Caffè Florian 5 - wort-

V E N E D IG
AU F E I N E N B L IC K
AU F E I N E N B L IC K
Ohne ihre Bewohner wäre die Stadt eine andere. Ohne Marco Polo,
Giacomo Casanova und Donna Leon … wäre Venedig nicht Venedig.
ENRICO DANDOLO (1107–1205)
MARCO POLO (1254–1324)
GIOVANNI BELLINI
NI
TIZIAN
(1
(1430–1516)
(u
(um 1488–1576)
ANDREA
A
P
PALLADIO (1508–1580)
PAOLO
O
V
VERONESE (1528–1588)
1949 wird bei den Filmfestspielen
von Venedig erstmals der Preis
»Leone d’Oro« verliehen.
C
CLAUDIO MONTEVERDI (1567–1643)
9. Jh. Der Palazzo Ducale wird Sitz des
Dogen, der Regierungs- und Justizorgane
der Republik Venedig.
L
LEONE DA MODENA (1574–1648)
ANTONIO VIVALDI (1678–1741)
2000
1900
1800
1700
1600
1500
1400
1300
1200
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GIOVANNI BATTISTA TIEPOLO (1696–1770)
FAUSTINA BORDONI (1697–1781)
1516-1518 entsteht Tizians
»Assunta«, die sich in der
Kirche Santa Maria Gloriosa
dei Frari befindet.
FLORIANO FRANCESCONI (unbekannt–1773)
CARLO GOLDONI (1707–1793)
GIACOMO CASANOVA (1725–1798)
THOMAS MANN (1875–1955)
PAPST JOHANNES XXIII. (1881–1963)
PEGGY GUGGENHEIM (1898–1979)
11. Jh. Bereits im frühen Mittelalter
sollen typische venezianische Gondeln
auf den Kanälen gefahren sein.
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GIUSEPPE CIPRIANI (1900–1980)
1725-1798 Casanova
liebte den »Carnevale di
Venezia«: hier konnte er
sich unerkannt vergnügen.
JOSEPH BRODSKY (1940–1996)
DONNA LEON (geb. 1942)
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Er ist einer der bekanntesten Venezianer, obwohl
man wenig über ihn weiß. Eine Großtat machte ihn
berühmt: Der Kaffeehändler gründete das Caffè Florian, Heimat für Dichter, Revoluzzer, Musiker.
F
lorian. Das Caffè Florian 5 ( ▶ E 5), natürlich. Es gibt nur
eins; und das ist das schönste, beste, teuerste und bekannteste der Welt. »Florian« in Venedig. Wer dort nicht war,
kennt die Stadt nicht, oder zumindest: Ein Venedigbesuch ohne
das »Florian« ist pure Ignoranz oder Ahnungslosigkeit oder beides.
Es hat immer etwas Erhabenes, wenn man an einem der
schnörkellosen Kaffeehaustische mitten auf der Piazza San Marco
28 ( ▶ E 5) nahe des Dogenpalastes oder unter den Arkaden der
Procuratie Nuove den Logenplatz mit der besten Sicht auf das
Theaterstück namens Venedig einnimmt, vor einem die Prachtbauten und dazwischen ein sagenhaftes Gewusel von einer gefühlten Million Touristen, vorwiegend aus Fernost. Dazwischen indische Rosenverkäufer und fahrende Kioske mit unbeschreiblichem
Souvenirkitsch. Wenn man genauer hinschaut, wird man bisweilen Zeuge des einen oder anderen Taschendiebstahls.
Am Nachmittag bekommt diese Bühne musikalische Untermalung, dann spielt das Orchester des Cafés auf – Start für den
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Das »Florian«, gegründet 1720 von Floriano Francesconi, als
Gemälde von Friedrich Nerly (1807-1878).
