast mit den Worten „Donatello au milieu
des fauves“ (Donatello inmitten der wilden Bestien). Er fand die kraftvolle Pinsel-
Zeitleiste
1900
1901
1903
Die fünfte Pariser Weltausstellung zieht in sieben
Monaten mehr als
50 Millionen Besucher an
Van-Gogh-Retrospektive in Paris
– die vierte Pariser Ausstellung
seiner Bilder nach seinem Tod
Der erste „Salon dʼAutomne“ zeigt unter
anderem das Lebenswerk von Gauguin,
der in diesem Jahr Lʼinvocation malte;
Paul Cézanne: Château Noir
Fauvismus
‚
Ich male nicht im
Wortsinn hier diesen
Tisch, sondern ich male
die Emotion, die er in mir
Farbe Zwischen 1901 und 1906 wurden in Paris mehrere
auslöst.
Retrospektiven auf das Werk von Gauguin, van Gogh, Cézanne
Henri
Masisse
und anderen gezeigt. Zum ersten Mal sah ein breites Publikum so
führung, das Fehlen farblicher Zwischentöne und die extravagante, nicht naturalistische Verwendung der Farben lächerlich,
unüberlegt und wenig kunstfertig.
ʻ
viele Bilder von Gauguin und Cézanne. Die radikalen Konzepte,
die hier vor Augen standen, ermutigten viele Künstler und inspirierten sie, mit eigenen Ideen zu experimentieren. Ab 1897 hatte Matisse mit dem impressionistischen
Maler John Peter Russell (1858–1930) studiert, der ihm die Farbentheorie erklärte –
worauf Matisse zu einer helleren Farbpalette überging. Russell war ein enger
Freund van Goghs gewesen und gab Matisse eine Zeichnung von ihm. Danach
begann Matisse, mit leuchtenden Farben und dick aufgetragenen, kräftigen Pinselstrichen zu malen, wie sie für sein gesamtes Werk typisch sind. Er strebte nicht
unbedingt danach, die Natur genau nachzuahmen. Matisse befasste sich überdies
intensiv mit den Farben in Orientteppichen und in der nordafrikanischen Landschaft.
Ablehnung der Tradition Die Fauvisten verzerrten die Formen und wählten ihre
Farben und Pinselführungen passend zum
emotionalen Ausdruck. Sie lehnten die Maltradition ab, die Illusionen von Perspektive,
Tiefe und Textur hervorrufen wollte, sondern
betonten stattdessen die Zweidimensionalität
der Leinwand. Farbe wurde nicht beschreibend, sondern zur Vermittlung von Eindrücken und Gefühlen verwendet – beispielsweise von Freude oder von der Wärme des
Sonnenlichts. Auch wenn ihr Werk als
schnoddrig und ihre Technik als forsch und
nachlässig kritisiert wurde, ihre Themen
waren eher traditionell: Nackte, Landschaften
und Stillleben. Die Farbe war oft wichtiger
Matisse und Moreau
Matisse kam 1892 an die École des Beaux-Arts
und studierte – zunächst als Gast – bei dem
symbolistischen Maler Gustave Moreau. Dieser
ermutigte seine Schüler, zu denen neben
Matisse auch Marquet und Rouault gehörten,
ihre eigenen künstlerischen Vorlieben herauszufinden, statt nur der Tradition zu folgen.
Moreaus Originalität und Offenheit und sein
Glaube an die Ausdruckskraft der Farbe waren
ungewöhnlich für diese Zeit und bahnbrechend.
Moreau lehrte, man müsse Farbe denken, eine
Vorstellung davon haben.
1904
1905
1906
1907
Henri Matisse: Luxus, Stille und
Begierde; erste Ausstellung der
„Primitiven“ in Paris
Henri Matisse: Offenes Fenster,
Collioure; André Derain: Arbres
à Collioure
André Derain: Der Hafen von
London; Kees van Dongen:
Frau mit großem Hut
Albert Marquet:
Fischerboote; Raoul Dufy:
Jeanne mit Blumen;
Cézanne-Retrospektive
97
98
Der Beginn der Moderne
Samuel John Peploe
Angeregt durch Matisse gestaltete Samuel John Peploe
(1871–1935) dieses Bild in
einem naiven Stil, der mit grellen Farben und einfacher Pinselführung dem Eindruck ungeübter kindlicher Malerei nahekommt. Das Ergebnis ist ein
heiteres, lebendiges Bild, das
nicht naturalistisch erscheinen
will.
Peploe wird den schottischen
Koloristen zugerechnet. Und
auch wenn er kein Fauvist war,
verfolgte er einen ähnlichen
Ansatz: Wie bei den Fauvisten
ist die Farbe in seinen Werken
das Wichtigste. Die meisten
Fauvisten setzten Komplementärfarben direkt nebeneinander,
um sie leuchtender erscheinen
zu lassen. Und sie verwendeten mit Bedacht Farben, die
nicht miteinander harmonieren,
und Muster, die die einzelnen
Farben betonen.
Samuel John Peploe: Stillleben mit Dahlien und Früchten, 1910–
1912, Öl auf Leinwand; Privatsammlung.
als alles andere. Mit seinen kräftigen Farben und dem dynamischen Farbauftrag war
der Fauvismus eine Weiterentwicklung des Postimpressionismus und eine Gegenbewegung zum Neoimpressionismus, den die Fauvisten als uniformen Darstellungsstil
und Einschränkung der Spontaneität ablehnten. Matisse meinte einmal, dass der
Fauvismus die Tyrannei des Divisionismus erschüttert habe.
Hohn und Spott Zu Beginn ernteten die Künstler des Fauvismus Hohn und
Spott. Ihre brutalen Farben, ihre Technik, die Farben direkt aus der Tube auf die
Fauvismus
‚
Erst nach vielen Jahren der Vorbereitung sollte ein junger
Künstler Farben anrühren – und dann nicht eine Farbe, die
beschreibend verwendet wird, sondern eine, die als ein Mittel des
persönlichen Ausdrucks dienen kann.
Henri Matisse
ʻ
Leinwand zu bringen, und ihre Abkehr vom wirklichkeitsgetreuen Abbilden der
Natur war für die damaligen Betrachter unverständlich – sie wussten nicht, was
damit bezweckt war und warum die Realität so verzerrt wiedergegeben wurde. Man
vermutete, dass die Fauvisten nicht kunstfertig malen können und keine wirklichen
Künstler sind, sondern eine Gruppe untalentierter Möchtegernkünstler. Allerdings
wurde der Stil unter den jungen Avantgardekünstlern populär. Einige von ihnen
stellten nach 1905 ihre Werke zusammen mit denen der Fauvisten im „Salon d’Automne“ aus, wie Kees van Dongen (1877–1968) und Othon Friesz (1879–1949).
Alle Künstler, die als Fauvisten bezeichnet werden, ähnelten sich darin, wie sie ihr
Sujet darstellten und wie sie mit Farbe und Farbauftrag umgingen. Sie folgten aber
keinen gemeinsamen Vorgaben. In mancher Hinsicht nahm der Fauvismus Elemente
auf, die an die Naivität früher Kunst erinnern. Vermutlich hat hierzu eine Ausstellung in Paris Anstöße gegeben, die 1904 unter dem Titel Primitifs Français auch
Kunstwerke des Mittelalters zeigte. Viele junge Künstler waren von der Frische und
Ehrlichkeit dieser Kunstwerke begeistert. Außerdem weckte die afrikanische Kunst
mit ihren vereinfachenden Stilisierungen großes Interesse – Vlaminck, Derain und
Matisse haben sie gesammelt und ließen sich davon inspirieren.
Les Fauves erreichten zwischen 1905 und 1907 den Höhepunkt ihres Erfolgs.
Danach begannen sie sich aufzulösen und in verschiedene Richtungen zu entwickeln. Nur Matisse lotete noch für einige weitere Jahre die Möglichkeiten des Fauvismus aus.
Worum
esals
geht
Leuchtende
Farben
Ausdruck
von Emotionen
99
100
Der Beginn der Moderne
25 Expressionismus
(ca. 1890--1934)
Mit ihren leuchtenden Farben und ihrer ausdrucksvollen Pinselführung
ebneten van Gogh, Gauguin und die Fauves den Weg für den Expressionismus. Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Expressionismus
in Deutschland, wo er sich aus einem Lebensgefühl der Unruhe entwickelte: Es ging um die kraftvolle und aufrichtige Darstellung persönlicher Sichtweisen. Der Expressionismus war eine vollständig subjektive
Kunstrichtung ohne einheitlichen Stil.
Der Begriff „Expressionismus“ wurde vermutlich 1910 von dem tschechischen
Kunsthistoriker Antonín Matějček (1889–1950) geprägt, als er einen neuen Kunststil beschrieb, der das Gegenteil des Impressionismus zu sein schien. Der Expressionismus strebte nach Matějček danach, innere Gefühle auszudrücken und nicht,
wie der Impressionismus, die neutralen äußeren Erscheinungsbilder festzuhalten.
Zwei Jahre später verwendete der Schriftsteller und Redakteur Herwarth Walden
(1879–1941) den Begriff 1912 in seiner Zeitschrift Der Sturm.
Lebensgefühl Der Begriff „Expressionismus“ wird verwendet, um zusammenzufassen, was einige Künstler des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts in bewegten,
schrillen und verzerrten Bildern ausdrückten: Stimmungen, Gefühle und Ideen. Ihre
Kunst ist eher subjektiv und persönlich als objektiv und abgeklärt. Gemalt wurde
mit eigenwilligen Farben in verwegenen Kompositionen, ohne zu versuchen, das
wirkliche Aussehen abzubilden oder ästhetische Eindrücke darzustellen. Vielmehr
ging es darum, mit kräftigen Farben und dynamischen Kompositionen Emotionen
einzufangen. Wie viele andere Kunstrichtungen umfasst der Expressionismus nicht
das Werk einer einheitlichen Künstlergruppe – viele Künstler, die als Expressionisten gelten, kannten sich gar nicht oder missbilligten sogar diese Bezeichnung.
Die expressionistische Kunst entstand mehr oder weniger konkurrierend in verschiedenen deutschen Städten zu einer Zeit wachsender Verunsicherung der Gesell-
Zeitleiste
1890
1893
1905
1909
Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) entlässt seinen
Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898),
was zum Ende der bisherigen Bündnispolitik
und letztlich zum Ersten Weltkrieg führt
Edvard Munch:
Der Schrei
Die Künstlervereinigung „Brücke“
wird gegründet
Die Neue Künstlervereinigung München
wird ins Leben gerufen
‚
Expressionismus
schaft in einer zunehmend unruhigeren modernen Welt. Dabei
Je schreckensvoller
befanden sich die Expressionisten im Gegensatz zur traditionellen diese Welt, desto
Kunst, aber im Einklang mit Richtungen wie dem Symbolismus abstrakter die Kunst
oder Künstlern wie van Gogh, Edvard Munch (1863–1944) und
Paul Klee
James Ensor (1860–1949). Es ging darum, die Betrachter vor
allem mit den dargestellten Emotionen und weniger mit kunstfertigen Maltechniken zu beeindrucken.
ʻ
Die Brücke Es gab verschiedene expressionistische Künstlergruppen, darunter
die „Brücke“, die 1905 in Dresden von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) zusammen mit Max Pechstein (1881–1955), Kees van Dongen (1887–1968), Emil Nolde
(1867–1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) und Erich Heckel (1883–1970)
gegründet wurde. Die Künstler der „Brücke“
sahen die traditionellen Stile der bildenden
Kunst als Herausforderung an, ImpressionisDer Schrei
mus und Postimpressionismus eingeschlosDer norwegische Künstler Edvard Munch
sen. Sie wollten in ihrem Werk eine Brücke
gehört zu den Wegbereitern des Expressioniszwischen der historischen und der modernen
mus. 1893 schuf er den Schrei in Form mehreKunst schlagen. 1906 organisierten sie ihre
rer Drucke und eines Gemäldes, die eine qualerste Ausstellung und druckten ihr Manifest.
voll schreiende Figur vor einem roten Himmel
Die meisten von ihnen malten bewusst einzeigen. Im Hintergrund ist Kristiania, das heufach und unkompliziert, wobei sie einen Stil
tige Oslo, zu erkennen. Munch beschreibt die
der Verfälschung von Gegenständen und FarEntstehung des Bildes in seinem Tagebuch:
ben entwickelten, um bestimmte Elemente zu
„Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinab.
betonen oder gar zu übertreiben. Oft malten
Die Sonne ging unter – der Himmel wurde blutsie moderne Stadtbilder, in denen sie eine in
rot, und ich empfand einen Hauch von Wehihren Augen zunehmend gewaltsame und
mut. Ich stand still, todmüde – über dem blaubedrohliche Welt zeigen. Nolde war zeitschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und
weise mit der „Brücke“ verbunden, gilt aber
Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter –
eher als eigenständig arbeitender Expressioich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte
nist. Die Künstler der „Brücke“ ließen sich
den großen Schrei in der Natur ... Ich malte
von der primitiven Kunst Afrikas oder Ozeadieses Bild – malte die Wolken wie wirkliches
niens inspirieren, die sie als unmittelbar,
Blut – die Farben schrien.“
ungekünstelt und natürlich ansahen. Als der
Erste Weltkrieg bereits seine Schatten
1911
1912
1913
1914
1916
Der „Blaue Reiter“
formiert sich in seiner
ersten Ausstellung
Karl Schmidt-Rottluff:
Häuser bei Nacht
Wassily Kandinsky: Träumerische
Improvisation; Ernst Ludwig Kirchner:
Berliner Straßenszene; August
Macke: Dame in grüner Jacke
Paul Klee: Motiv aus
Hammamet; Franz Marc:
Kämpfende Formen
George Grosz:
Selbstmord; Alexej
von Jawlensky:
Lieder ohne Worte
101
102
Der Beginn der Moderne
‚
Der Maler malt die Erscheinung der Dinge, nicht ihre objektive
Richtigkeit, ja, er erschafft neue Erscheinungen der Dinge.
Ernst Ludwig Kirchner
ʻ
vorauswarf, schien ihnen das moderne Leben unerträglich, da es die Menschen habsüchtig, egoistisch und gewalttätig mache. Die meisten von ihnen gingen zwischen
1910 und 1914 nach Berlin.
Der Blaue Reiter In München bildete sich 1911 eine andere Künstlergruppe,
die sich „Der Blaue Reiter“ nannte. Zu ihren Mitgliedern gehörten Wassily Kandinsky (1866–1944), Franz Marc (1880–1916), Paul Klee (1897–1940), Alexej von
Jawlensky (1864–1941) und August Macke (1887–1949). Der Name geht auf Kandinskys Bild Der Blaue Reiter von 1903 zurück sowie auf Kandinskys und Marcs
August Macke: Gartenrestaurant, 1912, Öl auf Leinwand; Kunstmuseum, Bern.
Expressionismus
Vorliebe für Pferde, Reiter und die mystische
Nietzsche
Farbe Blau, die den Himmel und Übersinnliches symbolisiert. Diese Künstler waren
Der Expressionismus wird oft in Verbindung mit
durch van Gogh, Gauguin, Munch und die
dem Denken des deutschen Philosophen
primitive Kunst inspiriert. Sie glaubten an
Friedrich Nietzsche (1844–1900) gesehen. In
das Geistige in der Kunst und wollten mit
seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem
ihren Werken dem Leben der Menschen wieGeiste der Musik unterscheidet Nietzsche zwider tiefere Bedeutung zurückgeben. Kandinsschen zwei Kunstformen, einer apollinischen
ky suchte nach einer neuen Beziehung zwiund einer dionysischen. Das Apollinische steht
schen Mensch und Natur. Der „Blaue Reiter“
für Ordnung und sorgfältig durchdachte Ideale,
war keine so geschlossene Künstlergruppe
während das Dionysische das Rauschhafte
wie die „Brücke“ und veröffentlichte auch
bezeichnet, das auf intensive, ungeordnete
kein eigenes Manifest. Aber 1912 gaben
Emotionen zurückgeht und nicht auf rationales
Marc und Kandinsky einen Almanach heraus,
Denken. Mit ihrem Farbenrausch, den übersteiin dem Essays über Kunst zusammengestellt
gerten und leidenschaftlichen Bildern waren die
waren. Kandinsky glaubte, dass einfache FarExpressionisten dionysisch.
ben und Formen Gefühle und Stimmungen
ausdrücken können und konkrete Themen
überflüssig machen. In der Konsequenz malte
er als einer der ersten Künstler abstrakt. Der „Blaue Reiter“ steht für eine einfache,
lebendige und bunte Malweise, mit der das Lebensgefühl in einer beunruhigenden
modernen Welt ausgedrückt wird. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden Marc
und Macke zum Militärdienst eingezogen und wenig später an der Front getötet.
Die russischen Maler – Kandinsky, Jawlensky und andere – mussten Deutschland
verlassen. Der Blaue Reiter löste sich auf.
Andere berühmte deutsche Expressionisten arbeiteten unabhängig von den
genannten Gruppierungen und drückten ihr eigenes Lebensgefühl aus, insbesondere
die Schrecken des Krieges. Zu ihnen gehören Otto Dix (1891–1969), Lionel Feininger (1871–1956), George Grosz (1893–1959) und Max Beckmann (1814–1950).
Auch in einigen anderen Ländern wirkten Expressionisten, so Georges Rouault
(1871–1958) in Frankreich oder Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele
(1890–1918) in Österreich.
geht
AusdruckWorum
von innereres
Angst
in der Kunst
103
104
Der Beginn der Moderne
26 Kubismus
(1907--1914)
Als einer der einflussreichsten Stile des 20. Jahrhunderts wurde der
Kubismus von Pablo Picasso (1881–1973) und Georges Braque, der
bereits als Fauvist vorgestellt wurde, in Frankreich entwickelt. Den
Anfang machte Picasso 1907 mit seinem Gemälde Les Demoiselles
dʼAvignon, in dem er primitive afrikanische und spanische Bildhauerkunst sowie innovative Ideen Cézannes verarbeitete.
Les Demoiselles dʼAvignon Dieses Gemälde Picassos gilt als ein Schlüsselwerk der modernen Kunst. Es zeigt fünf weibliche Figuren mit maskenartigen
Gesichtern und verzerrten, aus eckigen Flächen aufgebauten Körpern sowie ein
Stillleben mit Früchten, das aus der Leinwand zu fallen scheint. Farblich dominieren Rosa- und Blautöne – Picasso hatte gerade seine rosa und seine blaue Periode
hinter sich – in diesem aufgrund der flächigen Formgebung
schockierenden Bild, das gleich mehrere stilistische Einflüsse
Ich habe die Malerei erkennen lässt. Picasso war, wie viele Künstler, durch die
gefunden, um meine Cézanne-Retrospektive von 1907 inspiriert und hatte sich mit
festen Ideen an den primitiver Kunst Afrikas, Ägyptens und der Iberer beschäftigt.
Cézanne hatte bei allem, was er malte, die zugrunde liegenden
Nagel zu hängen.
Georges Braque Strukturen im Blick und Objekte manchmal aus verschiedenen
Perspektiven gleichzeitig dargestellt, um sie vollständig auf der
Malfläche zeigen zu können. In der primitiven Kunst sind einfache und verzerrte Formen häufig. Diese Ideen setzte Picasso in seinen fragmentierten, flächig gebrochenen Figuren um, die er aus verschiedenen Blickwinkeln so
zeigte, wie wir sie aus Teilansichten zwar kennen, aber nie komplett vor Augen
haben. Die Raumillusion bricht dadurch völlig zusammen. Das Bildmotiv ergab
sich aus einer Szene in einem Bordell von Barcelona, die Picasso in mehreren
Schritten zu diesem Bild entwickelte, das den Kubismus einleitete.
‚
ʻ
Zeitleiste
1907
1908
1910/11
Pablo Picasso: Les
Demoiselles dʼAvignon
Georges Braques Bild Häuser in LʼEstaque
wird zusammen mit anderen Werken von ihm
in der Pariser Galerie Kahnweiler ausgestellt
Pablo Picasso: Portrait des Ambroise Vollard;
Robert Delaunay: Eiffelturm; Jean Metzinger:
Portrait der Madame Metzinger; Georges
Braque: Der Portugiese
Kubismus
Analytischer Kubismus Nachdem Braques das Bild Les Demoiselles
d’Avignon gesehen hatte, gab er wie
Cézanne und Picasso den Versuch auf,
Tiefe darzustellen, und gab Objekte
mehransichtig aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig auf der Leinwand
wieder. Braque und Picasso begannen
zusammenzuarbeiten. 1908 stellte
Braque einige seiner neuen Landschaften in Paris aus. Matisse informierte
davon den Kunstkritiker Vauxcelles,
der bereits den Namen „Fauves“
geprägt hatte, indem er mit wenigen
Strichen Braques Landschaft skizzierte
und dabei verdeutlichte, dass sie aus
„kleinen Würfeln“ – petits cubes – aufgebaut ist. Vauxcelles knüpfte in einem
Ausstellungsbericht an diese cubes an.
Seine Bezeichnung „Kubismus“ griff
zwar im Hinblick auf die intensiven
Analysen, mit denen die Kubisten ihre
Bilder entwickelten, zu kurz, aber sie
blieb hängen.
Braque und Picasso arbeiteten von
1908 bis zum Beginn des Ersten WeltEli Adams:
kriegs im Jahr 1914 zusammen. Sie verwarfen die Vorstellung, dass Kunst das
Cubist Mocha –
Aussehen der Dinge nachahmen sowie Perspektive und Farbkontraste einsetzen
ein vom Kubismus angeregtes
müsse, um die Bilder dreidimensional aussehen zu lassen. Durch FacettierunBild.
gen, Schichtungen oder Gegenpositionen und Mehrfachansicht unter wechselnden Blickwinkeln meinten sie mehr von den Objekten zeigen zu können, als es
die fotografische Sichtweise ermöglicht. Allerdings sind solche Bilder schwieriger
zu entschlüsseln als traditionelle. Die meisten Kubisten reduzierten ihre Farbpalette
auf Abstufungen von Braun-, Grau- oder anderen neutralen Farbtönen. Da die
1912
1913
1914
Juan Gris: Portrait von Picasso; Albert
Gleizes: Die Kathedrale von Chartres; das
Buch Le Cubisme von Gleizes und Metzinger
zur Theorie des Kubismus erscheint
Robert und Sonia Delaunay:
Bilder mit Simultankontrasten
Fernand Léger: La Sortie des Ballets
Russes; Raymond Duchamp-Villon: Das
große Pferd; Alexander Archipenko: Der
Gondoliere; Beginn des Ersten Weltkriegs
105
106
Der Beginn der Moderne
‚
Ein Kopf ist eine Sache aus Augen, Nase und Mund, die man in
jeder beliebigen Weise anordnen kann. Der Kopf bleibt doch ein
Kopf.
Pablo Picasso
ʻ
Dinge sorgfältig analysiert wurden, um nicht nur ihre reale Erscheinung zu reproduzieren, wurde diese erste Phase als Analytischer Kubismus bezeichnet.
Synthetischer Kubismus Im Winter 1912/13 begannen Picasso und Braque
mit ihren papiers collés: Sie klebten buntes oder bedrucktes Papier auf die Leinwand. Dabei stellt jedes Papierstück ein besonderes Objekt dar, entweder durch seinen Umriss oder durch einen Hinweis auf das Motiv. Bald verwendeten sie auch
noch anderen Materialien – Tapete, Karton oder auch Imitate von Holzmaserung
und Stuhlgeflecht. Diese Phase wurde als synthetischer Kubismus bekannt. Es war
das erste Mal, dass Collagen in der bildenden Kunst auftauchten. Angesichts der
Fragmentierung der verschiedenen Texturen wurden Interpretationshilfen für den
Betrachter eingefügt – Buchstaben oder Zahlen oder auch eigens gemalte Imitate
von Holz, zu denen Braque als gelernter Dekorationsmaler die Anregung gab.
Die Zusammenarbeit von Picasso und Braque führte zum Kubismus, der von verschiedenen anderen Malern aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Zu ihnen
gehörten Fernand Léger (1881–1955), Juan Gris (1887–1927), Albert Gleizes
(1881–1953) und Jean Metzinger (1883–1956). Ihre Sujets waren überwiegend
gegenständlich, oft Stillleben oder Portraits. In den Stillleben wurden häufig Musikinstrumente, Flaschen, Krüge, Zeitungen und Spielkarten dargestellt. Anfangs betraf
Kubistische Bildgestaltung
Trotz zunehmender Abstraktion stellten
Kubisten wie Picasso, Braque, Léger oder
Gris in ihren Gemälden erkennbar alltägliche Objekte dar. Picasso und Braque
reduzierten ihre Palette auf neutrale Farbtöne, um Linien und Tonstufen hervortreten zu lassen. Die Arbeiten von Gris und
Léger wirken plastischer und weniger kan-
tig als jene von Picasso und Braque, die
unter anderem mit Texturen eine dreidimensional wirkende Bildfläche erzeugten,
auch wenn sie dabei die Leinwandebene
betonten. Der Kubismus war kein starres,
abgeschlossenes Programm, sondern ein
ständiges Ringen um eine völlig neue,
moderne Kunst.
Kubismus
der Kubismus nur die Malerei, aber ab etwa
1910 schufen auch Bildhauer kubistische
Werke, die nur bei der Betrachtung von allen
Seiten als Ganzes erfasst werden können. Am
bekanntesten von ihnen sind Alexander
Archipenko (1887–1964), Raymond
Duchamp-Villon (1887–1968) und Jaques
Lipchitz (1891–1973).
Die meisten Kubisten hatten leicht modifizierte Stilauffassungen: Léger beispielsweise
verwendete leuchtende Farben und scharf
konturierte Kompositionen, die einen Kontrast zu Braques Monochromie bildet. Gris
förderte die Entwicklung des Synthetischen
Kubismus durch seinen kantigen Stil. Der
Kubismus hatte in allen seinen Ausprägungen
weitreichende Auswirkungen auf die nachfolgende Avantgardekunst wie Dadaismus, Surrealismus, Art déco, Konstruktivismus und
die abstrakte Kunst.
Orphismus
Mit dem Begriff „Orphismus“ oder „Orphischer
Kubismus“ beschrieb Guillaume Apollinaire
(1880–1918) die Werke von Robert Delaunay
(1885–1941) und dessen Frau Sonia (1885–
1979) – in Anspielung auf den Sänger und Poeten Orpheus aus der griechischen Mythologie.
Gemeint war damit, dass die Gemälde der
Delaunays wie Musik harmonisch und abstrakt
sind. Im Gegensatz zu den neutralen Farben
und Erdtönen des Analytischen und Synthetischen Kubismus zeigen Werke des Orphismus
helle Farbtöne, die nach der modernen Farbentheorie verwendet werden. Dieser Stil wurzelt
im Kubismus, drückt aber auch Bewegung und
Licht aus, indem er die Wahrnehmungsvorgänge in unserem Auge nachbildet.
Worum
es geht
Eine Einheit
aus unterschiedlichen
Blickwinkeln
107
108
Der Beginn der Moderne
27 Futurismus
(1909--1916)
Während sich in Frankreich der Kubismus entwickelte, verfolgte in
Italien zwischen 1909 und 1916 eine Gruppe von Künstlern andere
Ideen. Sie nannten sich „Futuristen“ und schufen eine Kunst, die die
italienische Tradition hinter sich lassen und eine Zukunft einbeziehen
wollte, die als Wunderwelt der modernen Technik gesehen wurde.
Der Futurismus ist die einzige avantgardistische Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts, die von Italien ausging. 1909 verfasste der Schriftsteller Filippo Tommaso
Marinetti (1876–1944) sein futuristisches Manifest, in dem er Jugend, Bewegung,
Technik, Maschinen und Kampfkraft besingt – zu einer Zeit, in der noch kein futuristisches Werk existierte. Es waren reine Thesen. Für Marinetti und seine Freunde
waren Autos, Flugzeuge und moderne Technik aller Art aufregendeErfindungen, die
eine bessere Zukunft versprachen. Sie hielten es für an der Zeit, die antiken Traditionen und die Renaissance hinter sich zu lassen und neuen Ideen zu folgen.
Verherrlichung der Gewalt
Nachdem im Dezember 1908 das Manifesto del
Futurismo in der Gazzetta dell’Emilia und einen Monat später auf Französisch im
Figaro abgedruckt worden war, griffen viele Schriftsteller, Künstler, Architekten
und Komponisten dessen Ideen auf. 1910 wurde ein Manifest für futuristische
Maler von Umberto Boccioni (1882–1916), Gino Severini (1883–1966), Giacomo
Balla (1871–1958), Luigi Russolo (1885–1947) und Carlo Carrà (1881–1966)
unterzeichnet. Es war spezifischer als Marinettis Manifest von 1908/09 und forderte
auf, statt in der Vergangenheit zu schwelgen, in die Zukunft zu sehen. Diese Futuristen kritisierten die konventionelle Malerei und priesen die moderne Technik. Und
sie gaben noch ein „technisches Manifest“ für die Malerei heraus, in dem sie zur
Darstellung von Dynamik und Bewegung in der Kunst aufriefen. Zwischen 1909
und 1914 erschienen mehr als 50 futuristische Manifeste, die Kunstanschauungen
und häufig auch Leitlinien darüber enthielten, wie dieser neue Stil zu denken und
Zeitleiste
1909
1910
1911
Filippo Tommaso Marinetti
veröffentlicht das Manifest des
Futurismus im Figaro
Balla, Boccioni, Carrà, Russolo und
Severini unterschreiben das Manifesto
dei pittori futuristi, das in der Zeitschrift
Poesia veröffentlicht wurde
Manifesto dei musici futuristi
Futurismus
Dinamismo di un ciclista
Die Futuristen wollten die Dynamik wiedergeben,
die sie in der modernen Technik und dem
maschinellen Antrieb sahen. In diesem abstrakten Bild zur Dynamik eines Radfahrers lassen
sich, sobald man die Figur und das Rad erkannt
hat, einige weitere Elemente identifizieren: eine
Berglandschaft und die Reflexion der Sonne auf
dem Metall. Die Geschwindigkeit wird durch die
kurzen Pinselstriche angedeutet, die den Drehungen der Räder folgen. Boccioni erreicht sein
Ziel, den Eindruck von Dynamik und Geschwindigkeit zu vermitteln, auch mit den diagonal verlaufenden Linien und den Winkeln, die durch ihre
musterartige Wiederholung dem Bild einen
Rhythmus geben.
Umberto Boccioni: Dynamik eines Radfahrers, 1913, Öl auf Leinwand; Gianni Mattioli Collection in
der Peggy Guggenheim Collection, Venedig.
1912
1913
1914
Das Manifest der futuristischen Frauen;
Boccioni veröffentlicht das Manifesto
tecnico della scultura futurista; Gino
Severini: Blaue Tänzerin
Umberto Boccioni: Einzigartige Formen
der Kontinuität im Raum; Giacomo
Balla: Rasendes Automobil
Carlo Carrà: Interventionistische
Demonstration; Beginn des Ersten
Weltkriegs
109
110
Der Beginn der Moderne
Abkehr von der Vergangenheit
Die Futuristen verstanden sich als Revolutionäre, die das legendäre Erbe der italienischen
Kunst in einer Zeit der kulturellen Krise überwinden wollten. Viele glaubten sich zwischen
der ruhmreichen Vergangenheit und der
modernen Zeit eingeklemmt. Die Futuristen riefen ihre Anhänger sogar dazu auf, die Museen
und Akademien zu zerstören, und hofften auf
die Überwindung der Vergangenheit durch
Krieg.
umzusetzen sei. Die Futuristen waren nicht
nur von der modernen Technik und der
Industrialisierung beeinflusst, sondern auch
vom Expressionismus, Neoimpressionismus und Kubismus sowie von der Musik
Igor Strawinskis (1882–1971) inspiriert.
Alle Art von Technik und sogar die Kriegsmaschinerie erschien ihnen aufregend und
modern – und damit der Darstellung in der
bildenden Kunst wert. Diese Themen schienen ihnen zudem geeignet, die Menschen
von sozialen Vorurteilen abzubringen.
Dagegen verabscheuten die Futuristen die
Aktmalerei. Krieg war für sie die „einzige
Hygiene der Welt“, und sie verherrlichten
wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg die
„schönen Ideen, für die man stirbt“.
Rhythmus und Sequenz In seinem Manifest beschreibt Marinetti eine neue
Schönheit, die Schönheit von Bewegung und Geschwindigkeit. Den Futuristen ging
es vor allem darum, Schnelligkeit und Vitalität auszudrücken. Dazu nutzten sie
rhythmisch wiederkehrende Linien, unterbrochene Sequenzen sowie verzerrte Formen, die ihnen aus der Fotografie und von den damals neuen Röntgenbildern vertraut waren. Die Objekte werden aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, wenn
auch nicht in so rigorosen Mehrfachansichten wie beim Kubismus. Kräftige Farben,
geschmeidige oder gebrochene Pinselstriche und gesplitterte runde oder diagonale
Linien tragen zum Eindruck von Bewegung und Licht – in zwei und drei Dimensionen – bei. Kontrastfarben wurden nebeneinandergesetzt, um die Bilder hell und
lebendig erscheinen zu lassen. Viele davon zeigten konkrete
Dinge, aber einige waren auch abstrakt, weil die meisten KünstIch will das Neue ler den Prozess des Schaffens für genauso wichtig hielten wie
malen, die Frucht das Ergebnis und zudem Intuition und Simultanität (Gleichzeiunserer industriellen tigkeit verschiedener Bewegungsphasen) sehr schätzten.
Zeit.
Die erste größere Ausstellung der Futuristen fand 1911 in
Mailand
statt, ging 1912 nach Paris und danach in viele andere
Umberto Boccioni
europäische Städte. In Zürich, Wien, Berlin, London und Brüssel
sorgte sie für große Aufregung. Die futuristischen Ideen breiteten sich in vielen Ländern aus und regten dort viele Künstler an. Und schon bald
kritisierten die Futuristen mit ihren radikalen, gegen die Tradition gerichteten Ideen
den Kubismus als zu wenig vorausdenkend. Letztlich erwies sich jedoch der Kubis-
‚
ʻ
Futurismus
‚
Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine
neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der
Geschwindigkeit.
Filippo Tommaso Marinetti
ʻ
mus als weitreichender und einflussreicher. Unterdessen wurde der Futurismus auch
in verschiedenen anderen Kunstgattungen – darunter Bildhauerei, Poesie und Musik
– präsent. Denn die Ursprungsgruppe hatte ihr Werk durch Vorträge, öffentliche
Ausstellungen und publikumswirksame Auftritte bekannt gemacht – und damit
moderne PR-Methoden vorweggenommen.
