Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF inprekorr Inter nationa le Pr essekor r espondenz Unruhige Zeiten in Frankreich Juli/August 4/2016 Ausgabe 4/2016 Frankreich Unruhige Zeiten in Frankreich „Es ist notwendig, dass diejenigen, die in den Bewegungen sind oder sie organisieren, ihre Verantwortung übernehmen“, meinte Hollande und kündigte „alle erforderlichen Maßnahmen“ an. 4 Von Léon Crémieux Frankreich „Unsere Entschlossenheit war nie so groSS.“ „Das Arbeitsgesetz ist noch nicht gekippt, aber die dadurch wieder erwachte Kampfbereitschaft hat nach Jahren des Stillstands wieder Dampf ins Getriebe gebracht.“ 10 Interview mit Florent und Bertrand Schottland Die Zukunft der Linken in Schottland Europäische Union 12 Der Optimismus überrascht zunächst angesichts des enttäuschenden Wahlergebnisses von RISE, der neuen Organisation der schottischen Linken, bei den Parlamentswahlen vom 5. Mai. Die „Konferenz für einen Plan B“ in Madrid bildet einen wichtigen Ansatz zur Bündelung der Kämpfe gegen die Austeritätspolitik und für politische und soziale Alternativen in Europa. Johnathan Shafi Von Josep María Atentas „Plan B“ der „Plan A“ ist 16 Dossier: Brasilien PREIS DER KLASSENVERSÖHNUNGSPOLITIK Auf Argentinien folgt nun Brasilien mit der Übernahme Lateinamerikas durch offen neoliberale Politiker. Den Grundstein dafür haben die linken Regierungen selbst geliefert. 20 Ein Dossier mit 2 Beiträgen I n h a lt die Internationale Imperialismus Dossier: Uber Von Uber bis Airbnb: Kapitalismus 4.0 „Das Ziel ist die Wandlung zu einer Gesellschaft, die sich nicht länger durch Besitz, sondern durch Zugang definiert.“ Was steckt hinter diesem Selbstbild der Digitalwirtschaft? 32 Ein Dossier mit 3 Beiträgen Der neoliberale Imperialismus als neues Stadium des Kapitalismus Nachruf Die gegenwärtige Entwicklung zwingt uns dazu, in den neunziger Jahren entwickelte Strategieelemente neu zu durchdenken, darunter die Idee der „breiten Parteien. Der Genosse Claude Jacquin war jahrzehntelang führendes Mitglied der französischen Sektion und der Leitungsgremien der IV. Internationale. Ein Nachruf auf ihn. Von Yvan Lemaitre Von Charles Michaloux 49 Claude Jacquin (1947–2016) 59 Sozialismus von unten. Für eine organisierende und verbindende Linke Das Leitmotiv: „Wir lehnen alle Ansätze ab, in denen eine Elite als Befreierin oder Heilsbringerin des Sozialismus gesehen wird.“ Das Ziel: Selbstbefreiung und Selbstermächtigung. 62 Von Michael Sankari und Thomas Linnemann IV. Internationale Lernen, die Welt zu verändern Alles, was ihr wissen müsst, um euch noch zum diesjährigen Jugendsommercamp der IV. Internationale anzumelden, findet ihr auf der letzten Seite dieser Ausgabe der Inprekorr. 68 Von ISL und RSB Fr ankreich Unruhige Zeiten in Frankreich Die seit Anfang März anhaltenden Proteste gegen das neue Arbeitsgesetz stehen in einer kritischen Phase. Die Regierungstaktik, mit ständig zunehmender Repression und kosmetischen Änderungen am Gesetzesentwurf die Bewegung zu spalten, scheint aufzugehen, wie die vom CGT-Vorsitzenden Martinez erklärte Bereitschaft zum „sozialen Dialog“ zeigt. Indiz dafür ist auch der Verzicht der CGT, gemeinsam mit der unverändert kampfbereiten Sud-Rail ihr Vetorecht gegen den neuen und deutlich schlechteren Tarifvertrag bei der SNCF auszuüben, obwohl sich 57% ihrer Mitglieder dafür ausgesprochen haben. Sollte die Streikfront weiter abbröckeln, werden auch die unveränderte Opposition der Bevölkerungsmehrheit gegen dieses Gesetz und der Erosionsprozess in den Reihen der PS die Regierung nicht aufhalten können. Léon Crémieux Der Wind in Frankreich hat Anfang März gedreht, nachdem zuvor eine bleierne Schwere auf dem Land lastete, die einerseits durch die politische Polarisierung unter dem Druck des Front national, andererseits durch das zunehmend polizeistaatliche Klima seit den Attentaten im Januar und November 2015 verursacht war. Indes wäre es naiv, anzunehmen, dass all dies durch die gegenwärtige Protestbewegung hinweggefegt worden wäre, da die beiden genannten Aspekte bisher nicht beseitigt sind. Aber dennoch ist es von enormer politischer Bedeutung, dass sich trotz dieser politisch und gesellschaftlich belastenden Umstände eine derart breit aufgestellte Bewegung entwickelt hat, dass sie bereits jetzt in einem 4 Inprekorr 4/2016 Zug mit den großen Mobilisierungen in den Betrieben und (Hoch)schulen während der vergangenen fünfzehn Jahre (2003, 2006 und 2010) genannt werden darf. Bereits vor dem März waren die Vorboten der sozialen Konflikte spürbar. Es fing an mit der enormen Sympathiewelle für die Proteste der Beschäftigten von Air France, deren spektakulärer Höhepunkt die Affäre um das „zerrissene Hemd“ war.1 Gleichzeitig häuften sich die Arbeitsniederlegungen und Streiks in den – v. a. kleinen und mittleren – Betrieben, wobei es u. a. um die jährlich anstehenden Tarifverhandlungen ging. Hinzu kam die gewaltige Mobilisierung zum Klimagipfel COP 21, auch wenn infolge der Novemberattentate und des darauf verhängten Ausnahmezustands der Elan der Mobilisierun- Fr ankreich gen durch den Staat gebremst werden konnte. Auch die Großdemonstrationen gegen den Flughafen von NotreDame-des-Landes2 und die Flüchtlingsinitiativen haben Zehntausende von Jugendlichen und AktivistInnen aus Initiativen und über die sozialen Netze auf die Beine gebracht. Die erste Lektion aus diesen Mobilisierungen war, dass das bedingungslose Eintreten der Sozialdemokratie für die Kapitalinteressen, die Schwäche der gesamten linken Opposition und die Lethargie der Gewerkschaftsführungen nicht zwangsläufig bedeuten, dass die ganze Gesellschaft in solche Lethargie und Abgründe verfallen wäre, wie uns die Proteste weiter Teile der von Arbeitslosigkeit und Austeritätspolitik betroffenen Lohnabhängigen und Jugendlichen gezeigt haben. Im Gegenteil wird deutlich, wie sehr sich die institutionellen Parteien, die sich die Regierungsverantwortung in den letzten 20 Jahren geteilt haben, gegenüber der Bevölkerung entfremdet und diskreditiert haben. In den letzten Jahren hatte die Verdrossenheit der kleinen Leute – bei ausbleibenden sozialen Mobilisierungen – zu Wahlenthaltungen und dem Aufstieg der FN geführt. Von Beginn an hat sich die Regierung Hollande daran begeben, den Forderungen des Unternehmerverbands MEDEF nach Deregulierung des Arbeitsmarkts nachzukommen und mit den Gesetzen von Macron und Rebsamen die Zerschlagung der sozialen Rechte und Errungenschaften weiter fortgeführt, die besonders 2008 durch die Gesetze von Fillon begonnen hatte. Die sozialdemokratische Regierung machte sich die gängige Meinung der Unternehmer über die „zu hohen Arbeitskosten“ zu eigen und unternahm es, mit den Abkommen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen des „sektorenübergreifenden nationalen Abkommens“ (ANI) Frankreich mit den anderen europäischen Ländern in puncto Sozialabbau gleichziehen zu lassen. Das Arbeitsgesetz – ein sozialer Sprengsatz Mit dem Arbeitsgesetz der Ministerin El Khomri, dessen Kern die Umkehr der Hierarchie der Normen 3 ist, wurde ein sozialer Sprengsatz gelegt. Dass demnach u. a. das Günstigkeitsprinzip abgeschafft werden soll, hat sich im Verein mit den anderen Zumutungen als regelrechter Katalysator des sozialen Unmuts erwiesen. Wir wollen hier nicht die kurzfristigen Aussichten bewerten und es wäre auch verfrüht, diese Bewegung jetzt zu bilanzieren, da sie sowohl zu einer breiteren Konfrontation und einer politischen Krise führen, genauso aber auch an den zahlreichen widrigen Bedingungen scheitern kann. Hingegen lassen sich bereits jetzt mehrere zentrale Momente benennen: Zunächst das auslösende Moment. Wohl leisteten die aktiven Netzwerke, namentlich die Fondation Copernic, und die Gewerkschaften CGT und Solidaires wichtige Vorarbeiten, als Combrexelle und Badinter der Regierung ihre Berichte vorgelegt hatten.4 Aber unmittelbarer und eindeutiger Auslöser waren die sozialen Netze mit der sog. Petition „Caroline De Haas“5, die Träger der Mobilisierungen und Aufrufer zu den Protesten am 9. März waren. Bezeichnend ist die Diktion dieser Petition, in der unmissverständlich die Rücknahme des Gesetzes gefordert und es als Frontalangriff angeprangert wird. Kleinmütig dagegen kommt die Erklärung der Gewerkschaftsführungen vom 23. Februar daher, in der nicht einmal die Rücknahme des Gesetzes, sondern lediglich ein paar Korrekturen gefordert werden und in erster Linie die fehlende Einbindung der Gewerkschaften in einen Dialog beklagt wird. Von einer Mobilisierung ist überhaupt nicht die Rede. Folgerichtig ging auch der Aufruf zur ersten Demonstration, die von zahlreichen Streikaufrufen begleitet wurde, von den sozialen Netzen aus und wurde umgehend von den Initiatoren der Petition unterstützt. Dieser Aspekt kann gar nicht genug betont werden, weil er keineswegs nebensächlich, sondern bezeichnend ist für die durchgängig passive Haltung der Gewerkschaftsführungen, wenn man von Solidaires einmal absieht. Natürlich beruft man sich dabei auf die tiefe Skepsis in den eigenen Reihen nach dem Scheitern der letzten großen Mobilisierung 2010 (was nicht zuletzt an der Politik der Gewerkschaftsführungen lag). Zugrunde liegen aber eine generelle passive Orientierung gegenüber der Austeritätspolitik und eine deplatzierte Loyalität gegenüber der „linken“ Regierung. Auch im Vorfeld zu diesem Gesetzesentwurf haben die Gewerkschaftsführungen nichts unternommen, um ihre Mitglieder durch Aufklärungskampagnen über die Brisanz des Themas auf eine Mobilisierung einzustimmen oder es gar auf eine mehr politische Ebene zu heben, indem sie das Scheitern von 2010 bilanziert und daraus die Schlussfolgerung gezogen hätten, dass eine einheitliche Bewegung und ein Generalstreik erforderlich seien, um die Regierung zum Nachgeben zu bringen. Dieses Versäumnis klingt noch immer nach. Dabei wäre es umso wichtiger gewesen, als die Arbeiterklasse und die kleinen Leute in den letzten Inprekorr 4/2016 5 Fr ankreich 30 Jahren so viele Niederlagen angesichts der ganzen neoliberalen sozialen Einschnitte erlitten haben. Die treibenden Kräfte Daneben gibt es aber weitere widersprüchliche Momente und auf sie stützen sich die treibenden Kräfte der Mobilisierung: Frankreich ist im Vergleich mit den anderen Ländern Europas noch im Rückstand, was das soziale Rollback im Zuge der neoliberalen Offensive anlangt. In der Gesellschaft existiert noch ein breites Bewusstsein über den Wert der Errungenschaften, seien es die öffentlichen Dienste, die Sozialvorsorge, die Regulierung des Arbeitsmarkts oder das Arbeitsrecht. Insofern trifft die neoliberale Wandlung der Sozialdemokratie auf viel Widerstand, selbst unter der noch verbliebenen Wählerbasis und in den Parteigliederungen. Die Reaktionen der sog. Frondeure (Linksabweichler in der PS) und der Initiatoren der Petition zeugen von diesem Willen zur Wahrung des Besitzstandes im Umfeld der Sozialdemokratie oder der Linksfront (FdG). Die AktivistInnen der sozialen Bewegung im Ganzen haben die vergangenen Niederlagen sehr wohl noch vor Augen, aber auch die starken Mobilisierungen unter den Lohnabhängigen und der Jugend. Bis 2010 gab es regelmäßig frontale Auseinandersetzungen sei es der Lohnabhängigen gegen die Rentenreformen von 1995, 2003 und 2010 oder der massiven, von der Jugend in den Schulen und Universitäten erfolgreich getragenen Mobilisierung gegen das Erstanstellungsgesetz CPE von 2006. Notabene hat auch die damalige Regierung Villepin versucht, das Gesetz unter Umgehung des Parlaments nach dem Artikel 49.3 durchzupeitschen und damit die Opposition noch verstärkt. Dies dürfte der heutigen Regierung noch gut in Erinnerung sein, wenn sie auf dasselbe Procedere zurückgreift.6 Vielen Jugendlichen und auch nicht mehr so jungen unter dem gemeinen Volke dürften auch noch die vierwöchigen Unruhen in Erinnerung sein, die es in den Arbeitervierteln im November/Dezember 2005 nach dem Tod der beiden Jugendlichen Zyed und Bouna in Clichy-sousBois gab. Bei den damaligen Aufständen haben die Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass sie Welten von den allermeisten Parteien und Bewegungen trennen, ausgenommen Teilen der radikalen Linken (darunter der LCR). Dieser tiefe Graben, der die damals von Sarkozy unter Generalverdacht gestellten Vorstädte, besonders aber die arabischen und schwarzen Jugendlichen, die stets die ersten Opfer polizeistaatlicher Maßnahmen, aber auch der 6 Inprekorr 4/2016 Arbeitslosigkeit und Prekarität sind, von der etablierten Gesellschaft trennt, ist seither nicht kleiner geworden, sondern hat sich durch die islamophobe Welle nach den Attentaten noch beträchtlich vertieft. Dies wirkt auch noch in der gegenwärtigen Protestbewegung nach, während die Jugendlichen 2006 noch die Ersten bei den damaligen Mobilisierungen waren. Der Zerfall der sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Strukturen der Gegenwehr. Noch bis Ende des vorigen Jahrhunderts war die Arbeiterbewegung, auch politisch, vielfältig untereinander verwoben und trotz mancher Risse galten gemeinsame Bezugspunkte aus der Vergangenheit und den „großen“ Schlachten. Mit Beginn dieses Jahrhunderts und der offen neoliberalen Positionierung der Sozialdemokratie haben sich die früheren Differenzen als unüberbrückbare Gräben erwiesen. Dies hat dazu geführt, dass besonders die neuen, oft sehr radikalen Generationen, die in den Flüchtlings-, Antifa- und Umweltbewegungen und auch in gewerkschaftlichen Strukturen (gerade in den Branchen mit prekärer Beschäftigung) aktiv sind, sich in ihren Kämpfe nicht mehr als organischen Teil der Arbeiterbewegung begreifen. Umgekehrt, während Viele aus der alten linken Bewegung den Marsch durch die Institutionen angetreten und ihre revolutionären Ansprüche abgelegt haben, müssen sich diese neuen Generationen nicht mit dem alten Ballast rumschlagen und verfügen oft über ein erstaunlich gefestigtes Bewusstsein über die schlimmen Folgen der kapitalistischen Barbarei und sind immer empfänglich für politische Argumente, die einen revolutionären Umbruch für unumgänglich halten. Dieses Bewusstsein paart sich oft mit einem radikaldemokratischen Anspruch und der Ablehnung fester, auf Aufgabendelegation beruhender Strukturen, die durch das desaströse Erbe des Stalinismus und die sozialdemokratische Praxis diskreditiert sind. Natürlich ist diese junge Generation in sich sehr heterogen. Es gibt natürlich soziale Gefälle, auch und gerade in den Vorstädten, wo der gesellschaftliche Rassismus zwischen Schwarzen, Arabern und Moslems unterscheidet. Keinesfalls teilten alle diese Jugendlichen die „offizielle“ Empörung über die Morde bei Charlie Hebdo. Die gegenwärtige Bewegung kann viele dieser Differenzen überwinden helfen, aber noch ist es nicht soweit. Die grundlegenden wirtschaftlichen Umstrukturierungen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe wirken sich natürlich sehr negativ auf die Organisierung und Bewusstseinsbildung unter den Betroffenen aus. Neben der Zersetzung der Arbeiterbewegung aus den erwähnten Fr ankreich politischen Gründen gibt es weitere objektive Gründe (Subunternehmertum, Zergliederung der Belegschaften etc.), die diesen Prozess fördern und die von der Gewerkschaftsbewegung nicht wirklich bekämpft worden sind. Daher rühren auch die Probleme in vielen Branchen, diese in die Mobilisierungen zu integrieren, da sich das Klassenbewusstsein durch diese Entwicklung weiter zersetzt. Politische Krise Die vergangenen Wochen haben auch gezeigt, wie weit die politische Krise inzwischen gediehen ist. In erster fern ist die Bourgeoisie natürlich gehalten, ihr politisches Instrumentarium anzupassen und dabei ggf. auch überholt erscheinende Tabus zu brechen. In Frankreich kann sich diese Krise sehr rasch auch auf die Institutionen und das politische System an sich ausdehnen. Die Institutionen der V. Republik wurden von einem System geschmiedet, dass durch eine Partei beherrscht wurde – ob im Senat, in der Nationalversammlung oder im Präsidentenpalast – und um ein starkes Regime und einen starken Präsidenten herum zentriert wurde. Nachdem der Gaullismus in die Krise geraten war und sich ein Gegenwärtig sind alle herrschenden Parteien in Europa durch die Umwälzungen im Zuge der Globalisierung und der seit 2008 mit der Brechstange durchgesetzten neoliberalen Reformen gebeutelt.