Wettbewerb um den teuersten Kaffee der Stadt und somit der
Welt, den das »Florian« natürlich spielend gewinnt: Der Cappuccino kostet dann gut und gern neun Euro, die aber bestens investiert sind angesichts der Fülle des improvisierten Programms. Das
ist die eine, die übliche Seite des Caffè Florian.
Die andere, die exklusivere, bleibt meist den Einheimischen
oder den ganz Hartnäckigen vorbehalten, wenn in den Herbst-
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Das Caffè Florian hat die
schönste Terrasse der Welt – mit
Blick auf den Markusdom.
oder in den Wintermonaten
beim Jahr für Jahr wiederkehrenden »acqua alta« halb
Venedig mal wieder unter
Wasser steht und San Marco
die schönste Seefläche der
Welt ist. Dann führen Holzdielen zu den Freiluftplätzen
des »Florian«, man sitzt in
Gummistiefeln vor einer Tasse heißer Schokolade, starrt
auf die entvölkerte Piazza,
diesmal ohne orchestrale Nebengeräusche. Vielleicht sinniert
man über Casanovas Flucht aus den Bleikammern ( ▶ F 5), dem
Gefängnis der venezianischen Inquisition. Am 1. November 1756
soll er nach 15 Monaten Haft getürmt sein, mag sein, dass es ein
grauer, verregneter Tag mit einem Markusplatz unter Wasser war.
Bevor er aus der Stadt verschwand, verhöhnte er seine Verfolger:
Er trank im »Florian« noch genüsslich ein Tässchen Mokka, kann
sein, dass es auch heiße Schokolade war. Als gesichert gilt, dass
das Orchester nicht spielte.
Ja, das »Florian«. Wenn es das Café nicht gäbe, müsste man es
erfinden. Vermutlich kannte sein Erfinder Floriano Francesconi
sogar den flüchtenden Casanova, möglicherweise war der promovierte Jurist und ehemalige Priester, ein stadtbekannter Hallodri
von hohen Graden, der erste prominente Stammgast des »Florian«, war es doch zu jener Zeit das einzige seiner Art, das auch
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Frauen Zugang gewährte … Dieser Francesconi wurde jedenfalls
einer der bekanntesten Venezianer, obwohl man herzlich wenig
über ihn weiß. Seinen Bekanntheitsgrad verdankt er einzig und
allein der Entdeckung des Kaffees und der Gründung des Caffè
Florian 5 ( ▶ E 5).
Der Kaffee stammt aus dem Bergland Äthiopiens und erhielt
seinen Namen von der Region »Kaffa«. Mit dem Handel der
begehrten Bohne begannen die Araber im 14. Jh., für die Verbreitung des Getränks in Europa sorgte als Erste die Handelsmacht
Venedig. Seit 1638 wurde er in Venedig auf kommerzieller Basis
verkauft. Auch die Venezianer lernten das Getränk schätzen, das
sie bislang nur als Medizin kannten. Bereits 1645 gab es in der
Stadt das erste europäische Café.
FRANCESCONI WAR VENEDIGS TRENDSETTER
Gegen Ende des 17. Jh. wurde in Venedig Floriano Francesconi
geboren; Genaueres weiß man nicht. Er war Kaffeehändler und
muss ein gutes Gespür für Trends und Lebensstil gehabt haben,
denn am 29. Dezember 1720 eröffnete er sein »Caffè alla Venezia
Trionfante«, »zum triumphierenden Venedig«. Das war selbst für
seine venezianischen Gäste ein wenig zu bombastisch. Es bürgerte sich ein, dass man auf einen »caffè« zu »Florian« ging, wie
Francesconi von seinen Freunden gern genannt wurde.