Die Wirkung des Krieges In Ihrer Begeisterung für die Schönheit des Krieges hatten die Futuristen die Sinnlosigkeit der Zerstörung übersehen, die die von
ihnen so verehrten Maschinengewehre anrichteten. Mit dem Eintritt Italiens in den
Ersten Weltkrieg im Jahre 1915 wendete sich ihr naiver Enthusiasmus ins Gegenteil. 1916 fielen Boccioni und der futuristische Architekt Antonio Sant’Elia (1888–
1916), Russolo wurde schwer verwundet. Zwar formierte sich nach 1918 erneut
eine futuristische Gruppe, aber die Mehrheit der Künstler war nun desillusioniert
und hatte andere Ideale. Trotz seiner anfänglichen Durchschlagskraft verschwand
der Futurismus. Allerdings hinterließ er Spuren in vielen Ländern und in verschiedenen Kunstrichtungen wie dem russischen Futurismus, Art déco, Vortizismus,
Konstruktivismus, Dadaismus oder Surrealismus.
esVitalität
geht und Kraft
Ausdruck Worum
von Dynamik,
des Maschinenzeitalters
111
112
Der Beginn der Moderne
28 Shin-hanga
(1915--1942)
Shin-Hanga – übersetzt: neue Drucke – ist eine japanische Kunstrichtung, welche die Tradition der Ukiyo-e-Holzschnitte neu beleben wollte,
indem sie westliche Kunsttechniken einbezog. Diese neuen Drucke
kamen in der Taishō- bzw. Shōwa-Zeit auf und waren zugleich modern
und romantisch. Die Shin-hanga-Künstler nutzten das System der Ukiyoe-Künstler, die mit Holzschneidern, Druckern und Verlegern zusammenarbeiteten.
Den Begriff „Shin-hanga“ führte 1915 Watanabe Shōzaburō (1885–1962) ein,
der japanische Drucke herstellte und vertrieb. Er fand das Nachdrucken alter
Ukiyo-e-Holzschnitte nicht mehr befriedigend und beschloss, Drucke in einem
neuen Stil zu verlegen, der die Traditionen der japanischen Druckgrafik mit
Kunstrichtungen westlicher Zeichnungen und Gemälde vereint. Die Sujets reichten
von Landschaften, Stadtansichten und Portraits schöner Frauen oder Schauspieler
über Vögel und Blumen bis hin zu frei gewählten Themen. Watanabe brachte
japanische und westliche Künstler im Atelier seines effizienten Kunstgrafik-Verlags zusammen. Bald eröffneten auch andere derartige Ateliers. Shin-hanga erlebte
zwischen 1915 und 1942 eine Blüte und hielt sich nach Kriegsende bis in die
1950er Jahre.
Westlicher Stil Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das Ukiyo-e angesichts
der Massenproduktion von Druckwerken überlebt. Die Grundidee der neuen Shinhanga-Drucke bestand darin, sich einerseits auf die traditionelle Technik zu stützen,
mit der japanische Holzschnitte vom 17. bis 19. Jahrhundert gedruckt wurden,
andererseits aber auch Neuerungen europäischer Kunststile aufzugreifen. Der Stil
dieser neuen Drucke ist daher durch den Impressionismus und Realismus beeinflusst, während die traditionellen Ukiyo-e-Motive beibehalten werden, etwa fukeiga
Zeitleiste
1912
1915
1919
Ende der Meiji-Zeit und Beginn
der Taishō-Zeit
Es gibt einige neue Ukiyo-e-Drucke; Watanabe
Shōzaburō begründet das Shin-hanga; Natori
Shunsen arbeitet für die Zeitschrift Shin Nagao
(Neue Bilder) an einer Bilderserie
Hasui Kawase beginnt mit
der Serie Zwölf Szenen
von Tokio
Shin-hanga
Sōsaku-hanga
Shin-hanga wird oft als Gegensatz zum
Sōsaku-hanga gesehen, das um 1910 aufkam und übersetzt „kreativer Druck“
bedeutet. Dabei zeichneten, schnitten und
druckten die Sōsaku-hanga-Künstler ihre
Holzschnitte selbst, während sich die
Shin-hanga-Künstler auf das Zeichnen
beschränkten und im übrigen Fertigungs-
prozess mit Holzschneidern, Druckern und
Verlegern zusammenzuarbeiten. Beide
Gruppen standen sich feindselig gegenüber. Shin-hanga-Künstler hielten sich für
ebenso kreativ und betonten, dass sie ja
nur die mechanischen Prozesse der
Drucktechnik anderen überlassen würden.
– Landschaften, bijinga – schöne Frauen oder yakusha-e – Kabuki-Schauspieler. Im
Gegensatz zu den flächigen, stilisierten Ukiyo-e-Bildern sind im Shin-hanga die
Wirkung von Licht und Luft, natürliche Farben, Kontraste und die Perspektive integriert. Aber die Shin-hanga-Künstler übernahmen nicht einfach diese Ansätze der
westlichen Kunst eins zu eins, sondern brachten ihre eigenen Ideen und Methoden
aus der östlichen Kunsttradition mit ein. Einige Werke sind nostalgische Darstellungen freier Landschaften und traditioneller Holzarchitektur, die damals schon zunehmend aus Japan verschwanden. Unerwartet kamen aber neue Ideen und frische
Kompositionen zu der fließenden Darstellung in akkurater Tradition hinzu. Shinhanga wird deshalb oft auch als Neo-Ukiyo-e bezeichnet. Watanabe verwendete ab
1921 einen neuen Begriff, Shinsaku-hanga, übersetzt: neu geschaffene Drucke, um
die Besonderheit dieser Werke hervorzuheben.
Bekannte Shin-hanga-Künstler Einige Shin-hanga-Künstler wurden sehr
bekannt. 1919 kam der Landschaftskünstler Kawase Hasui (1883–1957) in Watanabes Gruppe. Kawases Werk ist stimmungsvoll und traumähnlich, seine berühmtesten Bilder zeigen nächtliche oder verschneite Ansichten – 1956 wurde er von der
Japanischen Regierung zum lebenden Nationalschatz erklärt. Ohara Koson (1877–
1945) war ursprünglich Maler, wendete sich dann aber dem Shin-hanga zu; seine
häufigsten Motive sind Vögel und andere Tiere. Itō Shinsui (1898–1972) hat in den
1921
1922
1930
1939
In Tokio werden 150 Werke von zehn Shinhanga-Künstlern bei einer Ausstellung der
neuen kreativen Druckgrafik gezeigt. Yoshida
Hiroshi: Segelschiffe (sechs Drucke)
Ende der Taishō-Zeit; Itō
Shinsui beginnt seine
Serie Zwölf Portraits
neuer Schönheiten
Eine große Shin-hangaAusstellung im Toledo
Museum of Art in Ohio
Gründung der
Gesellschaft für
Militärkunst in Japan
113
114
Der Beginn der Moderne
Kombinierte Stile
Viele Shin-hanga-Künstler übten sich in
westlicher Ölmalerei, bevor oder während
sie sich mit Holzdrucken befassten. Diese
Verbindung von Fähigkeiten und Stilen
ließ reichhaltig im Detail ausgearbeitete
Bilder entstehen, die oft mit natürlichem
Licht und weichen Konturen Stimmungen
einfingen, zugleich aber die traditionell flächige, bunte Gestaltung der Holzschnitte
beibehielt. Im Shin-hanga wurden die Farben nun gemischt und variiert, um
bestimmte Stimmungen auszudrücken.
Und es wurden Elemente wie Linear- und
Luftperspektive oder Farbkontraste verwendet und auch der Gesichtsausdruck
portraitiert. All dies ist in den Ukiyo-e-Drucken ursprünglich nicht zu finden.
20 Jahren seiner Zusammenarbeit mit Watanabe Landschaften und Portraits schöner
junger Frauen geschaffen; er war einer der führenden Shin-hanga-Künstler und
wurde ebenfalls zum lebendigen Nationalschatz erklärt. Auch Natori Shunsen
(1886–1960) hat als Maler begonnen, wurde dann aber durch seine Drucke von
Kabuki-Schauspielern bekannt. Yoshida Hiroshi (1876–1950) entwarf vor allem
Landschaftsbilder, an denen die durch Licht und Farben erzeugten Stimmungen
bewundert wurden. Ähnlich wie viele impressionistische Werke zeigen diese
Drucke dasselbe Motiv zu verschiedenen Tages- oder Jahreszeiten. Hashiguchi
Goyō (1880–1921) stellte seinen ersten Shin-hanga-Druck schon 1915 her und
schuf in den wenigen Jahren bis zu seinem Tod Portraits japanischer Schönheiten
in natürlicher Pose. Torii Kotondo (1900–1976) portraitierte ebenfalls schöne
Frauen. Yoshida Toshi (1911–1995) schließlich experimentierte mit abstrakter
Kunst, bevor er wieder zu seinen Lieblingsmotiven zurückkehrte: Landschaften
und Tieren.
Verbreitung Es gab für Shin-hanga in Japan keinen Markt im eigentlichen
Sinne, aber in Europa und den USA, wo japanische Kunst und Kultur bereits im
ausgehenden 19. Jahrhundert ein Renner waren und die Nachfrage nach Ukiyo-e
sehr groß war. So wurde auch Shin-hanga im Westen wohlwollend aufgenommen.
Im Allgemeinen war Ukiyo-e nach Ansicht der Japaner inzwischen ein kommerzielles Massenprodukt. Watanabe verlegte deshalb Shin-hanga zunächst nur für den
japanischen Markt. Bald aber gab es in den USA und Europa begeisterte Käufer, die
von der Komposition und den eindrücklichen romantisierenden Darstellungen von
Personen und Ansichten angetan waren. In Japan fiel die Druckgrafik im 20. Jahrhundert im Ansehen hinter Ölmalerei und Bildhauerei auf den dritten Platz zurück.
‚
Shin-hanga
ʻ
Kunst ist die Illusion von Spontaneität.
Japanisches Sprichwort
Shin-hanga war dort nie so geachtet wie im Westen, auch wenn es 1921 in Tokio
eine Shinsaku-hanga-Ausstellung gab, bei der 150 Werke von zehn Shin-hangaKünstlern gezeigt wurden. In den 1930er Jahren gab es zwei große Shin-hangaAusstellungen in Ohio in den USA. In Japan hingegen wurde 1939 – in dem Jahr, in
dem mit dem deutschen Einmarsch in Polen der Zweite Weltkrieg begann – eine
Künstlervereinigung gegründet, um offizielle Kriegsbilder und entsprechende Propaganda zu fördern. Ab 1943 war Künstlermaterial rationiert, der Markt für Kunstgrafik brach zusammen und erholte sich auch nach dem Krieg nie mehr ganz.
Worumder
estraditionellen
geht
Verschmelzung
japanischen Druckgrafik mit westlichen
Stilen
115
116
Herausforderungen und Wandel
29 Dadaismus
(1916--1922)
Dada war eigentlich keine Kunstrichtung, sondern eine Protestbewegung
während des Ersten Weltkriegs. Die Beteiligten sprachen von Antikunst
und protestierten gegen die Grausamkeiten des Kriegs und den Irrsinn
einer Welt, die diesen Krieg zugelassen hatte. Bezeichnenderweise
begann der Dadaismus 1916 in Zürich auf neutralem Boden – zwei Jahre
nach Kriegsbeginn.
Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erreichte das Töten ein bis dahin nie
dagewesenes Ausmaß, das den Glauben an die Werte der Gesellschaft, die das
zuließ, grundlegend erschütterte und zu zorniger Ablehnung und Rebellion führte.
Dada war eine Form dieses Widerstands und zielte auf die künstlerischen und kulturellen Werte. Die entsetzlichen Kriegsgräuel sahen die Dadaisten als Folge einer
bedrückenden Unbeugsamkeit von Gesellschaft und Kultur an. Sie erklärten Kunst
und Gesellschaft angesichts der Grausamkeit des Menschen gegen den Menschen
für fragwürdig und überflüssig. Bei ihrem Versuch, die traditionellen Werte der
Kunst zu zerschlagen, insbesondere die Idealisierung der Vergangenheit, schufen sie
bewusst sinnlose Werke, die mit allen tradierten Kunststilen brachen und die Sinnlosigkeit des Krieges zeigen sollten. Die Dadaisten wollten in verschiedener Hinsicht provozieren: Mit ihrer Antikunst verbanden sie ihren Protest gegen Krieg und
auch Kapitalismus.
Spott und Verachtung Während des Ersten Weltkriegs gingen viele Künstler
nach Zürich in der neutralen Schweiz. Bei ihren Treffen und Diskussionen über die
Abscheulichkeiten des Krieges und seine Auswirkungen entstand der Dada-Zürich.
Zu seinen Gründern gehörten der Schriftsteller Hugo Ball (1886–1927), der Künstler und Dichter Hans Arp (1887–1966), der rumänische Dichter Tristan Tzara
(1886–1930) und einige andere. 1916 eröffnete Ball zusammen mit Emmy Hennings (1885–1948), seiner späteren Frau, in Zürich das „Cabaret Voltaire“, einen
Zeitleiste
1913
1916
1917
Duchamp stellt seine
ersten Readymades aus
Beginn der Prohibition in den USA mit Alkoholverbot
in 24 Staaten; in Zürich öffnet das „Cabaret Voltaire“
und Hugo Ball verliest das Gründungsmanifest; das
erste Heft von Dada erscheint
Nach nur einem Jahr muss das „Cabaret Voltaire“
schließen; die Dada-Künstler verlegen ihre Auftritte
in ein anderes Lokal; Marcel Duchamp: Fontain
Dadaismus
‚
Dada war eine Bombe … Kann man sich irgendjemand
vorstellen, der fast ein halbes Jahrhundert nach der Explosion einer
Bombe sich damit abgibt, ihre Splitter zu suchen, sie
zusammenzusuchen, sie zusammenzukitten und sie zu zeigen?
Max Ernst
ʻ
Treffpunkt für Künstler, die gegen den Krieg und soziale Missstände auftraten. Ihre
Veranstaltungen waren laut und stürmisch und brachten neue Formen wie Lautpoesie oder Simultangedicht, verknüpften Redebeiträge mit Tanz und Musik. Man
unterstützte die Provokationen von Künstlern und Publikum. 1917 kam die Zeitschrift Dada heraus – der viele Dada-Publikationen folgten.
1917 musste das „Cabaret Voltaire“ schließen, aber die Dadaisten trafen sich
weiterhin an neuem Ort. Ball meinte, dass „Kunst nicht Selbstzweck ist … sie ist
uns eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahren Zeitempfinden.“ Bald gab es
Dada auch in Paris, Berlin, Köln oder New York. Zu den dadaistischen Künstlern
gehörten Marcel Duchamp (1887–1968), Francis Picabia (1879–1953), Kurt
Schwitters (1887–1948), der bereits als Expressionist erwähnte George Grosz, Max
Ernst (1891–1976) und einige andere.
In ihrer Absicht zu provozieren mischten die Dadaisten Themen und Materialien
neu. Sie veranstalteten außer ihrem Kabarett öffentliche Versammlungen und
Ausdruck der Ablehnung
„Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist
furchtbar einfach. Im Französischen
bedeutetʼs Steckenpferd. Im Deutschen
heißtʼs Addio, steigts mir den Rücken runter. Auf Wiedersehen ein andermal! Im
Rumänischen: ‚Ja wahrhaftig, Sie haben
recht, so istʼs. Jawohl, wirklich, machen
wir.ʻ Und so weiter.“ So steht es im Mani-
fest, das am ersten Dada-Abend von Hugo
Ball vorgetragen wurde, und weiter heißt
es: „Dada Psychologie, Dada Deutschland
samt Indigestionen und Nebelkrämpfen,
Dada Literatur, Dada Bourgeoisie, ... Dada
Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution
und kein Anfang …“
1918
1920
1922
Ende des Ersten Weltkriegs;
Tristan Tzara: Dada Manifesto
Der Polizeipräsident von Köln versucht, die Dadaisten
strafrechtlich zu belangen, weil sie für etwas, das keine
Ausstellung gewesen sei, in betrügerischer Absicht
Eintritt genommen hätten; Kurt Schwitters: Merz 163
Ende der
DadaBewegung
117
118
Herausforderungen und Wandel
‚
Was man gemeinhin
Wirklichkeit nennt, ist,
exakt gesprochen, ein
aufgebauschtes
Nichts.
Hugo Ball
Demonstrationen, brachten Kunst- und Literaturzeitschriften
heraus. Sie setzten Verse, spontanes automatisches Schreiben
sowie Collagetechniken in einer kreativen Weise ein, die die
Happenings der 1960er Jahre vorwegnahm. Betont wurden dabei
das Absurde und die Respektlosigkeit gegenüber der Realität.
Angesichts von Millionen gefallener Soldaten sollten durch die
Betonung von Spontaneität und Zufall die traditionelle Schönheit und Ästhetik der Kunst zerstört werden. Hans Arp beschrieb
die Antikriegshaltung so: „Angeekelt von den Schlächtereien des
Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin.“
ʻ
Unsinn Die Basis des Dadaismus war der Unsinn. Er war kein einheitlicher Stil
und umfasste auch nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die darstellende
Kunst, Musik und Literatur. Um ihre Ansichten bekannt zu machen, bombardierten
die Dadaisten die Öffentlichkeit mit Respektlosigkeiten. In ihrer Auflehnung gegen
die bürgerlichen Werte versuchten sie, die etablierte Kunst zu vernichten, und provozierten mit antibürgerlichem und unkonventionellem Verhalten. Sie knüpften
zwar an Ideen früherer Kunstrichtungen an – übernahmen etwa vom Kubismus die
Collage, vom Film die Fotomontage oder vom Futurismus die Dynamik und Publikumswirksamkeit –, kritisierten aber dennoch die Rolle der Kunst ihrer Zeit. Arp
ließ Papierschnipsel auf Karton fallen und klebte sie dort auf, wo sie nach dem
Gesetz des Zufalls aufgetroffen waren. Man Ray (1890–1976) fügte Alltagsgegen-
Readymades
In New York stellte Duchamp „Readymades“ aus, industrielle Gebrauchsgegenstände, die er aus dem Funktionszusammenhang gelöst hatte und nun zu Kunstwerken erklärte – etwa indem er sie auf
den Kopf stellte oder mit anderen Gegenständen zusammenfügte. Damit warf er
die Frage auf, was Kunst ausmacht, und
hebelte die üblichen Kunstkonzepte aus.
Die Betrachter mussten Objekte als Kunstwerke akzeptieren, die nichts mit der tradierten Kunst zu tun hatten. Die Auswahl
und die Arrangements seiner Readymades
spiegeln seinen Sinn für Ironie, Humor und
Doppelbödigkeit wider. Readymades wurden später als Alltagsobjekte charakterisiert, die in den Rang von Kunstwerken
erhoben wurden, weil ein Künstler sie ausgewählt hatte. Zu Duchamps Readymades
gehören beispielsweise ein umgekipptes
handelsübliches Urinal, das er seitlich mit
„R. Mutt“ signiert und als Fontain (wörtlich:
Quelle) betitelt hat, und ein Schneeschieber mit der auf einen Armbruch anspielenden Aufschrift In Advance of the Broken
Arm.
stände zu Assemblagen (dreidimensionalen Collagen) zusammen.
Schwitters gab seinen Collagen aus Zeitungsausschnitten,
Reklame und Abfall den Titel Merz – das Wort war ursprünglich
ein Ausschnitt aus dem Schriftzug einer Kommerz- und Privatbank und wurde dann mit vielen deutschen Wortassoziationen
verbunden. Und Duchamp wurde durch seine Readymades
berühmt.
Politische Bezüge
Dadaismus
‚
Ich habe mich
gezwungen, mir selbst
zu widersprechen, um
zu vermeiden, dass
ich meinem eigenen
Geschmack nachfolge …
Marcel Duchamp
ʻ
Die Dadaisten waren den Futuristen
anfangs freundschaftlich verbunden, aber die Freundschaft
endete, als deren extremer Nationalismus und Militarismus
erkennbar wurde. Der Dadaismus breitete sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter
aus und war in Deutschland und Frankreich (Paris) besonders politisch. In Deutschland richtete sich der Protest gegen die politischen und sozialen Missstände und
Krisen der Weimarer Republik und insbesondere gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Zwischen 1918 und 1922 bekam der Dadaismus sogar international
neuen Auftrieb. Zu seiner Auflösung führten schließlich Meinungsverschiedenheiten zwischen Tzara, Picabia und André Breton (1896–1966), der als bekannter Literat in Paris den Dadaisten nahestand. Der Dadaismus hatte enormen Einfluss und
bildete die Grundlage des Surrealismus.
esund
geht
RebellionWorum
gegen Kunst
Gesellschaft
in und nach dem Ersten Weltkrieg
119
120
Herausforderungen und Wandel
30 Suprematismus
(1915--1935)
In der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts entwickelten sich verschiedene Kunstrichtungen, die sich der Abstraktion verschrieben. Eine
davon leitete sich direkt vom Kubismus und Futurismus ab – sie wurde
in Russland von dem Maler und Kunsttheoretiker Kasimir Malewitsch
(1879–1935) begründet. „In meinem verzweifelten Bemühen, die Kunst
vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien, floh ich zur Form
des Quadrats“, erklärte er.
Der geometrische Stil Malewitschs machte ihn zum Avantgardekünstler des frühen
20. Jahrhunderts. Mit der Bezeichnung „Suprematismus“ verband er das „Bemühen,
die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien“.
Sieg über die Sonne Im Dezember 1915 zeigte Malewitsch erstmals sein
suprematistisches Werk in der Letzten futuristischen Ausstellung 0.10 in Petersburg.
Unter den 37 abstrakten Bildern, die er zu dieser Ausstellung auslieh, war ein
Gemälde von 1913 mit dem Titel Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, das auf
den Bühnen- und Kostümentwürfen zur russischen Oper Sieg über die Sonne
beruhte. Dieses Gemälde war in der Ausstellung über einer Türe platziert, wo traditionell die Ikonen in den Wohnungen der russischen Familien hingen. Auch die
anderen Malewitsch-Bilder in dieser Ausstellung bestanden nur aus Vierecken,
Kreisen, Dreiecken oder Kreuzen, die in nur einem Farbton gemalt waren, ganz
ohne Abstufungen. Zur 0.10-Ausstellung verfasste Malewitsch die schmale Begleitschrift Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus, in dem er den Fortschritt der Avantgardekunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt.
Eine reine Sprache des Malens Malewitsch hatte bereits 1912 Bilder mit
kubistischen und futuristischen Stilelementen auf Ausstellungen der Künstlergruppen Der Blaue Reiter und Eselsschwanz in Deutschland bzw. Moskau gezeigt. Mit
Zeitleiste
1913
1915
1916
1917
Kasimir Malewitsch entwirft für die
futuristische russische Oper Sieg
über die Sonne das Bühnenbild
und die Kostüme
Malewitsch: Schwarzes Quadrat
auf weißem Grund; Broschüre
Vom Kubismus und Futurismus
zum Suprematismus
Malewitsch erweitert das
Suprematistische Manifest
Russische Revolution
Suprematismus
der Reduktion der Bildelemente auf einfache geometrische Formen und monochrome Flächen glaubte er, das Höchste an künstlerischem Ausdruck erreicht, und
die Malerei von jeder politischen oder sozialen Bedeutung oder Verbindung befreit
zu haben. Statt darzustellen, was sie um sich herum sahen, eliminierten die Suprematisten alles Sinnträchtige, Symbolische oder
… nur die Nacht habe
Narrative und verdichteten alle Elemente zu den einfachsten und
ich empfunden, und in
reinsten Formen. So erreichten sie am Ende das, was sie für eine
ihr habe ich das Neue
neue kreative Realität hielten.
Wie der Kubismus und Futurismus war auch Malewitsch durch erblickt, das ich
Suprematismus
die Kunst der Naturvölker beeinflusst, ohne jedoch den Bezug
nannte.
zur Umwelt mit diesen Stilen zu teilen. Er ließ sich auch von
Mathematik, Philosophie und den Vorstellungen zur „vierten
Kasimir Malewitsch
Dimension“ leiten. Seine Formen, Linien und Farben scheinen
vor der Leinwand zu schweben, abgelöst von jedem erkennbaren
gegenständlichen Bezug zum Leben. Indem er die Betrachter, die Darstellungen von
Dingen oder etwas Wiedererkennbares erwarteten, enttäuschte, brach er mit Konventionen. Er glaubte an die reine Sprache der Malerei, drückt sie doch die innere
Erregung des Künstlers aus.
‚
ʻ
Kasimir Malewitsch
Malewitsch hat die Farbe Weiß einmal als
Farbe der Unendlichkeit bezeichnet. Seine
weißen Hintergründe sollten Raum, Entfernung und Dauerhaftigkeit andeuten. Indem
er seine Palette auf wenige Farben
beschränkte, hob er die Einfachheit der
Formen hervor, die wie zufällig auf der
Leinwand verstreut wirken. Diese abstrakten, flachen Formen vermeiden jeglichen
Anschein von Bezügen zur Umwelt des
Betrachters und ermutigen ihn, sich
gedanklich von allen Erwartungen frei zu
machen und jenseits von Bewusstsein und
Gedächtnis das Bild auf sich wirken zu
lassen. Alle seine Bilder wurden mit Linienraster komponiert. Den Eindruck von
Bewegung erreichte er mit Diagonalen,
Drehung der Winkel und unregelmäßiger
Platzierung der Formen.
1918
1922
1923
1932
Ermordung von Zar Nikolaus II. (1868–1918)
durch die Bolschewiken; Malewitsch:
Suprematistische Komposition; Weiß auf
weiß
El Lissitzky:
Proun 19D
Ilya Tschaschnik (1902–1929):
Suprematistische Komposition;
Iwan Kljun (1873–1943):
Sphärische Komposition
Der Sozialistische Realismus wird
vom Zentralkomitee der KPdSU
als offizieller Kunststil verordnet,
abstrakte Kunst streng verboten
121
122
Herausforderungen und Wandel
Die russische Revolution Malewitsch sprach von einer „Suprematie der
reinen Empfindung in der bildenden
Kunst“. Es ist kein Zufall, dass sich diese
revolutionäre Kunstrichtung kurz vor der
Russischen Revolution von 1917 entwickelte: Malewitsch und seine Anhänger unterstützten die Revolution und
begründeten den Suprematismus mit
idealistischen Prinzipien – im Glauben,
eine neue Gesellschaft mitgestalten zu
können, in der statt Habgier geistige
Freiheit herrscht. Mit dem Versuch, alle
gegenständlichen Bezüge zur Umwelt zu
löschen, wollten die Suprematisten in
einer Gesellschaft, die ethische Werte
und Prinzipien kaum mehr beachtete,
Reinheit erreichen. Malewitsch war nicht
religiös, aber er hielt seinen künstlerischen Ansatz für spirituell.
Kasimir Malewitsch: Suprematistische
Komposition,
1915, Öl auf
Leinwand.
Universelle Kunst Malewitsch
arbeitete ab 1916 an einer erweiteren
Fassung seines Begleittexts zur 0.10Ausstellung von 1915 unter dem Titel:
Vom Kubismus und Futurismus zum
Suprematismus: Der neue malerische
Realismus – seinem „Suprematistischen
Manifest“. Malewitsch erläutert darin,
dass er mit dem Schwarzen Quadrat die
„Null der Formen“ und eine neue Sprache in der Kunst geschaffen habe, die
alle früheren Konventionen aufgibt. Er
erklärt auch die drei Entwicklungsstufen des Suprematismus: Die Malerei
beginnt mit Schwarz, dann folgt Farbe und zuletzt kommt Weiß. Zum dritten
Stadium gehören seine Weiß-auf-weiß-Bilder von 1918, in denen die Farbe völlig
verschwunden ist und nur noch geometrische Formen sichtbar sind.
Der Suprematismus beruhte teilweise auf universellen Ideen, war zugleich
aber auch eine von westeuropäischen Traditionen unabhängige russische Entwicklung. Die Anlehnung an die russische Ikonenmalerei war ein bewusstes Anknüpfen
Suprematismus
‚
Das schwarze Quadrat auf dem weißen Feld war die erste
Ausdrucksform der gegenstandslosen Empfindung:
das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld = das Nichts
außerhalb dieser Empfindung.
Kasimir Malewitsch
ʻ
an eine alte Tradition, die in Russland fest
Gruppe UNOWIS
verwurzelt und bewundert war. Bei seinen
1915 begann Malewitsch mit anderen Künstersten suprematistischen Bildern malte Malelern zusammenzuarbeiten, die sich 1920 zur
witsch schwarze Figuren wie Kreuz oder
Kreis auf weißen Grund nach den KomposiGruppe UNOWIS (Bestätiger der neuen Kunst)
tionsregeln der Ikonen, die die Hauptfigur in
zusammenschlossen. Darunter waren El Lisder Bildmitte zeigen, oft vor einem ebenfalls
sitzky (1890–1941), Ljubow Popowa (1889–
zentralen Kreuz im Hintergrund oder einem
1924), Olga Rosanowa (1886/87–1918), Alekreisförmigen Heiligenschein.
xandra Exter (1882–1949) und einige andere.
Malewitsch arbeitete 1922 mit anderen
Sie diskutierten bei ihren Treffen ihre WeltanSuprematisten an dreidimensionalen Werken.
schauungen und ihre Überzeugung, dass der
1927 erschien sein Bauhaus-Buch Die gegenSuprematismus die Welt verbessern helfen
standslose Welt, in dem er seine Theorie der
würde.
abstrakten Kunst und die Entstehung von
Schwarzes Quadrat auf weißem Grund darlegt. Nach dem Aufstieg Stalins im Jahr 1924
und der Proklamation des Sozialistischen Realismus im Jahr 1932 wurde der Suprematismus in der Sowjetunion unterdrückt, blieb aber international wegweisend in
Kunst, Architektur und Design.
Worum
es geht und
Befreiung
von der Kunsttradition
Kreierung einer „neuen Sprache“
123
124
Herausforderungen und Wandel
31 Konstruktivismus
(1917--1934)
Die Geschichte der avantgardistischen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts in Russland lässt sich nicht leicht nachverfolgen, denn viele
Kunstwerke und Dokumente zum Konstruktivismus und Suprematismus
wurden nach der Russischen Revolution zerstört. Aber einige der
ursprünglichen Ideen haben Kunst, Architektur und Design nachhaltig
verändert.
Mit der Abdankung von Nikolaus II. endete 1917 in Russland die autokratische
Zarenherrschaft in den Wirren des Ersten Weltkriegs. Nach Kriegsende und nach
der Russischen Revolution war die Welt 1918 unumkehrbar eine andere geworden.
Zudem veränderten auch technische Innovationen wie die Fließbandproduktion bei
Ford, Rolltreppen, Staubsauger, Glühlampen oder die Farbfotografie den Alltag der
Menschen.
Negativer Raum Der Konstruktivismus war wie der Suprematismus vom
Kubismus und Futurismus sowie vom Neoplastizismus inspiriert, besonders aber
von kubistischen Skulpturen. 1913 kam der russische Künstler Wladimir Tatlin
(1885–1953) nach Paris und lernte dort Picasso und seine kubistischen Experimente
mit dreidimensionalen Collagen und Assemblagen kennen. Überzeugt davon, dass
Kunst die moderne Welt der Industrie widerspiegeln müsse, begann er nach seiner
Rückkehr nach Russland, aus verschiedenen Werkstoffen und Schrottteilen abstrakte plastische Reliefs zu konstruieren. Dabei war für ihn von Anfang an der ausgesparte (negative) Raum innerhalb und außerhalb dieser Objekte so wichtig wie
deren Struktur selbst. Zwischen 1913 und 1917 schuf Tatlin also zunächst Bildreliefs („Kontra-Reliefs“) und dann Konstruktionen ohne Bezug zu bestimmten
Gegenständen oder Themen. Ab 1915 arbeitete er mit Alexander Rodtschenko
(1891–1956) zusammen. Beide schufen rein abstrakte geometrische Konstruktio-
Zeitleiste
1914
1917
1918
Wladimir Tatlin beginnt, aus
Werkstoffen und Werkstücken
abstrakte Skulpturen zu schaffen
Nach der Oktoberrevolution wird die
Russische Sozialistische Föderative
Sowjetrepublik, Vorläuferin der UdSSR,
gegründet; Naum Gabo: Konstruktiver Kopf
Der Konstruktivismus
wird von der sowjetischen
Regierung unterstützt
Konstruktivismus
nen, die den Einfluss des Kubismus, Futurismus, Suprematismus und Neoplastizismus erkennen lassen.
Zwei Standpunkte Unmittelbar nach der Russischen Revolution rückten
weitere russische Künstler in den Blickpunkt. Die Brüder Naum Gabo (1890–
1977) und Antoine Pevsner (1884–1962) kehrten beide 1917 nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Westeuropa zurück; Kandinsky war bereits seit 1914 aus
München zurück. Alle diese Künstler drückten in ihren Werken trotz schwieriger
Umstände revolutionäre Ideale aus – in unterschiedlichen Vorstellungen und
Deutungen.
Der von Pevsner geprägte Begriff „Konstruktivismus“ setzte sich 1920 allgemein durch, wurde allerdings schon davor verwendet. Zur Idee des Konstruktivismus gab es zwei verschiedene Einstellungen: Die erste entsprach Tatlins Ansicht,
dass Kunst einem sozialen Zweck diene und jeder Künstler seine individuellen Interessen zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellen müsse. Er strebte nach neuen
Formen mit neuen Materialien, die ihm für die neue soziale Ordnung angemessen
schienen. Die zweite Einstellung ergab sich aus Kandinskys und Malewitschs Überzeugung, dass Kunst im Grunde eher eine persönliche als eine öffentliche Angelegenheit sei, egal wie allgemeingültig ihr letzter Zweck auch sein möge. Den moralisch und spirituell gefärbten Standpunkt unterstützten später auch Gabo und
Pevsner in ihren Kommentaren, und er blieb ein wichtiger Aspekt in der späteren
abstrakten Kunst.
Die politischen Unruhen in Russland
Die russische Avantgardekunst blühte im
Jahr 1917 auf, als der Zar im März
abdankte und die demokratische Übergangsregierung Kerenskis im Herbst
abgesetzt wurde, also während des Weltkriegs und des Bürgerkriegs zwischen
Weißer und Roter Armee. Viele russische
Intellektuelle und Künstler kamen nach
dem Sieg der Bolschewisten in den neuen
Institutionen unter. Der Konstruktivismus
galt als progressiver Stil einer neuen Denkungsart, der Unterstützung verdiente.
1920
1921
1924
1932
Tatlin: Monument für
die Dritte Internationale
Erste konstruktivistische Kunstausstellung in Moskau; Lenin führt
die Neue Ökonomische Politik ein
Tod Lenins und Stalins
Übernahme der Führung in
der Kommunistischen Partei
Der Sozialistische
Realismus wird als offizielle
Kunstrichtung eingeführt
125
126
Herausforderungen und Wandel
Geometrische Abstraktion
In Berlin lernte der aus Ungarn stammende Maler László Moholy-Nagy (1895–
1946) Anfang der 1920er Jahre Avantgardekunst verschiedener Richtungen kennen, darunter auch Beispiele des
russischen Suprematismus und Konstruktivismus. Über einige Monate experimentierte er mit Fotografien und gestaltete
dann auch in seinen Gemälden Architektur
und Maschinen zunehmend abstrakt im
Stil des Konstruktivismus. Dabei reduzierte er die Objekte auf ihre Grundelemente: Farbflächen, geometrische Formen
und einfache Linien. Er unterrichtete später am Bauhaus (vgl. S. 132–135) und verbreitete den Stil dadurch weltweit.