“ Linie betrifft dies natürlich die institutionellen Parteien. Das Ausmaß der Diskreditierung von Regierung und Sozialdemokratie zeigt sich in deren permanenter Selbstblockade, wo es bspw. noch nicht einmal gelingt, die eigenen Abgeordneten bei den Parlamentsabstimmungen bei der Stange zu halten (ungeachtet dessen, wie die Abstimmungen über das Arbeitsgesetz letztlich ausgehen werden). Auch die Meinungsumfragen in der Bevölkerung belegen die wachsende Ablehnung der Regierung und das seit Bestehen der V. Republik einmalige Ausmaß der Unpopularität des Regierungsgespanns. Die parteiinterne Krise der Sozialdemokratie offenbart sich auch in der grotesken Debatte um die Vorwahlen innerhalb der Linken (die die Krise der PCF weiter zuspitzt) und das Verhalten von Macron, der mit seiner Parteigründung das Vorhaben von Valls desavouiert bzw. von rechts unterläuft, die PS im Stil der italienischen PD unter Renzi umzubauen. Ihre Entsprechung findet diese Krise – letztlich aus denselben Gründen – unter den rechten Republikanern (LR), der von Sarkozy betriebenen Nachfolgepartei der UMP. Gegenwärtig sind alle herrschenden Parteien in Europa durch die Umwälzungen im Zuge der Globalisierung und der seit 2008 mit der Brechstange durchgesetzten neoliberalen Reformen gebeutelt. Nach Griechenland, Italien und Spanien ist der Reigen nun an Frankreich und die Diskreditierung ist an einem kritischen Punkt angelangt. Inso- Zweiparteiensystem etabliert hatte, wurde 2001 eine fällige Reform durchgeführt, die ein semipräsidentielles System einführte, in der die Parlamentsmehrheit eng an den Präsidenten angelehnt ist, um so die Unabwägbarkeiten der Kohabitation zu kontern. Aber auch dieses System setzte voraus, dass die herrschenden Parteien weiterhin die Übermacht behalten. Dieses austarierte System gerät mit dem Anstieg der Wahlenthaltungen und der FN und der Diskreditierung von Sozialdemokratie und Republikanern ins Wanken. Zudem wird dadurch deutlich, dass Frankreich trotz seiner „republikanischen Werte“ neben Großbritannien das antiquierteste Wahlsystem hat, indem das Mehrheitswahlrecht gilt und keinerlei Verhältniswahlrecht besteht. Dabei ist Frankreich noch schlimmer als Großbritannien, da es mit seinem direkt gewählten Präsidenten und dessen starken Vollmachten das einzige unter den wichtigsten Ländern der EU ist, das von einem „Monarchen“ regiert wird. Valls und Hollande haben in jüngster Zeit versucht, diese politische Krise auf verschiedene Weise einzudämmen. Zunächst einmal, indem sie die PS und ihre Parlamentsfraktion an die Kandare zu nehmen versucht haben. Die Anwendung des Artikels 49.3 zur Annahme des Arbeitsgesetzes in erster Lesung diente offensichtlich dazu, eine öffentliche politische Debatte zu umgehen, die die Stellung der Regierung noch weiter untergraben hätte. Weiterhin sollte damit die Minderheit der „FronInprekorr 4/2016 7 Fr ankreich deure“ auf Linie gebracht werden, die vor die Wahl gestellt wurden, klein beizugeben oder ein Misstrauensvotum einzubringen und zu verhängen. Tatsächlich hat die parteiinterne Opposition vorerst umgangen. Nur 28 von 40 Abgeordneten der Frondeure haben die Einbringung des Misstrauensvotums unterstützt, womit das erforderliche Quorum von 10% der Abgeordneten knapp verfehlt wurde. Trotzdem ist die Krise der PS damit nicht beseitigt. Außerdem versucht die Regierung den Verfall ihrer politischen Autorität dadurch zu kompensieren, dass sie umso mehr auf Repression setzt. Insofern erleben wir immer häufiger den Einsatz von Polizeigewalt und polizeistaatlichen Maßnahmen, was durch die Verlängerung des Ausnahmezustands noch verschärft wird und sich nunmehr direkt gegen die Protestbewegung, die Streiks und die Demonstrationen richtet. Hierbei kommt den von der Regierung und den Großkonzernen abhängigen Medien die Funktion zu, diese Polizeigewalt propagandistisch zu kaschieren, indem gegen sog. „Randalierer“ gehetzt wird, um die gesamte Bewegung zu kriminalisieren. Mit diesem autoritären Habitus soll die Schwäche von Regierung und PS übertüncht werden, die sowohl die eigenen Reihen, als auch ihre parlamentarische Vertretung sowie die eigene soziale Basis betrifft. Ein weiteres Moment dieser Entwicklung, das besonders in den Reihen der Bewegung „nuit debout“ thematisiert wird, ist die tiefe Diskrepanz zwischen dem radikaldemokratischen Anspruch, der die Entscheidungen den Betroffenen und nicht unkontrollierbaren Delegierten überlassen will, einerseits und der Realität des Systems und seiner Institutionen andererseits. Damit wird besonders deutlich, wie zutiefst undemokratisch das politische System ist und dass die reale Macht offensichtlich nicht in den Händen der gewählten Abgeordneten liegt. Vielmehr machen die Banken und die multinationalen Konzerne, also die kapitalistischen Machtzentralen, die Gesetze und schaffen sich obendrein dabei noch (Steuer-)Privilegien. Die Ablehnung des Finanzsystems, der Energiepolitik, der Schließung der Grenzen und der auf Arbeitslosigkeit und Prekarität gerichteten Politik führt in der Summe dazu, das politische System an sich, aber auch das kapitalistische System abzulehnen. Dies gilt (zumindest) unterschwellig für die ganze Gesellschaft, ganz offen jedoch in solchen Diskussionszusammenhängen wie den „Nuit debout“. 8 Inprekorr 4/2016 Unterm Strich birgt diese Bewegung viele Stärken, aber auch viele Schwächen. Die kommenden Wochen werden zeigen, was überwiegt. Die Rolle der Partei Letztlich zeigt dies, wie sehr in dieser Konstellation eine politische Partei fehlt, die in Worten und Taten für Einigkeit sorgt und die divergierenden Kräfte zusammenfasst und dabei auf die gemeinsamen Anliegen und das gemeinsame Ziel orientiert: den gesellschaftsweiten Kampf gegen ein politisches System, das die Panama Papers hervorbringt, Flüchtlinge entweder in Lagern wie Calais einsperrt oder zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken lässt, die Klimakatastrophe vorantreibt und soziales Elend und Prekarisierung erzeugt etc. Die gegenwärtige Protestbewegung stellt zugleich die Funktionsweise als auch die Strukturen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems infrage. Sie kritisiert, dass die Macht in Wahrheit woanders als bei den gewählten Organen und beim Volk liegt und wie undemokratisch die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen getroffen werden. Somit stellt sie letztlich die Frage nach einer politischen Vertretung der Ausgebeuteten und Unterdrückten und nach einem Gesellschaftsmodell, dass den gestellten Erwartungen gerecht wird. Die Protestbewegungen der letzten Monate (Klima, Flüchtlinge, Notre-Dame-desLandes, Arbeitsgesetz und die zahlreichen Streiks) sind in ihren Forderungen letztlich alle in gewisser Weise gegen das bestehende System gerichtet und zielen auf eine Gesellschaft, deren Ziel die Erfüllung der sozialen Bedürfnisse ist und die die entsprechenden politischen Organe zur Umsetzung dieser Bedürfnisse schafft – Organe, in denen wirklich demokratisch diskutiert und entschieden wird. Dabei gehen soziale Kämpfe und politische – nicht wahlpolitische – Perspektiven Hand in Hand. Wo immer sich Kämpfe und Widerstand regen, stoßen sie zugleich auf eine brutale Klassengesellschaft, die entschlossen ist, die Ausbeutung aufrecht zu erhalten und weiter zu verschärfen, und sich dabei die erforderlichen Institutionen auf nationaler und europäischer Ebene schafft. Deren ausschließlicher Zweck ist die ungeteilte Macht und die Aufrechterhaltung des Systems und sie entziehen sich dabei mehr und mehr jeder demokratischen Kontrolle von unten. Das Beispiel Griechenlands, die Zurückweisung der Flüchtlinge, die Panama Papers oder TTIP haben binnen kürzester Zeit deutlich gemacht, wie diese Gesellschaft in Fr ankreich Wahrheit funktioniert. Mit diesen Fragen müssen sich alle auseinandersetzen, die seit Jahren in den verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv sind. Dies gilt auch für die junge Generation, die auf verschiedenen Wegen auf dieselben strategischen Fragen stoßen. Es passiert selten, dass – so wie jetzt – solche Fragen wie die der Institutionen auf den Straßen und in den Reihen der Bewegungen diskutiert werden. Und es wird ganz offensichtlich dabei, dass die bestehenden Institutionen des Landes als Hindernis für die Bedürfnisse der Bevölkerung wahrgenommen werden. Die Forderung, dass das Volk selbst entscheiden soll, gebiert den Wunsch nach adäquaten demokratischen Organen. Ganz wie das Beispiel Griechenlands zeigt, dass auf europäischer Ebene die kapitalistischen Institutionen ihre Entscheidungen gegen den Willen eines ganzen Volkes durchsetzen. Insofern ist die alte Leier: „Ein guter Kandidat für ein gutes Programm“ das strikte Gegenteil dessen, was gegenwärtig diskutiert wird. Genauso utopisch ist eine auf die Institutionen ausgerichtete Strategie, die auf Wahlsiege setzt, um – unter Achtung der bestehenden Institutionen – eine gegen die Kapitalisten gerichtete Politik umsetzen zu können. Eine antikapitalistische Kraft kann ihre Stärke nur aus den sozialen Bewegungen schöpfen, aus deren Aktivitäten und politischen Mobilisierungen, die als einzige dazu in der Lage sind, dem System wirklich entgegenzutreten. Insofern müssen Übergangsforderungen aufgestellt werden, die auf die Substanz des kapitalistischen Ausbeutersystems zielen, auf die soziale Unterdrückung, die aus dem System erwächst, und auch auf die undemokratischen Institutionen und Regeln des politischen Systems. Solche Übergangsforderungen müssen den Weg zu einer Gesellschaft aufzeigen, die frei von kapitalistischer Ausbeutung und dazu in der Lage ist, die Unterdrückung in all ihren Ausprägungen zu beenden. Mitarbeiter rief im ganzen Land eine große Solidaritätsbewegung hervor. Noch heute werden auf Demonstrationen zerrissene Hemden geschwenkt. 2 Seit 2009 halten die Gegner des geplanten Flughafens bei Nantes das Gelände besetzt und unterhalten dort eine alternative Begegnungsstätte, eine sog. ZAD (verteidigenswerte Zone) gegen die unsinnigen Megaprojekte. Durch die große Unterstützung, die ihr zuteil wird, die zahllosen Demonstrationen dort und die brutale Repression seitens der Regierung ist die Bewegung inzwischen zu einem Symbol geworden. Der frühere Premierminister Ayrault war zuvor Bürgermeister von Nantes und ist ein glühender Verfechter des Projekts und des mit dem (lukrativen) Bau beauftragten Vinci-Konzerns. 3 Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass „bei der Festlegung der Arbeitsdauer betriebliche Vereinbarungen Vorrang vor dem geltenden Gesetz haben“; damit wird das „Günstigkeitsprinzip“ abgeschafft, das besagt, dass eine niedrigere Norm (die Vereinbarung) eine höhere Norm (das Gesetz, den Branchentarif ) nur dann außer Kraft setzen darf, wenn sie günstiger ausfällt. 4 Die 2015 vorgelegten Berichte dienten als Grundlage für den jetzigen Gesetzesentwurf. 5 Die online-Petition „Loi travail: non, merci!“, die von Basisinitiativen und GewerkschafterInnen, bes. der Feministin Caroline de Haas, lanciert worden war, sammelte binnen zweier Wochen über eine Million Unterschriften ein – ein einmaliger Rekord. An den ebenfalls online lancierten Demonstrationen am 9. März beteiligte sich eine halbe Million Menschen, allen vorweg Jugendliche. 6 Der Artikel 49.3 der Verfassung erlaubt es der Regierung, ein Gesetz ohne Debatte und Abstimmung im Parlament durchzubringen. Die Abgeordneten können sich mit einem Misstrauensvotum widersetzen: Wenn dies eine Mehrheit findet, ist das Gesetz durchgefallen und die Regierung gestürzt. Hollande hat davon bereits zum zweiten Mal Gebrauch gemacht, während er dies vor seiner Amtszeit noch als „undemokratisch“ angeprangert hat. Léon Crémieux ist Gewerkschafter bei Solidaires und Mitglied der NPA und des Exekutivbüros der IV. Internationale. Übersetzung: MiWe � 1 Am 5. Oktober 2015 demonstrierten die Beschäftigten von Air France während der Vorstandssitzung gegen die dort angekündigten Entlassungen. Als die Sitzung daraufhin unterbrochen wurde und die Chefs das Weite suchten, wurde dem Personalchef das Hemd zerrissen. Der grelle Kontrast zwischen der Willkür des Vorstands und seiner Gesprächsverweigerung, gekrönt von dem lächerlichen Auftritt des halbnackten Personalchefs einerseits und der daraufhin einsetzenden Repression gegen fünf entlassungsbedrohte Inprekorr 4/2016 9 Fr ankreich „Unsere Entschlossenheit war nie so groSS.