Als Floriano Francesconi 1773 starb, übernahm sein Neffe
Valentino das Café, wobei in einem vertraglichen Schreiben einige
Jahre später festgelegt wurde, dass Florians Witwe bis zu ihrem
Tod täglich zwei »caffè« von ihrem Neffen erhalten sollte. Valentino stimmte dem zu, beschloss aber, das Kaffeehaus des Onkels
fortan nach dessen Vornamen zu benennen. Nun war auch ganz
offiziell das Caffè Florian geboren. Am Anfang handelte es sich
nur um zwei schlicht eingerichtete Salons, doch schon bald, um
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1750, erfreute sich das Kaffeehaus großer Beliebtheit, und zwei
weitere Säle, die heutigen Sala Cinese und Sala Orientale, kamen
hinzu. Aufgrund seiner zentralen Lage wurde das Caffè Florian 5
( ▶ E 5) zu einem bevorzugten Ort des Nachrichtenaustausches, zu
einem Hort der Kommunikation, die man bei einer Tasse Kaffee,
Kakao oder auch einem kleinen Glas Wein pflegte. Das Haus wurde mit der Gründung der »Gazzetta Veneta« im Jahr 1760 durch
Gasparo Gozzi auch zu einer Art Filiale der Redaktion und zum
Stammtisch des Herausgebers.
Florians Neffe Valentino hat in seinem Betrieb viele illustre
Leute persönlich kennengelernt. Überliefert ist, dass die Familie Francesconi mit einem Besucher eine besondere Freundschaft
verband: mit dem Bildhauer Antonio Canova. Valentino erwies
sich als Förderer von Canovas Bildhauerkunst, eine Gunst, für
die sich der Künstler auf besondere Weise bedankte: Weil der von
Gicht geplagte Valentino beim Kauf neuer Maßschuhe stets unter
sehr starken Schmerzen litt, meißelte ihm Canova seinen Fuß in
Stein, was fortan dem Schuhmacher als Modell für Valentinos
Schuhe diente.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich das Caffè Florian
zum kulturellen und politischen Stammlokal der Venezianer, auch
viele ausländische Künstler und Intellektuelle verkehrten hier,
etwa Richard Wagner, Chateaubriand, Stendhal, George Sand, Goethe, Lord Byron, Honoré de Balzac, Marcel Proust, Thomas Mann,
Hugo von Hofmannsthal, Jean Cocteau und Jorge Luis Borges.
REVOLUTIONEN IM HINTERZIMMER
Das »Florian« erfreute sich also immer größer werdender Beliebtheit. Und nach der napoleonischen Zeit, als Venedig zu Österreich
kam, wurden seine Hinterzimmer zu einem Salon der Revolutionäre. 1847/48 war das Café ein Zentrum von Verschwörern gegen
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Innen sind die Preise ziviler, und man ist den Touristentrubel los.
Die Ausstattung im »Florian« stammt im Wesentlichen von 1858.
die österreichische Besatzungsmacht. Hier forderten die Agitatoren die Befreiung von Niccoló Tommaseo und Daniele Manin, die
eine Wiedergeburt einer von Habsburg unabhängigen Republik
Venedig proklamierten. Man kehrte ins »Florian« auch aus patriotischen Gründen ein: Im gegenüberliegenden Caffè Quadri 6
( ▶ E 5) verkehrten die feindlichen österreichischen Offiziere, und
mit denen wollte man nicht an einem Tisch sitzen.
Sein heutiges etwas morbide und durchaus renovierungsbedürftig wirkendes Ambiente erhielt das Café im Jahr 1858, als
seine neuen Besitzer Vincenzo Porta, Giovanni Pardelli und Pietro Baccanello eine komplette und auch sehr kostspielige Umgestaltung vornahmen. Ob diese im Sinne des Gründers Floriano
Francesconi war, dessen Kaffeehaus sich ursprünglich durch große Schlichtheit auszeichnete, darüber kann nur spekuliert werden.
Ein Urteil über die Schönheit des Cafés kann sich jeder Besucher
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selbst bilden, schließlich ist seine Dekoration von 1858 bis heute
im Wesentlichen unverändert erhalten. Man vertraute dem Architekten Lodovico Cadorin von der Accademia di Belle Arti ( ▶ B 5)
die komplette Umstrukturierung des Lokals an. Dieser beschäftigte eine ganze Riege von Künstlern und Handwerksmeistern.