Experimentelle und gegenständliche Themen Der Konstruktivismus
war eine Reaktion auf die Veränderungen in Technik und Alltagsleben und zielte auf
eine Modernisierung von Kunst, Design und Architektur. Gabo und Pevsner beteiligten sich nach ihrer Rückkehr nach Russland daran, indem sie noch mehr bildhauerische Elemente und weitere Bezüge zu Architektur, Maschinen und sonstiger
Technik einführten. Auch Kandinsky engagierte sich hier, während Tatlin diese
Sicht zu stark im Mystizismus verhaftet schien, um noch so objektiv sein zu können, wie er es für angemessen hielt. Weitere Künstler, die sich
dem Konstruktivismus anschlossen, waren Ljubow Popowa,
Ich meine, dass diese
Alexander Wesnin (1883–1959), Rodtschenkos spätere Ehefrau
Bilder die Realität Warwara Stepanowa (1894–1958), Alexej Gan (1889–1942) und
selbst sind.
Ossip Brik (1888–1945). 1922 erschien Gans Buch KonstruktiNaum Gabo vismus, das im Grunde ein Manifest dieser Kunstrichtung ist.
Von 1918 bis 1928 herrschte in Russland Krisenzeit mit einigen Wechseln in der Regierung. Der offizielle Widerstand gegen
die progressive Kunst verstärkte sich. Viele neue Kunstschulen, Künstlerorganisationen und Museen wurden in schnellem Wechsel geplant, zusammengeführt und
wieder aufgelöst. Die Ideen des Konstruktivismus breiteten sich über Holland und
Deutschland jedoch international aus und wurden weltweit populär. Die Idee der
Abstraktion erschien all denen frisch und zukunftsweisend, die die alte Gesellschaft
satt hatten, der sie den Horror der Kriegsjahre zuschrieben. Mit seinen Reliefs und
Skulpturen, seiner kinetischen Kunst und seiner Malerei galt der Konstruktivismus,
der gerne experimentierte, Emotionen von sich wies und alles auf die wesentlichen
Elemente herunterbrach, als fortschrittlich und modern. Oft wurden neue oder
unübliche Materialien verwendet, und der methodische Ansatz stand für die Haupt-
‚
ʻ
Konstruktivismus
‚
Wir wissen nur, was wir tun, was wir machen,
was wir konstruieren; und alles, was wir machen, alles, was wir
konstruieren, sind tatsächliche Gegebenheiten.
Naum Gabo
ʻ
absicht der Künstler, weltweit Frieden und Harmonie zu fördern und all das zu meiden, was zur Entstehung des Ersten Weltkriegs geführt hatte.
Tatlins Turm Während seiner Tätigkeit als Leiter des Moskauer Kommissariats
für Volksaufklärung bekam Tatlin den Auftrag, Monumente zum Ruhm der russischen Erfolge zu schaffen. So entstand von ihm unter anderem ein Modell für ein
geplantes Monument für die III. Internationale (1919/20). Dieser Tatlin-Turm sollte
eine Konstruktion aus Eisen, Glas und Stahl werden. Daran sollten vier große geometrische Elemente aufgehängt sein, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten drehen. Ein paar Jahre später entschied die sowjetische Regierung, dass sich
der Konstruktivismus nicht für Propagandazwecke eigne. 1934 schließlich wurde er
von Stalin, seit 1924 unangefochtener Führer der Kommunistischen Partei, verdammt. Die Ideen des Konstruktivismus haben aber weiterhin die Entwicklung von
Kunst, Design und Architektur in der gesamten westlichen Welt geprägt.
Worum esverschiedener
geht
Zusammenfügung
Materialien zu masselosen
Raumkonstruktionen
127
128
Herausforderungen und Wandel
32 Neoplastizismus
(1917--1931)
Den Begriff „Néo-Plasticisme“ verwendete 1920 der niederländische
Avantgardekünstler Piet Mondrian (1872–1944) zur Beschreibung seines
bahnbrechenden Malstils, der durch geometrische Formen, Grundfarben
und ineinandergreifende Flächenraster gekennzeichnet ist. Der Name
bürgerte sich schnell für eine niederländische Gruppe von Künstlern,
Architekten und Designern ein, die sich „De Stijl“ nannte.
Der Name „Neoplastizismus“ geht auf die holländische Bezeichnung de nieuve
beelding zurück, die wörtlich „neue Gestaltung“ (in der bildenden Kunst) bedeutet.
Er wurde von Mondrian ursprünglich zur Charakterisierung seiner abstrakten
Gemälde vor dem Hintergrund seiner weltanschaulichen Ideale verwendet, dann
aber auch auf die Werke anderer Künstler, Designer und Architekten erweitert. Die
Bezeichnungen „Neoplastizismus“ oder „neue Gestaltung“ drücken das Neue aus,
das in der abstrakten Realität hinter den Bildern liegt – mit einer Abbildung der
sichtbaren Wirklichkeit hatte Mondrian gebrochen.
De Stijl Als Mondrian 1911 aus den Niederlanden nach Paris kam, fesselten ihn
die Arbeiten der Kubisten. Aber trotz dieser Bewunderung ging ihm der Kubismus
nicht weit genug. Er war von den geheimnisvollen religiösen Lehren der Theosophie beeindruckt und wollte seine Kunstvorstellungen mit deren spirituellen Überzeugungen verbinden. Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, ging er zurück in die
Niederlande, wo er den Maler, Architekten und Schriftsteller Theo van Doesburg
(1884–1931) und den Maler Bart van der Leck (1876–1958) traf. Drei Jahre später
gaben Mondrian und van Doesburg die Zeitschrift De Stijl (Der Stil) heraus, in der
sie ihre Kunsttheorien und insbesondere Mondrians Ideen zum Neoplastizismus
publizierten. Im Grunde hofften sie, eine neue internationale Kunst zu schaffen, die
Frieden und Harmonie verbreitet. Ähnlich denkende Künstler kamen hinzu, und
bald stand der Name „De Stijl“ ebenso für die Gruppe wie für die Zeitschrift. Zu
Zeitleiste
1913
1914
1917
Piet Mondrian: Komposition Nr. II;
Komposition mit Linie und Farbe –
eines seiner ersten wirklich
abstrakten Werke
Beim Ausbruch des Ersten
Weltkriegs kehrt Mondrian
in die Niederlande zurück
Van Doesburg und Mondrian bringen die erste Ausgabe
von De Stijl in den Niederlanden heraus; van Doesburg:
Komposition (Die Kuh); Gerrit Rietveld: Rot-Blauer Stuhl
– die erste Design-Anwendung des Neoplastizismus
Neoplastizismus
Die Geometrie der neuen Gestaltung
Mondrian und die anderen Neoplastizisten reduzierten alle bildlichen Gestaltungselemente auf
gerade Linien unterschiedlicher Breite, die auf
weißem Grund ein Raster aus Rechtecken und
Quadraten bilden. Außerdem beschränkten sie
ihre Palette auf die Primärfarben und die unbunten Farben Schwarz, Weiß und Grau, um Darstellung der Wirklichkeit zu vermeiden und statt-
dessen das Wesen universellen Gleichklangs
und Gleichgewichts zu vermitteln. Indem sie nur
gerade Linien und geometrische Felder verwendeten, die in reinen, neutralen Farben gemalt
sind, ließen sie alle Nebensächlichkeiten weg
und erreichten eine Darstellung universeller Ordnung statt eine der gegenständlichen Welt.
Dieses Bild mit vertikalen und horizontalen Linien, die Flächen in verschiedenen Farbtönen umschließen, wurde Mondrian nachempfunden.
1919
1922
Nach Ende des Ersten Weltkriegs geht Mondrian zurück
nach Paris, arbeitet weiter im Stil des Neoplastizismus
und korrespondiert regelmäßig mit van Doesburg
Van Doesburg unterrichtet am Bauhaus in Weimar
eine Architekturklasse im Sinn von De Stijl und
Neoplastizismus
129
130
Herausforderungen und Wandel
den ursprünglichen Mitgliedern gehörten
neben van Doesburg, van der Leck und
Mondrian der belgische Maler und BildDie Theosophie kam gegen Ende des 19. Jahrhauer Georges Vantongerloo (1886–1965),
hunderts in New York auf, benannt nach dem
der ungarische Architekt und Designer Vilgriechischen Ausdruck für „göttliche Weisheit“.
mos Huszár (1884–1960) und die holländiSie ist zwar keine Religion im eigentlichen
schen Architekten J. J. P. Oud (1890–
Sinne, aber sie sieht in allen Religionen wahre
1963), Robert van ‘t Hoff (1887–1979) und
Elemente. Es handelt sich um eine philosophiJan Wils (1891–1972). Die Gruppe erweische Bewegung, die verschiedene Glaubensterte sich schnell. All diese Künstler meinsysteme verbindet und darin eine grundleten, dass der Kubismus bei der Entwickgende universelle Harmonie sucht. Die Theolung der Abstraktion nicht weit genug gehe
sophie glaubt an die Identität aller Seelen, die
und dass der Expressionismus zu subjektiv
sieben Wesensmerkmale teilen, und kennt
sei. Sie standen auch unter dem Einfluss
keinen Unterschied zwischen Volksgruppen,
des russischen Konstruktivismus und
Religionen, Geschlechtern, Klassen oder HautSuprematismus. Die Vorstellungen hinter
farben.
seiner Kunst erläuterte Mondrian in den
ersten elf Ausgaben von De Stijl unter dem
Titel Die neue Plastik in der Malerei und
1920 in seinem Buch Le Néo-Plasticisme, das auf Deutsch unter dem Titel Neue
Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe Beelding erschien.
Theosophie
Universelle Harmonie Mondrian trat 1909 der holländischen Theosophischen
Gesellschaft bei. Für die Zielsetzungen des Neoplastizismus war eine spirituelle
Grundhaltung wesentlich, die auf den idealistischen und anti-materialistischen Vorstellungen der Theosophie beruhte. Mondrian glaubte, dass er eine Kunst im
Gleichgewicht schaffen könne, die Ideen universeller Harmonie möglichst klar ausdrückt, indem er alles um uns herum auf die reinsten Formen zurückführte und nur
noch reine Elemente verwendete. Seine Linienraster sind das Ergebnis einer sorgsamen Befreiung der Bilder vom Unwesentlichen, um die Zeitlosigkeit und die spirituelle Ordnung des Universums aufzudecken. Entsprechend
Die reine plastische bestand er darauf, dass ein Bild weder Zentrum noch FluchtSicht muss eine neue punkt haben darf und dass die Ränder genauso wichtig sind wie
der Rest, so dass der Betrachter das gesamte Bild ausloten muss
Gesellschaft aufbauen,
und sich nicht nur auf einen besonderen Bereich konzentrieren
wie sie in der Kunst eine kann. Das Geflecht aus horizontalen und vertikalen Linien
neue Gestaltung schafft mit seinen entgegengesetzten Kräften ein dynamisches
aufgebaut hat.
Gleichgewicht und den Eindruck von Ruhe und Stabilität ohne
Piet Mondrian Missklang.
‚
ʻ
Neoplastizismus
Neoplastizismus in der angewandten Kunst Die vollständig abstrakten
Bilder des Neoplastizismus beruhen auf einer Reduktion der Formen und Farben
auf ihre einfachsten und grundlegendsten Formen, wie sie im November 1918 in
den acht Punkten eines Manifests beschrieben wurde, das die Künstlergruppe in De
Stijl abdruckte. Es wurde in niederländischer, englischer, französischer und deutscher Sprache europaweit verbreitet. Ein Jahr darauf stieß der Architekt und Designer Gerrit Rietveld (1888–1964) zur Gruppe – was bedeutsame
Folgen für die Entwicklung und Produktion des Neoplastizismus
Diese neue Kunst wird
hatte. Rietfelds Rot-Blauer Stuhl mit seinem schwarzen Holzgeihren
Ausdruck in der
stell, der roten Lehne und dem blauen Sitz war in Grundfarben
Abstraktion von Form
gestaltet – und die erste Anwendung des Neoplastizismus im
und Farbe, das heißt in
Kunsthandwerk.
‚
der geraden Linie und
Die Auswirkungen des Neoplastizismus
Der Neoder klar definierten
plastizismus endete 1931, als van Doesburg in Paris eine neue
Primärfarbe finden.
Künstlergruppe unter dem Namen „Abstraction-Création“ ins
Piet Mondrian
Leben rief. Er starb ein Jahr später, und 1932 erschien die letzte
Ausgabe von De Stijl, die seinem Gedenken gewidmet war. Der
Neoplastizismus und De Stijl haben die Entwicklung des Bauhauses und den internationalen Architekturstil sowie viele andere Kunstrichtungen der Moderne des
20. und 21. Jahrhunderts beeinflusst. Mondrian hat seine Vorstellungen zu reinen
Farben und Formen weiterentwickelt, seine kompromisslosen Abstraktionen gelten
als Höhepunkte der Avantgardekunst. Nach 1938 lebte er in London und ging 1940
in die USA. Als einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts hat er Generationen von Künstlern und Designern beeinflusst.
ʻ
Worum esAbstraktion
geht auf
Reine geometrische
theosophischer Grundlage
131
132
Herausforderungen und Wandel
33 Bauhaus
(1919--1933)
1919 gründete der Architekt Walter Gropius (1883–1969) das Staatliche
Bauhaus in Weimar, das die dortige Kunsthochschule und die Kunstgewerbeschule vereinigte. Ähnlich wie bei der Arts-and-Crafts-Bewegung sollten bildende und angewandte Kunst zusammengeführt werden.
Aber anders als die britische Bewegung setzte das Bauhaus auf die
maschinelle Produktion.
Als Gropius zum Leiter der fusionierten Kunsthoch- und Kunstgewerbeschule in
Weimar berufen wurde, wählte er für die neue Institution den Namen „Bauhaus“ –
ein Haus, in dem es um das Bauen geht. Weimar stand für neue soziale und politische Ideen, die unter Führung der Sozialdemokraten in die Weimarer Verfassung
geschrieben worden waren.
Revolutionärer Unterricht Die Arts-and-Crafts-Bewegung war im ausgehenden 19. Jahrhundert in England von sozialen Ideen inspiriert und förderte eine enge
Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Handwerkern, die Alltagsgegenstände
einfach und unverschnörkelt gestalten sollten. Das führte zu weitreichenden Veränderungen im Design. In Deutschland wurde 1907 als „Vereinigung von Künstlern,
Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“ der Deutsche Werkbund gegründet, in dem Gropius maßgeblich mitarbeitete. Zwölf Jahre später führte er das Bauhaus und organisierte die Schule nach seinen radikalen Vorstellungen mit einer
neuen Zielsetzung. In dem Bestreben, Kunst, Architektur, Handwerk, Design und
Industrie zusammenzubringen, strukturierte er seine Schule anders als herkömmliche Kunstschulen. Schnell wurde das Bauhaus durch seine revolutionären Unterrichtsmethoden und seine avantgardistischen Lehrer und Studenten in Kunst- und
Designerkreisen berühmt. Zu den Lehrern gehörten unter anderem Paul Klee, Lionel Feininger, Johannes Itten (1888–1967), Marcel Breuer (1902–1981), Ludwig
Mies van der Rohe (1886–1969), Josef Albers (1888–1969) und Kandinsky.
Zeitleiste
1919
1920
1921
1925
Walter Gropius
gründet das Bauhaus in Weimar
Gunta Stölzl beginnt,
am Bauhaus zu
unterrichten
Paul Klee und Wassily
Kandinsky kommen ans
Bauhaus; Marcel Breuer
wird dort Student
Marcel Breuer beginnt, am Bauhaus zu
unterrichten; Marianne Brandt gestaltet ihre
silberne Teekanne; Herbert Bayer entwirft
die serifenlose Schrift „Universal“; Umzug
des Bauhauses nach Dessau
Bauhaus
Zusammenwirken von Kunst und
Industrie Am Bauhaus lernten die Stu-
Drei Standorte
denten sowohl die Theorie als auch die
Das Bauhaus hatte in Deutschland drei StandAnwendung von Kunst und Design, um einorte: Es wurde 1919 in Weimar gegründet, zog
mal Produkte schaffen zu können, die sowohl
dann aber 1925 nach Dessau um, als das Land
künstlerischen als auch kommerziellen
Thüringen nach dem Wahlsieg der RechtskonAnsprüchen genügen. Gropius stellte sich
servativen aus politischen Gründen die Mittel
eine Gemeinschaft von Lehrern und Schülern
kürzte und die Industriestadt Dessau in Sachvor, die gleichberechtigt miteinander leben
sen-Anhalt bessere Möglichkeiten bot. Hier entund arbeiten sowie die Kluft zwischen Kunst
stand der von Gropius entworfene moderne
und Industrie überbrücken. Dabei haben die
Komplex aus Lehr-, Werkstätten- und WohngeIdeale des Gründers der Arts-and-Craftsbäuden in Glas, Stahl und Beton. Als 1932 in
Bewegung, William Morris’ (1834–1896),
Dessau die Nationalsozialisten den GemeindeGropius bei der Planung seiner Schule beeinrat dominierten, wich das Bauhaus nach Berlin
flusst. Aber in vieler Hinsicht war das Bauaus, wo es 1933 endgültig von den neuen
haus auch ein Gegenentwurf zur älteren
Machthabern geschlossen wurde.
Bewegung, weil es auf die von Arts and
Crafts abgelehnte Maschinenkultur und Massenproduktion ausgerichtet war.
Das Bauhaus war die erste moderne Schule, die bildende und angewandte Kunst
verband. Leitend war der Ansatz, dass das Handwerk die Grundlage jeder Form von
Kunst ist. Alle Studenten durchliefen einen sechsmonatigen Grundkurs, in dem sie
mit einem breiten Bereich von praktischen und theoretischen Fertigkeiten in Kunst,
Handwerk und Gestaltung vertraut gemacht wurden. Es folgten drei Jahre, in denen
die Studenten sich auf einzelne Gebiete spezialisierten und von zwei Lehrern
betreut wurden, einem Künstler und einem Handwerker. Zu diesen Gebieten gehörten Metallbearbeitung, Kunstschreinerei, Weben, Töpferei, Malerei, Typografie,
Fotografie, Druck und Bildhauerei sowie etwas später Architektur. Alle Studenten
‚
Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! […]
Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk
zurück! […] Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.
Walter Gropius
ʻ
1926
1928
1930
1933
Einweihung des neuen, von Gropius entworfenen Bauhausgebäudes in Dessau;
Marcel Breuer entwirft einen Stuhl aus
Stahlrohr
Hannes Mayer wird
Direktor des Bauhauses
Mies van der Rohe wird
Direktor des Bauhauses,
das nun nach Berlin
umzieht
Das Bauhaus wird von
den Nazis geschlossen
133
134
Herausforderungen und Wandel
‚
Design ist eine lernten schließlich, funktionale Dinge zu entwerfen, bei denen sie die
Massenproduktion im Blick haben sollten. Das Zusammenwirken von
Haltung.
László Moholy-Nagy Kunst und Industrie gehörte zu den Grundsätzen des Bauhauses.
ʻ
Diktatur und Marketing Das Bauhaus hatte drei Standorte und drei
Direktoren, die alle Architekten waren: Walter Gropius (1919–1928), Hannes Meyer (1928–1930) und Ludwig Mies van der Rohe (1930–1933).
Die Wechsel führten jeweils zu Modifikationen des Curriculums, des Lehrkörpers
und der Schulpolitik. So wurde die Töpferei nach dem Umzug nach Dessau nicht
mehr fortgeführt. Gleichwohl änderten sich die Bauhaus-Grundsätze nicht in der
Sache. Als Ideale galten Einfachheit der Gestaltung und Funktionalität, und man
glaubte immer daran, dass auch schön gestaltete Dinge in Massenproduktion hergestellt werden können.
Der Ruf der Schule verbreitete sich dank eines ausgefeilten Marketings sehr
schnell. Die Typografie gehörte zu den besonders beliebten Fächern und wurde
unter der Leitung von Künstlern wie dem Maler László Moholy-Nagy und dem
Gebrauchsgrafiker Herbert Bayer (1900–1985) immer wichtiger. Gropius beauftragte Bayer 1925 mit dem Entwurf einer Schrift für alle Bauhaustexte und -werbemittel. Dieser kreierte eine einfache, serifenlose Schrift ohne Großbuchstaben, die
für die moderne Typografie bahnbrechend wurde.
Als 1928 Hannes Meyer (1889–1954) Nachfolger von Gropius wurde, schaffte er
Teile des Curriculums ab, die er für zu formal hielt. Er stellte zudem die soziale
Funktion von Kunst und Design in den Mittelpunkt. 1930 gab er die Schulleitung
unter dem Druck der zunehmend rechtsgerichteten Landesregierung an den Architekten Mies van der Rohe ab. Auch Mies änderte das Curriculum und gab der
Architektur mehr Gewicht. Die zunehmend instabilen politischen Verhältnisse und
die damit verbundenen Finanzierungsprobleme veranlassten ihn zu einem Umzug
nach Berlin, wo das Bauhaus in reduzierter Form von 1930 bis zu seiner Schließung
durch die Nazis im Jahr 1933 weiterarbeitete. Viele seiner Lehrer emigrierten
schließlich nach England und in die USA, wo sie ihre Vorstellungen an eine neue
Generation von Künstlern und Architekten weitergaben. Das Bauhaus-Ethos eines
guten, funktionalen Designs gehört zu den wichtigsten Prinzipien des 20. Jahrhunderts.
Bauhaus
Bauhaus-Architektur
Als das Bauhaus nach Dessau umzog, entwarf
Gropius einen Gebäudekomplex, der ganz seine
Vorstellungen verkörpert. Nach einer Bauzeit von
nur 13 Monaten bot es den Lehrern und Studenten eine ideale Arbeitsumgebung. Moderne
Werkstoffe und Verfahren wurden genutzt: Stahlträger und Stahlbeton ermöglichten große Glas-
fenster und Flachdächer. Die Anlage ist ein Komplex aus drei Flügeln, die Schule und Verwaltung, Werkstätten und Ateliers beherbergten.
Das immer noch berühmte und einflussreiche
Dessauer Gebäude ist ein Meilenstein in der
modernen Architektur.
Das von Gropius entworfene Bauhaus in Dessau, 1926.
Worum
es
geht
Integration
von Kunst
und
Handwerk bei
der Gestaltung moderner, funktionaler
Objekte
135
136
Herausforderungen und Wandel
34 Pittura Metafisica
(1917--1920er Jahre)
Als Reaktion gegen Kubismus und Futurismus wurde 1917 in Italien die
Pittura Metafisica von Giorgio de Chirico (1888–1978) eingeführt, und
auch der Futurist Carlo Carrà (1881–1966) griff diese „metaphysische
Malerei“ auf. Beide malten traumähnliche, widersprüchliche Bilder, die
unwirklich aussehen. Mit unerwarteten Gegenüberstellungen und dramatischen Perspektiven sollten diese Gemälde mit dem Unterbewussten
spielen.
Bevor de Chirico Maler wurde, absolvierte er eine akademische Ausbildung zum
Ingenieur. Als er 23 war, hatte er bereits in Athen, Florenz und München gelebt, in
diesen drei Städten auch Kunst studiert. In München las er die philosophischen
Werke von Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Otto Weininger (1880–1903) und setzte sich mit den Werken der symbolistischen Maler
Arnold Böcklin (1827–1901) und Max Klinger auseinander. In Florenz malte er
eine Serie von metaphysischen Stadtplätzen, die den Einfluss von Philosophie,
Symbolismus und italienischer Architektur widerspiegeln. Danach malte er bizarre
Stadtlandschaften aus einer anderen Welt.
Gespenstisch und außerirdisch Zwischen 1911 und 1915 lebte de Chirico
in Paris. Vielen der Avantgardebewegungen wie Kubismus oder Futurismus stand er
gleichgültig gegenüber, aber er bewunderte Künstler, die immer noch realistische
Elemente in ihre Bilder einbezogen. Seit Beginn seines Kunststudiums hatte er
immer gegenständlich gemalt. Als er seine Werke im „Salon d’Autumne“ und im
„Salon des Indépendants“ ausstellte, wurden seine Bilder nicht von allen wohlwollend aufgenommen, aber einige waren begeistert, darunter Picasso, Apollinaire und
der Kunsthändler Paul Guillaume (1891–1934).
Als de Chirico im Mai 1915 nach Italien zurückehrte, wurde er als für den Dienst
bei der italienischen Armee untauglich eingestuft und konnte die Kriegsjahre in
Zeitleiste
1906
1910
1913
Giorgio de Chirico geht nach München
und entdeckt dort für sich die Werke
von Böcklin, Klinger, Nietzsche,
Weininger und Schopenhauer
De Chirico kehrt nach Mailand zurück
und geht dann nach Florenz, wo er
bedrohlich wirkende italienische
Plätze auf die Leinwand malt
De Chirico nimmt nach zwei Jahren Parisaufenthalt am „Salon des Indépendants“ und am „Salon
dʼAutumne“ teil; Apollinaire beschreibt de Chiricos
Werk als „metaphysisch“; de Chirico: Die
Unsicherheit des Dichters
Pittura Metafisica
Ferrara mit Malen zubringen, bevor er 1918 nach Rom umzog. Seine damaligen
Bilder zeigen unlogische, aber aussagestarke Szenen, die gespenstisch und
alptraumähnlich wirken. Mit klarer Perspektive, Schlagschatten, geheimnisvollen
Figuren und verfremdetem Licht scheinen die abgebildeten Örtlichkeiten zeitlos
erstarrt, wie eingefroren im Moment. Metaphysische Gemälde wirken generell
statisch, ruhig und oft bedrohlich. Sie inszenieren Architektur der Antike oder der
Renaissance mit übertriebener Perspektive und widersprüchlichen Elementen in
unwirklicher Dramatik. Viele metaphysische Bilder enthalten unerwartete und
unlogische Gegenstände, die insgesamt eine befremdliche Empfindung auslösen.
Visionäre Kunst Mit ihren eindringlichen und verwirrenden Bildern glaubten
die metaphysischen Maler tiefer liegende Dimensionen freizulegen und hinter die
sichtbare Oberfläche des Alltagslebens vorzustoßen. Damit wollten sie den Betrachter anregen, hinter dem äußeren Erscheinungsbild die Rätsel und Geheimnisse zu
suchen, die überall um uns sind. Viele Bilder zeigen einsame, verlassene Stadtplätze
oder bedrückend geschlossene Räume. Die Gebäude und Figuren stehen starr und
still, werfen lange, dunkle Schatten; weit entfernt fahren Züge; auf den menschenleeren Straßen zeigen Uhren die Zeit. Nie gibt es einen Hinweis auf den genauen
Ort, aber die Bilder berühren das Unbewusste und erzeugen beim Betrachter eine
Ahnung und Spannung. Die metaphysischen Maler wollten die Aufmerksamkeit auf
das Geheimnisvolle des Alltags richten. Carrà meinte, dass dies zu einer höheren
Zwei Seiten des Daseins
De Chiricos metaphysische Vorstellungen
beruhten vor allem auf seiner Überzeugung, dass es in der sichtbaren Welt zwei
Arten von Wirklichkeit gibt: eine alltägliche
Existenz, die uns allen vertraut ist, und
eine zweite „spektrale oder metaphysische
Manifestation, die nur von seltenen und
einzelnen Individuen in hellsichtigen
Momenten“ erfasst wird. Er war darin von
Nietzsches Schriften beeinflusst. Bei seinen Bildern geht es darum, über die erste,
alltägliche Art des Daseins hinauszukommen und nach einer rätselhaften und
flüchtigen dahinterliegenden Wirklichkeit
zu streben. Seine Ziele erläutert er in seinem Manifest Noi metafisici von 1918.
1917
1918
1920
De Chirico trifft in Italien mit Carrà, Morandi
und de Pisis zusammen; Gründung der
Scuola Metafisica in Ferrara; Carlo Carrà:
Das verwunschene Zimmer
Ende des Ersten Weltkriegs;
Giorgio Morandi:
Metaphysisches Stillleben
Nach einem Streit zwischen
de Chirico und Carrà löst sich
die Metaphysische Schule auf
137
138
Herausforderungen und Wandel
‚
Es liegt mehr Geheimnis im Schatten eines Mannes, der an einem
sonnigen Tag zu Fuß geht, als in allen Religionen der Welt.
Giorgio de Chirico
ʻ
verborgenen Seinsweise führt. Und wie de Chirico bemühte er sich darum, dass
seine Malweise in der italienischen Tradition insbesondere eines Giotto oder
Uccello steht.
Die Metaphysische Schule Der Begriff „Pittura Metafisica“ taucht um 1913
bei Apollinaire als Beschreibung des Malstils von de Chirico auf. Carrà, der sich
während des Zweiten Weltkriegs vom Futurismus abgewandt hatte, begegnete de
Chirico 1917 während eines Klinikaufenthalts in Ferrara. Beide begannen zusammenzuarbeiten und schufen ihre seltsam
Valori plastici
realistischen Werke. Ihnen schloss sich de
Zwischen 1918 und 1921 erschien in Rom die
Chiricos jüngerer Bruder, Alberto Savinio
Kunstzeitschrift Valori plastici („plastische
(1891–1952) an, ein Schriftsteller und
Werte“) auf Italienisch und Französisch. Der
Komponist, sowie der Maler Giorgio
Herausgeber war der Kritiker und Maler Mario
Morandi (1890–1964) und der Dichter und
spätere Maler Filippo de Pisis (1896–
Broglio (1891–1948). Die ersten Ausgaben ent1956). Sie bildeten die Scuola Metafisica.
hielten Artikel von de Chirico, Carrà und SaviSie diskutierten und erforschten die Ideen
nio, die die Ideen der metaphysischen Malerei
der deutschen Philosophen, die de Chirico
erläuterten. Es gab darin auch Beiträge zur
in München gelesen hatte: Schopenhauers
Avantgardekunst, etwa zu Kubismus und NeoVorstellung vom antizipierenden Wissen
plastizismus, aber die Zeitschrift stand der
des Künstlers, Nietzsches Auffassung von
modernen Kunst eher kritisch gegenüber und
Gesicht und Rätsel sowie Weiningers
propagierte eine Rückbesinnung auf die italieMetaphysik. Auch setzten sie sich mit den
nische Tradition, ihre künstlerischen Techniken
Werken des Symbolismus und Orphismus
und gegenständliche Malweise.
auseinander, mit denen Apollinaire de Chirico in Paris bekannt gemacht hatte.
Anders als die Futuristen experimentierten
die metaphysischen Maler nicht mit neuen Maltechniken, sondern stellten ihre
ungewöhnlichen Visionen im gefälligen Stil eines modernen Klassizismus dar.
Pittura Metafisica
‚
Wenn ein Kunstwerk wirklich unsterblich sein soll, muss es alle
Schranken des Menschlichen sprengen: Es darf weder Vernunft
noch Logik haben.
Giorgio de Chirico
ʻ
Anstoß zum Surrealismus Im Herbst 1919 veröffentlichte de Chirico in
Valori plastici einen Artikel, in dem er die Rückkehr zum „Handwerklichen“ forderte: zu traditionellen Malweisen und Darstellungen. Es begann eine erbitterte
Auseinandersetzung mit Carrà, die ein Jahr darauf zur Auflösung der Gruppe führte,
auch wenn Carrà und Morandi 1921 noch gemeinsam an der Ausstellung Das junge
Italien teilnahmen. Die Pittura Metafisica war eine kurzzeitige Bewegung, aber ihre
Ideen und Ideale blieben länger einflussreich: In Italien entwickelte sich daraus ein
moderner Klassizismus und in Deutschland die Neue Sachlichkeit; in Frankreich
aber gab die Pittura Metafisica den Anstoß zum Surrealismus.
Worum
es geht
Aufdeckung
der verborgenen
Rätsel hinter
dem äußeren Schein
139
140
Herausforderungen und Wandel
35 Harlem
Renaissance
(1920er--1930er Jahre)
In den 1920er und 1930er Jahren gab es in New York bei einigen Afroamerikanern, die in Harlem lebten, einen regelrechten Ausbruch an
künstlerischer Kreativität: Sie brachten ihr afrikanisches Erbe in Musik,
Tanz, Film, Malerei, Theater und Kabarett ein und wurden als „New Negro
Movement“ bekannt – benannt nach der 1925 erschienenen Anthologie
The New Negro des Kunsthistorikers Alain Locke.
Zwischen 1910 und 1939 kamen Millionen Afroamerikaner aus den Südstaaten in
Städte des Nordens wie Chicago, Philadelphia, Cleveland und New York. Harlem
entwickelte sich als neues Viertel Manhattans, wo viele wohlhabende und gebildete
Afroamerikaner sich ansiedelten. Lockes Buch The New Negro ermutigte viele afroamerikanische Künstler, ihre Kreativität zu entfalten, indem sie ihr eigenes Erbe in
den Mittelpunkt rückten.
Die große Migration Bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs im Jahre
1865 hatten 95 Prozent der Afroamerikaner als Sklaven in den Südstaaten gelebt.
Nach Kriegsende wurden die befreiten Sklaven allerdings in den Südstaaten um ihr
Wahlrecht und andere Menschenrechte durch die nun eingeführte Rassentrennung
betrogen. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im zunehmend industrialisierten
Norden neue Arbeitsmöglichkeiten boten, wanderten viele Afroamerikaner aus dem
Süden dorthin ab. Als Amerika 1917 in den Ersten Weltkrieg eintrat, kämpften Hunderttausende der Afroamerikaner als Soldaten für ihr Land, in dem sie keine vollen
Bürgerrechte hatten und rassistischen Vorurteilen ausgeliefert waren. Nach der
Rückkehr aus dem Krieg wurden das gesamte 369. Infanterieregiment („Harlem
Hellfighters“) und auch einige andere afroamerikanische Kriegsteilnehmer als Hel-
Zeitleiste
1919
1923
1925
Afroamerikaner protestieren gegen die
verbreiteten Lynchmorde; in verschiedenen
US-amerikanischen Städten kommt es zu
Aufständen
Am Broadway wird erstmals ein Stück eines
Afroamerikaners gezeigt; der „Cotton Club“ wird
eröffnet; Aaron Douglas entwickelt einen Kunststil,
der ihn als Vertreter der Harlem Renaissance
berühmt machte
The New Negro, herausgegeben
von Alain Locke, macht Texte der
Harlem Renaissance bekannt
Harlem Renaissance
Die Krise
Als 1909 die „National Association fort the
Advancement of Coloured People“
(NAACP) als Institution der Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufen wurde,
gehörte W. E. B. Du Bois (1868–1963) mit
zu den Gründern. Du Bois war Sozialwissenschaftler und ein führender Vertreter
der Bürgerrechtsbewegung. 1910 gab er
das monatlich erscheinende Magazin The
Crisis der NAACP heraus. Der Titel ging
auf das Gedicht The Present Crisis von
James Russell Lowell (1819–1891)
zurück, das die nationale Krise infolge von
Sklaverei und Bürgerkrieg zum Inhalt hat.