“ Noch läuft die Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz in der Privatindustrie eher verhalten. Warum dies so ist, dazu ein paar Erklärungen, die Florent vom Technikzentrum von Renault in Lardy und Bertrand von PSA in Mulhouse (beide Mitglieder der CGT und der NPA) in dem folgenden Interview der Wochenzeitschrift l’Anticapitaliste gegeben haben. Wie lief die Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz in Euren Betrieben? Bertrand: Seit 2013 stöhnen die Beschäftigten unter einem „Abkommen für Wettbewerbsfähigkeit“, mit dem der PSA-Konzern angeblich vor der Pleite bewahrt werden soll. Darin wird festgelegt, dass die Löhne drei Jahre eingefroren bleiben, die Überstunden und Urlaubstage flexibilisiert werden, Samstags- und Sonntagszuschläge nahezu entfallen, bei technischen Störungen die Arbeitszeiten verlängert werden, etliche Prämien und Zuschläge gekürzt oder abgeschafft werden und die Arbeitszeitverkürzung teilweise rückgängig gemacht wird. Obwohl der Vorstand das Werk in Aulnay geschlossen und zugesagt hatte, drei Jahre lang keine Niederlassungen zu schließen, wurden 18 000 Stellen gestrichen, davon 1.400 in Mulhouse. Nachdem es zuvor noch Kurzarbeit gegeben hatte, wird inzwischen seit einigen Monaten fast jeden Samstag und an den Feiertagen gearbeitet und die Schichtzeiten werden verlängert. Zudem wurde eine Mannschaft für die Wochenenden zusammengestellt, die 12-Stunden-Schichten arbeitet und zu 90% aus Leiharbeitern besteht, die nur befristet eingestellt wurden und überlange Arbeitszeiten zu geringen Löhnen haben. 10 Inprekorr 4/2016 Jeden Monat werden an den Fließbändern Arbeitsplätze eingespart, während zugleich die Zahl der gefertigten Fahrzeuge von 50 auf 52 pro Stunde gestiegen ist. Indessen passieren immer mehr Arbeitsunfälle, besonders bei den Leiharbeitern, die die schwersten Arbeiten verrichten müssen. Der zunehmend älteren fest eingestellten Belegschaft fallen das Arbeitstempo und die Belastungen immer schwerer. Im Zuge des Abbaus der Stammbelegschaft machen natürlich gerade diejenigen, die von der Arbeit krank geworden sind, vermehrt Gebrauch von Abfindungsangeboten. Florent: Das Personal, das einen Vertrag mit Renault hat, hat am meisten Angst vor der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Abschaffung der 35h-Woche durch die Erpressung mit den Arbeitsplätzen. Für die Beschäftigten der Subunternehmen kommt noch dazu, dass sie leichter aus betrieblichen Gründen entlassen werden und die Abfindungen bei missbräuchlicher Entlassung geringer ausfallen können. Zu Beginn der Mobilisierungen haben manche von ihnen die Streikaufrufe befolgt, um gegen die zunehmende Belastung auf der Arbeit und die mangelhafte Ausstattung und Einarbeitung zu protestieren. Fr ankreich Seit Beginn der Bewegung spürt man, dass sich die Atmosphäre geändert hat, zumal nach den jahrelangen unverschämten Zumutungen besonders im Rahmen des Paktes für Wettbewerbsfähigkeit (8.000 Stellenkürzungen im Gesamtkonzern und Lohnstopp). Für die Demonstrationen konnte zumindest wieder mal der harte Kern der Aktiven mobilisiert werden und ein Block auf der Demo gestellt werden, der größer als am 31. März war. Außerdem haben wir den Auftritt von El Khomri im Zentrum für Erwachsenenbildung gestört, als sie dort die Arbeitslosenzahlen vortragen wollte. Trotzdem sind wir noch zu wenige, auch wenn den Demoteilnehmern im Betrieb viel Sympathie entgegen schlägt. Einen Auftrieb gab es wieder, als die Ölraffinerien in Streik getreten sind. Prompt haben wir ein großes Transparent an einer Straßenbrücke über der N 20 aufgehängt. Bertrand: Wir haben bereits durch die o. g. Maßnahmen am eigenen Leib erfahren, was das Arbeitsgesetz bedeuten wird. Allen ist klar, dass sich unsere Lage dadurch verschlimmern würde. Tenor: „Wenn das durchkommt, sind wir geliefert.“ In allen Hallen wurden Spontanversammlungen zu dem Thema organisiert, um die KollegInnen zu mobilisieren. Bei den ersten Demos am 9. und 31. März haben mehrere Hundert KollegInnen im Gewerkschaftsblock demonstriert oder die Arbeit niedergelegt. In einzelnen besonders kämpferischen Abteilungen konnten sogar Leiharbeiter zum Mitmachen mobilisiert werden. Auf welche Hindernisse oder Vorbehalte trifft die Mobilisierung? Florent: Über die nachteiligen Folgen des Gesetzes herrscht weitgehend Einigkeit. Aber problematisch ist, dass Einige denken, dass man die Regierung nicht zum Einknicken bringen wird, und Andere, dass ein solches Gesetz ohnehin nicht durchkommen kann. Hinzu kommt, dass viele sich nicht vorstellen können, dass in einem Entwicklungszentrum Streiks ein wirksames Mittel sind, um die Bosse zu beeindrucken. Hingegen werden die uns auferlegten Fristen immer kürzer, sodass eine Werksblockade sehr wohl die Bosse an ihrer empfindlichen Stelle treffen würde. Ganz zu schweigen von den Problemen bei der Nachrüstung der Abgasregler, die mit enormer Mehrarbeit und hohem Zeitdruck verbunden ist. Ein weiteres Problem betrifft die Beschäftigten bei den Subunternehmen, die von Versetzung oder Rausschmiss bedroht sind, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellen. Unterm Strich lässt sich sagen, dass das, was machbar war, nicht durch Initiative von oben zustande gekommen, sondern an der Basis entstanden ist, wie bspw. ein gemeinsamer Block der Automobilarbeiter (mit Renault-Flins, PSAPoissy und PSA-Saint-Ouen) bei einigen Demonstrationen anstelle eines nach Departements geordneten Marschzugs. Daneben sind zwischenbetriebliche Koordinationen entstanden, etwa mit Renault-Cléon, die fortbestehen und den gegenseitigen Austausch über Streikinfos ermöglichen. Bertrand: Die Strategie der Gewerkschaftsführungen hat viele KollegInnen und GewerkschafterInnen enttäuscht, weswegen die Beteiligung an landesweiten Demonstrationen eher gering ausfiel. Dies soll allerdings nicht heißen, dass diese Leute der herrschenden Propaganda auf den Leim gehen, die versucht, die Bewegung zu diskreditieren – ganz im Gegenteil. Wie weiter? Florent: Das Arbeitsgesetz ist noch nicht gekippt, aber die dadurch wieder erwachte Kampfbereitschaft hat endlich wieder Dampf ins Getriebe gebracht, nachdem zuvor Monate lang in den Betrieben immer nur über die Attentate oder den Front national diskutiert wurde. Bisher beschränkt sich die Mobilisierung auf unser Werk. Aber da die laufenden Kämpfe Alle betreffen, ist dies eine gute Gelegenheit, die Vereinzelung und das Standesdenken zu durchbrechen, das unter den Festangestellten von Renault und den Beschäftigten der Dutzende von Subunternehmen im selben Werk herrscht. Wenn sich die Streiks ausweiten, würde dies mehr Menschen davon überzeugen, dass das Gesetz gekippt werden kann, und auch die mobilisieren, die zwar gegen das Gesetz sind, aber selbst noch zögern, aktiv zu werden. Vieles wird davon abhängen, wie sich die laufenden Streiks in den zentralen Branchen in nächster Zeit entwickeln, etwa in den Raffinerien oder bei den Eisenbahnern. Bertrand: Fest steht, dass, solange der Kampf gegen das Arbeitsgesetz anhält, wir es auch einfacher haben, gegen den neuen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit vorzugehen und damit wiederum unser Kampf die Position der Streikenden in den anderen Branchen stärkt, was schließlich dazu führen könnte, dass sich die Streiks immer mehr ausweiten – bis hin zu einem regelrechten Generalstreik – und Regierung und Unternehmer am Ende einknicken müssen. Unsere Entschlossenheit war noch nie so groß – also wollen wir bis ans Ziel gelangen! Übersetzung: MiWe � Inprekorr 4/2016 11 S c h ot t l a n d Die Zukunft der Linken in Schottland Am 5. Mai fanden Wahlen zum schottischen Parlament statt. Die Ergebnisse für die neue Organisation der schottischen Linken, RISE1, in der sich viele AktivistInnen sammeln, die mit der Scottish Socialist Party (SSP) für ein Ja beim Referendum über die schottische Unabhängigkeit gekämpft hatten, waren enttäuschend. Der bekannte RISE-Aktivist Johnathan Shafi untersucht einige der Gründe und Lehren für die Zukunft. Johnathan Shafi Wahlen sind immer schwierig für die radikale Linke und ganz besonders in Schottland nach dem [verlorenen] Referendum, wo so viele der sozialistisch gefärbten Stimmen von der SNP und den Grünen, die verdientermaßen mehr MSPs bekommen haben, aufgesogen wurden. Aber allein die Anstrengungen, so weit zu kommen, haben zur Entwicklung einer völlig neuen Generation von sozialistischen Aktiven geführt. Diese Menschen haben gegen alle Hindernisse, mit minimalen Ressourcen und in sehr kurzer Zeit gearbeitet und konzentrieren sich jetzt darauf, das Projekt weiter voranzubringen. Sie sind eine Quelle der Inspiration und darüber hinaus bin ich fest überzeugt, dass sie und viele andere, die noch dazukommen, die Zukunft der schottischen Linken sein werden. Ihre Fähigkeiten, ihre Geschlossenheit und ihre Talente werden die schottische Politik verändern. Daran gibt es keinen Zweifel. Diese jungen Aktivisten sind verwoben mit dem erneuten Engagement eines Querschnitts der erfahrenen Sozialistinnen und Sozialisten als Ergebnis des Prozesses der Erneuerung und der Bündnisbildung. Diese Veteranen der Bewegung haben viele schwierige Wahlen erlebt, aber jetzt können sie ein echtes Potenzial neuer Entwicklungen sehen, mit Jahren von Wachstum und Strategiedebatten. Außerdem waren diese Kandidatinnen und Kandida12 Inprekorr 4/2016 ten hervorragend, angesehen und von unterschiedlichem Hintergrund gezeichnet. Sie sind ein wertvoller Schatz und haben eine große Zukunft vor sich. Sie hatten den Mut, aufzustehen und eine respektlose sozialistische Kampagne voranzutreiben, und sie hatten den Mut, ihre Überzeugungen in einer schwierigen politischen Atmosphäre zu vertreten. Viele waren von ihrem Kampf und ihrer Entschlossenheit, der Stimme der einfachen Leute in der Debatte Gehör zu verschaffen, zu Tränen gerührt. Ihre Zeit wird kommen. Wenn es soweit ist, wird diese Erfahrung als ein wichtiger Lernprozess betrachtet werden. Wo wir Fehler gemacht haben Wir in RISE hatten drei wichtige strategische Fehleinschätzungen. Erstens haben wir uns die organische Basis einer neuen linken, pro-schottischen Organisation weit größer vorgestellt, als sie es war. In der Zeit, als wir sie ins Leben gerufen haben, wurde die Energie des Referendums von der SNP bebrütet. Dies hätte anders sein können, wenn wir direkt in den Tagen nach dem Referendum am 18. September 2014 gestartet wären, aber auch dann wäre das Nein zur Unabhängigkeit der Beginn eines langen, kalten Krieges gewesen, im Gegensatz zu dem schottischen Frühling, der nach einem Ja hätte entstehen können. Zweitens redeten wir uns ein, dass es einen politischen Raum für die radikale Linke auch bei einer Wahl geben würde, in der SNP, Labour und Grüne alle um radikale Stimmen konkurrieren. Und das vor dem Hintergrund der nationalen Frage, die der SNP Zulauf bringen würde, selbst wenn sie zur Mitte rutscht. 1999 und 2003, als die SSP ihren Durchbruch hatte, war der Raum für die radikale Linke viel leichter zu erschließen. Dafür, dass wir nur vier Monate Zeit und im Vergleich zu anderen nur winzige Ressourcen hatten, hat sich RISE im Wahlkampf tatsächlich verhältnismäßig gut geschlagen, aber am Wahlabend zeigten die Ergebnisse dann doch die Schwierigkeiten, die diese Wahlen mit sich brachten. Selbst wenn wir einen perfekten Wahlkampf geführt und ganz großes Glück gehabt hätten, wäre das Ergebnis um nicht mehr als vielleicht einen Prozentpunkt besser ausge- S c h ot t l a n d fallen. Es sind die objektiven Umstände, die zählen, und die Kraft des Willens kann den allgemeinen Strom bei den Wahlen nicht umkehren. Drittens glaubten wir, dass bei der Wahl auf der Grundlage von Ideen gekämpft würde, während es tatsächlich eine sehr taktische Wahl war. In den Anfängen von RISE Ende 2015 schienen wir im Zentrum eines Sturms wegen der Frage eines taktischen Stimmverhaltens zu stehen. Hohn und Spott ergossen sich über RISE wegen ihres Eintretens für ein „Stimmen-Splitting“.2 Trotz unserer Bemühungen, nach unserer politischen Konferenz im Dezember andere Schwerpunkte zu setzen, ging es immer wieder um diese Frage. Dies brachte uns auch in einen permanenten Kriegszustand mit der SNP, als eine große Zahl von Linken ihnen ihre Stimme geben wollte. Unter diesen Voraussetzungen hatten wir Recht, auf die Schwäche der politischen Plattform und des Wahlkampfschwerpunkts der SNP hinzuweisen – das ist etwas, was in der Zukunft zählen wird. Diese strategischen Probleme verbanden sich mit den alltäglichen Schwierigkeiten beim Kampf um die Stimmen durch Zeit- und Ressourcenknappheit. Trotzdem haben unsere Reports, Videos, die einzigartige Wahlkampfplattform und unsere hochkarätigen Kandidaten es geschafft, die Politik der RISE voranzubringen, und es ist diesen Anstrengungen zu verdanken, dass viele auf der Grundlage weitermachen, dass sozialistische Ideen in der Politik dieses Landes Durchschlag finden müssen. Wir hatten Recht, diese Wahl zu nutzen, um herauszufinden, wie viel radikalisierte Energie aus dem Referendumskampf sich in Stimmen für eine linksradikale Option umsetzen lassen würde, die den Aspekt der sozialen Bewegungen der radikalen Linken wie auch der SSP einbezog. Niederlagen sind nicht einfach. Aber wir müssen erkennen, wo wir stehen und was aufgebaut werden muss. Die Anfänge einer neuen Einheit, die Rekrutierung von Hunderten engagierter Aktiver, die Entwicklung des Bekanntheitsgrads, eine starke Medienpräsenz, eine starke Jugend- und Frauenbewegung und die Abhärtung durch begrenzte Ressourcen und schlechte Wahlergebnisse. RISE ist angetreten für die Langstrecke, und sie wird zweifellos wachsen, jetzt wo sie eine geschlossene und engagierte Basis hat. RISE wird Gastgeberin einer großen Konferenz der Europäischen Linken im Juni über die Zukunft der EU sein; sie wird sich auf Bereiche stützen, in denen sie politisch stark ist, ihr Netzwerk entwickeln und intellektuell eingreifen; sie wird ihre nationale Organisation in der Fläche und, wie sie es bereits tut, in den Gewerkschaften verankern. Sie hat jetzt