Die Sala dei Senatori bekam allegorische Wandbilder, und in
der Sala degli Uomini Illustri zierten fortan Gemälde des Malers
Giulio Carlini von zehn berühmten Venezianern die Wände: Carlo
Goldoni, Marco Polo, Tizian, Francesco Morosini, Pietro Orseolo,
Andrea Palladio, Benedetto Marcello, Paolo Sarpi, Vettor Pisani
und Enrico Dandolo. Die Sala Orientale und die Sala Cinese zeigten Wandbilder orientalischer Schönheiten von Pascuti, während
die Sala delle Stagioni und die Sala degli Specchi mit Bildnissen
von Frauen als die vier Jahreszeiten dekoriert wurden. Anfang des
20. Jh. kam schließlich noch die Saletta Liberty mit handbemalten
Spiegeln und wertvollen Holzverkleidungen hinzu.
IM »FLORIAN« ENTSTAND DIE BIENNALE
Bis heute kann man sich wunderbar in die Atmosphäre des historischen Ortes hineinversetzen, die dank der bis dato unveränderten Dekoration mit Fresken, goldenen Täfelungen, Marmortischen, roten Velourssofas und Lampen aus Muranoglas erhalten
geblieben ist.
1893 kam dem Caffè Florian 5 ( ▶ E 5) eine weitere wichtige
Bedeutung zu: In jenem Jahr wurde der damalige Bürgermeister
von Venedig, Riccardo Selvatico, bei einem Dinner im Raum der
Senatoren dazu inspiriert, in dem Kaffeehaus eine Kunstausstellung zu eröffnen. Das »Florian« wurde zur Heimat der »Esposizione Internazionale d’ Arte Contemporanea« (Internationale
Ausstellung zeitgenössischer Kunst), einer stetig wechselnden
Kunstausstellung, aus der die heutige »Biennale di Venezia« 3
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( ▶ J 6) erwuchs. Bereits 1895 waren in den Räumlichkeiten des
Cafés erstmalig Werke zeitgenössischer Maler, Bildhauer, Cartoonisten und Fotografen zu sehen. Seit dieser Zeit versteht sich das
Caffè Florian als der Hort des kulturellen Lebens von Venedig.
Darüber hinaus ist das »Florian« seit dem 19. Jh. eines der
wenigen europäischen Konzert-Cafés. Von April bis Oktober
spielt auf der Piazza San Marco 28 ( ▶ E 5), dem »größten Salon
Europas«, ein Orchester im Frack ein breites Repertoire an klassischer Musik, Evergreens und Stücke aus Filmen und Operetten,
oft auch auf Wunsch oder Zuruf der Gäste. Dazu servieren livrierte Kellner stilvoll den sündhaft teuren Kaffee, Tee oder auch einen
Likör, dazu ein kleines Törtchen aus der hauseigenen Pasticceria.
Wer indes das Caffè Florian ganz typisch »alla veneziana« erleben will, der trinkt im Inneren am Tresen einen »caffè« oder Aperitif, im Stehen oder an den kleinen Tischchen. Denn hier kostet
er nur einen Bruchteil, allerdings hat man hier nur das stille historische Flair des ältesten Cafés Italiens, während draußen Venedig
seinen großen Auftritt hat. Es muss ja nicht unbedingt während
des Hochwassers sein. Seinem Gründer Floriano Francesconi hätten die einfachen Tische draußen besser gefallen.
C A F F È F L OR IA N 5 ▶ E 5
Piazza San Marco, 56, San Marco
www.caffeflorian.com
▶ Vaporetto: San Marco
C A F F È QUA DR I 6 ▶ E 5
Piazza San Marco, 121, San Marco
www.caffequadri.it
▶ Vaporetto: San Marco
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