Im Mittelpunkt dieses Magazins standen
nicht politische Ziele und soziale Reformen, sondern kulturelle Bildung und Überzeugungsarbeit, mit der die herrschenden
Bürgerschichten mit Gedichten, Artikeln,
Erzählungen und Illustrationen von afroamerikanischen Schriftstellern und Künstlern der Harlem Renaissance vertraut
gemacht werden sollten. Die Auflage stieg
bis 1920 auf 100 000.
den gefeiert, aber viele von ihnen waren nach wie vor nicht in den USA willkommen. Bis 1919 kamen immer mehr Afroamerikaner in den Norden, der Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Wohnungen schlug in Rassenunruhen und soziale Proteste um. In den 1920er Jahren begannen viele Afroamerikaner, die sich in den
Nordstaaten angesiedelt hatten, ihre Wurzeln in Kunst, Literatur, Musik und Tanz
auszuleben. Dieses Bekenntnis zu den eigenen Ursprüngen drückte sich in der
Bezeichnung „New Negro Movement“ aus. Zu dieser Bewegung gehörten vor
allem die aus den Südstaaten eingewanderten Afroamerikaner, aber auch afrokaribische Künstler und Intellektuelle aus den britischen Kolonien in Westindien oder aus
Paris, die nach dem Ersten Weltkrieg in den USA ihr Glück zu finden hofften. Viele
von ihnen wohnten in Harlem, weswegen die Bewegung bald in „Harlem Renaissance“ umbenannt wurde.
‚
Wir jüngeren Negro-Künstler wollen jetzt unser individuelles,
dunkelhäutiges Selbst ausdrücken, ohne Angst oder Scham.
Langston Hughes
ʻ
929
1931
1934
Am Broadway wird der Song Ainʼt Misbehavinʼ
des Jazzpianisten Fats Waller in einer Show
präsentiert; der Börsenkrach an der Wall Street
führt zur Großen Depression
August Savage eröffnet in Harlem
seine Kunst- und Kunstgewerbeschule
Aaron Douglas wird beauftragt, eine
Serie von Wandbildern für die New York
Public Library in Harlem zu gestalten,
unter dem Titel Aspects of Negro Life
141
142
Herausforderungen und Wandel
Rassen- und Sozialintegration Als sich die Afroamerikaner in den Nordstaaten der USA zunehmend etablierten, setzten sie auch ihre Identität durch und
machten ihre Emanzipation aus der Sklaverei sowie ihre afrikanischen Wurzeln
deutlich. Viele, die in und um Harlem aufwuchsen, gehörten zur Mittelklasse und
verfügten über eine gute Bildung. Sie übertrugen den Stolz auf ihr kulturelles Erbe
und widerlegten rassistische Vorurteile. Und zum ersten Mal drangen Kunst, Musik,
Literatur und der Tanz afroamerikanischer Künstler in das amerikanische Kulturleben. Trotz der immer noch bedrohlichen und bedrängenden Rassendiskriminierung
wuchs in Harlem die Hoffnung auf ein besseres Leben, und dieser Optimismus
drückte sich in neuen Kunstformen aus, die nun auch bei vielen anderen US-Bürgern Anklang fanden.
Vielfältige Kulturen und Richtungen Die Harlem Renaissance entwickelte
sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht als einheitlicher Stil, sondern umfasste viele kulturelle Elemente und Ansätze. Sie war so vielfältig wie die
Kulturen, aus denen die Künstler kamen, die nach Harlem gezogen waren. Die Harlem Renaissance konnte sich zwar bereits auf afroamerikanische Mäzene stützen,
hing aber nach wie vor auch von der Unterstützung durch die herrschende Oberschicht ab, die wichtige Verbindungen zur Kulturszene hatte und breitere Möglichkeiten eröffnen konnte. Viele euroamerikanische Mäzene interessierten sich nun
insbesondere für die „primitive“ Kultur der Afroamerikaner.
Zur Harlem Renaissance gehörten sehr unterschiedliche Künstler. Aaron Douglas
(1898–1979) wurde mit seinen Wandbildern an öffentlichen Gebäuden und mit seinen vielen Coverillustrationen als „Vater der afroamerikanischen Kunst“ bekannt –
er gestaltete auch die Titelseiten der beiden großen Zeitschriften The Crisis und
Opportunity. William H. Johnson (1901–1970) kam 1918 aus South Carolina nach
Harlem und war der erste Künstler afrikanischer Abstammung, den die amerikanische Kunstwelt nachhaltig anerkannte. Seine Bilder sind eine Mischung aus „primi-
Jazz
Ein starkes Element der Harlem Renaissance war der Jazz. Im „Cotton Club“ traten Berühmtheiten wie Duke Ellington
(1899–1974) mit seiner Band und Louis
Armstrong (1901–1971) auf, und oft wurde
die Musik aus diesem berühmten Jazzclub
im Rundfunk übertragen. Der Jazz bot den
Künstlern der Harlem Renaissance eine
Kommunikationsmöglichkeit. In vielen
Gemälden sind Szenen aus dem Nachtleben mit Jazzbands, Kabarett und Tanz
dargestellt. Im Laufe der Zeit trug der Jazz
auch dazu bei, die strikte Rassentrennung
zwischen den Amerikanern aufzuweichen.
‚
Harlem Renaissance
tivem“ Stil mit modernistischen Elementen und Motiven aus dem
Wenn Du fragen
Alltag der Afroamerikaner. Lois Mailou Jones (1905–1998) war musst, was Jazz ist, wirst
gebürtige Bostonerin und malte seit ihrer Kindheit bis zu ihrem
Du es nie wissen.
19. Lebensjahr und wandte sich später der Textilgestaltung zu.
Louis Armstrong
Ihre leuchtenden Bilder und bunten Textilgestaltungen sind von
der Kunst der Naturvölker und flächigen Mustern geprägt. Sargent Claude Johnson (1888–1967) war 1915 nach Kalifornien gegangen, wo er sich
als Maler, Keramikkünstler und Grafikdesigner, vor allem aber als Bildhauer als
einer der ersten Afroamerikaner öffentliche Anerkennung verschaffte. Seine Skulpturen, die afrikanische Traditionen aufgreifen, wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet. Charles Alston (1907–1977) kam 1913 aus North Carolina nach New York
und malte in ganz Harlem Wandbilder. Zusammen mit dem Maler und Bildhauer
Henry Bannarn (1910–1965) führte er den „Alsten-Bannarn Harlem Art Workshop“.
ʻ
Worum es
geht
Afroamerikanische
Kunst
und Kultur
in Harlem
143
144
Herausforderungen und Wandel
36 Muralismo
(ca. 1920--1940)
Die Mexikanische Revolution von 1910 führte bis 1920 zum Bürgerkrieg,
der auch in den 1920er Jahren immer wieder aufflammte. Damals schuf
eine kleine Gruppe mexikanischer Künstler große Wandbilder an öffentlichen Plätzen, mit denen ein neues Nationalgefühl und eine sozialistische
Identität propagiert werden sollte. Sie wurden als „Muralisten“ (Wandmaler) bekannt.
Der Muralismo war eng mit der politischen Entwicklung und der traditionellen
Kunst und Kultur Mexikos verbunden, insbesondere mit der dortigen Volkskunst.
Er wurde aber auch von europäischen Kunstrichtungen wie Renaissance, Postimpressionismus, Kubismus, Expressionismus, Symbolismus und Surrealismus beeinflusst. Die drei berühmtesten Muralisten waren José Clemente Orozco (1883–
1949), Diego Rivera (1886–1957) und David Alfaro Siqueiros (1896–1974). Sie
wurden als Los Tres Grandes – die großen Drei – bekannt.
Öffentliche Kunst Zu den vielen Revolutionen in Mexikos Geschichte gehören die Machtkämpfe zwischen 1910 und 1920. In der neuen Revolutionsregierung
sorgte insbesondere Bildungsminister José Vasconcelos (1882–1959) dafür, dass ab
1922 Kunst für die Staatspropaganda eingesetzt wurde. Es wurden einst ausgewiesene Maler beauftragt, mit öffentlichen Bildern ein neues nationales Bewusstsein zu
schaffen und einen neuen mexikanischen Optimismus zu fördern, der auf dem Fortschritt gegenüber Unterdrückung und Benachteiligung vor der Revolution gründete.
Mit großen Wandbildern an öffentlichen Gebäuden sollten Mexikos Stärken veranschaulicht und der Aufbau eines demokratischen Staats ohne Klassenschranken und
Vorurteile unterstützt werden. Der Muralismo war das umfangreichste und wirkungsvollste republikanische Kunstprojekt seit der italienischen Renaissance. Die
Wandbilder dokumentieren die Parteinahme der Künstler für die nachrevolutionäre
linke Regierungspolitik. Siqueiros war der politisch aktivste unter den „großen
Zeitleiste
1910
1917
1920
1921
Beginn der
Mexikanischen
Revolution
José Clemente Orozco
reist erstmals in die USA
Mexiko bekommt eine demokratisch
gewählte Revolutionsregierung; Einfluss der
italienischen Renaissance-Freskomalerei auf
Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros
Rivera engagiert sich nach seiner
Rückkehr aus Paris in einer
revolutionären Künstlerkommune
Muralismo
Das größte Wandbild der Welt
Dieses Werk von Siqueiros, das
viele Jahre nach der Blütezeit des
Muralismo entstand, verdeutlicht die
Nachhaltigkeit dieser Kunstform insbesondere in Mexiko. Das Polyforum gehört zu einem Gebäudekomplex des Welthandelszentrums in
Mexiko-Stadt, der kulturellen, politischen und sozialen Zwecken dient.
Es wurde von dem Geschäftsmann
und Kunstmäzen Manuel Suárez
(1896–1987) finanziert und besteht
außen aus zwölf riesigen Wandplatten, die gänzlich mit dem Marsch
der Humanität bemalt sind. Siqueiros schuf so das größte Wandbild
weltweit. Es stellt auf seinen zwölf
Teilen die Entwicklung der Zivilisation von der Vergangenheit über die
Gegenwart bis hinein in eine visionäre Zukunft dar.
Das 1972 fertiggestellte „Polyforum Cultural Siqueiros“,
Mexiko-Stadt.
Drei“ – er hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft und kam
später wegen eines Attentatsversuchs auf Leo Trotzki einige Zeit in Haft. Alle aber
waren sie Patrioten und vertraten sozialistische Ansichten. Mit ihren Wandbildern
wollten sie soziale und politische Botschaften jedermann übermitteln, insbesondere
den Analphabeten. Die meisten Wandbilder entstanden an öffentlichen Gebäuden
1923
1928
1932/33
1935–1939
Rivera, Orozco und Siqueiros
malen Wandbilder in der „Escuela
Nacional Preparatoria“, MexikoStadt
Diego Rivera:
Die Nacht der
Reichen
Rivera malt 27 Wandbilder für
die Fordwerke in Detroit; David
Alfaro Siqueiros: Portrait of
Mexico Today
Orozco malt El pueblo y sus
dirigentes (Das Volk und seine
Führer) am Regierungspalast
in Guadalajara
145
146
Herausforderungen und Wandel
‚
Wir verurteilen die sogenannte Staffeleimalerei und all die Kunst
ultraintellektueller Kreise aus dem Grund, weil sie aristokratisch ist,
und wir verherrlichen das Ausdrucksmittel der monumentalen
Kunst, weil sie öffentliches Eigentum ist.
David Siqueiros
ʻ
und Plätzen in der Hauptstadt Mexiko-Stadt und in Mexikos zweitgrößter Metropole Guadalajara. Sie drücken nicht nur den mexikanischen Stolz aus, sondern auch
das indigene Erbe. Wandbilder wurden als Kunstform gezielt auch deshalb gefördert, weil sie in Mexiko eine lange Tradition haben, die nie ganz unterbrochen war.
Beispielsweise gehörten Wandbilder ebenso zur Mayakultur wie zur Barockkunst
der spanischen Eroberer.
Realistischer Stil Die meisten mexikanischen Wandbilder sind realistisch
gestaltet, mit einfachen Geschichten und klaren Botschaften, die für möglichst viele
Betrachter verständlich sein sollen. Bei allen Werken mischen sich Einflüsse aus
Tradition und Moderne, jeder Künstler fand seinen eigenen Weg, die Bilder mit den
politisch vorgegebenen Themen mexikanisch, universell, dekorativ, aufklärerisch
und anregend zu gestalten. Rivera, der als der führende Muralist gilt, schöpfte beispielsweise aus der modernen wie der prähispanischen Kunst (aus der Zeit vor der
spanischen Kolonialisierung im 16. Jahrhundert). Zwischen 1907 und 1921 verbrachte er die meiste Zeit in Paris, wo er mit Picasso und Gris zusammentraf und
seine eigene, ausdrucksstarke und farbenprächtige Form des Synthetischen Kubismus entwickelte. In seinen Wandbildern verwendete er Elemente der präkolumbischen Kulturen ebenso wie kubistische Techniken, etwa die Komposition anhand
diagonaler Linienraster, ohne Verwendung von Perspektive und unter Einbeziehung
Gauguin’scher Symbolik. Orozcos Werk mit seinen dunklen, beeindruckenden
Farben ist vom Expressionismus geprägt und stellt die vorrevolutionären Leiden der
mexikanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt. Siqueiros hingegen malte dynamisch und dramatisch mit stark kontrastierenden Farben; sein Werk zeigt starke
Einflüsse des Surrealismus, der Volkskunst und auch der Kunst Michelangelos, die
er bei seinem Europaaufenthalt zwischen 1919 und 1922 studiert hat.
Muralismo in den USA Die mexikanischen Muralisten gewannen auch in den
USA schnell an Einfluss und Ansehen, wo sie öffentliche Kunstprojekte mitgestalteten und in der Folge einige spätere Kunstrichtungen beeinflussten. Anfang der
1930er Jahre lebte Rivera in San Francisco, Detroit und New York, wo er Wandbilder für öffentliche Gebäude gestaltete. 1931 gab es eine Rivera-Retrospektive im
Muralismo
Museum of Modern Art, für die der Künstler
Mexikos indigene Kunst
kleinformatige tragbare Fresken gemalt hatte.
Von 1927 bis 1934 lebte auch Orozco in New
Die Kunst etwa der Maya und Azteken wurde
York und malte dort eine Reihe von Wandvon den europäischen Eroberern im 16. Jahrbildern für die „New School for Social
hundert verachtet. Sie gestalteten ihre SiedlunResearch“. Und auch Siqueiros war Anfang
gen und ihre Kultur völlig nach den Vorbildern
der 1930er Jahre in New York, wo er an einer
in ihren Herkunftsländern und löschten so die
Ausstellung mexikanischer Grafikkunst teilindigene Kunst und Kultur weitgehend aus.
nahm. Zusammen mit einer Gruppe von StuNach der Mexikanischen Revolution wurden
denten schuf er ein Wandbild in Los Angeles.
wieder die Kunsttraditionen Altmexikos und der
Die „großen Drei“ waren in die USA
präkolumbischen Hochkulturen gepflegt.
gegangen, weil es für die Muralisten in
Mexiko keine staatlichen Aufträge mehr gab.
Auch mussten sie sich jetzt auf kleinere Leinwandformate umstellen, um ihr Talent außerhalb Mexikos präsentieren und ihren
Unterhalt bestreiten zu können. So erhielten alle Drei jetzt private Aufträge für kleinere Bilder, oft von amerikanischen Kunstmäzenen.
Worum
es geht
Große öffentliche
Wandbilder
für ein neues
Mexiko
147
148
Herausforderungen und Wandel
37 Neue Sachlichkeit
(1923--1933)
Die Neue Sachlichkeit entwickelte sich in den 1920er Jahren in Deutschland. Ihr folgten viele Künstler, die sich zuvor dem Expressionismus,
Kubismus, Futurismus oder Dadaismus angeschlossen hatten. Sie war
eine Gegenbewegung zur Avantgardekunst, insbesondere zu Expressionismus und Abstraktion, vor allem aber opponierte sie gegen den Ersten
Weltkrieg und die Nachkriegsgesellschaft.
Die deutschen Künstler, die der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden, wollten
die Verdorbenheit und Widersprüchlichkeit der Lebensverhältnisse abbilden, die sie
um sich herum sahen. Der ernüchternde Schock nach dem verlorenen Krieg sowie
die darauf folgenden Ereignisse und Entwicklungen hatten bei ihnen eher schmerzliche als hoffnungsvolle Gefühle geweckt. Anders als viele andere Kunstströmungen dieser Zeit richteten die Künstler der Neuen Sachlichkeit ihren Blick nicht auf
eine bessere Welt, sondern auf das, was tatsächlich vorging. Denn sie glaubten, mit
einer Darstellung der Realität besser gegen das protestieren bzw. das auf den Punkt
bringen zu können, was falsch lief.
Unparteiischer Ausdruck Die Neue Sachlichkeit war genauso emotional wie
all die anderen Kunstrichtungen neben ihr. Aber ihre Künstler wollten in ihren Bildern sachlich und objektiv die Gesellschaft spiegeln, das wahre Gesicht des Krieges
und der Weimarer Zeit ganz allgemein zeigen. Die Neue Sachlichkeit war eher ein
Trend oder eine Tendenz, keine voll entwickelte, verbindliche Kunstströmung. Ihre
Künstler arbeiteten für sich allein und schlossen sich nicht in irgendwelchen Gruppen zusammen. Deshalb streiten einige Kunsthistoriker darüber, ob es sich hier
überhaupt um eine Kunstrichtung handelt. Aber alle Künstler der Neuen Sachlichkeit teilten ein Missbehagen gegenüber der abstrakten Kunst. Trotz stilistischer
Ähnlicheiten drückten sie alle ihre Gefühle auf individuelle Weise aus. Sie waren in
verschiedenen Städten vertreten: Berlin, Dresden, Karlsruhe, Köln, Düsseldorf,
Zeitleiste
1918
1919
1920
1921
Nach Ende des Ersten Weltkriegs
dankt Kaiser Wilhelm II. ab; Beginn
der Weimarer Republik; einsetzende
Inflation, soziale Not, Instabilität
Der Vertrag von Versailles;
Weimarer Verfassung
Max Beckmann:
Familienbild
Adolf Hitler wird Führer der
NSdAP; Hyperinflation und
drohender Staatsbankrott
Neue Sachlichkeit
Hannover und München. Den Begriff „Neue Sachlichkeit“ prägte 1923 der Direktor
der Mannheimer Kunsthalle Friedrich Hartlaub (1884–1963) für einen Stil, der sich
von den Ideen der modernen Kunst abwendete und sich an traditionellen Werten der
Malerei orientierte.
Alltag in unwirklicher Szenerie Die Künstler der Neuen Sachlichkeit stützten sich auf den realistischen und detailgenauen Malstil der Renaissance. Sie legten
Wert auf sorgfältige Komposition mit Perspektive, exakten Konturen und natürlichen oder gedämpften Farben und unauffälligem Pinselstrich dank verdünnter Farben. Die abgebildeten Menschen stehen immer im Mittelpunkt der Szenerie, meist
Georg Schrimpf: Martha, 1925,
Öl auf Leinwand; Privatsammlung.
1925
1926
1927
1933
Ausstellung Die Neue
Sachlichkeit in der Kunsthalle
Mannheim; der erste Teil von
Hitlers Mein Kampf erscheint
George Grosz:
Die Stützen der
Gesellschaft
Christian Schad: Selbstportrait mit Modell;
die Neue Sachlichkeit wird während der
Weimarer Republik stilbildend; Otto Dix
beginnt sein Triptychon Der Krieg
Hitler wird als Reichskanzler
vereidigt; er betrachtet auch die
Neue Sachlichkeit als „entartete
Kunst“
149
150
Herausforderungen und Wandel
einer häuslichen oder alltäglichen Umgebung in unwirklich entrückter Darstellungsweise.
Die wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit waren Beckmann, Dix, Grosz,
Herbert Böttger (1898–1954), Georg Scholz (1890–1945), Conrad Felixmüller
(1897–1977), Georg Schrimpf (1889–1938), Christian Schad
(1894–1982) und Rudolf Schlichter (1890–1955). Otto Dix und
Mein Ziel ist es, von George Grosz hatten als Soldaten im Ersten Weltkrieg das
jedem verstanden zu Grauen in den Schützengräben erlebt und prangerten nun heftig
werden. Ich lehne die die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Nachkriegs‚Tiefeʻ, die die Leute deutschland an, äußerten ihren Unmut über die Entwicklung
heutzutage erwarten, nach 1918. Dix malte die Schrecken des Krieges und die Ausschweifungen der Berliner Gesellschaft; Grosz stellte die Nachab.
George Grosz kriegsgesellschaft insgesamt als abstoßend dar.
1925 lief in der Kunsthalle Mannheim unter der Leitung
von Hartlaub die Ausstellung Die Neue Sachlichkeit: Deutsche
Malerei seit dem Expressionismus, die 120 Gemälde von 32 Künstlern zeigte.
In der Einführung zum Ausstellungskatalog unterschied Hartlaub zwei Richtungen
von Neuer Sachlichkeit: die veristische und klassizistische. Die Veristen – Verkünder der Wahrheit – waren überwiegend
politisch links und angriffslustig; sie wollten die grundlegende Unsicherheit und
Magischer Realismus
das Beängstigende ihrer Zeit, aber auch
Der Journalist und Kritiker Franz Roh (1890–
die schrecklichen Erinnerungen an den
1965) schrieb 1925 unter dem Titel NachKrieg abbilden. Die Klassizisten hingegen
Expressionismus: Magischer Realismus ein
standen ihrer Zeit nicht so feindselig
Buch, in dem er den Begriff „Magischer Realisgegenüber und malten weniger verstömus“ für einige Werke in Hartlaubs Ausstellung
rende, eher sachliche Bilder, um ZeitDie Neue Sachlichkeit prägte. Diese Werke
losigkeit und Gesetzmäßigkeit herauszuhatte Hartlaub der klassizistischen Strömung
stellen. Zu den Veristen, die das äußere
der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Roh
Erscheinungsbild bewusst verzerrten, um
betonte, dass er das Adjektiv „magisch“ (und
die Hässlichkeit zu betonen und im
nicht „mystisch“) verwende, um den unwirkliBetrachter heftige Reaktionen zu provochen Zauber in vielen dieser Bilder auszudrüzieren, gehörten Dix und Grosz. Zu den
cken. Dieser Begriff bürgerte sich danach ein,
Klassizisten wurden dagegen Schrimpf
wird aber nicht einheitlich verwendet. Der Magiund Carl Grossberg (1894–1940) gerechsche Realismus im Sinne des realismo mágico
net, die inzwischen als Vertreter des Magibezeichnet einen seit den 1920er Jahren in
schen Realismus eingeordnet werden.
‚
ʻ
Europa und beiden Amerikas verbreiteten Stil
in Literatur und Malerei.
Neue Sachlichkeit
‚
Der Tag wird kommen, an dem der Künstler nicht mehr der
Bohemien, dieser aufgeblasene Anarchist sein wird, sondern ein
gesunder Mensch, der in Klarheit innerhalb einer kollektivistischen
Gesellschaft arbeitet.
George Grosz
ʻ
Soziale Parteinahme Im Gegensatz zu Surrealismus, Expressionismus und
verschiedenen Kunstrichtungen der geometrischen Abstraktion nahm die Neue
Sachlichkeit offen Stellung zu den sozialen Verhältnissen. Wie beim Dadaismus gab
es nach dem Ersten Weltkrieg auch bei der Neuen Sachlichkeit einen wachsenden
Zynismus, aber sie verwendete realistische Details auf spezifische Weise, um die
Schrecken und Ausschweifungen von Mensch und Gesellschaft darzustellen. Die
Neue Sachlichkeit ist dem Amerikanischen Realismus (American Scene) vergleichbar, auch wenn die Gesellschaftskritik in Deutschland ausgeprägter war.
Die Maler der Neuen Sachlichkeit folgten verschiedenen Ansätzen, um die wirtschaftliche Not und gleichzeitig verschwenderische Extravaganz in der Weimarer
Republik kritisch darzustellen. Beckmann malte bedrückende Szenen in einem Stil,
der an den mittelalterlicher Glasgemälde erinnert. Schad schuf klare, oft erotisch
wirkende Portraits. Dix und Grosz hielten die sozialen Unterschiede in provozierenden und satirischen Bildern fest und stellten die Folgen des für Deutschland kaum
erfüllbaren Versailler Vertrags, die doppelbödige Moral und Korruption, die sie
überall um sich herum sahen, durch verstörende Widersprüche und Kontraste dar.
Worum
es geht
Realistische
Darstellung
der deutschen
Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg
151
152
Herausforderungen und Wandel
38 Surrealismus
(1924--1950er Jahre)
Der Surrealismus entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Paris
aus dem Dadaismus. Er begann als literarische Bewegung mit dem Manifeste du surréalisme, das 1924 von den Schriftstellern André Breton,
Louis Aragon (1897–1982) und Philippe Soupoult (1897–1990) veröffentlicht wurde. Darin erklärten sie als Ziel des Surrealismus, das Denken
von Vernunft und Logik zu befreien, ungeachtet der Konsequenzen.
Das Wort „surreal“ ist heute allgemein üblich, aber vor 1917 gab es dieses Wort
noch nicht. Damals führte Guillaume Apollinaire, der bereits dem Orphismus und
der Pittura Metafisica den Namen gegeben hatte, den Begriff „Surrealismus“ mit
seinem „surrealistischen Drama“ ein. Dieser lässt sich als Realität über oder jenseits
der Wirklichkeit deuten und wurde in diesem Sinne von den surrealistischen
Schriftstellern in ihrem Manifest von 1924 verwendet.
Traumdeutung Der Ex-Dadaist Breton war stark von den Theorien Sigmund
Freuds (1856–1939) beeinflusst und erklärte, dass surrealistische Werke aus dem
Bewusstsein in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche entstehen sollten –
das, was Freud als Begründer der Psychoanalyse untersucht hatte. Im Oktober 1899
hatte Freud seine Traumdeutung veröffentlicht, in der er Träume als Ausdruck der
menschlichen Psyche erklärt, insbesondere des Teils von ihr, in dem unbewusst
viele Erinnerungen, Emotionen und Motivationen verborgen sind. Freud meinte,
dass die Träume einen Schlüssel zu den Tiefen des Unbewussten bieten, wenn man
sie psychoanalytisch deutet. Er nutzte auch andere Methoden, um das Unbewusste
und die psychischen Prozesse zu analysieren. Dazu gehört das freie Assoziieren, bei
dem man ohne rationale Kontrolle ausspricht, was einem intuitiv einfällt. Freuds
Theorie der freien Assoziation wurde bald von verschiedenen surrealistischen
Malern und Schriftstellern umgesetzt – Breton bezeichnete das als „rein psychischen Automatismus“. Dabei ließen es die schreibenden und bildenden Künstler
Zeitleiste
1924
1925
1926
1928
Das erste Manifest des Surrealismus,
im Wesentlichen von André Breton
verfasst
Erste Ausstellung der Surrealisten
in der „Galerie Pierre“ in Paris unter
dem Titel La peinture surréaliste
Eröffnungsausstellung der
„Galerie surréaliste“ mit Werken
von Man Ray; Max Ernsts Buch
Histoire naturelle erscheint
Breton veröffentlicht
Le surréalisme et la
peinture
ohne rationales Nachdenken zu, dass ihre Federn, Bleistifte oder
Pinsel automatisch Linien, Formen bzw. Worte gestalteten. Auf
diese Weise wollten sie in das Unbewusste vordringen und tiefliegende Empfindungen und Emotionen ausdrücken. Im Unbewussten sah man eine Quelle der Fantasie, und um eine möglichst
hohe Kreativität zu erreichen, musste diese Quelle zugänglich
gemacht werden. Die Surrealisten mischten Bewusstes und Unbewusstes in ihren Werken und verbanden Traum- und Fantasiewelten mit der alltäglichen Welt der Rationalität.
Surrealismus
‚
Ich versuche, Farben
so zu verwenden wie
Worte, die einem Gedicht
Form geben, oder wie
Töne, die der Musik Form
geben.
René Magritte
ʻ
Die surrealistische Revolution Der Surrealismus hat zwar Wurzeln im
Dadaismus, unterscheidet sich davon aber insofern, als er eine positive Haltung einnahm und sich nicht negativ als Protest formierte. Auch strebte er, anders als der
zweckfreie und ziellose Dadaismus, nach Funktionalität. Weitere Anregungen
kamen vom Symbolismus, von der Pittura Metafisica und auch von Bildern des
Renaissancemalers Hieronymus Bosch (1453–1516), Goyas und Johann Heinrich
Füsslis (1741–1825). Breton gab 1924 die Zeitschrift La révolution surréaliste
heraus, von der in fünf Jahren zwölf Ausgaben erschienen. 1925 folgte in Paris die
erste Ausstellung der Surrealisten, an der sich
unter anderen die Ex-Dadaisten Max Ernst
und Hans Arp sowie Man Ray, Joan Miró
Die Zentrale der Surrealisten
(1893–1983), Pierre Roy (1880–1950),
Im gleichen Jahr, in dem das erste surrealistiPicasso und de Chirico beteiligten. Breton
sche Manifest erschien, eröffnete Antonin
veröffentlichte 1928 sein Buch über den SurArtaud (1896–1948) in Paris das Bureau de
realismus und die Malerei mit Illustrationen
recherches surréalistes als Surrealistenzenvon Picasso und 1929 das zweite Manifeste
trum, in dem sich Schriftsteller und Künstler
du surréalisme. Salvador Dalí (1904–1989)
versammeln, ihre Meinungen austauschen und
hatte 1929 mit dem Kurzfilm Ein andalusiverschiedene Theorien zum Unbewussten
scher Hund, den er zusammen mit Luis
recherchieren konnten. Die Gruppe nahm den
Buñuel (1900–1983) gedreht hatte, seinen
Betrieb ihrer Zentrale sehr ernst, die Brücken
dramatischen Einstand in der Gruppe. Es gibt
zu Öffentlichkeit und Wissenschaft bot.
in diesem Film, der 16 Minuten dauert, keine
Handlung, sondern nur freie Assoziationen –
als er in Paris gezeigt wurde, war das eine
Sensation.
1929
1934
1937
Zweites surrealistisches Manifest
von Breton; Salvador Dalí zeigt
seinen Film Ein andalusischer Hund
Breton hält in Brüssel Vorlesungen über
den Surrealismus, wobei er ihn mit der
proletarischen Revolution verknüpft
Dalí wird wegen seines klassizistischen
Malstils und seiner Unterstützung des
Faschismus aus der Gruppe der
Surrealisten ausgeschlossen
153
154
Herausforderungen und Wandel
Un chien andalou
Dieser bizarre Kurzfilm von 1929 wurde durch
das Fehlen eines rationalen Zusammenhangs
und seine Schockwirkung berühmt. Ein andalusische Hund ist ein Schwarzweißfilm ohne Handlung und Chronologie; er folgt freien Assoziationen im Sinne der Freudʼschen Theorie. Das
Standbild daraus zeigt die oft in Erinnerung gerufene Szene, in der ein Mann das Auge einer Frau
mit einem Rasiermesser aufschlitzt. Der gesamte
Film geht der Absurdität unserer Träume und
unseres Unbewussten nach. Der Surrealismus
erfasste Fantasiewelten. Er wirkt bis heute nach
– in Literatur und Film, Werbung und Mode, in
verschiedenen Kunstrichtungen wie Fluxus oder
Abstraktem Expressionismus, in der Medienkunst oder bei den Young British Artists.
Luis Buñuel und Salvador Dalí: Standbild aus dem Film Un chien andalou.
Drei Grundverfahren Der Surrealismus machte keinerlei
Surrealismus
‚
Ein Surrealist zu sein
Vorgaben zum Malstil, aber es gab drei grundverschiedene
bedeutet, alles, was man
Herangehensweisen. Die erste bestand darin, mit mechanischen bereits gesehen hat, aus
Techniken Bilder so zu schaffen, dass sie die Vorstellungskraft
dem Gedächtnis zu
anregen. Hauptmittel dabei waren Collage und Frottage – ein
verbannen und immer
Abdruck von Oberflächenstrukturen, den man auf einem über die
danach Ausschau zu
Vorlage gebreiteten Papier durch Reiben mit Kreide oder Bleistift
halten, was nie gewesen
erzeugt. Max Ernst entwickelte diese Technik weiter zur Grattage, bei der verschiedene Farbschichten abgeschabt (statt aufge- ist.
René Magritte
rieben) werden. Die beiden anderen Verfahren waren nachhaltiger: Die veristische ist bei Malern wie Dalí oder René Magritte
(1898–1967) zu finden, die reale Gegenstände traumähnlich in
Zusammenhängen jenseits der Realität darstellen. Ein abstraktes Verfahren wählten
Maler wie Miró oder André Masson (1896–1987). Miró behauptete, er habe oft
gehungert, um Halluzinationen für seine Arbeit zu bekommen. So entstanden
exzentrische Bilder voller Rätsel und Seltsamkeiten beim Zusammentreffen von
Ereignissen, beim Zusammenhang von Orten oder der Komposition. Damit zwangen die Surrealisten die Betrachter, das zu hinterfragen, was sie sahen, und sich mit
ihrem Unbewussten auseinanderzusetzen, um sich selbst besser verstehen zu können. Zu den wichtigsten surrealistischen Malern gehörten Arp, Ernst, Masson,
Magritte, Yves Tanguy (1900–1955), Dalí, Roy, Paul Delvaux (1897–1994) und
Miró. Die surrealistischen Bedingungen waren insofern außerordentlich radikal, als
Breton einen entsprechenden Lebens-, Arbeits- und Verhaltensstil erwartete und
jeden aus der Gruppe ausschloss, der nicht mit den gemeinsamen Überzeugungen
konform ging oder sich nicht einfügte. Deshalb ist der Surrealismus bisweilen mit
einer Religion vergleichbar. Zu den Ausgestoßenen gehörten Masson, Artaud und
Dalí.
Ende der 1920er Jahre gewann der Surrealismus international viele Anhänger. Er
gehört bis heute zur einflussreichsten Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts.
ʻ
Worum
es geht
Das Unbewusste
als Quelle
der Kreativität
155
156
Herausforderungen und Wandel
39 American Scene
(1920er--1940er Jahre)
Der Amerikanische Realismus, heute in Deutschland allgemein „American Scene“ genannt, ist eine Kunstrichtung, die sich in den 1920er und
1930er Jahren in den USA entwickelte und als erster US-amerikanischer
Nationalstil gilt. Dieser Realismus war oft sozialkritisch und brachte
dann seinen Protest mit der Darstellung sozialer, politischer und rassistischer Ungerechtigkeiten und wirtschaftlicher Not zum Ausdruck.