Jahre, um sich zu entwickeln, und auf lange Sicht eine glänzende Zukunft, zumal sie eine so vielversprechende und talentierte Jugend hat. Aber auch wenn das stimmt, wäre diese Aussage alleine zu stark vereinfacht. Wenn der Artikel hier enden würde, könnte man zu Recht einwenden, dass er nicht strategisch genug denkt und dass das aktuelle Projekt der radikalen Linken in Schottland mit etwas Anschub reichen würde, um durch eine schwierige Zeit zu kommen. Doch das ist nicht genug. Wir haben während der Volksabstimmung eine große Wende vollzogen, weg von Linken, die sich an Parteien klammern und sie als die einzig wahre Stimme verteidigen, hin zur Propagierung unserer Ideen gegenüber einer Massenbewegung, der sich Millionen von Menschen zugehörig fühlen. Tatsächlich müssen die Kräfte der radikalen Linken in Schottland jetzt in einem viel breiteren Kontext überlegen, wo es hingehen soll, und wir müssen viel ehrgeiziger bei der Bestimmung unserer Ziele sein. Wir müssen unsere Kräfte in einen breiteren Rahmen stellen, der uns strategisch nach vorne trägt, nicht nur als eine Organisation, die Leute rekrutieren und die Öffentlichkeit mit ihrer politischen Plattform bekannt machen kann. Wir müssen aus dem letzten Jahr lernen und heraus finden, wie es jetzt weitergehen soll, und wie wir die Sache des Sozialismus und der radikalen Linken in einer Zeit der kapitalistischen Fäulnis und der Verfassungskrise voranbringen können. Wir brauchen eine außerparlamentarische Bewegung Die schottische Rechte fühlt sich durch die vielen neuen Tory-MSPs [Mitglieder des schottischen Parlaments] im Aufwind. Sie werden eine ständige Quelle der Opposition sein und infolgedessen eine Plattform für die Union [mit Großbritannien]. Möglicherweise sind sie in der Lage, Druck bei einer Vielzahl von Fragen auszuüben und Zugeständnisse zu erreichen. Doch neben ihrer starken Position in Holyrood [dem schottischen Parlament] kann die schottische Rechte dies auch nutzen, um sich ideologisch in der Gesellschaft als Ganzes wiederaufzubauen. Die Kommentatoren der Rechten beispielsweise sind jetzt weniger abstrakt und per definitionem enger in Kontakt mit dem täglichen Funktionieren des Parlaments. Dies bedeutet nicht, dass es eine massenhafte Wiederbelebung geben wird – nichts dergleichen. Aber es bedeutet, dass es ein lebendiges Potential für die schottische Rechte gibt, ein Potential mit einem gewissen Einfluss. Inprekorr 4/2016 13 S c h ot t l a n d Mehr junge Tories werden dazu stoßen, da sie monetäre Vorteile in Form von Arbeitsplätzen und potenziell als zukünftige MSPs wittern. Für sie wird sich das weniger toxisch 3 anfühlen. Ruth Davidson [Vorsitzende der schottischen Konservativen] wird weiterhin versuchen, die Tory-Marke einer Detox-Kur zu unterziehen. Einige werden sich noch an Murdo Frasers Idee für ein komplettes „Rebranding“4 der schottischen Rechten vor einigen Jahren erinnern, der den Namen „Konservative“ streichen wollte. Solche Dinge können auch in Zukunft geschehen. Unabhängig davon, ob ein umfassender Übergang stattfindet, ist dies eine Veränderung, die die breite Bewegung für eine fortschrittliche Linke in Schottland ernst nehmen sollte. Alles dreht sich um die nationale Frage. Nehmen wir das Manifest der Labour-Party. Es enthielt viele linke Politikelemente. Auch wenn ihre Kampagne manchmal chaotisch erschien, zielte ihre Rhetorik darauf ab, ihre Basis anzusprechen, als eine Methode des Wiederauf baus. Sie kümmerten sich nicht um das Zentrum, wohl wissend, dass dies bereits von der SNP dominiert wurde. Aber sie kamen nicht an der Tatsache vorbei, dass ihre Basis eine andere Haltung zur Unabhängigkeit hat. Und so sehen wir in groben Zügen zwei große Pfosten, die sich in Holyrood in einem Schottland, das eine oberflächliche Analyse als „ulsterisiert“5 bezeichnet, verankern. Die SNP auf der einen und die Tories auf der anderen Seite; dazwischen die Trennlinie: schottischer Nationalismus oder britische Kontinuität. Aber dieser Begriff der „Ulsterisierung“ ist komplett falsch. Er wird interessanterweise von der unionistischen Rechten wie der unionistischen Linken vertreten. Beide missverstehen, dass Fragen von Klasse und Nation nicht nur mit einer Spaltung in der Unabhängigkeitsfrage, sondern auch generell zwischen links und rechts verbunden sind. George Kerevan, Parlamentsabgeordneter der SNP aus East Lothian, hat daher völlig recht, wenn er zu einem anderen Ergebnis kommt: „Es gibt keinen dritten Weg in der schottischen Politik mehr: Entweder ist es ein unabhängiges, sozialistisches und grünes Schottland oder eine unionistische, Tory-kontrollierte, ausgeplünderte Filiale der Londoner City.“ Folglich müssen wir wieder eine breite Bewegung für die Unabhängigkeit entwickeln, denn das wird das Gleichgewicht der Kräfte in den kommenden Jahren bestimmen, und parallel die Oppositionsbewegung gegen die brutalen Sparmaßnahmen der Tories in Westminster. Diese Bewegung erfordert radikale Inhalte, um die Menschen zu mobilisieren, den Referendumskampf mit Elementen der Volksmacht anreicherten und den britischen Staat verwirrten. Neben dieser übergreifenden Bewegung müssen wir für breitere Kampagnen zu großen Problemen der Arbeiterklasse und der Linken eintreten, die wir hier und heute bewegen können. In diese Kampagnen sollte die SNPLinke einbezogen werden, zusammen mit Grünen und RISE. Wir müssen auch Kampagnen wie „Better Than Zero“ in echte soziale Bewegungen verwandeln, um radikale Organisierung zu entwickeln, die die von prekärer Beschäftigung und historischer Ungleichverteilung des Reichtums entstandene tausendjährige Unzufriedenheit ausdrücken kann. Parallel dazu brauchen wir eine kämpferische Straßenbewegung gegen die Sparpolitik, die Druck auf allen Ebenen ihrer Umsetzung ausüben kann. Bei der nächsten Wahl wird sich wahrscheinlich der von Kerevan skizzierte Bruch verschärfen; und es könnte eine Wahl sein, die eigentlich eine erneute Abstimmung über die Unabhängigkeit ist Entscheidend wird die politische Atmosphäre sein, die in den Jahren bis dahin erzeugt wird. Die sozialistische Linke wird möglicherweise nicht stark genug für einen Wahldurchbruch sein, aber wir Wahl zum schottischen Parlament am 5. Mai 2016 Partei Erststimmen (Wahlkreis) Zweitstimmen (Region) Summe Stimmen Diff Sitze Stimmen Diff Sitze Sitze Diff SNP 46,5 % +1,1 % 59 41,7 % -2,3 % 4 63 -6 Konserv. 22,0 % +8,1 % 7 22,9 % +10,6 % 24 31 +16 Labour 22,6 % -9,2 % 3 19,1 % -7,2 % 21 24 -13 Grüne 0,6 % +0,6 % 0 6,6 % +2,2 % 6 6 +4 Liberale 7,8 % -0,1 % 4 5,2 % 0 % 1 5 0 - - - 0,5 % +0,5 % 0 0 RISE 14 Inprekorr 4/2016 S c h ot t l a n d können eine Bodentruppe sein und können einen massiven Einfluss in den kommenden Jahren haben, wenn wir uns zu einer Strategie des Auf baus und der Entwicklung von Bewegungen entscheiden. Wir müssen da sein, um die Gesellschaft nach links zu ziehen. Mit den Tories als starker Opposition haben wir die Pflicht, diese Aufgabe anzugehen. auf diese wichtige und notwendige Arbeit konzentrieren. Das wird uns nicht nur in den kommenden Jahren prägen, es wird auch eine langfristige Basis für die künftige Wahl sozialistischer MSPs schaffen. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Aufbau Mittwoch 25. Mai 2016 RISE wird jetzt eine Diskussion und Debatte über das weitere Vorgehen eröffnen. Dies wird ein lebendiges, respektvolles und nach außen blickendes Forum unter der Leitung der Mitglieder sein. Aber ich hoffe, dass wir mehr als nur die Aussichten für RISE selbst diskutieren und uns in einen breiteren Kontext stellen, wo wir uns einigen unbequemen Wahrheiten stellen müssen, aber wo wir auch wieder Energie tanken können für die aufregende Zeit, die vor uns liegen kann. Jede erfolgreiche linke Organisation in der Geschichte war Ergebnis einer organischen Beziehung mit der Außenwelt. Moralische Empörung über Ungerechtigkeit ist nicht genug; wir brauchen Strategie, Ziele, eine Bilanz des Erreichten und der Punkte, in denen wir gescheitert sind. Das ist der Test von politischer Reife. Neben der Entwicklung von Aktionen müssen wir vor allem den Wiederauf bau des theoretischen und ideologischen Gewichts der Linken stärken, um eine neue Generation von linken Campaignern zu leiten. Politische Bildung, Lesegruppen, Ideologie-Foren für Debatten und Diskussionen, linke politische Festivals – all das ist nötig um voranzukommen. Das Großartige an der Politik – selbst in Zeiten von Problemen – ist, dass sie sich ständig weiterentwickelt und daher ständig neue Fronten entstehen. Was wir jedoch brauchen, ist eine stabile und talentierte Gruppe von Menschen, die diesen Weg mit uns geht. Ich meine, dass mindestens genau das sich jetzt auf der schottischen Linken wieder entwickelt. Nun gilt es herauszufinden, wie wir die harte Arbeit in den kommenden Kämpfen auch wirkungsvoll machen können. Ausgangspunkt sollte nicht nur sein herauszuarbeiten, was RISE definiert, sondern auch, was uns mit der Bewegung, die wir wie oben beschrieben entwickeln müssen, verbindet. Die Wahlen waren keine einfache Sache, und es gibt viele Menschen, nicht nur in RISE, die einen großen Einfluss als MSPs hätten haben können. Das wird irgendwann noch kommen. Politische Vertretung im Parlament ist wichtig, aber sie ist nichts wert ohne eine außerparlamentarische Bewegung. Wir wollen uns jetzt Aus: Bella Caledonia, http://bellacaledonia.org. uk/2016/05/12/the-future-of-the-left-in-scotland/ http://internationalviewpoint.org/spip.php?article4520 Übersetzung, [Anmerkungen] und Fußnoten: Björn Mer� tens 1 RISE steht für „Respect, Independence, Socialism and Environmentalism“ (Anm. d. Red.) 2 Das schottische Wahlsystem ähnelt dem deutschen, kennt allerdings keine Ausgleichsmandate. Hat eine Partei (hier die SNP) mit den Erststimmen (Wahlkreisstimmen) bereits sehr viele Mandate gewonnen, kann sie durch die Zweitstimmen (Listenstimmen) ihr Ergebnis nicht mehr wesentlich verbessern, die Stimmen wären also „verloren“. RISE rief dazu auf, die Zweitstimme stattdessen anderen Pro-UnabhängigkeitParteien zu geben – u. A. sich selbst –, um das Ja für die Unabhängigkeit zu stärken. [http://tinyurl.com/zlf9dz5] 3 Anspielung darauf, dass einige meinen, die Konservative Partei (die „Tories“) brauche eine „Detox-Kur“ – andere würden es „Modernisierung“ nennen 4 Marketing-Strategie, bei der einer eingeführten Handelsmarke („Brand“) eine neue Identität verschafft werden soll, etwa durch neue Farben, Logos oder Bilder 5 Gemeint ist die Verwandlung in ein neues Nordirland, in dem sich zwei Blöcke in Hass und Gewalt gegenüberstehen Inprekorr 4/2016 15 E u ro pä i s c h e U n i o n Wenn der „Plan B“ der „Plan A“ ist Die „Konferenz für einen Plan B“, die vom 19. bis 21 Februar 2016 in Madrid stattfand, ist die wichtigste internationale politische Initiative im Europa der Austerität und folgte anderen Treffen dieses Typs, deren Profil und Publikum stärker beschränkt waren.1 Ziel der Konferenz war es, politische und soziale Alternativen zu formulieren und strategische Debatten auf europäischer Ebene zu initiieren. Josep María Atentas Die Bewegungen, die 2011 ausbrachen, stellten eine Welle globaler Proteste dar. Sie bestanden aus nationalen Bewegungen mit spezifischen Charakteristika, wenngleich sie sich gegenseitig stark beeinflussten und mit ihren Ideen und auf symbolische Weise zusammenkamen. Der Rahmen der Auseinandersetzung der letzten fünf Jahre ist der des Staates und/oder der Nation gewesen (sofern diese beiden nicht zusammenfallen) und war ebenso von der Opposition gegen die staatlichen und regionalen Regierungen wie von der Opposition gegen die Troika geprägt (mehr gegen erstere im spanischen Fall, mehr gegen letztere im Fall Griechenlands und Portugals). Absorbiert vom Ausmaß ihrer jeweiligen nationalstaatlichen Krisen haben die Bewegungen, Organisationen und Kampagnen der Länder der europäischen Peripherie keine Dynamik intensiver internationaler Zusammenarbeit entwickelt, und es gab auch nicht viele erfolgreiche größere Initiativen, die auf eine grenzüberschreitende Verbindung abzielten. Es gab Versammlungen und Projekte, aber alles mit begrenzter Wirkung und wenigen praktischen Folgen. Einige von ihnen waren von den neuen sozialen Bewegungen angetrieben worden, die im Gefolge des 15M aufgetaucht sind, wie die Agora-99-Versammlungen in Madrid (im November 2012) und in Rom (im November 2013). Andere beinhalteten die Zusammenarbeit zwischen 16 Inprekorr 4/2016 den neuen Netzwerken der „Indignados“ und den Resten der Bewegung für globale Gerechtigkeit wie „Firenze 10 + 10“ (im November 2012) oder der „Alter Summit“ in Athen (im Juni 2013). Bis jetzt bleibt die bedeutendste koordinierte Mobilisierung gegen die Krisenauswirkungen der Aktionstag „United for Global Change“ am 15. Oktober 2011 unter der Führung des 15M des Spanischen Staats, aber es gab keine wirkliche Kontinuität. Parallel dazu gab es die traditionelle Unfähigkeit des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB), eine Antwort auf die Austerität zu liefern, die vom Projekt der europäischen Integration aufgezwungen wird, von welchem der EGB auf ideologischer, organisatorischer und ökonomischer Ebene stets massiv abhängig war. Ein abstrakter und einseitiger Europagedanke einerseits und eine Zusammenarbeit durch einen europäischen Pseudo-„Sozialdialog“ andererseits hindern den EGB daran, eine Alternative zum Europa des Kapitals zu formulieren. Die Institutionalisierung der gewerkschaftlichen Aktion hat somit ihre europäische Entsprechung in der Form einer Integration, die der Logik des Projekts Europäische Union unterworfen ist, was zu der Impotenz und Lähmung einer kämpferischen gewerkschaftlichen Aktion auf kontinentaler Ebene führt. Die Schwäche der koordinierten internationalen Aktion kontrastiert mit der Hoch-Zeit der Antiglobalisierungsbewegung von der Geburt dieser Bewegung 1999 beim WTO-Gipfel in Seattle bis 2003/2004. In dieser Zeit war die Bewegung für globale Gerechtigkeit eine eindeutige und sichtbare Akteurin, die fähig war, in erkennbarer Weise auf internationaler Ebene zu handeln, und einen symbolischen Referenzpunkt darstellte. Die Welle der globalen Gerechtigkeit war weitaus „epidermaler“ als die Empörung über die Austerität seit 2011 und kratzte nur an der