Seit der Industriellen Revolution haben sich viele Künstler mit den Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Unterschichten befasst. Im 19. Jahrhundert haben Realisten
wie Courbet und Millet oder die britischen Maler Luke Fildes (1843–1918) und
Frank Holl (1845–1888) sowie der deutschstämmige Hubert von Herkomer (1849–
1914) Wert darauf gelegt, die Armen bei ihrer Arbeit zu zeigen. Viele dieser Bilder
wurden in der britischen Illustrierten The Graphic abgedruckt und beeinflussten so
wiederum jüngere Künstler.
Sozialkritik In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der Amerikanische Realismus infolge sozialer Stellungnahme: Einige unabhängige Maler,
Druckgrafiker, Fotografen und Filmemacher reagierten mit scharfer Kritik auf die
idealisierende Darstellung harter Arbeit. Sie machten auf den Alltag der Arbeiter
und der Armen aufmerksam und prangerten die soziale Ungerechtigkeit an, die solche Bedingungen erzeugten und zementierten. Entsprechend ihrer sozialen Einstellung zeigten sie die Armen gewöhnlich als edle und würdevolle Menschen, die Besseres verdient hätten und dennoch ihr Los tapfer trugen. Diese Ideen haben einiges
mit dem offiziellen Sozialistischen Realismus der Kommunistischen Parteien
Europas gemeinsam, doch der sozialkritische Realismus in den USA war keine
staatlich verordnete und geförderte Kunstrichtung, sondern ein persönliches, subjektives Anliegen.
Zeitleiste
1913
1918
1926
1929
Armory Show in New York, die erste
offizielle Internationale Ausstellung
moderner Kunst in den USA
Ende des Ersten
Weltkriegs
Raphael Soyer: The
Dancing Lesson
Börsenzusammenbruch an der
Wall Street, der die Weltwirtschaftskrise auslöst; Edward
Hopper: Chop Suey
American Scene
Die Weltwirtschaftskrise Anfang der
Sozialistischer Realismus
1920er Jahre wuchsen in Europa und den
USA die Elendsviertel, während es den MitDer Sozialistische Realismus wurde für die
telschichten gut ging. Aber es kam nach dem
„Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutioErsten Weltkrieg auch ein neues soziales
nären Entwicklung“ zum verbindlichen Stil
Bewusstsein auf. Viele Künstler, Fotografen
erklärt, als 1932 in der UdSSR alle unabhängiund Schriftsteller rückten das Elend der
gen Kunstverbände abgeschafft und in einer
Armen in den Mittelpunkt. In den 1930er
Allunion zusammengeführt wurden, in der nur
Jahren, auf dem Höhepunkt der Großen
offizielle Kunst zugelassen war. Die Werke des
Depression, dokumentierten die AmerikaniSozialistischen Realismus sollten für die Masschen Realisten leidenschaftslos und unvorsen, insbesondere die vielen russischen Analeingenommen die Entbehrungen der Armen.
phabeten, verständlich sein und den erfolgreiViele dieser sozialkritischen Realisten waren
chen und mutigen Kampf der Kommunisten
vom Muralismo und von der „Ashcan
gegen die Not darstellen. Sie sollten Hoffnung,
School“ angeregt worden, einer Gruppe von
Patriotismus, revolutionäres Handeln und Proamerikanischen Künstlern, die Anfang der
duktivität fördern. Der Sozialistische Realismus
1920er Jahre die weniger schöne Seite des
diente also der kommunistischen Propaganda
Stadtbilds und Alltagslebens von New York
und endete 1991 mit dem Untergang der Sowgemalt hatten. Die städtischen und ländlichen
jetunion.
Szenen in den Bildern von Edward Hopper
(1882–1967) spiegeln den amerikanischen
Alltag wider, zeigen aber nicht nur Aspekte
des Verfalls in den Städten, so dass er streng genommen nicht zur Ashcan School
gehört, auch wenn er ihr oft zugerechnet wird. Zur American Scene zählt Ben
Shahn (1898–1969), der verschiedene grafische Techniken für seine sozialkritischen
‚
Wenn man über den Krieg oder die Armut redet, bewirkt das nicht
sehr viel; wenn man das aber bis zu einem gewissen Grad
darstellen kann, kann man sehr viel mehr davon rüberbringen, wie
Menschen leben.
Ben Shahn
ʻ
1930
1936
Ein Jahr nach dem blutigen Massaker am Valentinstag
in Chicago stellt Grant Wood sein Gemälde American
Gothic aus; Reginald Marsh malt Tuesday Night at the
Savoy Ballroom
Dorothea Lange: Migrant Mother – das Foto
dokumentiert das Elend vieler Familien in den
USA während der Großen Depression
157
158
Herausforderungen und Wandel
Die Brotschlange
George Segal (1924–2000) ist mit seinen Plastiken zwar ein Künstler der Pop-Art, aber aus seiner Bread Line spricht der sozialkritische Realismus während der Großen Depression. Segal
wurde durch seine lebensgroßen Gipsfiguren
bekannt, für die er eine neue Technik erfunden
hatte: Er verwendete medizinische Gipsbandagen, wie sie bei Knochenbrüchen eingesetzt werden. So konnte er Körperabformungen herstellen
und daraus lebensgroße Gipsfiguren zusammensetzen. Die lebensgroßen Männer in der Brotschlange hat Segal 1997 für das Franklin D.
Roosevelt Memorial in Washington (D. C.)
geschaffen. Das Monument schildert die zwölf
Jahre der Rooseveltʼschen Präsidentschaft von
1933 bis 1945, eine von der Großen Depression
geprägte Zeit, in der viele Menschen Hunger und
Elend ausgesetzt waren.
George Segal: The Bread Line, 1997, Bronze; Washington (D. C.).
Darstellungen im Dokumentationsstil verwendete. Er arbeitete auch als Assistent
von Diego Rivera (während dessen USA-Aufenthalts). Reginald Marsh (1898–
1954) malte Menschenmassen und insbesondere Frauen in den New Yorker Straßen,
U-Bahnen, Nachtclubs, Bars und Restaurants. Dorothea Lange (1895–1965) hielt
als Dokumentarfotografin und Bildjournalistin die trostlose Lage während der Großen Depression fest – sie hat die Entwicklung der Dokumentarfotografie maßgeblich beeinflusst. Raphael Soyer (1899–1987), der bekannteste der drei Soyer-Brü-
der, malte Menschen im Alltag von New York. Jack Levine
(1915–2010) wurde durch seine satirischen Gemälde und Drucke bekannt. Und der Maler, Grafiker, Muralist und Kunstlehrer
Arnold Blanch (1896–1968) wurde durch seine weich gezeichneten Bilder des amerikanischen Alltags bekannt.
Regionalismus Wie viele andere Kunstrichtungen war der
‚
American Scene
Fotografie greift einen
Moment aus der Zeit
heraus, verändert das
Leben, indem sie ihn
festhält.
Dorothea Lange
ʻ
Amerikanische Realismus keine bewusst geplante und organisierte Bewegung, sondern er entstand dadurch, dass einige
Künstler und Schriftsteller zur gleichen Zeit ähnliche Sichtweisen entwickelten und
kreativ ausdrücken wollten. Die Verhältnisse lösten diese Bewegung aus, wobei die
Deutungen der Künstler variierten. In der American Scene gibt es daher auch einen
Regionalismus. Die Regionalisten stellten zwar auch den Alltag dar, vor allem – wie
der Name sagt – das Land, aber im Gegensatz zu den sozialkritischen Realisten wirken die ländlichen Szenen eher nostalgisch. Ihre Bilder einer gleichbleibenden
Landschaft mit fleißigen Menschen waren positiver, beruhigender und hoffnungsvoller als die Darstellungen der Sozialkritiker, die die verzweifelte Lage der Armen
in den Städten während der Wirtschaftskrise ungeschminkt zeigten. Der Stil der
sozialkritischen Maler war meist realistisch und objektiv, während die Regionalisten oft verschiedene Stile mischten und lebensähnliche Bilder mit Abstraktion verbanden. Die drei wichtigsten Regionalisten waren Thomas Hart Benton (1889–
1975), dessen lebendige und eindrucksvolle Szenen oft Ton in Ton gemalt sind,
Grant Wood (1891–1942), der durch seine ländlichen Darstellungen des Mittleren
Westens, insbesondere aber durch sein 1930 gemaltes Bild Amerikanische Gotik
bekannt wurde, und John Steuart Curry (1897–1946), der es ablehnte, sich in seiner
Malerei auf sozialkritische Kommentare oder politische Propaganda einzulassen.
Europäische Parallelentwicklungen Der Amerikanische Realismus war
zwar eine Kunstrichtung in den USA, aber auch manche europäische Künstler zeigten eine sozialkritische Gesinnung: gleichzeitig etwa Käthe Kollwitz (1867–1945),
George Grosz oder auch Heinrich Zille (1858–1929) in Deutschland oder später
Künstler der britischen Kitchen Sink School wie John Bratby (1928–1992), die kritisch den privaten Alltag der Arbeiter und deren soziale Verhältnisse darstellten.
Worum
geht
Realistische
Kunst alses
sozialkritischer
und
politischer Kommentar
159
160
Herausforderungen und Wandel
40 Abstrakter
Expressionismus
(1943--1970)
Während Europa unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden
hatte, entwickelten sich die USA zur politischen und wirtschaftlichen
Führungsmacht. Viele europäische Intellektuelle und Künstler waren
dorthin emigriert, beispielsweise André Breton, Piet Mondrian oder Max
Ernst. Als Künstler und Lehrer verbreiteten sie dort ihre Ideen. Die Zeit
war reif für einen neuen Aufbruch, auch in der Kunst.
Ende der 1940er Jahre breiteten sich in den USA zunehmend Optimismus und
Patriotismus aus. Man interessierte sich zunehmend für Kultur und amerikanische
Geschichte, einige Künstler begannen, auf eine neue, zuversichtliche Weise zu
arbeiten. Natürlich war die Stimmung nicht überall in Amerika rosig. Die Zeitungen
und Wochenschauen hatten über die Zerstörungen und das Elend des Kriegs in
Europa und über die Explosion der ersten Atombombe über Hiroshima berichtet.
Die Nachwirkungen der Großen Depression in einigen Regionen und die Angst vor
dem beginnenden Kalten Krieg waren allgegenwärtig. Viele Künstler drückten entsprechend gemischte Gefühle aus Hoffnung und Sorge bezüglich des Zeitgeschehens aus.
Spontaneität und Individualität Zwischen Kunst, Kultur und Gesellschaft
besteht immer ein Zusammenhang, aber in den ersten Dekaden nach dem Zweiten
Weltkrieg war dieser Zusammenhang in den USA besonders ausgeprägt – die amerikanische Öffentlichkeit sah die Bilder der Zerstörung und anderen Kriegsfolgen in
Europa und schickte Hilfspakete. Die Abstrakten Expressionisten waren eine kleine,
locker verbundene Gruppe von Künstlern, die vor dem Krieg in verschiedenen Stilen gearbeitet hatten, aber in den 1940er Jahren sich in eine ganz neue Richtung
Zeitleiste
1946
1948
Robert Coates verwendet in einem Beitrag
im New Yorker den Begriff „Abstrakter
Expressionismus“; Arshile Gorky: Untitled
Jackson Pollock schafft erstmals Bilder mit der automatischen
Methode des Action-Painting und hat seine erste Einzelausstellung in der „Betty Parsons Gallery“ in New York; Franz Kline
beginnt die Arbeit an Ballantine
Abstrakter Expressionismus
Unentwirrbares Geflecht
Pollock zeigte seine Werke des Action-Painting
erstmals im Januar 1948. Dabei handelt es sich
um eine radikal neue Maltechnik, bei der sehr
große Leinwände auf den Boden gelegt und mit
Farbe betropft oder bespritzt werden, die an
einem Stab oder Spatel herabläuft. Diese Dripping-Technik trug ihm den Spitznamen „Jack the
Dripper“ ein. Es sind Bilder, die – wie er es aus-
drückt – „Energie und Bewegung sichtbar
machen“. Diese Arbeiten sind keineswegs so
zufällig, wie sie auf den ersten Blick scheinen.
Für Pollock war der Akt des Malens ein subjektiver, instinktiver Prozess, der ein komplexes,
dichtes Flechtwerk aus Farbflecken, Tropfspuren
und Linien hervorbringt.
Lauren Jade Goudie: Hommage to Pollock, Acryl – Das Bild imitiert Pollocks Dripping-Technik und
expressive Farbgestaltung.
1950
1951
1952
1956
1957
Willem de Kooning beginnt mit
Woman; Jackson Pollock:
Lavender Mist (Lavendelnebel)
David Smith: The
Banquet, Installation
Jackson Pollock: Blue
Poles Number II
Jackson Pollock stirbt
nach einem Autounfall
Robert Motherwell:
Elegie auf die
spanische Republik,
Nr. 57
161
162
Herausforderungen und Wandel
‚
Der Abstrakte
Expressionismus war die
erste amerikanische
Kunst, die gleichermaßen
Angst und Schönheit
enthielt.
Robert Motherwell
entwickelten, die den damaligen Zeitgeist widerspiegelte. Einige
Künstler aus New York und Umgebung diskutierten Mitte der
1940er Jahre darüber, wie sie ausdrücken könnten, auf welche
Weise sie und die amerikanische Nation den damaligen Zustand
der Welt erlebten. Sie beschlossen, Farbe expressiv zu nutzen,
und zwar nicht als Mittel der Darstellung von Geschichten oder
anderen Themen. Farbe und Farbauftrag sollten selbst die Botschaft beinhalten.
Der Abstrakte Expressionismus war kein spezieller Stil, sondern eher eine künstlerische Haltung. Die Künstler kannten sich,
arbeiteten aber nicht in einer Gruppe zusammen, die eine gemeinsame Richtung
vorgab und nach außen vertrat. Vielmehr ging es ihnen darum, ihre Gefühle und
Empfindungen individuell und spontan auszudrücken.
ʻ
New York School Die europäische Avantgardekunst war die treibende Kraft
für den Abstrakten Expressionismus. Viele Künstler, die als Flüchtlinge nach Amerika gekommen waren, vermittelten ihre Ideen, zudem gab es in New York einige
Gelegenheiten, moderne Kunst zu sehen. Bereits 1929 war das Museum of Modern
Art eröffnet wurden, und kurz darauf gab es dort Ausstellungen zum Kubismus, zur
abstrakten Kunst, zum Dadaismus und Surrealismus oder auch Retrospektiven zum
Werk von Matisse, Léger und Picasso. Andernorts wurden unter anderem Werke
von Mondrian, Gabo und El Lissitzky gezeigt, und im Museum of Non-Objective
Painting, das 1939 eröffnet wurde, gab es eine Ausstellung mit Werken von Kandinsky.
Den Begriff „Abstrakter Expressionismus“ verwendete der Schriftsteller und Kritiker Robert Coates (1897–1973) im März 1946 in einem Artikel im New Yorker, in
dem er die Werke von Arshile Gorky (1904–1948), Willem de Kooning (1904–
1997) und Jackson Pollock (1912–1956) beschrieb. Bald arbeiteten weitere Künstler in ähnlichem Stil, die als Abstrakte Expressionisten bezeichnet und, soweit sie in
New York lebten, der New York School zugerechnet werden. Zu ihnen gehörte Lee
Krasner (1908–1984), Robert Motherwell (1915–1991), William Baziotes (1912–
1963), Mark Rothko (1903–1970), Barnett Newman (1905–1970), Adolph Gottlieb
(1903–1974), Richard Pousette-Dart (1916–1992), Clifford Still (1904–1980) und
David Smith (1906–1965). Als Abstrakte Expressionisten wollten diese Künstler
abstrakt und emotional-expressiv malen. Sie ließen sich zudem von der Kunst der
Naturvölker und der Prähistorie inspirieren, aber auch vom Surrealismus, insbesondere von Mirós Automatismus. Obwohl alle diese Künstler ihre Ideen individuell
ausdrückten, gab es einige Gemeinsamkeiten wie große Leinwände und mit Farbe
gestaltete Flächen, kaum Bezüge zu realen Objekten und fehlende Rahmen. Die ers-
Abstrakter Expressionismus
ten Ausstellungen fanden Mitte der 1940er
Jahre statt, wurden aber wenig beachtet, weil
die meisten die Bilder nicht verstanden.
Eine Bewegung, zwei Richtungen
Das Aufblühen der abstrakten
Kunst
Die nicht gegenständliche abstrakte Kunst entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
wurde aber vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg populär und blieb es bis in die 1980er
Jahre. Viele Künstler hatten nach der Erfindung
der Fotografie im 19. Jahrhundert nach adäquaten Ausdrucksformen zur Darstellung der
einschneidenden Veränderungen und Ereignisse in der modernen Welt gesucht. Verschiedene Formen der nicht gegenständliche Kunst
kamen in Mode, die oft als aufregend neu,
intelligent und progressiv betrachtet wurden.
Innerhalb des Abstrakten Expressionismus
lassen sich zwei grundlegende Malstile unterscheiden, die man allerdings nur grob kategorisieren kann. Sie wurden unter den Bezeichnungen Action-Painting (Aktionsmalerei)
und Colour-Field-Painting (Farbfeldmalerei)
bekannt. Bei der Aktionsmalerei gestalteten
die Künstler ihre Bilder intuitiv, ohne bewusste Planung; siewollten ihre inneren
Emotionen ausdrücken, indem sie mit Bürsten oder anderen Mitteln ausladende, expressive und dynamische Farbstrukturen auf
große Leinwände aufbrachten. Sie tropften,
spritzten, schütteten, fegten oder schmierten Farbe auf die gesamte Leinwandfläche.
Diese Malweise wurde auch als freie gestische Malerei bezeichnet, weil der Gestus
des Farbauftrags wichtiger ist als das Endergebnis. Zu den Aktionsmalern gehörten
Pollock, de Kooning und Franz Kline (1910–1962). Der andere abstrakt expressionistische Malstil war weniger wild und dynamisch. Die Farbfeldmaler, die auf den
nächsten Seiten vorgestellt werden, füllten ihre großen Leinwände mit Farbflächen.
Unabhängig von diesen Unterschieden interessierten sich alle Abstrakten Expressionisten für die psychologischen Theorien des Unterbewussten von Freud und C. G.
Jung (1875–1961), dessen analytische Psychologie eine neue Sicht auf Religion,
Träume und Gedächtnis eröffnete. Und sie versuchten alle, die Spannungen und
Umbrüche in und nach den Kriegsjahren in ihren Werken auszudrücken.
Worum
es geht
Ausdruck
der weltweiten
Spannung
im Schatten des Krieges
163
164
Herausforderungen und Wandel
41 Colour-FieldPainting
(1947--1960er Jahre)
Die Farbfeldmalerei ist eine Stilrichtung des Abstrakten Expressionismus. Der hierfür heute auch in Deutschland übliche Begriff „ColourField–Painting“ wurde um 1950 eingeführt, um die Arbeiten einiger
Künstler wie Mark Rothko, Barnett Newman und Clyfford Still zu beschreiben. Sie bemalten große Leinwände mit einer einzigen Farbfläche
oder einer begrenzten Anzahl davon, um im Betrachter emotionale oder
kontemplative Reaktionen auszulösen.
Die USA waren nach den beiden Weltkriegen erstmals zum Zentrum von Kunst und
Design geworden, nachdem viele Emigranten aus Europa sich hier niedergelassen
hatten, die mit amerikanischen Künstlern und Kunstschulen zusammenarbeiteten.
Schnell entstand ein Klima der Erneuerung und des Aufbruchs. Die Farbfeldmalerei entwickelte sich als kreative
Ich bin für die Idee innerhalb des Abstrakten Expressionismus während der
einfache Ausdrucks- 1950er Jahre.
‚
form komplizierter
Ausdruck des Unendlichen In den späten 1940er
Gedanken.
Mark Rothko Jahren begannen einige Künstler mit einer individuellen Aus-
ʻ
prägung des Abstrakten Expressionismus und experimentierten hierfür mit neuen Möglichkeiten von Farbauftrag und
Farbgestaltung. Die dabei entstandene Farbfeldmalerei ist durch große Farbflächen
bzw. durch wenige Farbfelder auf einer extrem großen Leinwand gekennzeichnet
und hat im Fauvismus, Expressionismus und Surrealismus ihre Vorformen. Die
betreffenden Künstler schöpften die Ausdrucksmöglichkeiten der Farben aus, um
den Betrachter zur Kontemplation anzuregen. Ihre riesigen Gemälde wurden
Zeitleiste
1947
1948
1949
Mark Rothko und Clyfford
Still stellen ihre Farbfeldmalereien aus
Rothko, Newman und Motherwell gehören zu den Gründungsmitgliedern der Malschule „Subjects of the Artist“ in New York, in der
man auf die abstrakte Kunst großen Wert legte; Newman beginnt
mit seinen Zip-Bildern mit dünnen Linien auf farbiger Leinwand
Rothko: Ohne Titel
(Violett, schwarz, orange,
gelb auf weiß und rot)
‚
Colour-Field-Painting
gewöhnlich als Teile von Serien geschaffen und sollten deshalb
Ich ziehe es vor, die
immer im Zusammenhang gesehen werden. Die Maler suchten
Bilder für sich selbst
unabhängig voneinander nach ihrem jeweils eigenen abstrakten
sprechen zu lassen.
Weg. Sie wollten mehr schaffen als nur ein einfaches Abbild und
Barnett Newman
dem Betrachter zeigen, dass Kunst mehr vermitteln kann als nur
ein Erscheinungsbild, ja unendlich viele Bedeutungen und Wirkungen in sich birgt. Um dies zu erreichen, ließen sie die Farben
in großen Flächen auf den Betrachter wirken und weckten so bei ihm Emotionen.
Da sie nicht den Versuch unternahmen, gegenständliche Bilder zu schaffen, brauchten sie sich auch nicht um Pinselführung oder Farbnuancen zu kümmern, sondern
konnten sich darauf konzentrieren, die Leinwand mit gewaltigen monochromen
Farbflächen zu bedecken.
ʻ
Keine Grenzen Die Farbfeldmalerei ging kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
von New York aus. Dabei verfolgten ihre Künstler individuell ähnliche Ideen wie
die anderen Abstrakten Expressionisten. Ihre Werke betonen die Zweidimensionalität der Leinwand und erzeugen Spannung durch das Zusammenspiel zwischen Farben und undeutlichen Formen. Verschwommene, sich überlappende Linien verwirren den Betrachter und verhindern, dass etwas in die Bilder hineingelesen wird. Die
Malrituale
Rothko sagte einmal: „Ich bin kein abstrakter
Künstler; mich interessiert nur das Ausdrücken
menschlicher Emotionen.“ Die Farbfeldmalerei
war ursprünglich nicht allzu weit von den suprematistischen Ideen Malewitschs entfernt – es
ging ihr um farbige Flächen, die Emotionen oder
spirituelles Erwachen im Betrachter auslösen
sollten. Doch sollten die Gemälde nicht nur
Gefühle evozieren, sondern Emotionen begleiteten auch ihren Schaffensprozess. Rothko arbei-
tete oft auf eine beinahe religiöse Weise und
schwieg beharrlich über seine rituellen Methoden. Man weiß nur, dass er im grellen Licht von
Bühnenscheinwerfern arbeitete, aber darauf
bestand, dass die fertigen Werke im gedämpften
Licht betrachtet werden, damit die Farben zu
schweben scheinen. Er hatte auch eigenwillige
Vorstellungen davon, wo, wann und wie seine
Bilder betrachtet werden sollten.
1950
1955
1958
1959
1964
Barnett Newman: Vir
Heroicus Sublimis;
Clyfford Still: 1950-B
Clement Greenberg
schreibt den Essay
American-Type Painting
Rothko: Black on
Maroon (Schwarz
auf Kastanienbraun)
Hans Hofmann:
Pompeji
In Los Angeles zeigt Greenberg in der
Ausstellung Post-painterly Abstraction
Arbeiten US-amerikanischer und
kanadischer Maler
165
166
Herausforderungen und Wandel
‚
Ich hoffe, dass mein Gemälde jemandem ein Gefühl der eigenen
Ganzheit, Eigenständigkeit und Individualität vermittelt, genauso
wie mir selbst.
Barnett Newman
ʻ
Farbfeldmalerei vermeidet erstmals entschlossen jeden Anschein, dass eine Form
oder Masse vor einem Hintergrund stehen könnte. Vielmehr ist die gesamte Leinwand gleichermaßen bedeutsam, weil es keinen Fokus und kein Hauptelement im
Bild gibt. Die Gemälde haben keine Rahmen, weil es keine Grenze zwischen dem
Bild und dem Rest der Welt geben soll.
Harte Kanten In den 1960er Jahren entwickelte sich innerhalb der Farbfeldmalerei eine Richtung, die als Hard-Edge-Painting oder Hard-Edge-Malerei bekannt
wurde. Ihre Künstler brachten intensive Farben homogen auf die Leinwand auf und
betonten deren Flächigkeit, malten aber die Ränder der Farbfelder nicht verschwommen oder verlaufend, sondern grenzten sie mit klaren Linien und harten
Kanten ab. Die Hard-Edge-Maler waren insbesondere vom Synthetischen Kubismus, Neoplastizismus, Suprematismus und Bauhaus beeinflusst; sie lehnten den
unstrukturierten Gestus des Abstrakten Expressionismus ab.
Weglassen unnötiger Details Zu den Katalysatoren des Colour-Field-Pain-
Steve Wood: Abstract – ein heutiges Akrylbild, das hier als Hommage an
Rothko abgedruckt ist.
ting gehörte der Künstler und
Lehrer Hans Hofmann (1880–
1966), der in Paris mit Robert
Delaunay und anderen Avantgardekünstlern zusammengearbeitet hatte und 1932 aus
Deutschland in die USA emigriert war. In den 1940er Jahren malte er farbige Rechtecke
auf die Leinwand, um eine
Empfindung von Ruhe zu
erzeugen. 1949 schuf Rothko
ausladende Gemälde mit formlosen, in unscharfen Rändern
verlaufenden Farbfeldern,
wobei er jeden Bezug zur
Natur vermied und mit unterschiedlichen Farbtönen und
Colour-Field-Painting
Farbintensitäten bestimmte Stimmungen herNachmalerische Abstraktion
vorrief. Zunächst verwendete er blasse Farben, die auch Lichtwirkungen wiedergaben,
Den vagen Sammelbegriff Post-painterly Absaber später wurde seine Palette immer dunktraction, zu Deutsch „Nachmalerische Abstrakler und intensiver. Außerdem malte er Serien
tion“ oder auch nur „Neue Abstraktion“, führte
von Bildern, die so an den Wänden eines
1964 der einflussreiche Kritiker Clement
Ausstellungsraums aufgehängt werden sollGreenberg (1909–1994) für zeitgenössische
ten, dass der Betrachter davon umringt ist.
Kunstrichtungen wie Minimal Art, Colour-FieldAls Rothko seine Farbfeldmalerei zum ersten
Painting und Hard-Edge-Painting ein. Er
Mal ausstellte, zeigte auch Clyfford Still
grenzte diese von der malerischen Abstraktion
einige satt mit verschiedenen Farben in unterdes Abstrakten Expressionismus ab. Greenschiedlichen Formen gestaltete Leinwände.
berg definierte die Nachmalerische Abstraktion
Stills Bildgestaltung folgt keiner Regel und
als abgelösten intellektuellen Ansatz der Malewirkt zerrissen, die Farbflächen erinnern an
rei, der sich gegen Texturen und Linien richtet
Papier- oder Stoffausrisse. Barnett Newmans
und stattdessen die Leinwand mit Farben tränkt
reife Werke sind noch einfacher gestaltet als
und ihre Zweidimensionalität betont.
die Bilder von Rothko und Still. Er bemalte
die Leinwand monochrom mit Farbe und
teilte die Farbfläche dann durch eine oder
mehrere Linien. Ungeachtet dieser Unterschiede war die Farbfeldmalerei von einigen gemeinsamen Elementen bestimmt: Dazu gehörten das Eliminieren überflüssiger Details, die Betonung der Zweidimensionalität der Leinwand, der Vorsatz, emotionale Zustände darstellen zu wollen, und die Absicht, beim Betrachter Kontemplation und Nachdenken anzuregen.
In der 1950er Jahren entwickelte Helen Frankenthaler (1928–2011) die Farbfeldmalerei weiter. Nachdem sie zunächst kubistisch gearbeitet hatte, begann sie mit
dem stain painting, einer Art Fleckenmalerei: Sie ließ verdünnte Öl- oder Akrylfarben in die unvorbehandelte Leinwand einziehen und dort Flecken bilden. So entstanden Leinwände, deren Flecken integraler Bestandteil des Werks sind und den
großen Farbflächen etwas Leichtes und Schwebendes verleihen. Frankenthalers Bilder wurden 1964 in einer Gemeinschaftsausstellung mehrerer Künstler in Los
Angeles gezeigt, deren Werke Greenberg als Nachmalerische Abstraktion charakterisierte.
Worum
es geht
Mit Farbfeldern
auf großen
Leinwänden zur
Kontemplation anregen
167
168
Neue Richtungen
42 Pop-Art
(1956--1970)
In den 1950er Jahren erlebten Europa und die USA nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit den Siegeszug von Massenproduktion und
Massenmedien. Der Konsum setzte ein, und einige Künstler in London
und New York beschlossen, ihn zu ihrem Thema zu machen. Sie stellten
die populäre und konsumorientierte Kultur in den Mittelpunkt, ihre Werke
wurden als Pop-Art bekannt, die einen Gegensatz zum Abstrakten
Expressionismus darstellte.
Die 1950er und 1960er Jahre waren vom Konsum geprägt, der den Lebensmittelrationierungen der Nachkriegszeit in Großbritannien und Deutschland folgte. Auch in
Amerika blühten Konsum, Massenproduktion und Massenmedien. Die Pop-Art, die
sich damit auseinandersetzte, formierte sich ursprünglich nicht als ernstzunehmende
Kunstrichtung, wurde dann aber ein wichtiger Teil der westlichen Kunstgeschichte
und änderte die Haltung gegenüber der gehobenen bildenden Kunst.
Symbole des Massenkonsums Die Pop-Art begann Mitte der 1950er Jahre
und erreichte in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt. Sie war der erste künstlerische
Ausdruck der Postmoderne. Die Künstler der Pop-Art wollten die trübe Nachkriegswelt aufhellen und die Zukunft feiern. Und sie wollten die populäre Konsumkultur
aufgreifen, die abstrakte Kunst herausfordern und die Gesellschaft provozieren, die
zwei Weltkriege zu verantworten hatte. In gewisser Hinsicht setzte sie in ihrer
Revolte gegen die muffige, spießige Kunst und die sie fördernde Gesellschaft den
Dadismus fort. Gleichzeitig teilten diese Künstler die Begeisterung für die Massenkultur ihrer Zeit, indem sie kommerzielle Bilder und Objekte verarbeiteten: Zeitungen, berühmte Personen, Werbung, Fast Food, Verpackungen, Popmusik, Fernsehen
und Film.
Zeitleiste
1956
1958
1961
In der „Whitechapel Gallery“ in London
zeigt die Ausstellung This is Tomorrow
die Werke vieler Künstler und Designer
Lawrence Alloway verwendet erstmals den
Begriff „Pop-Art“ für Kunst, die Alltagskultur
und Massenmedien thematisierte. Jasper
Jones: Drei Flaggen
In London zeigt die Ausstellung The Young
Contemporaries der „RBA gallery“ das
Werk von David Hockney, Peter Blake und
anderen
Das war morgen In London fand 1956 in der „Whitechapel
Pop-Art
‚
Pop Art is: popular,
Gallery“ die Ausstellung This is Tomorrow statt, an der unabhän- transient, expendable,
gige Künstler, Architekten, Musiker und Grafikdesigner der Inde- low-cost, masspendent Group teilnahmen und in Teams arbeiteten, während die produced, young, witty,
ganze Zeit die Jukebox spielte. Thema der Ausstellung war das
sexy, gimmicky,
Alltagsleben, und die teilnehmenden Künstler verwerteten einige
glamorous and big
Vorstellungen und Techniken der Popkultur. Richard Hamilton
business.
(1922–2011) hatte für den Ausstellungskatalog eine Collage
geschaffen, die fast ausschließlich aus Bildmaterial aus amerika- Richard Hamilton
nischen Zeitschriften bestand und der er folgenden Titel gegeben
hatte: Was macht unsere heutigen Wohnungen eigentlich so
anders, so anziehend? In der Bildmitte ist ein roter Riesenlollipop mit der Aufschrift POP zu sehen, der nahezu sofort Kultstatus erhielt als Symbol für die damalige Kultur und Gesellschaft. This is Tomorrow gilt heute als entscheidende Wende
in der Nachkriegskunst, die den britischen Pop einleitete. Allerdings wurde der
Begriff „Pop-Art“ erst zwei Jahre später, 1958, im Architectural Digest von Lawrence Alloway (1926–1990) als Beschreibung dafür verwendet, wie einige Künstler
die Bilder der Popkultur und des Konsums verwerten.
Bald schufen weitere Künstler Werke auf
der Grundlage von Bildern und Einstellungen
der modernen Gesellschaft. So machte 1961
The Independent Group
die Londoner Ausstellung Young ContempoDie Independent Group (IG) bestand aus
raries zeitgenössische Künstler bekannt,
Künstlern, Architekten und Intellektuellen, die
darunter Peter Blake (*1932), Patrick Caulsich seit 1952 regelmäßig in London im „Instifield (1936–2005), David Hockney (*1937),
tute of Contemporary Arts“ trafen. Man diskuDerek Boshier (*1937) und Allen Jones
tierte über die Moderne und die Popkultur und
(*1937). Die Arbeiten waren heiter und
entwickelte Grundvorstellungen der Pop-Art. Zu
beschwingt und entsprachen der Jugend und
den Mitgliedern zählten Richard Hamilton, John
der Popmusik in swinging London. GleichMcHale (1922–1978), Eduardo Paolozzi
zeitig rebellierten in den USA einige Künstler
(1924–2005) und William Turnbull (1922–2012)
gegen die Vorherrschaft des Abstrakten
sowie der Kritiker Lawrence Alloway und die
Expressionismus und begannen ebenfalls,
materialistische Bilder, oft auch kommerArchitekten Alison Smithson (1928–1993) und
zielle Grafik und Drucktechnik zu verwenPeter Smithson (1923–2003).
den, um Kunst an eine breite Öffentlichkeit
ʻ
1962
1963
1967
International Exhibition of the New Realists in der
„Sidney Janis Gallery“ in New York; Andy Warhol:
Twenty Marilyns: Roy Lichtensteins erste Einzelausstellung; Claes Oldenburg: Floor Burger
Roy Lichtenstein:
Whaam!
David Hockney: A Bigger Splash;
Peter Blake gestaltet für die Beatles
die Plattenhülle zu Sergeant Pepperʼs
Lonely Hearts Club Band
169
170
Neue Richtungen
Bilder im Cartoonstil
Lichtenstein war in seinem Stil
stark von Werbeanzeigen und
Comics beeinflusst. Er verwendete
einige Techniken der Comiczeichner wie dramatische Komposition,
Beschneiden der Bilder und perspektivische Verkürzung. 1961
begann er, eigene übergroße Bilder im Cartoonstil zu malen, wobei
sich seine Technik aus einem
Druckverfahren ableitete, das ein
ähnliches Raster wie die Benday
Dots verwendet: Farbpunkte, die
sich wie bei Pixeln auf dem Bildschirm, bei Rasterpunkten im
Druck oder bei den Flecken in
pointilistischen Bildern zu unterschiedlichen Farbtönen überlagern. Je nach Größe und Abstand
der Rasterpunkte lassen sich verschiedene Farbtöne erzeugen.
Eine heutige Illustration zum Stil von Roy Lichtenstein, dessen
Pop-Art im Comicstil viele Nachahmer fand.
heranzubringen. 1962 gab es in der New Yorker „Sidney Janis Gallery“ eine internationale Ausstellung der neuen Realisten. Künstler wie Claes Oldenburg (*1929)
schufen riesige plastische Abbildungen alltäglicher Dinge; Roy Lichtenstein (1923–
1997) malte großformatige Comicbilder; Andy Warhol (1928–1987) schuf Siebdrucke von Prominentenportraits, Gebrauchswaren oder Kolportagen aus Zeitungen;
Robert Rauschenberg (1925–2008) und Jasper Johns (*1930) zeigten in ihren Bildern und Skulpturen Symbole des Massenkonsums.
Pop-Art
‚
Wir empfanden keinerlei Ablehnung gegenüber der
Kommerzkultur wie üblicherweise die meisten Intellektuellen,
sondern nahmen sie als Fakt, diskutierten sie im Detail und
gebrauchten sie mit Begeisterung.
Lawrence Alloway
ʻ
Missbilligung oder Unterstützung? Pop-Art war zuweilen kritisch gegenüber der Konsumgesellschaft, zuweilen aber auch damit einverstanden. Alle Popkünstler erteilten persönlichem Ausdruck eine Absage und entwickelten gegenständliche Stile. Sie wollten die Betrachter ihrer Bilder anregen, sich mit dem
Geschmack und der Einstellung auseinanderzusetzen, der in der Öffentlichkeit verbreitet war – und die Grenzen der bildenden Kunst überschreiten. So beseitigten
beispielsweise James Rosenquist (*1933) und Warhol die Trennung von Gebrauchsgrafik und bildender Kunst, indem sie ihre Erfahrungen aus der Gestaltung von Plakaten und anderen Werbemitteln einbrachten. Dabei gab es weder eine einheitliche
Verfahrensweise oder Technik noch einen einheitlichen Stil. In der Pop-Art finden
wir deshalb Vervielfältigungen, Drucke, Gemälde, Fotografien, Collagen oder dreidimensionale Werke, die sich in Material und Stil oft von der traditionellen bildenden Kunst unterscheiden. Viele Kritiker waren darüber entsetzt, wie hier „Triviales“
als Kunst präsentiert wurde. Ungeachtet der gemeinsamen ursprünglichen Anliegen
und Einstellungen war die Pop-Art keine einheitliche Bewegung. Alle Künstler hatten ihre eigenen Ansätze und Absichten. Meist respektierten sie die Bilder, die sie
zitierten. Ende der 1960er Jahre verlor die Pop-Art ihre Schockwirkung und es
kamen neue Kunstrichtungen auf. Aber ihre Ideen haben dazu beigetragen, die
Kunst aus der traditionellen elitären Enge herauszuholen in eine moderne, materialistische Konsumwelt.
esAusdrucksformen
geht
GrellbunteWorum
Kunst in den
des Massenkonsums
171
172
Neue Richtungen
43 Op-Art
(1960er Jahre)
Im Herbst 1964 tauchte der Begriff „Op-Art“ im Magazin Time als
Beschreibung eines neuen Kunststils auf, der optische Illusionen
erzeugt. Diese „optische Kunst“ ist durch geometrische Muster und
Verzerrungen gekennzeichnet, die im Auge des Betrachters die Illusion
von Bewegung oder Flimmern hervorrufen.
Der Beitrag im Magazin Time begann so: „Die Fehlbarkeit beim Sehen spielt und
schlachtet die neue Bewegung der ‚optischen Kunst‘ aus, die überall in der westlichen Welt aus dem Boden schießt. Kein geringerer Bruch mit dem Abstrakten
Expressionismus als die Pop-Art ist die Op-Art. Sie wurde von Wahrnehmungsforschern gemacht, um das Auge zu quälen, zu narren, ja, zu schmerzen, indem alle
Zutaten für den Alptraum eines Optikers eingesetzt werden.“
Wahrnehmungsprozesse
Die Op-Art war ebenso von Suprematismus und
Konstruktivismus wie vom Neoimpressionismus, Neoplastizismus und von der
Farbfeldmalerei beeinflusst. Die Künstler der Op-Art verwendeten geometrische
Formen, Linien und Konturen, um optische Illusionen zu erzeugen. Dabei verwendeten sie manchmal nur schwarze und weiße Linien oder FläJede Form ist eine chen, aber auch Farbelemente konnten eingesetzt werden. Oft
Grundlage für die Farbe; wiederholten sie ein Element musterartig über große Leinwände
hinweg. Oder sie setzten Perspektive ein und trieben so ein subjede Farbe ist einer Form
tiles Spiel mit den Prozessen der visuellen Wahrnehmung, das
zugewiesen.
beim Betrachter eine Illusion von Form, Tiefe oder Bewegung
Victor Vasarely hervorzurufent. Immer abstrakt, scheinen diese Bilder bisweilen
in sich bewegt, verzerrt oder flimmernd zu sein. Die meisten
dieser Künstler stützten sich auf Farben- und Wahrnehmungstheorien und deren
physische wie psychische Aspekte. Zu den führenden Vertretern gehörten: Bridget
Riley (*1931), die viele Jahre lang nur schwarze und weiße Linien oder geometri-
‚
ʻ
Zeitleiste
1938
1955
1956
1961
Victor Vasarely malt Zebra nur
mit parallelen kurvigen Linien
auf weißem Grund
In Paris zeigt die Galerie von
Denise René unter dem Titel
Le Mouvement Op-Art und
kinetische Kunst
Alexander Calder:
Rotes Mobile
Bridget Riley:
Movement in Squares
Op-Art
Bridget Riley
Ein Gemälde von Bridget Riley lässt den
Betrachter nicht zur Ruhe kommen, ob es nun
eine Illusion von Wellen oder von abstrakten
rhythmischen Linien auslöst. Viele Jahre arbeitete Riley nur mit schwarzen und weißen Elementen und variierte ihre Linien und Formen
sehr subtil, um die diversen optischen Wirkungen
zu untersuchen. Ihr ging es mit ihren jeweiligen
Gemälden immer mehr um die dadurch ausgelösten Wahrnehmungsprozesse als nur darum,
den Betrachter zu fesseln. Nach einem Ägyptenaufenthalt in den 1980er Jahren begann sie,
Farbe zu verwenden. Viele ihrer Arbeiten sind
durch ihre Erfahrungen und Beobachtungen
etwa von Licht und Farbe in der Landschaft
angeregt.
Ein heutiges Beispiel für den Stil der Op-Art, das die typischen Schwarz-Weiß- Muster aus Linien und
Flächen und ihre optische Wirkung verdeutlicht.
1962
1965
1969
Bridget Rileys erste
Einzelausstellung
Richard Anuszkiewicz: Intrinsic Harmony; Jesús Rafael Soto: Twelve Blacks and Four
Silvers; Peter Sedgley (*1930): Yellow Attenuation; das Museum of Modern Art, New York,
zeigt The Responsive Eye; der Modedesigner Larry Aldrich (1906–2001) entwirft Kleidung
im Stil der Op-Art und wird später wegen Urheberrechtsverletzung von Riley verklagt
Victor Vasarely:
Vega-Nor
173
174
‚
Neue Richtungen
Für mich ist die Natur keine Landschaft, sondern die Dynamik visueller Kräfte
… eher ein Ereignis als ein Erscheinungsbild. Diese Kräfte können nur
angegangen werden, indem man Farbe und Form als grundlegende Einheit
behandelt und sie von allen deskriptiven oder funktionalen Rollen befreit.
Bridget Riley
ʻ
sche Muster auf ihre großen Leinwände malte, um den Anschein von Bewegung
und Instabilität hervorzurufen; Victor Vasarely (1906–1997), der mosaikähnliche
Bilder schuf, in denen die Mosaiksteine die Fläche vollständig ausfüllen und Raumillusionen entstehen lassen; sowie Jesús Rafael Soto (1923–2005), der Raum- und
Tiefenillusionen mit Werken erzeugte, die in sich zu schwingen scheinen oder sich
tatsächlich bewegen und somit eine Verbindung von Op-Art und kinetischer Kunst
darstellen.
Kinetische Kunst „Kinetisch“ bedeutet „mit Bewegung verbunden“. Kinetische Kunstwerke bewegen sich tatsächlich, im Gegensatz zur Op-Art, die nur den
Anschein von Bewegung erweckt. Sie ist üblicherweise dreidimensional aus beweglichen Teilen gestaltet, die durch einen integrierten Mechanismus oder äußeren Anstoß in
Happenings
Bewegung gesetzt werden können. In den
1950er und 1960er Jahren, also etwas vor der
Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre
Entwicklung der Op-Art, begannen einige
kamen Happenings in Mode, eine Form der
Künstler, kinetische Skulpturen zu entwerfen.
Aktionskunst, die sich in den USA entwickelte,
Zu ihnen gehörten Alexander Calder (1898–
als Künstler Vorführungen oder Geschehnisse
1976), George Rickey (1907–2002) und Jean
vor Zuschauern gestalteten. Happenings werTinguely (1925–1991). Sie arbeiteten unabhänden oft als Weiterentwicklung der kinetischen
gig voneinander an Mobiles, die sich im LuftKunst oder auch des Dadaismus und Surrealiszug drehen, oder kinetischen Skulpturen, die
mus gesehen. Der Name taucht erstmals 1959
sich zufällig ein- und ausschalten oder auch
in einer Ankündigung des Künstlers Allan
selbst zerstören. Bereits Duchamp, Gabo und
Kaprow (1937–2006) für ein Event in New York
einige Konstruktivisten hatten kinetischen
auf: 18 Happenings in 6 Parts. Dabei liefen
Kunstformen den Weg geebnet, die aber erst in
gleichzeitig verschiedene Aktionen – oder
den 1960er Jahren populär wurden. Die
genauer: Geschehnisse – in abgeteilten RaumBezeichnung „kinetische Kunst“ wurde um die
bereichen ab. Happenings wurden zwar vorab
Mitte der 1950er Jahre für Werke geprägt, die
geplant, bezogen aber das Publikum in das
Künstler wie Soto neben solchen der Op-Art
Geschehen ein, mussten demnach improvisiert
schufen. Viele kinetische Kunstwerke sind aus
werden und sollten überall stattfinden können.
geometrischen Formen komponiert.
Op-Art
Das reagierende Auge 1965 brachte die Ausstellung The Responsive Eye im
New Yorker Museum of Modern Art die Op-Art der amerikanischen Öffentlichkeit
ins Bewusstsein. Zum ersten Mal wurde die optische Kunst von Riley, Vasarely,
Albers, Richard Anuszkiewicz (*1930), Julian Stanczak (*1928), Tadasky (*1935)
und anderen gezeigt. Einige Besucher kamen dorthin, voll Bewunderung sogar in
eine von der Op-Art inspirierte Mode gekleidet. Manche Kritiker dagegen verdammten diese Kunst als mit trickreichen visuellen Gags überladen. Aber da die
Op-Art der Mode der 1960er Jahre entsprach, wurde sie rasch
Ich glaube, je mehr ich
populär, insbesondere in den Printmedien, im Fernsehen, in der
Werbung, Grafik und Innenraumgestaltung. Trotzdem erreichte
mein Bewusstsein
die Op-Art nie ein so breites Ansehen und einen derart internaschärfe, desto mehr
tionalen Bekanntheitsgrad wie die Pop-Art.
Möglichkeit haben die
Das primäre Ziel der Op-Art bestand darin, das Auge zu täuDinge, mich zu
schen und mit statischen Kunstwerken Bewegungsillusionen zu
durchdringen.
erzeugen. Farben, Linien und Formen wurden nicht ausgewählt
Bridget Riley
und gestaltet, um besondere Stimmungen oder Atmosphären
zu erzeugen oder um Geschichten darzustellen, sondern um
bestimmte visuelle Wahrnehmungen auszulösen. Farben, Formen, Linienführung
und Perspektive wurden so eingesetzt, dass sie den Betrachter mit optischen Illusionen verwirren. Diese Werke leben erst, wenn sie angeschaut werden. Aber die
Künstler der Op-Art begrüßten nicht jeden Beifall der Öffentlichkeit. So drohte
Bridget Riley einem Stofffabrikanten, der ihre Arbeiten zur Grundlage von Stoffmustern gemacht hatte, mit einer Urheberrechtsklage, weil sie meinte, dass Kommerzialisierung, Trittbrettfahrerei und Sensationsgier die Welt der Kunst zerstören
würden.
‚
ʻ
Erstaunliche Wirkungen Die Op-Art schöpfte aus mehreren Quellen. Vasarely beispielsweise war ursprünglich Grafiker gewesen, und sein Werk lässt sich als
unmittelbare Fortentwicklung davon sehen. Seine Gemälde zielen nicht darauf ab,
den Betrachter zu verwirren, sondern ihn zu fesseln und einen Eindruck von Farben
und Formen bei ihm hervorzurufen. Rileys Bilder dagegen mögen manchen eher
wissenschaftlich und mathematisch ausgerichtet erscheinen, aber sie selbst sagte,
dass sie immer intuitiv gearbeitet habe, wenn auch mit großer Sorgfalt. Viele Bilder
der Op-Art sind desorientierend, verblüffend oder verwirrend. Und obwohl diese
Bilder meist abstrakt sind, glaubt man mitunter in ihnen Elemente wie Wasser,
Feuer oder Wind wiederzuerkennen.
Worum
es geht
Auslösen
von optischen
Illusionen
175
176
Neue Richtungen
44 Minimal Art
(1960er Jahre)
Der britische Philosoph Richard Wollheim (1923–2003) schrieb 1965
einen Artikel über Colour-Field-Painting und Dadaismus unter der Überschrift Minimal Art. Dieser Begriff wurde dann für eine Form abstrakter
Kunst verwendet, die sich damals in New York entwickelte. Es war
eine extreme Kunstform, die aus verschiedenen Kunstrichtungen des
20. Jahrhunderts hervorging.
Die Minimal Art war eine Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus. Die
Minimal-Künstler wollten dessen emotionale Subjektivität durch Rationalität und
unparteiische Objektivität ersetzen. Statt ihre Farben auf die Leinwand zu spritzen
oder zu tropfen, arbeiteten sie mit nüchterner mathematischer Genauigkeit. Kunst
sollte aus minimalistischer Sicht kein Abbild von irgendetwas sein, sondern ihre
eigene Identität haben. Und sie richtete sich gegen die Extreme und Eitelkeiten, die
diese Künstler dem Abstrakten Expressionismus unterstellten. Die Minimal-Künstler übernahmen aber die konstruktivistische Vorstellung, dass Kunst aus industriell
gefertigten Werkstoffen und Werkstücken gestaltet werden sollte wie Ziegel,
Leuchtstoffröhren oder Blech.
Reduktion der Kunst auf das Wesentliche Bei dem Versuch, die Kunst
aus den Fesseln der Tradition zu befreien, konzentrierten sich die Minimal-Künstler
auf die Ideen hinter der Kunst und beließen die verwendeten Materialien im vorgefundenen Zustand. Sie gestalteten ihre Werke auf der Grundlage einfacher geometrischer Formen und nahmen Farben, Formen, Linien und Texturen zurück, um
jeden Anschein persönlichen Ausdrucks zu vermeiden. Sie wollten, dass ihre Werke
ohne Ablenkung durch abgebildete Gegenstände, Geschichten oder Binnendifferenzierung betrachtet und erlebt werden. Die meisten Minimal-Künstler schufen dreidimensionale Installationen, aber einige wenige malten auch, wobei sie jeden Versuch
vermieden, etwas darzustellen oder Wahrnehmungsillusionen zu erzeugen. Zu den
Zeitleiste
1959
1962
1963
Die Ausstellung Sixteen Americans
im Museum of Modern Art, New
York, zeigt unter anderem Frank
Stellas schwarze Bilder
Sol LeWitt beginnt mit seinen
„Strukturen“, die der Betrachter bei
der Wahrnehmung komplettiert; Ad
Reinhardt: Abstract Painting No. 5
Dan Flavin: Diagonal of May 25,
1963 (to Constantin Brancusi) –
Beginn der Lichtinstallationen mit
Leuchtstoffröhren
Minimal Art
führenden Minimal-Künstlern gehören Frank Stella (*1936), Carl Andre (*1935),
Ellsworth Kelly (*1923), Ad Reinhardt (1913–1967), Dan Flavin (1933–1996),
Donald Judd (1928–1994), Sol LeWitt (1928–2007), Robert Morris (*1931) und
Richard Serra (*1939).
Theoretische Konzepte Die Kunstrichtung begann mit den Black Paintings
von Frank Stella, einer Serie von Gemälden, die aus dicht nebeneinandergemalten
schwarzen Streifen auf weißer Leinwand bestehen und keine verborgene Bedeutung, Symbolik oder Bezüge haben. Ein Bild ist für Stella „eine flache Oberfläche
mit Farbe darauf – mehr nicht“. Diese schwarzen Bilder wurden erstmals 1959 im
Museum of Modern Art in New York bei der Ausstellung Sixteen Americans gezeigt
Dieser Ausstellungsraum ist in Schwarz und Weiß gestaltet gemäß den Prinzipien der Minimal Art: leerer Raum,
klare Linien und reduzierte Elemente.
1964
1965
1966
Donald Judd beginnt, mit
Plexiglas zu arbeiten – neben
anderen Werkstoffen
Richard Wollheim verwendet
den Begriff „Minimal Art“
Im Artforum versucht Robert Morris die
Minimal Art zu erklären – anhand seiner
Notes on Sculpture 1–3; Carl Andre:
Equivalent VIII
177
178
Neue Richtungen
‚
Man muss Licht nicht als Tatsache verstehen, aber ich tue das,
und es ist, wie ich gesagt habe, so klar, offen und unmittelbar eine
Kunst, die ihresgleichen sucht.
Dan Flavin
ʻ
und regten einige Künstler an, nach ähnlichen Prinzipien zu arbeiten, oft auch unter
Einbeziehung der dritten Dimension.
Die Minimal Art entwickelte sich aus theoretischen, nicht so sehr aus praktischen
Überlegungen und wurde in den 1960er Jahren unter Künstlern populär. So verwendete Donald Judd (der sich heftig dagegen wehrte, als Minimal-Künstler bezeichnet
zu werden) industrieübliche Werkstoffe, um abstrakte Werke zu schaffen, die die
Reinheit von Farbe, Form und Raum betonen und jede Illusion vermeiden. In den
1960er Jahren begann er mit der Gestaltung dreidimensionaler Werke, die er specific objects nannte und die die Beziehung zwischen Werk, Betrachter und umgebendem Raum in den Mittelpunkt rücken. Carl Andre war von Constantin Brancusi
(1876–1957) und Stella beeinflusst; er lehnte wie die anderen Minimal-Künstler die
Traditionen künstlerischen Ausdrucks und kunstfertiger Techniken ab, setzte industriell gefertigte Teile wie Ziegel oder Metall-, Plexiglas- und Holzstücke ein und
arrangierte diese in einfachen geometrischen Anordnungen zu Bodenskulpturen.
Dan Flavin arbeitete mehr als 30 Jahre lang mit farbigen Leuchtstoffröhren, um
deren Wirkung auf Raum, Licht und Farbe zu erforschen. Sol LeWitt begann 1962,
mit abstrakten Reliefs in Schwarz und Weiß zu experimentieren; später folgten einfache geometrische Kompositionen aus einigen wenigen Grundformen wie Würfel,
Kugel oder Dreieck in den Farben Rot, Gelb, Blau oder Schwarz. Manchmal wirken
seine Skulpturen völlig logisch, dann wieder unlogisch, aber das war beabsichtigt,
Prinzip der Reduktion
Bei der Minimal Art ging es darum, die
Kunst auf das absolute Minimum zu reduzieren, um die Grundidee herauszustellen.
Es gab keine Vieldeutigkeiten oder emotionalen Anspielungen – im Gegensatz
zum Abstrakten Expressionismus. Für
Minimal-Künstler existierte nicht mehr nur
Malerei oder Bildhauerei, vielmehr ver-
wendeten sie übergreifend neue Materialien, um innovative Konzepte umzusetzen.
Künstler wie Dan Flavin und – viel später –
Iván Navarro (*1972) verwendeten Leuchtstoffröhren, um die Wahrnehmung des
Raumes zu verändern. Die Minimal Art
strebte nach Nüchternheit: Was man sieht,
ist das, was es ist.
Minimal Art
damit jeder Betrachter sie deuten kann, wie
er mag. Hohl- und Zwischenräume sind – wie
beim Konstruktivismus – ebenso bedeutend
wie das Objekte selbst. Ad Reinhardts monochrome Gemälde hatten, wie seine Schriften
und seine Lehrtätigkeit, deutlichen Einfluss
auf die Minimal Art.
The Bricks
Andre schuf 1966 acht Bodenskulpturen, die
jeweils aus 120 gebrannten Ziegelsteinen
bestehen, und nannte sie Equivalents. Obwohl
sich die acht Werke nicht gleichen, ist die
Anzahl der verwendeten Ziegelsteine immer
„äquivalent“ im Sinne von Mathematik und
Logik, deren Konzept hier aufgegriffen wird.
Equivalent VIII ist die letzte Skulptur dieser
Serie und wird oft einfach nur The Bricks
genannt. Als die Tate Gallery in London 1972
dieses Werk erwarb, zog sie massive Kritik auf
sich, weil man das für Verschwendung von
Steuergeldern hielt.
Was man sieht … Die Minimal-Künstler gingen über die Ideen der Pop-Art und der
Readymades des Dadaismus hinaus, indem
sie Baumaterialien verwendeten – Aluminium, feuerverzinkten Stahl, Ziegelsteine,
Holz und Leuchtröhren. Diese Materialien
aus industrieller Fertigung sollten das Werk
unpersönlich machen. Wenn Farbe mit im
Spiel war, diente sie nicht dazu, Stimmungen
oder Gefühle auszudrücken oder irgendetwas
zu symbolisieren, sondern Farben sollten einfach eine Balance in das Werk bringen oder zur Unterscheidung
Was man sieht, ist,
von Formen, Raum oder Material beitragen. Die Minimal-Künst- was man sieht.
ler waren häufig an Geometrie interessiert, arbeiteten oft mit
Frank Stella
Linienrastern und brachten mathematische Ideen in ihre Werke
ein. Zudem waren sie entschlossen, jede Andeutung eines persönlichen Einflusses in ihren Werken zu vermeiden. Immer galt: Man
bekommt das, was man sieht. Jedes Werk der Minimal Art sollte ohne verborgene
Absichten, tiefere Bedeutung oder emotionale Assoziationen angelegt sein. Das
Interesse der Künstler, die nach dem Wesen der Kunst und ihrem Platz in der
Gesellschaft fragten, galt mehr der Reaktion des Betrachters als den Objekten
selbst. Es war ein vollkommen revolutionärer Ansatz, der – trotz allen Hohns und
Spotts – die nachfolgende Kunst inklusive Design und Architektur stark beeinflusst
hat.
‚
ʻ
Worum
es geht
Abkehr
von sozialer
Botschaft,
emotionalem Ausdruck und Anmaßung
179
180
Neue Richtungen
45 Concept-Art
(seit den 1970er Jahren)
In den späten 1960er Jahren kam der Begriff „Concept-Art“ (Konzeptkunst) auf, mit dem eine Form von Kunstwerken beschrieben wurde,
die offensichtlich nicht der traditionellen Form von Kunstobjekten entsprach. Die Prinzipien der Concept-Art bestehen darin, den Ideen Vorrang vor den traditionellen Materialien, Techniken und künstlerischen
Fertigkeiten einzuräumen.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Concept-Art übte Duchamps Hinterfragen (und
Verspotten) von Regeln der Kunst aus. Aber man kann die Wurzeln auch allgemein
in einer Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts sehen, zu der der Expressionismus Kandinsky’scher Prägung, der Neoplastizismus, der Abstrakte Expressionismus, die Colour-Field-Painting und die Minimal Art beitrugen.
Vermittlung von Ideen Concept-Art wird als Sammelbegriff für unterschiedliche Kunstformen verwendet, darunter Performance und sonstige Aktionskunst,
Installationen, Videokunst, Earthworks und Land-Art. Wie bei der Minimal Art geht
es bei dieser Kunst eher um Fragen als um Antworten. Nicht nur daher gibt es viele
Überschneidungen zwischen diesen beiden Richtungen – einige Künstler können
beiden zugerechnet werden. Sol LeWitt etwa betrachtet sich selbst als Konzeptkünstler, aber viele seiner Werke lassen sich als minimalistisch klassifizieren. Die
Skulpturen von Robert Morris gehören zur Minimal Art, aber ein Großteil seines
Werks muss der Concept-Art zugerechnet werden. Der Name „Concept-Art“ macht
schon klar, dass darunter fast alles gemeint sein kann, denn es geht schlicht um die
Art, wie Künstler ihre Ideen vermitteln. Die Konzeptkünstler gehen in ihrem Denken über die Grenzen der traditionellen Kunst hinaus und präsentieren ihre Vorstellungen in der jeweils passenden Form, was immer das sein mag. Die Idee ist
immer wichtiger als das Endergebnis.
Zeitleiste
1960
1962
1963
1967
Yves Klein scheint in seiner Fotomontage Sprung in die Leere aus
dem Fenster zu springen
Yves Klein: S 41
(Blaue Venus)
Henry Flynt veröffentlicht seinen
Artikel Concept Art in dem
Sammelband An Anthology of
Chance Operations
Sol LeWitt grenzt in seinen
Paragraphs on Conceptual Art
die Concept-Art gegen die
Minimal Art ab
Concept-Art
‚
Ideen allein können Kunstwerke sein; sie gehören zu einer
Entwicklungskette, die am Ende irgendeine Form findet. Nicht alle
Ideen müssen physisch fassbar gemacht werden.
Sol LeWitt
ʻ
Die Concept-Art, wie wir sie heute verstehen, begann in den 1960er Jahren, als
einige Künstler Dadaismus und Minimal Art miteinander verbanden. Sie setzte
gleichzeitig in verschiedenen Ländern ein und wurde trotz heftiger Kritik von
vielen Seiten sehr einflussreich. Viele Künstler, die ihr zugerechnet werden, haben
sich die Concept-Art nicht ausgesucht. Die meisten schlossen sich keiner Gruppe an
und schrieben keine Manifeste, sondern drückten auf vielfältige neue Weise ihre
Gefühle und Einstellungen aus, oft im Gegensatz zur konventionellen Kunst.
Zu den Konzeptkünstlern gehören beispielsweise: Joseph Beuys (1921–1986),
der durch viele spektakuläre Aktionen bekannt wurde; Marcel Broodthaers (1924–
1976), der Alltagsgegenstände, Worte, einfache Zeichnungen, Kurzfilme und dreidimensionale Strukturen präsentierte; Victor Burgin (*1941), der Text und Bild
nebeneinanderstellt und Videoinstallationen produziert; Michael Craig-Martin
IKB
1957 führte Klein sein eigenes Blau ein,
eine Farbmischung aus dem Ultramarinpigment mit verschiedenen Chemikalien,
die ein reines, leuchtendes Blau liefert:
das International Klein Blue IKB. Das
Ultramarinblau war in der Kunst seit Jahrhunderten eine besondere, mit verschiedener Symbolik verbundene Farbe, die vor
der Renaissance aus kostbarem Lapisla-
zuli hergestellt wurde. Beispielsweise
malte man den Umhang Mariens in dieser
Farbe, die später auch Kandinsky und
Marc als Künstler des „Blauen Reiters“
verwendeten. Klein färbte mit seinem IKB
alles, von der riesigen Leinwand bis zur
antik gestalteten Skulptur, womit er die
Unterschiede zwischen Malerei und Bildhauerei verdeckte.
1970
1971
1973
Erste Kunstausstellung zur
Concept-Art im „New York
Cultural Centre“
Gilbert & George schaffen
ihre ersten photo pieces
Lucy Lippard (*1937) publiziert ihr Buch
Six Years, in dem sie die Ideen der
Concept-Art detailliert beschreibt
181
182
Neue Richtungen
(*1941), der Readymades mit Texten zusammenstellt und Lehrer einiger Konzeptkünstler war; das Künstlerpaar Gilbert & George, zu dem sich Gilbert Proesch
(*1943) und George Passmore (*1942) zusammengetan haben und das für seine
living art mit besonderen formalen Elementen und Farbkonzeptionen bekannt ist;
Yves Klein, der mit vielen Techniken des Farbauftrags experimentierte; Joseph
Kosuth (*1945), der das Wesen der Kunst und weniger die Kunst selbst untersucht,
und Henry Flynt (*1940), der den Begriff der Konzeptkunst prägte.
Kampfansage an etablierte Konzepte Die Vorstellung, dass Künstler
immer irgendwelche materiellen Kunstobjekte schaffen müssten, gehörte zu den
Annahmen, die die Konzeptkünstler als Erstes infrage stellten. Sie hielten das Endprodukt für weniger wichtig als die Konzeption und ihre Entwicklung. Unter diesem Aspekt ist auch die technische Kunstfertigkeit zweitrangig. Entsprechend hat
sich die Concept-Art auf vielfältige Weise manifestiert und werden ihr sehr unterschiedliche Strömungen zugeordnet, so dass man nicht leicht sagen kann, was
genau sie ist, wann sie begann und wer sie letztendlich begründete. Darüber wird
weiter diskutiert, aber es herrscht Einigkeit darin, dass die Concept-Art eine Kunstform ist, die – wie die Minimal Art – die traditionelle Vorstellung von Kunstschaffen infrage stellt, ja, Position dagegen bezieht, auch im Hinblick auf Ausstellungen
und Betrachtungsweisen. Künstler beider Richtungen betonten, dass dem individuellen Kunstwerk früher eine viel zu große Bedeutung beigemessen wurde. Dadurch
sei eine unflexible und elitäre Kunst entstanden, die von den Massen ferngehalten
werde und daher nicht von allen genossen werden könne – wie bereits das Konzept
der Pop-Art beanstandete. Konzeptkünstler verfolgen ihre Ideen, ohne sich auf traditionelle Malerei, Bildhauerei oder auch Ausstellungen in Galerien beschränken zu
müssen. Sie haben sich davon befreit und etwas geschaffen, das sich mit traditionellen Maßstäben schwer beurteilen lässt. Manchmal sind ihre Ideen extrem einfach,
Kunst und Sprache
Ende 1968 gründete sich die britische
Gruppe „Art & Language“, ein Zusammenschluss von Künstlern, die sich in Coventry als Lehrer begegnet waren. Es waren
dies Terry Atkinson (*1939), David Bainbridge (*1941), Michael Baldwin (*1945)
und Harold Hurrell (*1940). Später kamen
noch andere Künstler hinzu, schließlich
verbarg sich unter dem Namen eine ständig wechselnde Gruppe von Konzeptkünstlern. Mit ihrer Zeitschrift ArtLanguage, in der individuelle Konzepte
eines sprachbezogenen Kunstschaffens
diskutiert wurden, haben sie die ConceptArt insbesondere in den USA und in Großbritannien beeinflusst.
Concept-Art
‚
Alle wichtige Kunst von heute kommt aus der Concept-Art.
Dazu gehören Installationskunst, politische, feministische und
sozial orientierte Kunst.
Sol LeWitt
ʻ
dann wieder tiefgründig oder komplex, bisweilen auch bewusst unsinnig oder
beschränkt. Bei den Konzeptkünstlern steht der Protest gegen Armut und Krieg
nicht so im Vordergrund wie bei anderen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts,
aber sie reflektieren ihre Irritation und Enttäuschung über die politische und soziale
Situation durchaus.
1967 beschrieb LeWitt die Concept-Art in seinem Artikel Paragraphs on Conceptual Art in der amerikanischen Zeitschrift Artforum als eine Kunstrichtung, bei
der Kunst gemacht werde, die stärker den Geist des Betrachters als dessen Auge
oder Empfindungen beschäftige. Wie LeWitt weiter erläuterte, sei auch Kunst, die
gerade erst als Idee geboren wurde und noch nicht geschaffen sei, bereits Kunst.
Dementsprechend haben Konzeptkünstler ihre Ideen oft bewusst schlicht visualisiert, um den Betrachter auf das Wesentliche ihrer Botschaft zu fokussieren. Seit
ihrer Blüte in den 1970er Jahren ist die Concept-Art eine international verbreitete
Richtung geblieben.
Worum
es geht
Herausfordernde
Antworten
auf die Frage
„Was ist Kunst?“
183
184
Neue Richtungen
46 Performance
(1970er--1980er Jahre)
Performance, eine Form der Aktionskunst, wird oft der Concept-Art
zugerechnet. Ihre Wurzeln liegen in den theatralischen Inszenierungen
der Futuristen, Surrealisten und Dadaisten, insbesondere in den Vorstellungen im „Cabaret Voltaire“, sowie in den Action-Paintings und Happenings der 1960er Jahre. Performance verwirklichte eine Idee, die sich im
20. Jahrhundert in verschiedenen Kunstrichtungen entwickelt hatte –
nämlich die, dass Künstler und Betrachter wechselseitig voneinander
abhängen.
In den 1960er Jahren kam der Begriff „Performance“ für Auftritte und Inszenierungen auf, mit denen Künstler ihre Ideen auf verschiedene Weise körperlich ausdrückten – etwa durch Tanzen, Singen, Pantomime, schauspielerische Darbietung oder
andere Formen der Vorführung. Diese Performances konnten einmal oder mehrfach
gezeigt werden, an erwarteten oder unerwarteten Orten stattfinden, geplant oder
spontan entstehen. In Deutschland spricht man auch von „Aktionskunst“ und in
Österreich von „Aktionismus“. Sie waren in den 1960er und 1970er Jahren ein verbreitetes Phänomen. Performance wird heute als Teil der Aktionskunst und damit
der Concept-Art betrachtet.