Oberfläche der gesellschaftlichen Struktur, aber sie stellte sich per Definition in die internationale Arena und demonstrierte eine beispiellose, wenngleich vergängliche Dynamik auf dieser Ebene. Von 2005 an hörte die Bewegung für globale Gerechtigkeit auf, ein Referenzpunkt und ein Katalysator für so- E u ro pä i s c h e U n i o n zialen Widerstand zu sein. Internationale Kampagnen und Mobilisierungen verloren ihren zentralen Stellenwert und ihre Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren. Die Achse der Proteste verschob sich hin zum Nationalstaat und zur lokalen Ebene. Die wichtigsten Strukturen der Bewegung für globale Gerechtigkeit wie die Sozialforen haben den Kontakt zu den nationalen Realitäten verloren und sich von den realen Prozessen entfernt. Das Erbe der Hoch-Zeit der Bewegung ist jedoch nicht verschwunden, denn es findet sich in vielen thematischen und sektoralen internationalen Initiativen (Kampagnen, globale Aktionstage, …), aber mit geringerer Wirkung und einer beschränkten Basis von Aktiven. Die Ausnahme war 2009 die Geburt der Bewegung für „Klimagerechtigkeit“ im Gefolge des COP-15-Gipfels in Kopenhagen, die von ihrer hohen Sichtbarkeit profitierte und auf ein gewisses Echo stieß (das sich in ungleicher Weise während der folgenden Gipfel fortsetzte), allerdings mit dem Problem, nicht mit dem nationalen und lokalen Widerstand gegen die neoliberale Austerität verbunden zu sein, wo der soziale Ausnahmezustand die ökologische Neuformulierung des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells überschattet hat. Gegenwärtig sind der Nationalstaat und die internationalen Ebenen verschoben: einerseits gibt es Bewegungen und Organisationen mit einer engen sozialen Basis, die auf internationale Aktionen zielen und nicht mit den konkreten nationalstaatlichen und lokalen Mobilisierungen verbunden sind, und andererseits kämpfende Bewegungen, die sich angesichts der Planierraupe der Haushaltskürzungen auf die nationalen und lokalen Bedürfnisse konzentrieren. Daraus ergibt sich eine doppelte Herausforderung: dem internationalen Aktivismus Wurzeln zu verleihen und die nationalen Kämpfe über die Grenzen hinaus zu treiben. In anderen Worten, das Nationale und Lokale mit dem Internationalen und Europäischen zu verbinden und umgekehrt. All dies tut der Bedeutung mancher Erfahrungen der internationalen Proteste im Herzen des Europas der Austerität, wie der Blockupy-Tage seit 2012, keinen Abbruch: Formen der Koordination, die nicht sehr sichtbar sind, aber nützlich für den Austausch von Erfahrungen; Organisationen, die sich als Teil des „Internationalen Netzwerks für ein Bürgeraudit“ (ICAN) für öffentliche Schuldenaudits einsetzen; und besonders die wachsende und anhaltende internationale Kampagne gegen das TTIP, die größte und globalste aktuelle Initiative, die gewissermaßen das Erbe der Bewegung für globale Gerechtigkeit mit dem der Phase kombiniert, die mit der Krise von 2008 und der Explosion der Massenbewegung von 2011 begann. Auch hat die Geopolitik des sozialpolitischen Widerstands nicht zu einer internationalen Verbindung beigetragen, weil ihr Epizentrum die Länder der Peripherie sind, mit Griechenland, Spanien und Portugal an vorderster Front, mit einem relativ niedrigen Grad der Internationalisierung ihrer Bewegungen und sozialen Organisationen und einer begrenzten realen und symbolischen Kapazität, eine Dynamik der Europäisierung des Kampfes anzutreiben. Dies kontrastiert mit der Periode der Antiglobalisierungsbewegung: Damals gab es Frankreich (von den Streiks von November/Dezember 1995 gegen die „Reform“ der Sozialversicherung bis zur Massenexplosion 2006 gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE, der darauf abzielte, junge Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse zu treiben) und Italien (vom Gegengipfel in Genua im Juli 2006 über die Demonstrationen der CGIL im März 2002 gegen die Änderung von Artikel 18 des Arbeitsgesetzes, die den Unternehmern Entlassungen erleichtern sollte, bis zur Antikriegsbewegung 2003). Diese beiden Länder befinden sich gegenwärtig in einer Situation mit einem geringen Grad an sozialem Widerstand, der Zersetzung der politischen Linken und des Aufstiegs der extremen Rechten in Frankreich und demagogischer Alternativen ohne Inhalt in Italien. Frankreich und Italien spielen eine wichtige Rolle, nicht nur in der europäischen Geopolitik, sondern auch in der Linken selbst. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Europäisierung der Kämpfe schwieriger aus der iberischen und hellenischen Peripherie als von der französisch-italienischen Achse heraus zu bewerkstelligen ist. Über den Bruch nach SYRIZA nachdenken „Plan B“ entstand durch den Schock über die Kapitulation von Tsipras gegenüber der Troika, die wirklich kaltes Wasser auf die Hoffnungen nach Veränderung goss, aber auch eine Quelle für strategische Lehren war … damit man nicht zweimal über denselben Stein stolpert, auch wenn der fragliche Stein auf einem anderen Weg und in einem anderen Land liegt. Während der Periode der Antiglobalisierungsbewegung zog der soziale Widerstand die notwendige „politische Frage“ nicht in Betracht. Er war nicht auf die Bildung neuer politischer Instrumente ausgerichtet und verblieb in einer Logik der Selbstgenügsamkeit und der sozialen Bewegungen. Die Strömungen der Bewegung stellten sich entweder in die Perspektive der Beeinflussung der Institutionen Inprekorr 4/2016 17 E u ro pä i s c h e U n i o n (durch moderate Methoden des Lobbyismus oder durch Straßenmobilisierungen) oder in eine Logik des „die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (laut dem Titel des bekannten Buches von John Holloway), orientiert auf den Exodus oder eine permanente Gegenmacht. Trotzdem hat auch die Radikalisierung der Antiglobalisierungsbewegung günstigere Bedingungen für die Linke gegen den Neoliberalismus geschaffen und das Aufkommen von politischen Parteien und Initiativen begünstigt, mit verschiedenen programmatischen und organisatorischen Kristallisierungen, die die Unzufriedenheit einer Minorität der Gesellschaft zum Ausdruck brachten. Aber die Versuche, sie auf EU-Ebene zu verbinden, gingen nicht über formale Verbindungen oder einfache Diskussionsrahmen hinaus. Auf dem Gebiet der Kräfte, die sich im Milieu der Kommunistischen (oder postkommunistischen) Parteien entwickelten, wurde die Europäische Linkspartei (ELP) gegründet (ohne die griechische KKE und die portugiesische PCP), unter der politischen und moralischen Autorität zuerst der italienischen Rifondazione Comunista (Bezugspunkt dieses politischen Felds vom Gegengipfel in Genua im Juli 2001 bis zu ihrer Selbstopferung, als sie 2006 in die Regierung Prodi eintrat) und dann der Partei „Die Linke“ im Jahr 2007. Aber die ELP ist nicht über das Stadium hinausgegangen, ein Raum für Gipfeltreffen nationalstaatlicher politischer Kräfte zu sein; sie hat nur eine geringe europäische Sichtbarkeit, eine geringe Fähigkeit zu gemeinsamer Aktion, enorme Widersprüche und strategische Beschränkungen sowie eine Abhängigkeit von den Bedürfnissen und taktischen Wendungen der momentan führenden Partei. Im Bereich der antikapitalistischen Linken entstand ab den frühen 2000er Jahren die Konferenz der Europäischen Antikapitalistischen Linken (EAL). Mit einem beträchtlichen Einfluss der französischen LCR (im Europäischen Parlament seit 1999; ihr Präsidentschaftskandidat Olivier Besancenot erreichte 2002 4,3 % der Stimmen) und unter Beteiligung der Scottish Socialist Party, des portugiesischen Linksblocks und der dänischen Enhedslisten (die letzten beiden auch Mitglieder der ELP), von Rifondazione Comunista in den frühen Stadien und verschiedenen kleineren Kräften aus anderen Ländern, hielt die EAL einige Jahre lang regelmäßige Versammlungen in begrenztem Format ab, führte aber weiter zu nichts. 2008, bei Gelegenheit des 40. Jahrestags des Mai 68 und inmitten des Prozesses der Bildung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) durch die LCR in Frankreich, kam es zu neuen Treffen radikaler Kräfte. Aber die folgende Krise und der 18 Inprekorr 4/2016 Niedergang der NPA sowie auch der Verlust der zentralen Bedeutung Frankreichs in den sozialen Kämpfen, die auf den Ausbruch der Finanzkrise folgten, machten diesem zweiten Versuch ein Ende. Der Druck der spezifischen Bedingungen in jedem Land, die unmittelbaren und nicht immer für alle politischen Kräfte gleichartigen Aufgaben. die nationalstaatliche Logik der Wahlen (mit der teilweisen Ausnahme der Europawahlen), die Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen in der vorausgegangenen Periode sowie Krisen und das Auf und Ab – typisch für eine historische Übergangsphase –, woran eine Reihe von Parteien, die als Referenzpunkt für Teile der Linken dienten (Rifondazione, Die Linke, die NPA und jüngst SYRIZA), litten, erklärt die sehr begrenzte Bilanz der grenzüberschreitenden europäischen Koordination auf der Ebene der politischen Parteien seit Beginn des neuen Jahrhunderts. „Plan B“ erscheint nun als eine sozialpolitische Initiative, in der politische Kräfte und soziale Organisationen koexistieren und wo politische und strategische Diskussionen stattfinden, und zwar in einem Format, das parteipolitisches Denken und sozialen Aktivismus mischt und die Echos der Sozialforen und der Besetzungen von Plätzen und anderen Orten kombiniert. Doch sieht er sich einem Szenario gegenüber, wo die Kräfte zugunsten eines Bruchs mit der Austerität eine sehr ungleiche Entwicklung auf europäischer Ebene zeigen, in sehr verschiedenen Erfahrungen Gestalt annehmen und sich in einem globalen Kontext entwickeln, wo in den meisten Ländern des Kontinents – mit Ausnahme jener, die entscheidende Prozesse von Kämpfen erlebt haben – das soziale Unbehagen von der extremen Rechten kanalisiert wird. Wenige politische Kräfte können heute eine Europäisierung des strategischen Denkens für einen Bruch voranbringen, umso mehr als die Haupterfahrungen an der geopolitischen Peripherie stattfinden – nicht nur der EU, sondern auch der europäischen Linken selbst. Die Hoffnung auf SYRIZA verdampfte in Rekordzeit, und die griechische „Volkseinheit“ (LAE) scheiterte bei ihrem Versuch, eine Verteidigungsalternative zu Tsipras zu bilden. Dem Linksblock in Portugal fehlt eine ausreichende Reichweite in Europa, und Podemos hatte seit ihrer Gründung über ihre Beziehung zu SYRIZA und zu einigen Persönlichkeiten der internationalen Linken hinaus noch keine aktive Politik auf europäischem Terrain. Was die Labour-Strömung von Corbyn oder die schottische Linke für die Unabhängigkeit in Gestalt der im August 2015 gebildeten linken Allianz RISE (Respect, Independence, E u ro pä i s c h e U n i o n Socialism and Environmentalism) betrifft, so befinden sie sich teilweise außerhalb des Umkreises der kontinentalen Dynamik und sind zu weit weg, um den Karren zu ziehen. Die Herausforderungen Nach der Madrider Konferenz sieht sich „Plan B“ mit zwei größeren Herausforderungen im Kontext des Fehlens politischer Kräfte und sozialer Bewegungen konfrontiert, die bislang als Hebel oder als internationaler Motor von Widerstand und Alternativen handeln konnten. Die erste besteht in der Entwicklung einer konsistenten Kritik der Austeritätspolitik und der EU, die nicht auf einen zu oberflächlichen Ansatz begrenzt ist. Es handelt sich darum, mit einer breiten Vielfalt von Auffassungen zu Schlüsselfragen (der Euro, die Analyse der EU, Konzepte des politischen und sozialen Wandels) umgehen zu können, deren fundamentale Übereinstimmung in der Ablehnung des „TsiprasWegs“ der Kapitulation vor der Finanzmacht besteht. Aber dies ist nur der Ausgangspunkt. Das Ziel sollte die Formulierung eines gemeinsamen pluralen strategischen Horizonts sein, der einen alternativen Weg des Bruchs entwickelt – ein Bruch, der die Vorbedingung für einen positiven Wandel ist. Die zweite Herausforderung besteht darin, praktische Aufgaben zu formulieren, die über die bloße Organisierung neuer Versammlungen hinausgehen. Wir müssen internationale Kampagnen oder globale Mobilisierungstage stärken, die eine konkrete Perspektive für einen neuen Internationalismus von unten bieten. Damit kam der Prozess der Europäischen Sozialforen nicht von der Stelle; er war, über die Lancierung des Aktionstags gegen den Irakkrieg am 15. Februar 2003 hinaus, unfähig, von Konferenzen und ihrer Vorbereitung zu einer Phase der Lancierung von Kampagnen und gemeinsamen Aktionen überzugehen. Dazu ist der Aufruf für einen internationalen Aktionstag am 28. Mai 2016 eine exzellente Initiative, die sowohl die Bedeutung der sozialen Kämpfe der letzten fünf Jahre und der Versuche, neue politische Instrumente aufzubauen, zusammenfügt. Die Herausforderung ist so einfach wie ehrgeizig: die Hoffnungen und Anstrengungen über die Grenzen hinaus zusammenzuführen. Varoufakis einen gemeinsamen Aufruf mit dem Titel „A Plan B in Europe“ (https://www.euro-planb.eu), welcher von Mitgliedern des Europäischen Parlaments sowie Mitgliedern von Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund des „Finanz-Staatsstreich“ in Griechenland, durch die von der EZB erzwungene griechische Bankenschließung, fordern die Unterzeichner eine „vollständige Neuverhandlung der europäischen Verträge“. Im Januar und Februar 2016 fanden in Paris, Berlin und Madrid drei Konferenzen statt, auf denen Wege zur Umsetzung linker Alternativen in Europa debattiert wurden. (http://de.rosalux. eu/themen/krisen-und-auswege-von-links/plan-b-plan-bdiem25-welcher-plan-fuer-europa/) Leo Trotzki Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–1939 512 Seiten, gebunden Mit einem Beitrag von Reiner Tosstorff: „Die POUM – Achse einer neuen Internationale?“ Sub.-Preis bis 31.12.2016: 24,80 € ab 1. Januar 2017: 29,80 € ISBN 978-3-89 900-149-5 erscheint Juni 2016 Josep María Atentas ist Professor für Soziologie an der Autonomen Universität von Barcelona (UAB). Übersetzung: HGM � 1 Im Sommer 2015 verfassten Jean-Luc Mélenchon, Stefano Fassina, Zoe Konstantopoulou, Oskar Lafontaine und Yanis Inprekorr 4/2016 19 Dossier: Br a silien PREIS DER KLASSENVERSÖHNUNGSPOLITIK Auf Argentinien folgt nun Brasilien mit der Übernahme Lateinamerikas durch rechte Politiker. Den Grundstein dafür haben die linken Regierungen selbst geliefert. Ein Dossier mit 2 Beiträgen Der unaufhaltsame Abstieg der PT Seite 21 Absetzung von Dilma Rousseff: Was ist los in Brasilien? Seite 27 20 Inprekorr 4/2016 Dossier: Br a silien Zur Einführung: Brasilien nach dem Putsch gegen Rousseff Verwundert schaut die Welt auf den politisch, juristisch und medial betriebenen Putsch in Brasilien, der – nicht nur – dort als institutioneller Staatsstreich gilt, was durch die seit der Amtsübernahme durch Temer bekannt gewordenen Aufzeichnungen auch breit dokumentiert worden ist. Diese belegen, dass viele rechte Abgeordnete und jetzige Minister mit der Amtsenthebung der Präsidenten ihrer eigenen Strafverfolgung wegen Korruption zuvorkommen wollten. Die bisherige Präsidentin Dilma Rousseff war zuvor in beiden Parlamentskammern ihres Amtes enthoben worden. Damit nimmt die Ära der PT-Regierungen ihr trauriges, letztlich aber durch den Werdegang bereits seit Beginn der ersten Präsidentschaft von Lula vorgezeichnetes Ende. Ihr Liebäugeln mit den Märkten und der Rechten führte sie folgerichtig in eine Koalitionsregierung, in der übergreifend alle Klasseninteressen gewahrt werden sollten. Diese Politik, deren erste Maßnahme eine neoliberal gewirkte Rentenreform war, entzog der PT die soziale Basis und verschaffte den Sektoren Auftrieb, die ihr jetzt den Rücken kehren. Die provisorische Regierung Temer betreibt seither eine Verschärfung dieser neoliberalen Politik und stößt deswegen auf wachsende Proteste der bspw. durch die Einschnitte in das Sozialprogramm „bolsa familia“ betroffenen Bevölkerung. Daher und wegen der wachsenden Diskreditierung der zutiefst korrupten neuen Regierung ist eine Revision des Abstimmungsergebnisses bei der in 4 Monaten anstehenden neuerlichen Abstimmung über das Impeachment Rousseffs nicht auszuschließen. MiWe Der unaufhaltsame Abstieg der PT Kampagnen – auf eine Allianz mit Teilen des brasilianischen Großkapitals gesetzt: Vizepräsident wurde José de Alencar von der offen bürgerlichen Liberalen Partei und Besitzer einer der größten Textilkonzerne des Landes. Lula gab eine Garantieerklärung ab, dass er Banken und Unternehmen unangetastet lassen und „bestehende Verträge respektieren“ würde. Folgerichtig gab es Wahlspenden seitens der Großunternehmen, die weit höher als bei den vorigen Kampagnen lagen. Die PT legte dabei auch ihr kämpferisches Profil aus den vorigen Wahlgängen ab und griff lieber auf bezahlte Wahlkampfmanager zurück. Dadurch wurde sie von Millionenspenden und professionellem Marketing abhängig. Lula wurde gewählt, wobei seine Partei und die links stehenden Bündnisparteien jedoch keine Parlamentsmehrheit erzielen konnten. In der Folge schloss die PT Bündnisse mit rechten und offen bürgerlichen Parteien und griff dafür auf die bewährten Methoden brasilianischer Politik – Ämterpatronage und direkte oder indirekte Bestechung Wie konnte es dazu kommen, dass die Rechten – dazu noch in ihrer übelsten Form – wieder solch ein Gewicht im Parlament bekommen konnten? Die Erklärung dafür ist in der Regierungs- und Koalitionspolitik der PT selbst zu suchen. Tárzia Maria de Medeiros und João Machado Bereits bei seiner siegreichen Präsidentschaftskampagne 2002 hatte Lula – ganz im Unterschied zu den vorherigen Inprekorr 4/2016 21 Dossier: Br a silien – zurück, wie 2005 in dem berühmten Skandal um die „geldgefüllte monatliche Kuverts“ („mensalão“) bekannt wurde. Lula und die PT verloren viel von ihrem einstigen Prestige, v. a. unter den Mittelschichten, wodurch sein Mandat allmählich ins Wanken zu geraten drohte. Durch erheblich aufgestockte Sozialmaßnahmen wie der „Bolsa Família“, eines Sozialhilfeprogramms für die Ärmsten, jedoch und einer günstigen Wirtschaftskonjunktur gewann Lula wieder an Popularität und damit auch die folgende Präsidentschaftswahl, auch wenn sich die PT nicht mehr vollständig von ihrem Imageverlust durch den Bestechungsskandal („mensalão“) erholen konnte. Um nach seiner Wiederwahl eine Parlamentsmehrheit und damit die „Regierungsfähigkeit“ zu sichern, ging Lula eine privilegierte Beziehung mit der PMDB, die außer der PT die stärkste Fraktion in Abgeordnetenhaus und Senat stellte, und bot ihnen wichtige Ministerposten an. Diese Allianz überdauerte Lulas zweite Amtszeit und auch unter Dilma Rousseff stellte die PMDB den Vizepräsidenten. Die PT erweiterte ihre Koalition innerhalb des Nationalkongresses um weitere Rechtsparteien, auch solchen aus der religiös-fundamentalistischen Ecke, deren Abgeordnete teilweise der offen reaktionären Evangelikalen Front im Parlament angehören, die gegenwärtig 18% der Sitze aus insgesamt 22 Parteien aus der enorm zersplitterten Parteienlandschaft Brasiliens einnimmt. Diese Abgeordneten vertreten keine spezifische ideologische Richtung, treten aber in der Praxis lautstark gegen die Menschenrechte und die Rechte der Schwarzen, der Frauen und der LGBT auf. De facto geht es ihnen vorwiegend um staatliche Radio- und Fernsehlizenzen und um Steuerbefreiung für die diversen Kirchen. Mit ihren Einfluss in der Unterhaltungsindustrie erreichen die Evangelikalen viele Teile der Gesellschaft und schaffen sich damit ein politisches und religiöses Umfeld. Eduardo Cunha von der PMDB, Präsident der Abgeordnetenkammer und einer der Hauptgegner von Dilma Rousseff, gehört zu dieser evangelikalen Fraktion. Diese Parlamentarier der sog. „Bibelfraktion“ sorgen gemeinsam mit der „Kugelfraktion“ (aus Polizisten und Militärs) und der mit dem Agrarbusiness verbundenen „Ochsenfraktion“ dafür, dass die gegenwärtige Zusammensetzung des brasilianischen Kongresses die reaktionärste seit dem Ende der Diktatur ist. Skurrilerweise waren etliche von ihnen zuvor direkte Verbündete der Regierung Rousseff und waren anschließend mitverantwortlich für 22 Inprekorr 4/2016 deren Niederlage bei der Abstimmung über das Amtsenthebungsverfahren. Lange Zeit glaubte die PT, dass man „ein Omelett braten könne, ohne Eier zu zerschlagen“, will heißen, Politik zugunsten der Ärmsten zu machen, ohne den Interessen der Bourgeoisie zu schaden. Dies ging auch jahrelang gut, indem es punktuelle Verbesserungen für die Ärmsten gab, die sich von der Regierungsübernahme der PT auch einiges versprochen hatten. Aber diese Almosen wurden niemals durch Strukturreformen untermauert, die zu einem dauerhaften wirtschaftlichen oder sozialen Wandel geführt hätten. Vielmehr hing alles davon ab, dass die wirtschaftliche Lage weiter florierte, was aber voraussetzte, dass der Rohstoffexport auf den Weltmarkt ungebremst vonstatten ging, was bis 2012/13 auch der Fall war. Denn seit Regierungen mit neoliberaler wirtschaftspolitischer Ausrichtung in Brasilien an der Macht sind (Collor, Fernando Henrique Cardoso, Lula und Rousseff ), geht der Produktionssektor zugunsten des Rohstoff-Exportsektors zurück und es findet ein Deindustrialisierungsprozess statt. Diese Entwicklung wurde durch den Anstieg von Nachfrage und Preisen der Rohstoffe auf dem Weltmarkt natürlich gefördert und ermöglichte es, relativ unbeschadet über die erste Phase der internationalen Wirtschaftskrise 2008/09 hinweg zu kommen (was notabene auch für andere südamerikanische Länder galt). Nicht nur, dass sich die PT an der Regierung die Praxis der traditionellen politischen Parteien zueigen machte, sie stand sogar Pate für ein Entwicklungsmodell des Landes, das vom wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkt regressiv sowie umweltfeindlich war. Auch wenn sie ihre Wirtschaftspolitik als „Entwicklung neuen Typs“ ausgab, lag der einzig „fortschrittliche“ Aspekt in dem Ansatz, das Wirtschaftswachstum – mit spärlichen Resultaten – durch erhöhte Staatsausgaben ankurbeln zu wollen. Anstelle einer nachdrücklichen industriellen Entwicklung klassischen Stils verfolgte die PT dieselbe Politik wie ihre Vorgängerregierungen und förderte das Agrarbusiness als exportorientierten Rohstoffproduzenten zulasten einer Agrarreform und bäuerlichen Landwirtschaft. Daneben trieb sie mittels des sog. Wachstumsförderungsprogramms (PAC) gigantische Wasserkraftanlagen und den Abbau von Bodenschätzen voran – ganz im Einklang mit den megalomanen Zielen der sog. Infrastrukturinitiative zur regionalen Integration Südamerikas (IIRSA). Diese umweltzerstörerischen Megaprojekte der PT für Brasilien zogen auch die umliegenden Länder Ecuador, Bolivien und Venezuela Dossier: Br a silien in Mitleidenschaft und sorgten für die tiefgreifendsten und blutigsten Gesellschafts- und Umweltkonflikte in der brasilianischen Geschichte seit dem Völkermord der Kolonialisten an den Ureinwohnern sowie für die schwersten Umweltzerstörungen der jüngeren Geschichte. Brasilien hätte unter der PT auch eine andere Rolle auf dem Subkontinent einnehmen können, nämlich alternative Wege zur regionalen Integration zu beschreiten, die die Souveränität der dortigen Völker gegenüber den Interessen der US- und europäischen Imperialisten gestärkt hätten. Stattdessen hat die Regierung es abgelehnt, sich an ALBA und der Bank des Südens zu beteiligen, und vielmehr als subimperialistische Ordnungsmacht gegenüber den anderen Ländern fungiert. Letztlich sind diese Länder in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Brasilien und seinen Investitionen in die Ausbeutung der dortigen natürlichen Vorkommen gedrängt worden. In den letzten Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage und es wurde zunehmend schwerer, die unvereinbaren Gegensätze zu überbrücken, was einen Rechtsschwenk der Regierung zur Folge hatte. Während des Wahlkampfs 2014 hingegen schien sich Rousseff angesichts einer drohenden Niederlage nach links zu orientieren und nahm die Finanzwelt – dabei ausblendend, dass gerade die PT-Regierungen ihr zuvor gekommen waren – die Unternehmer und die Reichen im Allgemeinen aufs Korn. Zwar konnte sie die Wahlen knapp gewinnen, aber die Allianz, die sie mit dem Großkapital geschmiedet hatte, wurde dadurch ernsthaft auf die Probe gestellt. Gleich nach den Wahlen unterminierte sie auch massiv das Vertrauen, das sie unter der einfachen Bevölkerung genoss: Mit ihrer ultraorthodoxen Wirtschafts- und Sparpolitik beschnitt sie die Rechte der Arbeiterklasse, selbst jene, die in der Bundesverfassung von 1988 garantiert waren, indem sie Gesetzesentwürfe einbrachte, mit denen der öffentliche Dienst und die Arbeitsverhältnisse im Ganzen dereguliert und das Demonstrationsrecht unter dem Vorwand der Terrorabwehr beschnitten sowie die staatlichen Investitionen in die Daseinsvorsorge (Bildung, Erziehung und Gesundheitswesen) gekürzt werden sollten. Da die PT jedoch noch immer über Bindungen in die Gewerkschaftsund Basisbewegungen verfügt, stieß diese Politik zum Teil auf Widerstand in den eigenen Reihen, sodass Rousseff diese Pläne nicht in dem Umfang durchsetzen konnte, wie es die Bourgeoisie gefordert hatte. Ihre Politik richtete sich gegen das Volk in der Hoffnung, dafür Unterstützung bei den herrschenden Klassen zu gewinnen, aber sie hatte keinen Erfolg damit. Wie nicht anders zu erwarten, wurde durch die Sparpolitik in einer wirtschaftlichem Umfeld, das ohnehin in der Rezession steckte, diese nur noch weiter verschärft, ohne dass der Staatshaushalt davon irgendeinen Vorteil gehabt hätte, sondern im Gegenteil weiter einbrach. Durch die Wirtschaftskrise wurde dieser Politik der Klassenversöhnung der Boden entzogen und eine politische Krise herauf beschworen. Diese politische Krise wurde durch die fortschreitenden Ermittlungen im Korruptionsskandal durch die Bundespolizei, namentlich – aber nicht ausschließlich – in der sog. „Operation Hochdruckreiniger“, noch verschärft, sodass sie ihrerseits zum Ausgangspunkt einer weiter zunehmenden Wirtschaftskrise zu werden drohte. Auch aus der Führungsspitze der PT waren einige, darunter Lula, in die Ermittlungen verwickelt, daneben Politiker verschiedener anderer Parteien und besonders aus der PMDB, dem bis März wichtigsten Koalitionspartner der PT. Und gerade PMDB-Granden, wie der Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha, waren tiefer in den Skandal verstrickt als irgendein PT-Politiker und eine der vielen Anzeigen gegen ihn war bereits vom Obersten Bundesgericht zugelassen worden und folglich ist er bereits Angeklagter in dem Prozess. Die Krise der PT beschleunigt möglicherweise das Ende eines Zyklus in Südamerika, denn die wirtschaftliche und politische Krise, die die meisten Länder des Subkontinents betrifft, geht auch in den übrigen Ländern mit einem Aufschwung der rechten und konservativen Kreise einher. Erschwerend kommt hinzu, dass die radikalen sozialen und Widerstandsbewegungen, die diese Regierungen hervorgebracht und gestützt haben, inzwischen gelähmt und geschwächt oder desillusioniert sind. Das eigene Grab geschaufelt … Angesichts der Gemengelage aus politischen, medialen und juristischen Intrigen, die die brasilianische Szenerie beherrschen, sehen die PSOL und andere soziale Bewegungen, die sich gegen das Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin stellen, darin einen institutionellen Putsch. Es handelt sich dabei nicht um einen klassischen Staatsstreich, da keine Regimeänderung angestrebt wird, wie dies 1964 der Fall war, als der Putsch in eine Diktatur einmündete. Es geht vielmehr um eine tiefe politische Auseinandersetzung, die von Teilen der Bourgeoisie mit dem Ziel angezettelt wurde, die PT an der Präsidentschaft abzulösen. Dabei haben wesentliche Teile der Bourgeoisie die PT-Regierungen unterstützt, solange sie die konzertierte Aktion zwischen den Klassen auf den Weg bringen konnten. Inprekorr 4/2016 23 Dossier: Br a silien Der Vizepräsident Temer, ein unumwunden bürgerlicher Politiker, steht für eine sehr viel sozialfeindlichere Politik als Rousseff. Daher haben der Industriellenverband von São Paulo und andere Unternehmerverbände das Amtsenthebungsverfahren an vorderster Front vorangetrieben. In diesem Zusammenhang verfolgen die bürgerlichen Parteien ihren eigentlichen Zweck, nämlich sich hinter die Interessen der Bourgeoisie zu stellen. Dabei genießen sie die Schützenhilfe der bürgerlichen Medienindustrie. Ein weiterer Aspekt, weswegen alle eher rechten Parteien das Impeachment unterstützen, besteht darin, dass sie sich bessere Bedingungen dafür versprechen, die Ermittlungsverfahren