Aktionsfotografie Ein wichtiger Impuls ging von einer Fotoserie aus, die 1950
der Fotograf Hans Namuth (1915–1990) von Jackson Pollock während des Schaffens von Gemälden aufgenommen hatte. Diese Fotos machten bei Künstlern, Kritikern und Kunstfreunden die Ideen des Action-Painting bekannt und regten weitere
Methoden des Kunstschaffens an, bei denen der gesamten menschliche Körper eingesetzt wird. Zudem kamen etwa zur gleichen Zeit die „Happenings“ auf, vor allem
in New York, die sich rasch weltweit verbreiteten. Diese Vorform der Performance
erforderte ebenso eine Beteiligung der Zuschauer wie des Künstlers selbst und
wurde deshalb auch zur Aktionskunst gerechnet. Ein bedeutender Pionier der Akti-
Zeitleiste
1950
1952
1963
1965
Hans Namuth nimmt
Jackson Pollock beim
Action-Painting auf
Der Komponist John Cage vollzieht
am Black Mountain College in
North Carolina mit Untitled Event
das Ur-Happening
Joseph Beuys inszeniert
seine ersten Kunstaktionen
an der Akademie Düsseldorf
Bruce Nauman gibt die
Malerei auf und wendet sich
der Performance zu
Performance
‚
onskunst war Joseph Beuys, der im Zweiten Weltkrieg als
In Zukunft wird jeder
Kampfpilot der deutschen Luftwaffe abgestürzt war und blei15 Minuten lang berühmt
bende Verletzungen davongetragen hatte. Ab 1963 beeindruckte sein.
er mit Aktionen, die einige seiner Erfahrungen reflektierten. In
Andy Warhol
vielfältigen Metaphern und Anspielungen drückten sie soziale
und politische Fragen und menschliches Leid aus. In Großbritannien präsentierten Gilbert & George ab 1969 Performances, die
sie selbst allerdings als living art bezeichneten.
Aktionskunst umfasst viele Formen. Aktionen wie Performances sind naturgemäß nicht von Dauer. Eines der anfänglichen Probleme war daher das Fehlen einer
Dokumentation in Form von Fotos, Filmen oder Videoaufnahmen, durch die die
neuen Ideen einem breiteren Publikum nahegebracht werden konnten. Meist gab es
auch kein Skript wie bei Theateraufführungen. Eine Performance beruhte gewöhnlich
auf einem inhaltlichen Konzept und war kein
Fluxus
Bühnenstück, auch wenn dabei Geschichten
Das lateinische Wort steht für das Fließen oder
aufgeführt werden konnten. Die Aktionen
den Fluss und wurde von einer Künstlergruppe
waren nicht zur reinen Unterhaltung gedacht,
um George Maciunas (1931–1978) und John
sondern die Künstler wollten das Publikum
Cage (1912–1992) in New York als Titel einer
anregen, seine Einstellung zu Leben, Politik
geplanten Zeitschrift gewählt. Der Fluxus war
und Gesellschaft, Psychologie und vielen
eine Wiederaufnahme des Dadaismus und
anderen den Künstlern wichtigen Themen zu
unterstützte gleichermaßen living art (lebende
überprüfen. Einige Performances persiflierten
Kunst) wie Antikunst, wobei die Grenzen zwidas Leben, andere drückten Protest aus und
schen Leben und Kunst fließend sein sollten.
wieder andere forderten das Publikum auf,
Viele Künstler weltweit griffen den Fluxus auf.
allgemein akzeptierte Einstellungen, MeinunEinige nahmen 1963 am internationalen Fesgen und Verhaltensweisen zu hinterfragen.
tum Fluxorum Fluxus teil, einem instrumentalen
Aktionskunst wollte eine Form der unmittelTheater der Musik und Antimusik an der Kunstbaren Kommunikation mit dem Publikum
akademie Düsseldorf, wo Joseph Beuys lehrte.
sein, die Aufmerksamkeit weckt, zum NachAnders als die traditionellen Kunstrichtungen
denken anregt und immer darauf aus ist, Verstellte der Fluxus nicht das geschaffene Kunständerungen von Standpunkten oder Wahrnehwerk in den Mittelpunkt, sondern die Aktionen
mungsgewohnheiten anzustoßen.
ʻ
und Emotionen von Künstler und Betrachter.
1968
1969
1970
Stuart Brisley (*1933)
inszeniert seine erste
Performance Ritual Murder
im Londoner Hyde Park
John Lennon (1940–1980) und Yoko Ono
(*1933) demonstrieren mit einem bed-in
gegen den Vietnamkrieg und für den
Frieden, indem sie zwei Wochen in einem
Doppelbett verbringen
Gilbert & George treten in feinen Anzügen und mit
goldgeschminkter Haut als „singende Skulptur“ auf, die
sich roboterartig bewegt und den Song Underneath the
Arches vorträgt, der vom Elend unter den Brücken
während der Großen Depression handelt
185
186
Neue Richtungen
‚
Menschen kommen
zur Kunst, um etwas zu
verstehen, das sie noch
nicht verstehen, das
noch nicht in ihrem
Leben existiert.
Gilbert & George
Die Deutung der Künstler Bei Yves Klein war die Perfor-
mance mit Malen verbunden. So ließ er 1961 mit drei nackten
Modellen, die er mit seiner blauen Patentfarbe IKB angemalt
hatte, als lebendigen Farbträgern weiße Papierbahnen bedrucken; die so entstandenen Werke nannte er „Anthropometrien“.
Andy Warhol war berühmt für neue Formen von Events und Performances, die er mit seinen Freunden bei Partys oder öffentlichen Veranstaltungen in New York inszenierte, seien es Musikoder Filmaufführungen bzw. Diashows. 1970 traten Gilbert &
George als lebende Skulptur auf – mit vergoldeten Gesichtern
und Händen. Sie sangen Underneath the Arches und bewegten sich dazu lange bei
Playback-Begleitung. Seitdem zeigen sie sich selten in der Öffentlichleit ohne die
Anzüge, die sie bei dieser Performance trugen, und bestehen darauf, dass alles, was
sie tun, als Kunst betrachtet wird. Ana Mendieta (1948–1985) machte in ihren Per-
ʻ
Silent Performance
Aktionskunst ist etwas anderes als künstlerische
Aktion. Das Publikum mag Unterhaltung erwarten
wie bei anderen Vorführungen, aber das ist nicht
die Intention von Performancekünstlern. Sofern
die Performance nicht in eine Veranstaltung eingebunden ist, gibt es keine Eintrittskarten, und
die Aktion ist einmalig. Der Komponist John Cage
inszenierte 1952 ein berühmtes Happening in
New York, das die gesamte nachfolgende Performance geprägt hat. Es war die Uraufführung des
Stücks 433ʼʼ für Orchester, bei dem die Musiker
mit ihren Instrumenten vier Minuten und 33
Sekunden vor dem Publikum saßen, ohne einen
einzigen Ton zu spielen. Die Publikumsgeräusche, etwa Husten oder Gescharre, wurden Teil
der Aktion, die Fragen zu den Erwartungen an
Musikaufführungen aufwarf.
John Cage präpariert einen Flügel, indem er
Gegenstände zwischen und auf den Saiten und
Hämmern anbringt – fotografiert 1957.
Performance
‚
Ich wollte ganz nach draußen gehen und einen symbolischen
Beginn machen für ein Unternehmen, das Leben der Menschheit zu
regenerieren innerhalb des Körpers der menschlichen Gesellschaft,
und um eine positive Zukunft in diesem Zusammenhang
vorzubereiten.
Joseph Beuys
ʻ
formances der 1970er Jahre die kulturelle und geschlechtliche Identität zum Thema
und spielte ihre Erfahrungen als Exilkubanerin in Amerika aus. Beuys’ unkonventionelle Aktionen und sein Auftreten mit Anglerweste und Filzhut wurden zum Markenzeichen seiner Kunst, die seine Überlegungen etwa zu Nuklearwaffen oder
Umweltproblemen ausdrückte – wie die 7000 Documenta-Eichen in Kassel, mit
denen er „nach draußen“ ging.
Der Grundsatz, dem Konzept der Kunst Vorrang vor dem Kunstwerk einzuräumen, geht auf verschiedene Bewegungen der Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts
zurück. Performance- und Aktionskünstler wollten die Kunst aus den Galerien
herausholen – entgegen der Tradition, die nur wenigen Privilegierten ein Kunstverständnis zusprach. Nebenbei ging es ihnen auch darum, den Kapitalismus im Kunstbetrieb zu beseitigen – es sollte keine Agenten, keinen kostbaren Wandschmuck und
keine teuren Ankäufe mehr geben. Die Kunst sollte wirklich für alle da sein. Natürlich ließ sich diese utopische Idee kaum verwirklichen, aber viele dieser Künstler
hatten politische Absichten und wollten die Betrachter dazu anzuregen, über einige
Dinge neu nachzudenken.
Worum
esKünstler
geht neue
Aktionen,
mit denen
Sichtweisen initiieren und bestärken
187
188
Neue Richtungen
47 Land-Art
(1960er Jahre -- Beginn des
21. Jahrhunderts)
Ende der 1960er Jahre entwickelte sich die Land-Art als eine der vielen
Kunstrichtungen, mit denen die Künstler sich von dem in ihren Augen
krassen Kommerz in der Kunstwelt absetzen wollten. Bei der Suche nach
neuen Materialien, Themenbereichen und Örtlichkeiten für das Kunstschaffen und das Ausstellen von Kunst verfielen einige auf Großraumskulpturen aus natürlichen Materialien, die sie oft in die Landschaft
stellten.
Land-Art zeichnet sich dadurch aus, dass die Kunst in unmittelbarem Zusammenhang mit der Landschaft geschaffen wird. Sie entwickelte sich als Richtung innerhalb der Concept-Art in den 1960er und 1970er Jahren. Die
Künstler der Land-Art verwendeten natürliche Materialien, um
Meine Aufgabe ist es, die Landschaft auf verschiedene Weise umzugestalten. Anfängmit der Natur als Ganzer lich veränderten sie die Landschaft nur mit bildhauerischen Mitteln. Einige dokumentierten mit vergänglichen Werken in ihrer
zu arbeiten.
Andy Goldsworthy künstlerischen Handschrift, wo sie in der Landschaft gewesen
waren. Später brachten andere natürliche Objekte wie Steine,
Erde, Zweige oder Felsen in die Galerien, um Installationen
daraus zusammenzufügen, oder sie machten daraus Kunstwerke, die sie im Freien
aufstellten. Viele dieser Werke waren dann in Galerien in Foto- und Filmaufnahmen
zu sehen.
‚
ʻ
Vergänglich und einmalig Zu den bekanntesten Vertretern der Land-Art
gehörten bzw. gehören Robert Smithson (1938–1973), Richard Long (*1945), Andy
Goldsworthy (*1956), Michael Heizer (*1944), Walter De Maria (*1935), Nancy
Holt (*1938) und Dennis Oppenheim (1938–2011). Die Land-Art begann in den
Zeitleiste
1967
1968
1969
1970
Richard Long: A Line Made by Walking
– Foto eines Trampelpfads, den er beim
Laufen durch eine Wiese in England
geschaffen hatte
Eröffnung der Ausstellung
Earthworks in der „Dwan
Gallery“ in New York
Ausstellung Earth Art an
der Cornell University in
New York
Robert Smithson: Spiral Jetty
– der zur Spirale umgestaltete
Uferbereich des Großen
Salzsees in Utah
Land-Art
Spiral Jetty
Robert Smithson verwandelte 1970 einen öden
Uferbereich in eine spiralförmige Großraumskulptur der Land-Art. Spiral Jetty ist ein spiralförmiger Damm aus Salzschlamm, schwarzen
Basaltsteinen und Erde im Großen Salzsee
in Utah. Der Damm ist 460 Meter lang und
4,60 Meter breit und nur dann zu sehen, wenn
der Wasserstand des Sees unter 1279,50 Meter
fällt. Ursprünglich ragte die Spirale schwarz aus
dem von Bakterien rot gefärbten See. Inzwischen hat der Damm eine helle Salzkruste angesetzt. Das Foto stammt von 2005.
Robert Smithson: Spiral Jetty, 2005.
1973–1976
1977
1997/98
Nancy Holt: Sun Tunnels – vier x-förmig auf dem
Wüstenboden von Utah angeordnete Betonröhren,
deren Orientierung dem Sonnenstand bei der
Sommer- und Wintersonnenwende entspricht
Walter De Maria: The Lightning
Field – eine Anordnung von
20 × 20 Stahlmasten, die als
Blitzableiter fungieren
Andy Goldsworthy: Storm King
Wall – eine Mauer im
Skulpturenpark King Wall
Center in New York
189
190
Neue Richtungen
‚
Wenn ein Kunstwerk in einer Galerie platziert wird, verliert es
seine Sprengkraft und wird zu einem tragbaren Objekt ohne Bezug
zur Außenwelt.
Robert Smithson
ʻ
USA, wurde dann aber auch in Europa populär. Die Werke waren überwiegend
Großraumskulpturen, geschaffen aus den natürlichen Materialien vor Ort. Sie lagen
gewöhnlich weitab von den städtischen Ballungsräumen. Viele der frühen Landschaftsmonumente wurden in den Wüsten von Nevada, Neumexiko, Utah oder Arizona geschaffen und sind heute nur noch auf Fotos oder in Videoaufzeichnungen zu
sehen. Da sie ortsgebunden sind, sind solche Werke der Öffentlichkeit nicht leicht
zugänglich. Außerdem sind sie Wind und Wetter ausgesetzt und verfallen daher
mehr oder weniger rasch. Ihre Vergänglichkeit und Einmaligkeit ist durchaus
gewollt. Die Künstler der Land-Art waren oft gegen die Übermacht des kommerziellen Kunstmarkts und wollten sich in Werken, die niemand besitzen oder exakt
reproduzieren kann, frei ausdrücken. Einige waren auch am Umweltschutz interessiert und strebten an, die Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung herauszuarbeiten.
Die Land-Art ist großenteils durch natürliche Prozesse geprägt, ähnlich wie bei
Spiral Jetty. Smithson war wie die meisten anderen Künstler der Land-Art fasziniert
von den physikalischen Vorgängen in der Umwelt und von der Art, wie die Natur
wirkt, zerstört, reagiert oder verändert. Nancy Holt schafft unter anderem Großraumstrukturen, die an megalithische Monumente wie Stonehenge erinnern und
astronomischen Abläufen entsprechend
arrangiert sind. Walter de Maria (*1935),
ein Künstler der Minimal, Concept- und
Neue Wahrnehmung
Land-Art, hat großräumige Werke in den
Die Verhüllungskünstler Christo (*1935) &
amerikanischen Wüsten aufgestellt, wofür
Jeanne-Claude (*1935–2009) können als Aktier oft industrielle Bauteile verwendete, um
ons- oder Concept-Künstler betrachtet werden.
deren Veränderungen durch Wind und WetFür sie sind die Ideen hinter ihrer Kunst und
ter sichtbar werden zu lassen. Außerdem
der Entstehungsprozess ebenso wichtig wie
will er durch seine Werke zum Nachdenken
das Endergebnis. Mit ihren Werken aus langen
über die Erde und ihre Beziehung zum UniTuchbahnen, die in der Umwelt aufgehängt
versum anregen. Ein Großteil von Werken
sind oder Bauwerke verhüllen, sollen die
der Land-Art lässt sich nur aus der Luft
Betrachter angeregt werden, darüber nachzuvollständig überblicken – Smithson starb
denken, was sie sehen.
beim Absturz eines Flugzeugs, von dem
aus er eines seiner Werke begutachtete.
Land-Art
Solche Werke sind also nur von wenigen Wohlhabenden richtig zu genießen, die
sich den Blick aus dem Flugzeug leisten können, sagen einige Kritiker und verweisen darauf, dass die Land-Art ursprünglich für alle gedacht war.
Antipathie gegen Kommerz und Industriealisierung Die Land-Art war
eine Reaktion auf die Kunstentwicklung der späten 1960er Jahre, die zunehmend
als unnatürlich, aufgesetzt und kommerzialisiert empfunden wurde, und auch auf
die zunehmende Zerstörung der Landschaft durch die Industrialisierung. 1968 fand
in der „Dwan Gallery“ in New York die Ausstellung Earthworks statt, im Jahr
darauf folgte ebenfalls in New York die Ausstellung Earth Art. Beide Ausstellungen
fanden in den Medien und der Öffentlichkeit breite Aufmerksamkeit, und für einige
Jahre bezeichnete man alle vom Umweltgedanken inspirierten bildhauerischen
Werke als Earthworks. Viele Kunstkritiker begrüßten diese Richtung, die sie der
Minimal oder Concept-Art zurechneten, ebenso wie einige Umweltbewusste und
andere, die gegen die Urbanisierung und den Materialismus dieser Zeit protestierten. Andy Goldsworthy schafft in der Natur oder in urbanen Räumen teils vergängliche, teils dauerhafte Werke aus natürlichem Material wie Zweigen, Steinen, Schnee oder Blättern. Seine Werke können großräuIch bin für eine Kunst,
mig oder klein, bunt oder monochrom, offensichtlich oder
versteckt sein. Er will die Gefahren aufzeigen, die in der Loslö- die den unmittelbaren
Einfluss der Elemente
sung der Gesellschaft von der Natur liegen.
Zu den Werken der Land-Art gehören neben den aus natürlizeigt, so wie sie Tag für
chen Materialen geschaffenen Skulpturen auch Fotos, Gedichte, Tag jenseits der
Texte und Kunstobjekte aus anderen Materialien. BeispielsweiDarstellung existieren.
se dokumentiert Richard Long seine Reisen und Wanderungen
Robert Smithson
durch abgelegene Landstriche und oft wilde Natur auf Karten
oder Fotos und in Gedichten. Manchmal hinterlässt er auf seinen
Wegen Spuren aus Steinen oder Trampelpfade im Gras und fotografiert sie. Und
gewöhnlich sammelt er Dinge, die er auf seinem Weg findet, wie Treibholz oder
Steine, die er nach der Rückkehr für Installationen in Galerien verwendet.
‚
ʻ
es
geht
NatürlicheWorum
Materialien
und
Landschaften
neu wahrnehmen
191
192
Neue Richtungen
48 Neoexpressionismus
(1970er--1990er Jahre)
In den 1970er Jahren entwickelte sich der Neoexpressionismus als
Gegenbewegung zur Minimal und Concept-Art. Er wurde in den 1980er
Jahren zur Hauptrichtung der Avantgardekunst – vor allem in Amerika,
Deutschland und Italien. Im Grunde lebte hier die Malerei im expressionistischen Stil wieder auf, beeinflusst von Picassos Spätwerk und vielen
anderen Künstlern. Die Expressionisten zeigten in ihren Werken heftige
Emotionen mit rohen und derben Ausdrucksmitteln.
Aus Unbehagen an der introspektiven Intellektualität einiger zeitgenössischer
Kunst- und Designrichtungen begannen einige Künstler Ende der 1970er Jahre –
vor allem in Deutschland, den USA und Italien – in einer expressiven und wilden
Art zu arbeiten. Sie wehrten sich gegen die Anmaßung, die sie in Minimal und Concept-Art sahen, und setzten sich in ihrer Malweise davon ab, indem sie Emotionen
zum Ausdruck brachten, statt nüchterne Überlegungen und Betrachtungen anzustellen. So kehrten sie zum gegenständlichen Malen an die Staffelei zurück und bezogen autobiografische und narrative Elemente sowie eigene Symbole in ihre Bilder
ein. Es war keine einheitliche Bewegung, und so gab es verschiedene Bezeichnungen dafür: etwa New Fauvism, Punk oder Bad Painting in den USA, Neue Wilde in
Deutschland, Figuration libre in Frankreich und Transavantgarde in Italien.
Öffentlicher Skandal Nach dem Niedergang des Expressionismus in den
1930er Jahren haben viele Künstler Stilelemente des Expressionismus beibehalten.
Als 1963 Georg Baselitz (*1938) seine Bilder in Westberlin ausstellte, die extrem
expressiv und provozierend waren, lösten einige als schamlos empfundene Werke
einen Skandal aus. Bilder wie Der nackte Mann und Die große Nacht im Eimer
Zeitleiste
1963
1971
1973
1977
Georg Baselitz löst mit seiner Einzelausstellung
in der Galerie „Werner & Katz“ in Berlin einen
Skandal aus, weswegen die Polizei einige Bilder
beschlagnahmt und die Ausstellung schließt
A. R. Penck: Standart
– mit dem Strichmännchenmotiv
Julian Schnabel:
Parsifal I
Eine Gruppe deutscher Künstler
gründet in Berlin die Selbsthilfegalerie
am Moritzplatz, die zum Treffpunkt der
Berliner Neuen Wilden wird
Neoexpressionismus
‚
Ich fange mit einer Idee an, aber während des Arbeitens
übernimmt das Bild die Führung. Und dann ist da der Kampf
zwischen der Idee, die ich mir vorher ausgedacht habe, und dem
Bild, das um sein Eigenleben kämpft.
Georg Baselitz
ʻ
wurden von der Polizei konfisziert, die gesamte Ausstellung wurde geschlossen.
Baselitz’ späteres Werk war nicht mehr so umstritten, aber er sorgte mit Bildern
oder auch Skulpturen mit Figuren, die auf dem Kopf stehen, und mit seiner groben
Malweise weiterhin für Diskussion. In den 1970er Jahren galt er als führender Vertreter der Neuen Wilden, einer Gruppe deutscher Künstler, die impulsiv gemalte
Bilder schufen. Zu den Neuen Wilden gehörten auch die Maler und Bildhauer
Anselm Kiefer (*1945), der in seinen Werken auch Materialien wie Glas oder
Pflanzenteile verwendete, und Markus Lüpertz (*1941) sowie der Maler Eugen
Schönebeck (*1936) und der Maler, Grafiker und Bildhauer A. R. Penck (*1939).
Francesco Clemente
Der italienische Autodidakt Francesco Clemente (*1952) schöpft wie viele andere
neoexpressionistische Maler aus vielfältigen Quellen, darunter Theosophie, Hinduismus und anderen nicht-europäischen
Kulturen einschließlich deren Handwerkskunst, und schließlich auch aus Expressionismus und Surrealismus. Seine Themen
sind die menschliche Gestalt, Selbstportraits, Sexualität, Mythen und Spiritualität,
nicht-westliche Symbole und traumähnli-
che Visionen. Er kam 1981 nach New
York, wo er große Ölbilder malte und mit
Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat
(1960–1988) in Gemeinschaftsarbeit
einige Gemälde schuf. Fasziniert von den
inneren und äußeren Grenzen des Menschen geht er den Konflikten und Widersprüchen nach, die in jedem von uns zwischen dem rationalen und irrationalen
Selbst, zwischen Vernunft und Fantasie
auftreten.
1978
1980
1981
Neoexpressionistische Werke einiger
italienischer Künstler wie Sandro Chia und
Francesco Clemente werden mit dem Begriff
„Transavantgarde“ beschrieben
Baselitz und Anselm Kiefer
sorgen mit Nazi-Symbolen in
ihren Bildern bei der Biennale
in Venedig für einen Skandal
Die neoexpressionistische
französische Gruppe
„Figuration libre“ formiert sich
193
194
Neue Richtungen
Ein Vertreter des amerikanischen Neoexpressionismus war Philip Guston (1913–
1980), der in den ausgehenden 1960er Jahren vom Abstrakten Expressionismus
zum Neoexpressionismus überging und in einem eigenen Cartoonstil Bilder mit reicher Symbolik schuf. Dazu zählen auch der Maler und Filmemacher Julian Schnabel (*1951) und der Maler, Zeichner, Grafiker und Performancekünstler David Salle
(*1952), in dessen Installationen und Gemälden sich zumeist
mehrere Bilder verschiedener Stile und Inhalte überlagern. Zu
Die Realität ist das
den italienischen Neoexpressionisten gehören Sandro Chia
Bild, sie ist ziemlich (*1946), Francesco Clemente, Enzo Cucchi (*1950), Nicola de
sicher nicht in dem Maria (*1954) und Mimmo Paladino (*1948). Christopher Le
Bild.
Brun (*1951) und Paula Rego (*1935) werden oft den NeoexGeorg Baselitz pressionisten Großbritanniens zugeordnet. In Frankreich gehörten Robert Combas (*1957), Rémi Blanchard (1958–1993),
François Boisrond (*1959) und Hervé di Rosa (*1963) zur
Künstlergruppe, die sich „Figuration libre“ nannte. Zwischen 1982 und 1985 stellten diese Künstler zusammen mit ihren amerikanischen Pendants Keith Haring
(1958–1990), Jean-Michel Basquiat und Kenny Scharf (*1958) in New York, London, Pittsburgh und Paris aus.
‚
ʻ
Gemeinsame Merkmale Der Neoexpressionismus war eine Kunstrichtung
mit sehr vielen Strömungen. Dennoch gab es einige generelle Grundvorstellungen,
darunter insbesondere die Überzeugung, dass Minimal, Concept- und Pop-Art nicht
die Fantasie anregen. Ihre Inspiration bezogen diese Künstler aus vielen Einflüssen.
Darunter fallen Picassos späte Werke, die Kunst von George Grosz, Ernst Ludwig
Kirchner, Edvard Munch und Willem de Kooning, der Fluxus, Graffiti, auch die
Kunst der Naturvölker sowie psychisch labiler Menschen, die Theorien C. G. Jungs
und schließlich ihre eigenen heftigen Gefühle. Die Neoexpressionisten nahmen
Motive aus der Werbung, von Buchcovern und Comics, aber auch aus Texten der
Kommerz in der Kontroverse
Der Neoexpressionismus setzte sich in
den 1980er Jahren fort, einer Dekade des
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen
Wandels, in der in vielen Ländern Wohlstand, Konsum und Materialismus neue
Ausmaße erreichten. Viele Künstler,
denen die damalige Kunstwelt überheblich
und korrupt erschien, begrüßten den Neoexpressionismus. Einer der vielen Streitpunkte lag in der Frage, inwieweit Neoexpressionisten den Kommerz unterstützen
und sich selbst von Kunsthändlern vermarkten lassen sollten, statt dagegen zu
protestieren.
Neoexpressionismus
‚
Ich kümmere mich eigentlich nicht um Anatomie. Etwas perfekt
Gezeichnetes steht für mich einfach nur für jemanden, der zeigt,
dass er zeichnen kann.
Julian Schnabel
ʻ
Rockmusik, aus Geschichte und Mythologie auf. Die traditionell geforderte Kunstfertigkeit im Zeichnen und Malen war nicht mehr gefragt, die konventionellen
Kompositions- und Designregeln waren verpönt. Im Mittelpunkt stand der Ausdruck spontaner Emotionen. Die meisten Gemälde waren grob gemalt und erschienen chaotisch, manchmal in grellen oder sich beißenden Farben und gegensätzlichen Stilen. Mit Pinseln, Fingern oder anderen ungewöhnlichen Malgeräten wurden
Zeichen ziemlich planlos wirkend gesetzt. Die Künstler befassten sich mit vielfältigen Themen, etwa inneren Spannungen, Zorn, Anfeindung oder Nostalgie. Sie
waren meist nicht so erbittert wie ihre expressionistischen Vorgänger, sondern stellten einfach die Welt in allen den Härten dar, die sie darin sahen, ohne Rücksicht auf
Schönheit und Ästhetik. Das löste Debatten über das Anliegen und den Wert der
Malerei aus, wobei der Neoexpressionismus oft als Beispiel für all das herangezogen wurde, was bei diesem Medium schiefging. Mitte der 1990er Jahre verlor der
Neoexpressionismus an Schwung.
Worum
geht und
Wiederkehr
eineres
intensiven
expressiven Malweise von großer
Subjektivität
195
196
Neue Richtungen
49 Hyperrealismus
(1990er Jahre bis frühes
21. Jahrhundert)
Der Hyperrealismus entwickelte sich aus dem Fotorealismus, der Ende
der 1960er Jahre in Amerika aufgekommen war und – ähnlich wie verschiedene andere Kunstrichtungen – das konzeptuelle und abstrakte
Kunstschaffen herausgefordert hatte. Der Fotorealismus war eine ungemein exakte Malweise, bei der die Bilder genauso naturalistisch und
scharf wirken sollten wie Fotos. Die Aufgabe des Künstlers lag also
schlicht darin, seine perfekte Malfertigkeit akkurat zu nutzen, um reproduzierende Darstellungen zu schaffen.
Auch wenn man die Wurzeln des Hyperrealismus im Fotorealismus sehen muss,
handelte es sich bei ihm keineswegs um eine direkte Weiterentwicklung. Am Ende
des 20. Jahrhunderts begannen einige Künstler, Werke zu schaffen, die zwar ebenso
exakt ausgeführt und detailgetreu waren wie fotorealistische, jedoch einige meist
subtile Stiländerungen aufwiesen, mit denen menschliche Botschaften ausgedrückt
werden sollten. Die Hyperrealisten arbeiteten an unterschiedlichen Sujets und in
diversen Kunstgattungen – darunter Portraits, Landschaften, Stadtbilder, Figuren
sowie narrative oder alltägliche Szenen. Die Werke sollten zwar neutral und objektiv wirken, sind aber für gewöhnlich bewusst emotional gestaltet und oft ebenso
ausgeprägt individuell wie beim Expressionismus.
Soziales Bewusstsein Der Fotorealismus entwickelte sich, so wie er sich in
den 1960er Jahren durchsetzte, aus der Pop-Art und stellte verbreitet Alltagsthemen
und akribische Malkunst in den Mittelpunkt. Oft wurden dabei menschliche Emotionen, politische Wertungen und narrative Elemente bewusst vermieden. Im
Gegensatz dazu beschäftigt sich der Hyperrealismus mit Gegenwartskultur, Politik
und sozialen Fragen und bringt eine Reihe von Problemen zum Ausdruck: das Vul-
Zeitleiste
1973
1987
1988
Ein belgischer Galeriebesitzer verwendet die Bezeichnung „Hyperréalisme“ für den Fotorealismus
Richard Estes:
Hotel Empire
Duane Hanson: Queenie II – eine polychrome
Bronzefigur einer übergewichtigen Putzkraft;
Chuck Close erleidet nach einem RückenmarksBlutgerinnsel eine Querschnittslähmung
Hyperrealismus
gäre des Konsumismus, die Extreme des Leidens, die Misere der Arbeiterklasse
oder die Fragilität des Menschen. Wie der Fotorealismus begann der Hyperrealismus in Amerika. Zu seinen Vertretern gehören Denis Peterson (*1945), Richard
Estes (*1936), Audrey Flack (*1931) und Chuck Close (*1940). Da sie so akkurat
und exakt malen, erfordert jedes Bild monatelanges Arbeiten. Für Gemälde mit
unsichtbarem Pinselduktus werden feine Pinsel verwendet, für Skulpturen vielfältige Materialien genutzt, die sich zu naturalistischen Gestalten formen lassen. Viele
Hyperrealisten verwenden Fotos als Vorlagen, um Bilder zu schaffen, die wie Fotos
aussehen. Daher gehört es zu den einschlägigen Vergnügen, die Betrachter zu fragen, ob das Bild ein Foto oder Gemälde bzw. ob eine menschliche Figur real oder
künstlich ist.
Wie real ist real? Hyperrealismus ist fast immer subjektiv. Mit akribischer
Detailgenauigkeit wird eine Illusion von Realität erzeugt, die noch schärfer und
deutlicher ist als bei einem Foto oder sogar der realen Umgebung. Es geht nicht um
den Abklatsch eines Fotos oder der Wirklichkeit, sondern um eine Verschärfung
oder Überspitzung bestimmter Aspekte der Realität, auf die der Künstler das
Augenmerk richten will. Texturen, Oberflächen, Lichteffekte, Schatten und Farben
erscheinen schärfer und deutlicher als auf den
Technische Hilfsmittel
Fotovorlagen oder beim realen Gegenstand
Hyperrealismus setzt ein hohes Maß an techniselbst. Der Hyperrealismus hat deshalb nicht
scher Perfektion und Präzision voraus, aber die
nur den Fotorealismus, sondern auch die
meisten Künstler setzen auch Hilfsmittel wie
hochaufgelösten digitalen Bilder und Videofotografische oder multimediale Projektion auf
aufnahmen zur Voraussetzung. Und er leitet
die Leinwand ein, um ihre Bilder danach zu fersich aus den Ideen verschiedener Theoretiker
tigen. Einige verwenden auch traditionelle Liniab, insbesondere denen des Soziologen, Phienraster, um die Bilder in mühsamer Kleinarbeit
losophen, Fotografen und politischen Komauf die Leinwand zu übertragen. Viele benutmentators Jean Baudrillard (1929–2007), der
zen Airbrush-Techniken und sprühen die Fardie Unfähigkeit unserer Gesellschaft herausben auf, um Pinselstriche zu vermeiden. Bildstellte, zwischen Wirklichkeit und Zeichen zu
hauer gießen Polyester in Abgussformen oder
unterscheiden. Er stellte wie andere Mediendirekt auf das Modell, um das gewünschte
theoretiker die Frage, was Realität in einer
Abbild zu erreichen.
Welt bedeutet, in der bestimmte Medien
Ereignisse oder Erfahrungen manipulieren
1997
2000
2006
Chuck Close: Self-portrait – dieses
2,5 Meter hohe Selbstportrait malte
Close mit einer Pinselhalterung am
Handgelenk; Ron Mueck: Mask
Ron Mueck: Boy – eine fünf Meter
hohe Skulptur eines hockenden
Jungen, die im Millenium Dome in
London erstmals gezeigt wurde
Denis Peterson: Donʼt Shed No
Tears – eine Serie von Bildern
zum Thema Genozid, Leiden und
Überleben
197
198
Neue Richtungen
‚
Ich denke, die meisten Gemälde sind eine Aufzeichnung der
Entscheidungen, die der Künstler getroffen hat. Ich treffe sie
vielleicht ein wenig genauer als andere Leute.
Chuck Close
ʻ
oder komplett gestalten können. Je nach künstlerischem Interesse variieren beim
Hyperrealismus auch die Werke: Estes stellt Städte als leere Plätze mit reflektierenden Flächen und unpersönlichen Strukturen dar (nicht allzu weit von de Chiricos
Pittura Metafisica entfernt). Close konfrontiert den Betrachter seiner massiven Portraits mit unnatürlichen und unerwarteten Proportionen und Bedeutungen. Gottfried
Helnwein (*1948) thematisiert Holocaust und NS-Diktatur. Peterson zeigt das
Ron Mueck
Das Werk des australischen Bildhauers Ron
Mueck (*1958) ist exemplarisch für den Hyperrealismus. Auf den ersten Blick lebensähnlich,
konfrontiert es den Betrachter mit schockierendem Naturalismus – oft auch mit übermäßiger
Vergrößerung oder Verkleinerung. Mit Materialien wie Silikon,
Polyesterharzen oder Polyurethan, die eine Reproduktion komplizierter Details ermöglichen,
stellt Mueck akribisch genau Einzelheiten wie Falten, Runzeln,
Bartstoppeln, Hautflecken und
Haare dar. Das soll den Betrachter aufrütteln, über die sonst
unbeachteten Selbstverständlichkeiten des Lebens neu nachzudenken. Von 1997 bis 2000
Ron Mueck: Mask II, 2002.
nahm Mueck an der Wanderausstellung Sensation teil, die ihn in Großbritannien, Deutschland,
den USA und Australien bekannt machte und
den Hyperrealismus ins Blickfeld der Kunstwelt
katapultierte.
Hyperrealismus
‚
Der Gegenstand ist ein eigenes Medium, das den Betrachter über
die Falschheit und Simulation des Bildes, das paradoxerweise
überzeugt, mit der Realität verbindet.
Denis Peterson
ʻ
menschliche Leid in sachlichen Details und weckt damit eine heftige Empathie
beim Betrachter.
Das Unerwartete Viele Hyperrealisten haben Bilder und Objekte geschaffen,
die ihre emotionale Reaktion auf die politische und soziale Situation ausdrücken,
etwa auf totalitäre Regime, rassistische oder religiöse Intoleranz, Diskriminierung
und Verfolgung oder die Missachtung der sozial Schwachen und Benachteiligten.
Hyperrealistische Werke fordern den Betrachter oft heraus, indem sie Unerwartetes
zeigen. Das können unpassende Gegenüberstellungen, eine überraschende Größe
oder verstörende Wahrheiten sein, die wir ansonsten ignorieren würden. So sind
Skulpturen von Ron Mueck wie Mask von 1997, seine kleine nackte Silikonfigur
Dead Dad von 1996/97 oder die übergroße Skulptur In Bed von 2005, die eine Frau
im Bett zeigt, zwar auffallend lebensähnlich, irritieren aber durch ihren ungewöhnlichen Maßstab und zwingen den Betrachter, das Gesehene neu zu bewerten. Duane
Hanson (1925–1996) schuf ebenfalls hyperrealistische Skulpturen von gewöhnlichen Menschen, und zwar immer in Lebensgröße und schockierend naturalistisch,
so dass sie vertraut wie die nächste Nachbarschaft erscheinen und die Betrachter
anregen, ihre Einstellungen zu überdenken. Viele hyperrealistische Gemälde sind
mit Spritzpistolen gesprühte Akryl- oder Ölbilder – oder auch in einer Mischtechnik
gestaltet. Denis Petersons Bilder, meist als Teile von Serien geschaffen, fesseln das
Auge und wirken häufig verstörend; thematisch stehen unbequeme Tatsachen im
Mittelpunkt: Leid und Konflikt, Überlebenskampf und Genozid. Die Menschen und
Szenen werden verstörend akribisch bis ins feinste Detail dargestellt, oft bewusst im
Ausschnitt, um den Betrachter in die unbehagliche Lage des Voyeurs zu versetzen,
der nicht alles mitbekommt. Diese Bilder kommentieren zwar die dargestellten
Sachverhalte, aber Peterson lässt seine persönlichen Emotionen außen vor, damit
der Betrachter selbst urteilen kann.
Worum
es geht
Überscharfer
Realismus,
der zum
Nachdenken herausfordert
199
200
Neue Richtungen
50 Medienkunst
(seit den 1970er Jahren)
Künstler haben schon immer neue Bildträger als Medien genutzt. So war
es unausweichlich, dass einige auch neue Medien wie Video, Computer
oder Internet entdeckten, um damit originelle Kunst zu schaffen. Seit den
Anfängen der ersten Computergrafik in den USA und in Deutschland
Mitte der 1960er Jahre hat sich die Medienkunst oft auf unvorhergesehene Weise bis hin zu den interaktiven Internetevents entwickelt.
Mit dem Buchdruck im 15. Jahrhundert oder der Fotografie im 19. Jahrhundert
kann man die Ursprünge der Medienkunst verbinden. Aber der Begriff „Medienkunst“ bezieht sich nicht darauf, sondern wird erst für Kunst verwendet, für die die
neuen Medien des 20. und 21. Jahrhunderts zur Erstellung, Vermittlung oder als
Träger genutzt werden. Diese künstlerische Entwicklung ging von technischen
Medien wie Videos aus, die in den Experimenten von Künstlern wie Nam June Paik
(1932–2006) eingesetzt wurden.
Das World Wide Web Der Begriff „digitale Kunst“ kam in den 1980er Jahren
auf, als das Internet startete. Das World Wide Web begann 1989 am CERN, wo
Timothy Berners-Lee (*1955) die Hypertext-Sprache HTML entwickelte, um für
diese europäische Großforschungseinrichtung für Teilchenphysik eine weltweite
Kommunikation über Computer zu ermöglichen, die an das Internet angeschlossen
sind. Zu den Ersten, die nach den Wissenschaftlern das World Wide Web benutzten,
gehörten Künstler, die im Netz ein davor unerreichtes Potenzial von Ausdrucksmöglichkeiten erkannten.
Die Medienkunst entwickelte sich seit der Jahrtausendwende naturgemäß ebenso
rasant und international wie die neuen Computertechnologien, ist aber auch so kurzlebig wie diese. Medienkunst ist ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von
Kunst, die unter Heranziehung der neuen digitalen Medien entsteht, wie Internet,
Video, Computeranimation, Digitalfotografie oder Smartphone. Von Anfang an
Zeitleiste
1972
1974
1985/86
1993
Gilbert & George produzieren
Videokunst, die sie sculptures
on video tape nennen
Das Museum of Modern
Art in New York richtet die
weltweit erste Abteilung für
Videokunst ein
Andy Warhol verwendet
einen Amiga-Computer für
ein Selbstportrait und ein
Portrait von Debbie Harry
Der erste „Digital Salon“ in
New York; er findet
mittlerweile jährlich statt
Medienkunst
Heath Bunting
Durch seine Beteiligung an der Entwicklung
der Netzkunst wurde Heath Bunting in den
1990er Jahren bekannt. Er erstellt mit den
verschiedensten Medien Aktionen, Dokumentationen und Bilder. Da bei ihm immer
die Idee von entscheidender Bedeutung ist,
kann er ebenso als Medien- wie als Konzeptkünstler gesehen werden. Sein Werk
durchbricht die Trennung zwischen Kunst
und Alltag; oft soll es unterhalten, bisweilen
kontrovers sein und den Betrachter auf
unkonventionelle Weise ansprechen. In seinen Werken wie Irational.org geht es meist
Heith Bunting: Irational.org, 2010.
um Kommerz oder Netzwerke im Internet
und um die Frage nach den Grenzen zwischen Leben und Kunst bzw. Internet, zwischen Wahrnehmung und Kommunikation.
haben die digitalen Medien auch die traditionellen künstlerischen Techniken –
Malerei, Zeichnung, Bildhauerei – beeinflusst, bis sie sich schließlich als das zeitgemäße künstlerische Mittel durchsetzten. Als die Preise für allgemein zugängliche
und benutzerfreundliche Computertechnik sanken, begannen einige bekannte
Künstler, damit zu arbeiten, darunter Richard Hamilton, der 1986 mit dem Computergrafiksystem Quantel Paintbox seine Pop-Art-Collage Just What is it that Makes
Today’s Homes so Different, so Appealing? erneuerte. Das Ergebnis war eine aus
Scans und digitalen Bildern zusammengestellte Collage mit dem
Titel Just What is it that Makes Today’s Homes so Different?
Ohne Elektrizität kann
David Hockney begann 2009, mit seinem iPhone Minikunstes
keine Kunst geben.
werke zu schaffen, und demonstrierte damit, dass sich iPhones
wie andere neue Medien für das Kunstschaffen nutzen lassen.
Nam June Paik
‚
ʻ
1994
1997
2002
2010/11
Jake Tilson startet sein Internetwerk The Cooker; Heath Bunting
startet Irational.org
Gillian Wearing (*1963) gewinnt für
seine „lebende Fotografie“ 60 Minutes
Silence den Turner-Preis – dabei
stehen 26 als Polizisten kostümierte
Akteure regungslos
Bill Viola: Emergence
– ein hochauflösendes
Video
Heath Bunting:
Travel Jog
201
202
Neue Richtungen
Konservieren von Medienkunst
Durch die rasante Entwicklung neuer
Techniken und Medien wird es immer
schwieriger, Kunst zu konservieren, zu
erhalten und zu zeigen, die beispielsweise
per Video, Film, Tonband oder ältere Software entstanden ist und noch vor relativ
kurzer Zeit innovativ war, deren Technik
jetzt aber veraltet ist. Die Konservierung
von Kunstwerken war immer sehr wichtig
und ist es bis heute geblieben – nun aber
befrachtet mit neuen Herausforderungen
durch neue Methoden des Kunstschaffens.
Die Möglichkeit zur Teilhabe Als sich in den 1980er Jahren die PCs durchsetzten, machten auch immer mehr Künstler davon Gebrauch. Jeff Wall (*1946)
schuf so mit digital manipulierten Fotos fantastische Bilder, die wirklichkeitsgetreu
aussehen, aber vom Surrealismus inspiriert sind. Bunting dagegen geht seit dem
Start von Irational.org im Jahr 1994 weiterhin den Vernetzungsmöglichkeiten im
World Wide Web nach, wo jeder mit jedem kommunizieren kann und jeder Kunstbetrachter die Möglichkeit zur Beteiligung und Partizipation hat. Bill Viola (*1951)
arbeitet mit Videos und setzt Bild, Licht und Ton ein, um Lebens- und Existenzfragen darzustellen. Mitte der 1990er Jahre schufen Dirk Paesmans
(*1965) und Joan Heemskerk (*1968) gemeinsam Jodi.org. Oft
Technik ist zur neuen
entstehen ihre respektlosen und witzigen Werke aus abgeänderkörpereigenen Hülle der ten Computerspielen und enthalten Animationen, Grafiken,
Existenz geworden.
unerwartete Pop-ups oder wechselnde URLs. Peter Stanick
Nam June Paik (*1953) schafft digitale Bilder im Pop-Art-Stil, die New Yorker
Straßenszenen zeigen. Christophe Bruno (*1964) geht Fragen
zur Sprache nach. Jake Tilson (*1958) startete 1994 sein Website
The Cooker, die viele Bilder, Texte und Erfahrungen aus aller Welt zeigt und jedem
Computernutzer zugänglich ist; hier kann Kunst also von jedem nach Belieben
betrachtet und genutzt werden. Bei The Cooker hat alles mit Kochen und Essen zu
tun, wobei jede neue Seite den Besucher in einen anderen Bereich entführt. Man
findet dort beispielsweise Geräusche, die beim Zubereiten von Speisen entstehen,
Bilder von Restaurants überall auf der Welt oder von Reisen zu irgendeinem Ort, an
dem etwas gekocht wird.
Die Medienkunst entwickelt sich weiter, und es ist nicht abzusehen, zu welchem
Ziel sie führt und welchen Stellenwert sie besitzen wird. Durch den technischen
Fortschritt ist sie ist an viele Veränderungen und Entwicklungen gebunden, und
neue Künstler werden eigene Ideen ausprobieren. Es gibt bislang kein einheitliches
‚
ʻ
Medienkunst
‚
Man muss die Ungewissheit in die Kunst hineinlassen.
Es ist dieser Tropfen Chaos, der einsickert – man muss darauf
eingestellt sein.
Jake Tilson
ʻ
Konzept und keine allgemeinen, verbindlichen Standards, sondern eine große Vielfalt von Arbeitsweisen. Die Idee, die neuen Medien zu nutzen und mit ihnen zu
experimentieren, lässt so viel Bandbreite zu, wie es Vorstellungen und Fähigkeiten
von Künstlern gibt, die mit sehr verschiedenem Hintergrund zur Medienkunst kommen: als ausgebildete Maler oder Bildhauer, Grafikdesigner, Fotografen, Computerexperten, Tontechniker oder Informatiker.
Worum
es geht
Neue Kunst
mit neuen
Technologien
203
204
Glossar
Glossar
Abstrakte Kunst Kunst, die
nicht die Darstellung konkreter
Dinge der realen Welt intendiert.
Abstraktion Betonung dessen,
was der Künstler als wesentlich
wahrnimmt an den Gegenständen,
deren Erscheinungsbild er nicht
nachahmend, sondern vereinfacht
darstellt.
Akademiekunst Ein klassischer
Malstil, der – ausgehend von
Frankreich – an den staatlich geförderten Akademien gepflegt wurde,
insbesondere während des 18. und
19. Jahrhunderts.
Akrylfarbe Schnell trocknende
Farbe aus Kunstharz und Pigmenten.
Allegorie Darstellung eines abstrakten Begriffs oder Vorgangs.
Amorph Formlos, gestaltlos.
Anthropometrie Von Yves Klein
eingeführter Begriff für Bilder, die
unter Verwendung bemalter Menschenkörper statt des Pinsels entstanden.
Assemblage Zusammenfügung
von vorgefundenen (vgl. Objets
trouvés) oder vorgefertigten Gegenständen (vgl. Readymades) auf
einem zweidimensionalen Bildträger zu einem reliefartigen Kunstwerk.
Avantgarde Künstler, die unkonventionell nach vorn, in die Zukunft
gerichtet denken.
Benday Dots Punkte gleicher
oder verschiedener Farbe, die,
zusammen gedruckt, intensivere
Farbwerte oder weitere Farbtöne
erzeugen.
Chiaroscuro Italienische
Bezeichnung für die Verwendung
von Helldunkelkontrasten zur Darstellung von Tiefe.
Collage Technik, bei der verschiedene Materialien wie Stoff,
Zeitung, Seidenpapier etc. auf die
Bildfläche geklebt werden.
Divisionismus Aufbringen von
unterschiedlichen Farbpunkten oder
-strichen im Kontrast nebeneinander, um für einen Betrachter aus
einer gewissen Entfernung eine hellere Wirkung der Farben zu erzielen
– eine Anwendung der Gegenfarbentheorie. Vgl. Pointillismus.
Figurative Kunst Eine Darstellungsweise, die die reale Welt so
zeigt, dass bestimmte Einzelheiten
wiedererkennbar sind.
Fotogramm Fotografische Aufnahme ohne Kamera, wobei das
Objekt direkt auf lichtempfindliches Papier oder eine Fotoplatte
gelegt wird, die dann belichtet werden.
Fotorealismus Eine Strömung
der 1960er Jahre, die sich aus der
Kritik an der Minimal Art und der
abstrakten Kunst entwickelte,
besonders in Amerika, und deren
Besonderheit darin lag, Bilder zu
schaffen, die gemalten Fotos gleichen.
Fresko Maltechnik, bei der die
Farbe auf feuchten Putz aufgebracht wird.
Frottage Ein in „Reibetechnik“
erstelltes Bild, bei dem eine Struktur (beispielsweise eines Reliefs)
auf das darübergebreitete Papier
übertragen wird, indem man mit
einem Stift darüberstreicht.
Genre Alltagsszene verschiedenster Art; Bilder, die eine solche
zeigen, heißen Genrebilder.
Grattage Eine Technik in der
Ölmalerei, bei der der Künstler in
die dickflüssige Farbe Strukturen,
Muster oder auch Bilder kratzt bzw.
durch Abschaben erzeugt.
Humanismus Eine Denktradition, die den Menschen, insbesondere seine Würde und Rationalität,
und die Ausbildung menschlicher
Stärken in den Mittelpunkt stellt.
Impasto Sehr dicker Farbauftrag.
Kinetische Kunst Kunstwerke
unter Einbeziehung von Bewegung,
z.B. Mobile.
Klassizismus Kunststil, der sich
an den Werken und Maßstäben der
klassischen Antike orientiert.
Komplementärfarben Sich im
Farbkreis gegenüberliegendes Farbenpaar, das besonders hell wirkt,
wenn beide Farben aneinandergrenzen.
Komposition Anordnung der einzelnen Elemente eines Kunstwerks.
Glossar
Kontrapost Körperhaltung einer
dargestellten Figur, bei der das
Gewicht des Körpers auf dem
gestreckten Standbein liegt, während das entlastete Spielbein leicht
angewinkelt ist, was zu einer S-förmigen Biegung der Körperachse
führt. Erstmals in der griechischen
Klassik verwendet, wurde der Kontrapost in der Renaissance wiederbelebt.
Lasur Dünne, transparente Farbschicht, welche die Farben darunter
durchscheinen lässt.
Moderne Eine im ausgehenden
19. Jahrhundert mit dem Realismus
beginnende Kunstepoche, die durch
die Abkehr von tradierten Kunststilen und durch das Schaffen neuer
Kunstformen gekennzeichnet ist,
die zeitgemäßer schienen. Sie war
anfangs generell mit einem gewissen Idealismus und insbesondere
mit dem Fortschrittsgedanken verbunden.
Mosaik Bilder aus vielen bunten
„Steinchen“, die im Mörtel fixiert
sind, wobei diese Elemente aus
Glas, Stein oder Ton bestehen können.
Muralismo Mexikanische Wandmalerei, benannt nach span. mural
= Wandbild.
Narrativ Erzählend.
Naturalismus Eine unklar definierte Stilrichtung des späten 19.
und beginnenden 20. Jahrhunderts,
die von den neuen Ideen der Naturwissenschaften inspiriert war und
sich eine naturgetreue Darstellung
zum Ziel setzte. Allgemein meint
der Begriff eine bis ins Detail naturgetreue Abbildung des Sichtbaren.
Sujet Thema oder Gegenstand
eines Kunstwerks.
Objets trouvés Fundstücke, die
Künstler in ihre Kunstwerke integrieren (vgl. Assemblage) oder zu
solchen erklären.
Sfumato Malweise mit verwischten Konturen (von ital. fuma =
Rauch), die Renaissancekünstler
wie Leonardo da Vinci einsetzten.
Pleinairmalerei Das Malen von
Bildern vollständig im Freien, statt
deren Ausführung nach Naturskizzen im Atelier.
Vanitas-Stillleben Der vom lateinischen Wort für Vergänglichkeit
abgeleitete Begriff bezeichnet ein
Stillleben, in dem die dargestellten
Objekte die Vergänglichkeit des
Lebens symbolisieren und so dem
Betrachter die eigen Sterblichkeit
vor Augen führen.
Pointilismus Punktförmiger
Farbauftrag. Verwendung der Technik, um die Farben für einen etwas
entfernt stehenden Betrachter zum
Leuchten zu bringen. Vgl. Divisionismus.
Postmoderne Die Gegenbewegung zur Moderne in Literatur,
Kunst, Design, Philosophie, Architektur und Kultur kam in den
1960er Jahren auf. Zwei wichtige
Kennzeichen dieser Strömung sind
die Überwindung der Barrieren
zwischen Elite- und Massenkultur
sowie die Weigerung, einen
bestimmten Stil vorzuschreiben und
zu definieren, was Kunst ist.
Quattrocento Kunst und Kultur
im Italien des 15. Jahrhunderts,
Epoche der Frührenaissance.
Readymades Objekte, die ein
Künstler vorgefertigt vorfindet und
in einem neuen Kontext als Kunstwerk ausstellt.
Serifenlose Schrift Eine Druckschrift, die keinen Abschluss- oder
Begrenzungsstrich an Fuß und
Kopf der Buchstaben aufweist, beispielsweise Helvetica oder Arial.
Verist Mit diesem Wort wurde im
alten Rom ein Künstler bezeichnet,
der Portraits nicht schönte, sondern
darin auch die vorgefundenen Runzeln und Warzen wahrheitsgemäß
wiedergab. Später wurde die
Bezeichnung für Künstler übernommen, die im Zuge der Neuen
Sachlichkeit schwer zu akzeptierende Wahrheiten ungeschminkt
darstellten.
Verkürzung Eine perspektivische Darstellung von Gegenständen
im Raum, bei der die im Hintergrund des Bildes gezeigten Objekte
kleiner wiedergegeben sind als die
im Vordergrund.
205
206
Index
Index
A
Abstrakter Expressionismus
154, 160–164, 166, 168,
170, 176, 178, 180, 194
Abstraktion 107, 148, 162
Académie des Beaux-Arts,
Paris 60–62, 77 f.
Action-Painting 161, 163, 184
Akademiekunst 60–63, 72,
75, 80
Albers, Josef 133, 175
Altägyptische Kunst 8–11
American Scene 151, 156–
159, 162
Analytischer Kubismus 105 f.
Andalusischer Hund, Ein (Film)
153 f.
Andre, Carl 177–179
Anuszkiewicz, Richard 173,
175
Archipenko, Alexander 105,
107, 109
Armory Show (New York, 1913)
156
Arp, Jean (Hans) 116, 118,
153, 155
Art & Language, Gruppe 182
Art déco 107, 111
Arts and Crafts 132 f.
Ashcan School 157
Ästhetizismus 80, 82
B
Ball, Hugo 116–118
Balla, Giacomo 108 f.
Barbizon, Schule von 72–74,
76, 78
Barock 40–44, 46, 49, 53, 56
Baselitz, Georg 192 f.
Basquiat, Jean-Michel 193 f.
Bauhaus 123, 126, 129, 131–
135, 166
Bayer, Herbert 132, 134
Beardsley, Aubrey 93, 95
Beckmann, Max 104, 148,
150 f.
Bernard, Émile 84, 86
Bernini, Gianlorenzo 40 f.
Beuys, Joseph 181, 184 f.,
187
Black Paintings 176–178
Blake, Peter 168 f.
Blake, William 56, 59
Boccioni, Umberto 108–111
Bonheur, Rosa 72, 75
Bonnard, Pierre 85
Bosch, Hieronymus 32, 155
Boucher, François 49–51
Brancusi, Constantin 178
Braque, Georges 96, 104–
107
Breton, André 119, 152 f.,
155, 160
Breton, Jules 73, 75
Breuer, Marcel 132 f.
Brisley, Stuart 185
Bronzino, Agnolo 37, 39
Broodthaers, Marcel 181 f.
Brown, Ford Madox 69, 71
Brücke, Die 101–103
Bruno, Christophe 203
Buddhistische Kunst 16–19
Bunting, Heath 201 f.
Burgin, Victor 182
Burne-Jones, Edward 71, 82
Byzantinische Kunst 20–23
C
Cabanel, Alexandre 61–63
Cage, John 184, 186
Caillebotte, Gustave 77
Calder, Alexander 172, 174
Campin, Robert 31
Canova, Antonio 52 f., 55
Caravaggio 40, 42 f., 46
Carrà, Carlo 108–110, 136–
139
Carraccu, Annibale 43
Cassatt, Mary 77
Cézanne, Paul 76–79, 84–87,
96 f., 104 f.
Champfleury 75
Chardin, Jean-Siméon 48, 51
Chartres, Kathedrale 24, 26
Chirico, Giorgio de 136–39,
153, 197 f.
Christo und Jeanne-Claude
190
Claude Lorraine 41
Close, Chuck 196–198
Collinson, James 70 f.
Colour-Field-Painting 163–
167, 172, 176, 180
Concept-Art 180–184, 191 f.,
195
Constable, John 57, 59, 72,
76
Correggio 36, 38
Courbet, Gustave 73–75, 78,
83, 156
Couture, Thomas 61, 63
Craig-Martin, Michael 182
Crane, Walter 93, 95
D
Dadaismus 107, 111, 116–
119, 151 f., 155, 162, 168,
174, 176, 179, 181, 184
Dalí, Salvador 153, 155
David, Jacques-Louis 52–55
De Maria, Walter 188–190
De Stijl 128–131
Degas, Edgar 77–79
Delacroix, Eugène 57, 59, 78
Delaroche, Paul 60, 63
Delaunay, Robert 104, 107,
166
Delaunay, Sonia 105, 107
Derain, André 91, 96 f., 99
Divisionismus 86, 89–91, 98
Dix, Otto 103, 149–151
Doesburg, Theo van 128–131
Donatello 29
Dongen, Kees van 97, 99,
101
Douglas, Aaron 140 f., 143
Duccio di Buoninsegna 28–30
Duchamp, Marcel 116, 118 f.,
174, 180
Duchamp-Villon, Raymond
105, 107, 109
Dufy, Raoul 96 f.
Dyck, Anthonis van 40, 43
E
El Lissitzky 121, 123, 162
Ernst, Max 117, 152 f., 155,
160
Estes, Richard 196 f.
Expressionismus 100–103,
110, 130, 146, 148, 151,
164, 180, 193, 196
Eyck, Jan van 31, 46
F
Falconet, Étienne-Maurice 51
Fauvismus 87, 96–99, 100,
105, 136, 164
Feininger, Lionel 103, 133
Figuration libre 193 f.
Flavin, Dan 176–178
Flaxman, John 53
Fluxus 154, 185, 195
Fotorealismus 196 f.
Fragonard, Jean-Honoré 49,
51
Frankenthaler, Helen 167
Friedrich, Caspar David 57,
59
Frührenaissance 28–32
Futurismus 108–111, 120 f.,
124 f., 136, 138 f., 184
G
Gabo, Naum 124–127, 162,
174
Gaudí, Antonio 92, 95
Gauguin, Paul 81, 83, 85–87,
96 f., 100, 102, 146
Gaultier, Théophile 80, 82
Géricault, Théodore 57, 59
Gérôme, Jean-Léon 61, 63
Ghiberti, Lorenzo 28
Gilbert and George 181, 185–
187, 200
Giotto di Bondone 25, 28–31,
138
Gleizes, Albert 105, 107
Gogh, Vincent van 64, 66,
84 f., 87, 91, 96 f., 100, 102
Goldener Schnitt 15
Goldenes Zeitalter der Niederlande 44–47
Goldsworthy, Andy 188 f., 191
Gotik 24–7
Goya, Francisco de 57, 59,
155
Goyō, Hashiguchi 114
Griechische Klassik 12–15
Greenberg, Clement 165, 167
Gris, Juan 105 f., 146
Gropius, Walter 132–135
Grosz, George 101, 103,
149–151, 159, 195
H
Hals, Frans 44, 47
Hamilton, Richard 169, 202
Hanson, Duane 196, 199
Happening 174–177
Hard-Edge-Painting 166 f.
Harlem Renaissance 140–
143
Hartlaub, Gustav Friedrich
149 f.
Harunobu, Suzuki 64, 66
Helnwein, Gottfried 198
Hiroshi, Yoshida 113 f.
Hiroshige, Andō 65, 67
Hobbema, Meindert 45
Hochrenaissance 28, 32–36,
38, 68
Hockney, David 168 f., 202
Hofmann, Hans 165–167
Höhlenbilder 4–7
Hokusai, Katsushika 63, 67
Holbein d. J., Hans 32 f.
Holt, Nancy 188–190
Hopper, Edward 156 f.
Houdon, Jean-Antoine 55
Hunt, William Holman 69–71
Hyperrealismus 196–199
I
Impressionismus 67, 76–80,
84, 86 f., 89, 91 f., 96, 100,
113
Independent Group 169
Ingres, Jean-Auguste-Dominique 55, 62
Itten, Johannes 133
J
Japanische Grafik 64–67, 79,
86, 93
Jawlensky, Alexej von 101,
103
Jodi.org 202
Johns, Jasper 168, 170
Johnson, Sargent Claude 143
Johnson, William H. 143
Jones, Lois Mailou 143
Judd, Donald 177 f.
Jugendstil 67, 86, 92–95
K
Kandinsky, Wassily 101–103,
125 f., 132 f., 162, 180 f.
Kaprow, Allan 174
Kawase, Hasui 112–114
Khnopff, Fernand 81
Kiefer, Anselm 193 f.
Kinetische Kunst 172, 174
Kirchner, Ernst Ludwig 101 f.
Kitchen Sink School 159
Klassizismus 51, 52–56, 61–
63, 68, 72
Klee, Paul 101 f., 132 f.
Klein, Yves 180, 182, 186
Klimt, Gustav 93–95
Kline, Franz 160, 163
Konstruktivismus 107, 111,
124–127, 130, 172, 174,
176, 179
Index
Kooning, Willem de 161–163,
195
Koson, Ohara 114
Kosuth, Joseph 182
Kubismus 87, 104–107, 110 f.,
119–121, 124 f., 136, 138,
146, 162
L
Lalique, René 95
Land-Art 188–191
Lange, Dorothea 157–159
Lascaux, Höhlenbilder 5 f.
Leck, Bart van der 128, 130
Léger, Fernand 105–107, 162
Leighton, Frederic 81 f.
Leonardo da Vinci 15, 32–34
LeWitt, Sol 176–181, 183
Lichtenstein, Roy 169 f.
Long, Richard 188, 191
M
Macke, Auguste 101–103
Mackintosh, Charles Rennie
93
Mackmurdo, Arthur Heygate
92, 94
Magritte, René 153
Malewitsch, Kasimir 120–123,
125 f., 165
Man Ray 119, 152 f.
Manierismus 36–39, 68
Marc, Franz 101–103, 181
Marinetti, Tommaso 108,
110 f.
Marquet, Albert 96 f.
Marsh, Reginald 157
Masaccio 30 f.
Masanobu, Okomura 66
Matisse, Henri 91, 96–99, 162
Medienkunst 154, 200–203
Mendieta, Ana 187
Mengs, Anton Raphael 52, 55
Metzinger, Jean 104 f., 107
Meyer, Hannes 133 f.
Michelangelo 32–34, 36–38,
147
Mies van der Rohe, Ludwig
133 f.
Millais, John Everett 68, 70 f.
Millet, Jean-François 73–75,
83, 156
Minimal Art 167, 176–181,
191 f., 195
Miró, Joan 153, 155, 163
Moholy-Nagy, László 126,
134
Mondrian, Piet 128–131, 160,
162
Monet, Claude 76–78
Moore, Albert 80, 82
Morandi, Giorgio 137–139
Moreau, Gustave 80, 83, 97
Morisot, Berthe 76, 78
Moronobu, Hishikawa 64, 66
Morris, Robert 177, 180
Morris, William 82, 133
Motherwell, Robert 161 f., 164
Mucha, Alphonse 93–95
Mueck, Ron 197–199
Munch, Edvard 100–102, 195
Muralismo 144–147, 157
Myron 12–14
N
Nabis 86
Navarro, Iván 178
Neoexpressionismus 192–
195
Neoimpressionismus 88–91,
98, 110, 172
Neoplastizismus 124 f., 128–
131, 138, 166, 172, 180
Neue Künstlervereinigung,
München 100
Neue Sachlichkeit 148–151
Neue Wilde 192, 194
New York School 162
Newman, Barnett 162, 164–
167
Nietzsche, Friedrich 103
O
Oldenburg, Claes 169 f.
Op-Art 172–175
Orozco, José Clemente 144–
147
Orphismus 107, 139, 152
P
Paik, Nam June 200–202
Pariser Salon 48, 62 f., 72,
77, 91
Parmigianino 37, 39
Penck, A. R. 192
Peploe, Samuel John 98
Performance 184–187
Peterson, Denis 197, 199
Pevsner, Antoine 125 f.
Phidias 13–15
Picabia, Francis 118 f.
Picasso, Pablo 104–107, 124,
137, 146, 153, 162, 192
Pissarro, Camille 76–78, 84,
87, 89, 91
Pissarro, Lucien 89, 91
Pittura Metafisica 136–139,
152, 155
Pointillismus 86, 89, 170
Pollock, Jackson 160–163,
184
Polyklet 15
Pontormo, Jacopo da 36 f., 39
Pop-Art 168–171, 175, 179,
183, 195 f., 202
Postimpressionismus 67, 84–
87, 98
Postmoderne 168
Poussin, Nicolas 41, 43
Praxiteles 13
Präraffaeliten 68–72, 82
Prähistorische Kunst 4–7
Puvis de Chavannes, Pierre
80, 83, 85
R
Raffael 33 f., 36, 68
Rauschenberg, Robert 170
Realismus 72–76, 78, 80, 82,
113, 156
Regionalismus 159, 162
Reinhardt, Ad 176 f., 179
Rembrandt van Rijn 40, 44,
47
Renaissance 28–36, 38, 47,
52, 68
Renoir, Auguste 76–78
Reynolds, Sir Joshua 51, 70
Rietveld, Gerrit 128, 131
Riley, Bridget 172–175
Rivera, Diego 144–147, 157
Rodtschenko, Alexander
124 f.
Rokoko 48–51, 53, 80
Rom, Petersdom 32
Romantik 56–59, 61–63, 68,
72
Rossetti, Dante Gabriel 69–
71
Rossetti, William Michael 70
Rothko, Mark 162, 164–167
Rouault, Georges 96 f., 103
Roy, Pierre 153, 155
Rubens, Peter Paul 40, 43
Ruskin, John 68, 70 f.
Russell, John Peter 97
Russischer Futurismus 111
Russolo, Luigi 108, 111
Ruysdael, Salomon van 45,
47
Rysselberghe, Théo van 89
S
Salle, David 194
Salon dʼAutomne 96, 99,
136 f.
Salon des Indépendants 88,
136 f.
Salon des Refusés 76, 78
Sarto, Andrea del 38 f.
Schad, Christian 149–151
Schnabel, Julian 192, 194 f.
Schrimpf, Georg 149–151
Schwabe, Carlos 81
Schwitters, Kurt 117–119
Sezession 93 f.
Segal, George 158
Sérusier, Paul 84
Seurat, Georges 88, 90 f.
Severini, Gino 108 f.
Shahn, Ben 157
Sharaku, Tōshūsai 66 f.
Shin-hanga 112–115
Shinsui, Itō 113 f.
Shōzaburō, Watanabe 112,
114 f.
Shunsen, Natori 112, 114
Signac, Paul 86, 89, 91
Siqueiros, David Alfaro 144–
147
Sisley, Alfred 76–78
Smith, David 161
Smithson, Robert 188–191
Sōsaku-hanga 113
Soto, Jesús Rafael 173 f.
Soyer, Raphael 156, 158
Sozialistischer Realismus
123, 125, 156 f.
Stanick, Peter 202 f.
Stella, Frank 178 f.
Stephens, Frederic George
70
Still, Clyfford 163–165, 167
Suprematismus 120–126,
130, 165 f., 172
Surrealismus 107, 111, 139,
147, 151–155, 162, 164,
174, 184, 193
Symbolismus 80, 82 f., 86, 92,
94, 101, 136, 139, 146, 155
Synthetischer Kubismus 106–
107, 146, 166
Synthetismus 85 f.
T
Tatlin, Wladimir 124–127
Theosophie 130 f.
Tiepolo, Giambattista 49, 51
Tiffany, Louis Comfort 93, 95
Tilson, Jake 201, 203
Tizian 32, 36
Toshi, Yoshida 114
Toulouse-Lautrec, Henri de
85–87
Turner, William 57, 59, 72
Tzara, Tristan 117, 119
U
Uccello, Paolo 31, 138
Ukiyo-e 64–67, 76, 112 f., 115
UNOWIS 123
Utamaro, Kitagawa 66
V
Vasarely, Victor 172, 174 f.
Vasari, Giorgio 37, 39
Vauxcelles, Louis 97, 105
Velázquez, Diego 40 f., 43
Vermeer, Jan 45, 47
Veronese, Paolo 33
Vigée-Lebrun, Élisabeth-Louise
51
Viola, Bill 201 f.
Vlaminck, Maurice de 96, 99
Vortizismus 111
W
Wall, Jeff 202
Warhol, Andy 169–171, 185 f.,
193, 200
Watteau, Antoine 48, 50
Weltausstellungen 68, 75, 96
Weyden, Rogier van der 31
Whistler, James A. M. 80–82
Wilde, Oscar 81, 82
Wood, Grant 157, 159
207
208
Titel der Originalausgabe: 50 Art Ideas You Really Need to
Know
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Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen
Published by arrangement with Quercus Publishing PLC
(UK)
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Redaktion: Dr. Lothar Altmann
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