in den Korruptionsskandalen, namentlich bei der „Operation Hochdruckreiniger“, stoppen oder wenigstens begrenzen zu können, was Rousseff nicht geschafft hat. Letztlich sind alle großen bürgerlichen Parteien durch diese Ermittlungen bedroht, zumal bereits etliche ihrer Vertreter unter Anklage stehen. Daher hoffen sie, dass die Massenmedien unter einer neuen Regierung nicht länger auf diesem Thema rumhacken und dass Polizei, Staatsanwälte und Richter sich ebenfalls nachgiebiger zeigen, zumal sie bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, dass sie lieber gegen die PT als gegen andere Parteien ermitteln. Die Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens ist für sich noch kein Putsch, zumal dies auch in der Verfassung des Landes vorgesehen ist. Trotzdem gibt es dabei verschiedene Aspekte, die diese Charakterisierung rechtfertigen. Erstens die massive Kampagne der Massenmedien, die im Verein mit einigen Staatsanwälten und Richter den Ruf der PT (besonders von Lula) und der Regierung ruinieren wollen. Sicherlich sind diese nicht unschuldig, was die Korruptionsbeschuldigungen angeht, und sie tragen Verantwortung für die Verschärfung der Wirtschaftskrise, besonders weil sie die von der Bourgeoisie geforderte Sparpolitik voranzutreiben versucht haben. Aber es gab eine völlige Ungleichbehandlung bspw. zwischen – dem keineswegs unschuldigen – Lula und Cunha, der zumindest bisher sehr viel stärker durch die Bestechungsvorwürfe kompromittiert ist als Lula. Lula wurde – unter großem Medienaufgebot – unter Zwang und auf richterliche Anordnung von der Bundespolizei zum Verhör abgeführt, obwohl er zuvor nicht die Aussage verweigert hatte. Zudem sind etliche seiner Gespräche, auch mit Familienmitgliedern, aufgezeichnet, mitunter illegal verschafft und sattsam öffentlich verbreitet worden. Zweitens ist das juristische Vorgehen in dem Verfahren wenig konsistent. Das der Präsidentin vorgeworfene „Ver24 Inprekorr 4/2016 brechen der politischen Verantwortung“, besonders bei der „kreativen“ Berechnung des Staatshaushalts, entspricht einer bisher gängigen Praxis verschiedener Regierungen auf Ebene der Staaten und des Bundes und wurde auch von Temer, während er vorübergehend als Stellvertreter fungierte, so gehandhabt. Drittens ist der Ablauf des Prozesses absolut grotesk. Betrieben wurde er vom Präsidenten der Abgeordnetenkammer Cunha, der diese Position eigentlich seit Monaten schon nicht mehr innehaben dürfte, da er nicht nur der Korruption und anderer Verbrechen beschuldigt, sondern bereits angeklagt ist, und darüber hinaus sogar das Parlament belogen hat, indem er bestritt, über ausländische Bankkonten zu verfügen. Seither sind noch viel mehr solcher Bankkonten nachgewiesen worden, ohne dass dies Gegenstand der Anklage wäre. Über die Hälfte der Abgeordneten, die der Untersuchungskommission gegen Rousseff angehören, sind in die „Operation Hochdruckreiniger“ verwickelt. Ebenso ein Großteil der Abgeordneten, die das Verfahren gegen die Präsidentin angestrengt haben. Das Amtsenthebungsverfahren ist kein Gerichtsprozess gegen die PT wegen Bestechung, sondern gegen die Präsidentin selbst gerichtet, um sie durch Temer abzulösen, obwohl sie bis dato gar nicht direkt beschuldigt wird. Zwar gab es Mutmaßungen wegen der Finanzierung ihrer Wahlkampagne von 2014, aber dies ist Gegenstand eines anderen, parallel laufenden Verfahrens und würde zur Annullierung ihrer und auch Temers Wahl und zur Ausrufung von Neuwahlen führen. Angesichts der Anschuldigungen gestaltet sich der Versuch der Regierung und der PT, ihre Haut zu retten, ziemlich erbärmlich, indem sie sich nämlich bis zuletzt an die bürgerlichen Politiker anzubiedern versuchen. Auf diesem Feld jedoch sind sie ihren Gegnern klar unterlegen: Eine Regierung Temer ist, was die Vorteilsgewährung angeht, sehr viel attraktiver. Und somit wird die PT zum Opfer ihres eigenen Politikverständnisses. Die Parlamentsabstimmung am 17. April und damit die Zustimmung zum Gerichtsverfahren gegen Rousseff war eine einzige Schreckensveranstaltung und bestätigte, was wir bereits geahnt hatten: Das brasilianische Parlament ist eine nie dagewesene Ansammlung von unpolitischen, konservativen, rassistischen, frauenfeindlichen, fundamentalistischen und illegitimen VertreterInnen. Ihre Erklärungen zum Votum waren wahlweise „Gott, der Familie, den Kindern oder dem Vaterland“ gewidmet. Die Krönung des Ganzen lieferte der Abgeordnete Bolsonaro, der seine Dossier: Br a silien Stimme dem Oberst Ustra widmete, einem der größten Folterknechte und Mörder der Militärdiktatur, der höchstselbst die Präsidentin Dilma Rousseff folterte, als sie in den Kerkern der Diktatur gefangen war, wo Hunderte politischer Gefangene ermordet wurden. Viele Abgeordnete rechtfertigten ihr Votum mit der großen Unpopularität der Regierung und mit den Bestechungsfällen, die der PT zugeschrieben werden. Dies jedoch ist widersinnig: Temer und die PMDB sind den Umfragen nach genauso unpopulär wie die Präsidentin und noch viel direkter in die Korruptionsskandale verwickelt. Etwa 60% der Bevölkerung sprechen sich dafür aus, dass vielmehr beide zurücktreten oder abgesetzt werden sollen. Die PSOL und ihre sechs Abgeordneten haben sich gegen das Amtsenthebungsverfahren gestellt, da nach ihrer Meinung der Prozess illegitim ist und eine einzige Farce darstellt. Auch wenn sich die sozialistische Linke korrekterweise mehrheitlich gegen den Putsch und für die Verteidigung der bestehenden „Demokratie“ in Brasilien ausgesprochen hat, zwingen uns diese Ereignisse, darüber nachzudenken, worin der Unterschied liegt, ob wir für die demokratischen Rechte des Volkes kämpfen oder für den „Demokratischen Rechtsstaat“ und die repräsentative Demokratie. Ein beträchtlicher Teil der brasilianischen Bevölkerung kennt nur den bewaffneten Arm des Staates. Für sie „ist die Demokratie wie eine Art Altar-Heilige, von der keine Wunder mehr erhofft werden“ um mit José Samarago zu sprechen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen, Jugendlichen und Schwarzen, die in den Favelas in einem regelrechten Bürgerkrieg und durch vorsätzliche Verwahrlosung verrecken, haben von der sog. Demokratie und dem Demokratischen Rechtsstaat nie etwas mitbekommen. Wenn man bedenkt, dass die „Demokratie“ „verfolgt, eingeschränkt und amputiert“ wurde und dass die Rechte, die hart erkämpft und durch Ewigkeitsklauseln in der Verfassung garantiert wurden, von einer repräsentativen Demokratie, in der die wirtschaftlich Mächtigen herrschen, vom Tisch gewischt werden, dann bleibt uns nur, für die „Echte Demokratie“ zu kämpfen, so wie es die „99%“ bei ihren Protesten und gegen den Widerstand des 1% der Mächtigen der Welt 2013 getan haben. Nur durch solchen Widerstand lassen sich Fortschritte erzielen. Verhaltene Reaktion von unten In Brasilien gab es bereits einmal nach dem Ende der Militärdiktatur ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Staatspräsidenten, und zwar 1992 gegen Fernando Collor de Melo. Der verlor sein Mandat unter vergleichbaren Vorwürfen wie die jetzige Präsidentin, im Unterschied zu Rousseff wurde er jedoch persönlich verschiedener Korruptionsvorwürfe bezichtigt. Auch damals steckte das Land in einer wirtschaftlichen und politischen Krise. Ein weiterer grundlegender Unterschied liegt darin, dass die damalige Protestbewegung (Caras Pintadas, „bemalte Gesichter“) geschlossen auf die Straße ging und die Bevölkerung einhellig dahinter stand. Gegenwärtig jedoch ist die Stimmung gespalten: Es gibt Befürworter und Gegner des Amtsenthebungsverfahrens, je nach Haltung gegenüber der Regierung, und es gibt daneben andere Proteste auf den Straßen, bspw. gegen die Steuerreform. Insgesamt lassen sich bei den Protesten vier Strömungen ausmachen. Eine davon steht rechts und eint die Sektoren der Bourgeoisie und der Konservativen. Die Linke hingegen ist in drei Lager geteilt: die Brasilianische Volksfront, Das furchtlose Volk und die Aktionseinheit. In der ersten sind politische Parteien wie die PT und die PC do B, die Gewerkschaft CUT, der Studentenverband UNE, die Landlosenbewegung MST und andere Sektoren vereint, die der Regierung mehr oder weniger kritisch verbunden sind. Die zweite setzt sich nur aus sozialen Bewegungen zusammen und ist vom Auftreten und der Zusammensetzung her unabhängiger gegenüber der Regierung und v. a. kritischer gegenüber ihrer Austeritätspolitik und den „Sozialreformen“. Daran beteiligt sind die Obdachlosenbewegung MTST, verschiedene Jugendverbände und kritische Gewerkschaftsverbände. Unterstützt wird sie von Intellektuellen wie dem Befreiungstheologen Frei Betto und von politischen Parteien wie der PSOL. Die dritte vereint linke Gewerkschaften wie die CSP-Conlutas, den Studentenverband ANEL und politische Parteien wie die PSTU (die sich bei der Parlamentsabstimmung enthalten hat) sowie Teile der PSOL. Dieses Abstimmungsverhalten bei dem Amtsenthebungsverfahren hat zu erheblichen Differenzen mit den beiden ersten Lagern geführt. Der Aufschwung der Rechten hat weite Teile der Bevölkerung auf die Straße getrieben, auch Linke, die gegen die Regierung eingestellt sind. Auf der anderen Seite stehen die Bourgeoisie und die konservativen Rechten (einschließlich eines faschistischen Flügels), die gegen die Regierung sind und für das Amtsenthebungsverfahren mobilisieren und die Infrastruktur für diese Mobilisierungen finanzieren. Die von ihnen ausgehenden Demonstrationen bringen mehr Menschen auf die Straße als die Linke. Inprekorr 4/2016 25 Dossier: Br a silien Umfragen zufolge werden diese Kundgebungen vorwiegend von Angehörigen der Mittelschichten getragen, die mit der Regierungspolitik unzufrieden sind und unter der Wirtschaftskrise einen Teil ihrer Kaufkraft eingebüßt haben. Aber auch aus der Arbeiterklasse nehmen Menschen daran teil, weil sie gegen die Sparpolitik der Regierung sind. Die Anführer jedoch kommen aus der rechten Szene und ihre Banderolen sind in den Landesfarben gelbgrün gehalten, als Hinweis darauf, dass sie das „Vaterland“ gegen die „kommunistische Gefahr“ verteidigen wollen. Die Farbe rot wird abgelehnt, was soweit geht, dass Menschen mit roter Kleidung attackiert werden. Eine Aktionsform dieser „Angepassten“, wie sie genannt werden, ist das Schlagen von Topfdeckeln, um so Fernsehaustritte der Präsidentin zu übertönen. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werde, dass der Stern der Präsidentin im Zuge ihrer Sparpolitik zu sinken begann und nicht, als die Korruptionsvorwürfe laut wurden. Die Proteste von 2013, die als die „Junitage“ bekannt wurden, waren ein erster Ausdruck dieser Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Krise. Zusammen mit diesen Massenprotesten führten die Streiks im öffentlichen Dienst und an den Universitäten zu der fortgeschrittenen politischen Krise, wie wir sie gegenwärtig erleben. Dass sich Regierung und PT so schwer tun, die Bevölkerung zu ihrer Unterstützung auf die Beine zu bringen liegt u. a. daran, dass sie wegen der Sparpolitik und der Korruption die Zustimmung der Mittelschichten verloren haben, dass sich die Skandale gerade an der Parteispitze gehäuft haben und dass die PT zu einer reinen Wahlmaschinerie verkommen ist und durch die Aufgabe dieser historischen linken Bezüge die Arbeiterklasse den Angriffen der herrschenden Klassen nunmehr ideologisch entwaffnet gegenüber steht. Perspektiven und Lösungen Für uns als sozialistische Linke ist klar, dass wir mit der herrschenden Krise nichts zu schaffen haben und deren Ursachen daher klar benennen und dagegen kämpfen müssen, dass sie auf den Rücken der Ärmsten abgeladen wird. Die offizielle Position der PSOL ist gegen die Steuerreform und den Abbau der Arbeiterrechte, die Ausgliederung von Betriebsteilen an Sub- oder Fremdunternehmen und die Rentenreform, die geplanten Megaprojekte und die Kriminalisierung der Gegenwehr und andere – auch stillschweigende – Maßnahmen der Regierung gerichtet. Zweifellos stehen uns unruhige Zeiten mit zunehmenden Protesten bevor. […] 26 Inprekorr 4/2016 Auch mit der Amtsenthebung der Präsidentin ist die Entwicklung nicht zu Ende: Die wirtschaftliche und politische Krise wird sich weiter zuspitzen. Die wohl künftige Regierung Temer muss mit starkem Widerstand rechnen und wird zu verschärften Repressionsmaßnahmen greifen und dabei auch auf die Gesetze der Vorgängerregierung zurückgreifen. Angesichts der Diskreditierung des Nationalkongresses und von Temer sollte es dem Volke obliegen, über Plebiszite, Referenden oder allgemeine Wahlen darüber zu bestimmen, wer das Land künftig regiert. In diesem institutionellen Rahmen jedoch wird sich wohl wenig ändern lassen. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Proteste in den Straßen und weiterer Kämpfe und Kampagnen, wie sie bereits im Gange sind. Und dies kann nur über die Bewegungen stattfinden, die bereits jetzt aktiv sind. Ein schwierig zu lösendes, aber entscheidendes Problem liegt natürlich auch in der Einheit der aktuell gespaltenen Linken. Wie werden sich diejenigen verhalten, die sich bisher mit der PT identifiziert haben, verhalten, sobald diese nicht mehr an der Regierung ist? Wir müssen die Kritik an dem Putsch mit dem Kampf für die Rechte der Bevölkerung verbinden und für wirkliche Reformen (Agrarsektor, Stadtentwicklung, Steuerwesen und Politik) eintreten, für die das brasilianische Volk kämpft und schon in der Vergangenheit gekämpft hat, bspw. für eine Landreform zugunsten der indigenen Bevölkerung und der Nachfahren der Sklaven, oder für eine grundlegend andere Umwelt- und Klimapolitik. Ein solcher Widerstand ist elementar, auch um die drohende Kriminalisierung jeder Opposition abzuwenden. Dafür bedarf es dringend einer Einheit der Linken und der sozialen Bewegungen und eines Programms, das auf der Höhe der Zeit ist. Übersetzung aus dem bras. Portugiesischen: MiWe � Dossier: Br a silien Absetzung von Dilma Rousseff: Was ist los in Brasilien? Interview mit Ricardo Antunes. Nach der Abstimmung im Parlament mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit vom 17. April 2016 musste der Senat im Mai mit einfacher Mehrheit der Absetzung („impeachment“) von Präsidentin Dilma Rousseff zustimmen, die 2011 die Nachfolge von Lula angetreten hatte und Ende 2014 für eine zweite Amtszeit bestätigt worden war. Die Gründe für diesen „parlamentarischen Staatsstreich“ und die Analyse der aktuellen Krise stehen im Zentrum des Interviews mit Ricardo Antunes, das am 2. April 2016 in der Zeitschrift für linke Kritik Correio da Cidadania in São Paulo erschienen ist. Nachfolgend umfassende Auszüge aus diesem Interview. Die Fragen stellte Raphael Sanz. Wie analysieren Sie die politische Lage nach dem 4. März, mit der Festnahme von Lula, gefolgt von seiner Ernennung als Minister, und dem Beginn des Absetzungsprozesses von Dilma Rousseff? Kann man von einem parlamentarischen Staatsstreich sprechen? Die Situation unterscheidet sich grundlegend von jener der 1980er-Jahre, dem Beginn der sogenannten „Öffnung“ [in Richtung Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie]. Auf die Wahlen 1989 folgte eine Phase relativer Demokratie, doch 2015 änderte sich die Lage aufgrund verschiedener Faktoren grundlegend. Der erste und wichtigste ist, dass der Zyklus von PT-Regierungen (Lula da Silva, gefolgt von Dilma Rousseff ) zu Ende gegangen war. Den Höhepunkt erreichte die Krise nur knapp ein Jahr nach Beginn der zweiten Amtszeit von Dilma. Wie ist es dazu gekommen? Erstens stützte sich das gesamte PT-System auf die politische Struktur, die Lula, ein Meister der Klassenversöhnung, geschaffen hatte. Zugrunde liegt die Idee, dass Brasilien nur vorwärtskommen kann, wenn es ein Bündnis zwischen den beiden Gesellschaftspolen der Großbourgeoisie aus Finanz, Agroexportwirtschaft, Industrie, Handel und Dienstleistungen – einer schmarotzenden Bourgeoisie, die seit Jahrzehnten dank der Überausbeutung und dem Elend der ArbeiterInnen riesige Reichtümer anhäuft – und der Arbeiterklasse gibt. Geplant war, dass die Reichsten profitieren würden, die Not der Ärmsten gelindert würde und der Mittelstand relative Vorteile erhalte. Warum ist die Versöhnungspolitik Lulas gescheitert? Die PT war sich der Tiefe der 2008 einsetzenden Wirtschaftskrise nicht bewusst. Diese hatte für die BRICSLänder (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) wie auch für Venezuela und andere lateinamerikanische Länder verheerende Folgen. Diese Krise verschärfte sich ab 2013 und noch einmal 2015. Obwohl es um globale Faktoren geht, handelt es sich um eine ungleiche und kombinierte Krise, deren Intensität je nach Weltregion und Land variiert. Vom Norden ausgehend erfasste sie aber letztlich die Länder des Südens und die dazwischenliegenden Länder der Peripherie. Durch die Krise löste sich der PT-Mythos von der Klassenversöhnung und dem, was fälschlicherweise „NeoDevelopmentalismus“ genannt wurde, in nichts auf.1 Der neodevelopmentalistische Mythos fiel zu Beginn der Aufstände vom Juni 2013 in sich zusammen. Der Abbau in Gesundheits- und Bildungswesen und dem öffentlichen Transport zeigte, dass die Fiktion eines Schwellenlandes, das demnächst zur „ersten Welt“ (den kapitalistischen Industrieländern) aufrücken würde, jeglicher materiellen Grundlage entbehrte. Daraufhin entstand eine klassenübergreifende Protestbewegung von unten, bestehend aus der armen Bevölkerung der Randviertel, jungen prekär Beschäftigten im Dienstleistungssektor und Studierenden, die sich ihre Ausbildung an Privatuniversitäten über Sonderstipendien (Programa universidade para todos, Prouni) finanzieren. Letztere waren zum Schluss gekommen, dass alles nur eine riesige Täuschung war und sie nie einen qualifizierten Dauerjob bekommen würden. Der konservative Mittelstand schloss sich der Bewegung ebenfalls an. Die Bewegung fiel gerade in die Zeit des Confederations Cup (Fußball). Der Bevölkerung wurde bewusst, dass Gelder, die für die staatliche Gesundheits-, Bildungs- und VerInprekorr 4/2016 27 Dossier: Br a silien kehrspolitik vorgesehen waren, in die FIFA flossen. Die Organisationen und Parteien links der PT begriffen leider nicht, dass ein wesentlicher Faktor der neuen Bewegung der Kampf gegen die völlig korrupten Institutionen war. So konnte die Rechte von der Unzufriedenheit profitieren. Gleichzeitig wurde die Operation Lava Jato (Hochdruckreinigung) gestartet, die jenen Sektor der PT dezimierte, der öffentliche Gelder für den Wahlkampf unterschlagen hatte. Solche Methoden mündeten in persönliche Bereicherung und politische Korruption, wobei neben der PT auch alle anderen Parteien des Regierungsbündnisses davon profitierten. Dabei entstand ein Interessengemenge, eine Symbiose zwischen der PT und den schlimmsten Teilen der brasilianischen Großbourgeoisie. Eine bessere Regierung konnte sich die Bourgeoisie gar nicht wünschen. Die PT bot eine Art bonapartistische Partei, ohne selbst ihre Wurzeln in der Bourgeoisie zu haben, und garantierte ein Wachstum, das diese seit der Militärdiktatur und der Zeit unter Juscelino Kubitschek (einem developmentalistischen Präsidenten Brasiliens zwischen 1956 und 1961) nicht mehr erlebt hatte. Als sich die Finanzkrise mit aller Wucht bemerkbar machte, einigten sich verschiedene Teile der Bürgerlichen darauf, deren Last auf die ArbeiterInnen abzuwälzen. Sie schrieben Dilma immer rücksichtslosere Maßnahmen wie die Senkung der Arbeitslosengelder, der „Familienbeiträge“ etc. vor.2 Sie vereinbarten aber auch untereinander, wer am wenigsten zur Kasse gebeten werden sollte, denn es war klar, dass in der Krise alle etwas verlieren würden. Dilma gewann 2014 die Wahlen mit der Unterstützung eines Teils der Unternehmerschaft, während der andere die völlig barbarischen Pläne der (rechtsgerichteten) brasilianischen sozialdemokratischen Partei (PSDB) unterstützte. Als nach Dilmas Bestätigung im Amt das ganze Ausmaß der Korruption aufgedeckt wurde, verloren die herrschenden Klassen das Interesse an dieser Regierung. Sie betrieben die Absetzung gemeinsam mit ihren alten Verbündeten in der PT. Sie sagen, dass die PT völlig von der Politik der Klassenversöhnung vereinnahmt ist, durch die sie sich mit Haut und Haar dem Kapital ausgeliefert hat. Heute erhalten sie von diesem einen Korb, weil es kein Interesse mehr an der PT hat und sich die alte Garde zurück an die Macht wünscht, um seine Politik umzusetzen. Wie passt diese Feststellung zur Krise des Lula-PTKurses? 28 Inprekorr 4/2016 Obwohl die Regierung seit 2003 alles getan hat, was die herrschenden Klassen von ihr verlangten, sagen diese nun, „der Moment fürs große Saubermachen ist gekommen“. Eine dienstfertige Regierung soll ausgewechselt und zur Herrschaftssicherung durch eine eigene Regierung ersetzt werden. Schon immer gab es Diskussionen über die Formen der bürgerlichen Dominanz in Brasilien, die zwischen Versöhnung von oben und Staatsstreich schwanken. Die herrschenden Klassen haben 2015 ein Jahr lang darüber nachgedacht, dass sie Dilma loswerden wollen, und jetzt schreiten sie zur Tat. Der FIESP (Industriellenverband des Staats São Paulo), der Febraban (Brasilianischer Bankenverband), die Handelsverbände, die großen Medien – alle betonen, dass sie kein Interesse mehr an der Regierung von Dilma Rousseff haben und der Zyklus der Versöhnung von oben beendet ist. Nun geht es darum, zuzuschlagen – nicht durch einen militärischen Staatsstreich wie 1964. Der aktuelle Staatsstreich wurde in den Wandelgängen des Parlaments angezettelt. Die Frage ist nicht, ob die Absetzung ein Staatsstreich ist oder nicht. Es ist eine in der Verfassung von 1988 vorgesehene institutionelle Maßnahme. Zu einem Staatsstreich wird sie, wenn die Ursachen, unter denen sie angewandt wird, frei erfunden sind. Zum heutigen Zeitpunkt (am 29. März 2016) liegt keinerlei Beweis dafür vor, dass die Regierung Rousseff ein Delikt begangen hätte, das ihren Sturz durch ein Absetzungsverfahren rechtfertigen würde. Die Frage ist nicht, ob dieses rechtmäßig ist oder nicht. Die laufende Absetzung ist eine Farce und durch keinerlei Beweis gerechtfertigt. Es handelt sich heute also um einen Staatsstreich. Nehmen wir an, die Wahlkampfmittel, die 2014 zur Wahl von Dilma und Temer3 geführt haben, stammten aus korrupten Kanälen der Petrobras. Dieselben Mittel sind auch in den Wahlkampf von Aécio Neves (dem Kandidaten der PSDB-Opposition) geflossen. Logischerweise müsste der Oberste Gerichtshof die Wahlen annullieren. Korruption gibt es bei allen bürgerlichen Kandidaturen. Lava Jato ist ein unerlässlicher Verbündeter des parlamentarischen Staatsstreichs. Zuerst führte das zur Verhaftung korrupter Unternehmer, was in Brasilien bisher nicht vorgekommen ist. Danach nahm es aber immer mehr eine politische Wende, nach dem Motto: „Es ist an der Zeit, mit der PT-Regierung aufzuräumen“. So wurden ein parlamentarischer und gerichtlicher Staatsstreich vorbereitet, wofür ein Sondergesetz, allgegenwärtige Medien und ein korruptes Parlament zum Einsatz kamen. Das Parlament, das die Absetzung initiiert hat, ist das korrupteste seit Collor.4 Mit dieser Aussage möchte ich die PT-Regierung nicht Dossier: Br a silien in Schutz nehmen. Für diese Situation ist der Lulaismus verantwortlich. Als Lula Dilma als Nachfolgerin durchsetzte, habe ich betont, dass das ein großer Fehler ist. Selbst wenn sie – bis jetzt – nicht korrupt geworden ist, um sich persönlich zu bereichern, ist sie politisch völlig unfähig. Die Krise des PT-Projekts ist unaufhaltsam. Ich sehe keinerlei Möglichkeit für ein Wiedererstehen der PT als linker Partei. In der PT gibt es wichtige Persönlichkeiten wie Olivier Dutra und Tarso Genro, die nie solchen Praktiken verfallen sind. Trotzdem haben sie sich nie gegen Lulas Stil gewehrt. Um einen Ausweg aus dieser Lage zu finden, müsste die PT sich von den Kreisen trennen, die am stärksten in Korruption verwickelt sind, was eine radikale Kritik des Lula-Kurses und eine definitive Abkehr der PT von diesem Kurs voraussetzen würde. Die Krise sitzt aber so tief, dass diese Verbindung heute lebensnotwendig ist, und es ist der Lula-Kurs, der die PT steuert. Wie beurteilen Sie die Demonstrationen von März? Was denken Sie über die Medienberichterstattung darüber? Eine Maßnahme von solcher Tragweite, bei der eine Staatspräsidentin ohne konkrete Beweise für eine Straftat abgesetzt wird, erfordert die unbeugsame Unterstützung der Medien. In der Woche vor der Demonstration vom 13. März und während des ganzen Tages gab es eine wilde Kampagne in Radio, Fernsehen und Printmedien, bei der die Bevölkerung aufgefordert wurde, auf die Straße zu gehen und die Absetzung der Regierung zu fordern. Die Privatmedien haben den parlamentarischen und gerichtlichen Staatsstreich „popularisiert“. Die Bilder dieser weißen Ehepaare, die aus Sorge um die Zukunft der Kinder in Begleitung ihrer schwarzen Dienstboten zu der Kundgebung gingen, sagen alles. Worauf muss sich die Arbeitswelt im Kontext steigender Arbeitslosigkeit gefasst machen? Wir sind insgesamt an einem historischen Punkt: Gerade wird der Versuch unternommen, den ArbeiterInnen die letzten verbleibenden Rechte zu rauben. Dank der Kämpfe von Gewerkschaften wie der CUT und dank der PT sowie anderer Linksparteien und sozialer Bewegungen wie jener der Landlosen (MST) waren in der Verfassung von 1988 gewisse Rechte verankert. Heute wollen die herrschenden Klassen diese Errungenschaften zunichtemachen. Wenn es keinen Widerstand gibt, wird die Vergabe von Unteraufträgen bei völliger Flexibilisierung und Null-StundenVerträgen zur Norm werden. Es gibt Ärzte, Personal im Reinigungsgewerbe, in der Kommunikation oder anderen Sektoren, die unter einem solchen Vertrag arbeiten. Das ist die „Uberisierung“ der Arbeit. Zum Glück haben wir noch kämpferische Gewerkschaften. CSP Conlutas5, Intersyndicale und Gewerkschaften wie jene der Metallarbeiter von São José dos Campos und von Campinhas, die nationale Lehrergewerkschaft, die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und andere haben sich im Widerstand engagiert. Die noch in der CUT verbliebenen Gewerkschaften stehen von ihrer Basis her unter Druck. Und es gibt soziale Bewegungen wie die MTST (Bewegung obdachloser ArbeiterInnen) oder die Bewegung Pasa Libre (MPL, für kostenlose Verkehrsmittel). Die Landlosenbewegung MST hat starke Basisstrukturen, die oft unabhängig von der nationalen Leitung Besetzungen beschließen. Auch wenn die Umstände insgesamt sehr widrig sind, wird zumindest die Illusion platzen, dass die Regierung von Lula und Dilma „unsere Regierung“ oder „eine kämpferische Regierung“ sei. Der Lulaismus hat die Linke geschwächt, es wurde keine einzige strukturelle Maßnahme zugunsten der Arbeiterklasse ergriffen. Deshalb hat er den Rückhalt in der Bevölkerung weitgehend verloren, auch wenn ein wenig davon, im Lauf der Jahre mit einem charismatischen, messianischen Führer aufgebaut, geblieben ist. Darauf setzt Lula. Es ist seine letzte Karte. Was wird nun die arme Bevölkerung in den marginalisierten Stadtteilen machen (die nicht unbedingt von den Familienbeiträgen profitiert)? Sie ist der städtischen Gewalt, der Brutalität der Militärpolizei (dem militarisierten Teil der Polizei) und einer sehr hohen Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Doch ihr ist bewusst, dass hier ein von der Rechten ausgeheckter Plan vorliegt. Sie weiß, dass die PSDB sie nicht vertritt und die Lage mit den Rechten nur noch schlimmer wird. Gibt es angesichts des fehlenden Auswegs mit dem Lula-PT-Kurs die Möglichkeit einer institutionellen Lösung zur Verteidigung der Regierung? Die ArbeiterInnen wissen, dass unser institutionelles System auf allen Ebenen kompromittiert ist. Der institutionelle Verfall auf Ebene der Exekutive, der Legislative, der Justiz und der Polizei hat ein solches Ausmaß erreicht, dass die Alternative auf keinen Fall aus einer politischen Reform im bestehenden Rahmen hervorgehen kann. Sie kann nur aus einer Bewegung von unten, von der Arbeiterklasse, den sozialen Bewegungen und den Stadtteilbewegungen hervorgehen, die etwas Neues, anderes suchen. In der Linken wird über eine Frage viel diskutiert, die bereits gelöst sein sollte: Was ist am wichtigsten: eine ParInprekorr 4/2016 29 Dossier: Br a silien tei, eine soziale Bewegung oder eine Gewerkschaft? Meine Antwort ist, dass die soziale, gewerkschaftliche oder politische Bewegung am wichtigsten ist, die das Übel an den Wurzeln packt. Beispielsweise haben linke, antikapitalistische Parteien normalerweise eine Vorstellung von der Gesellschaft, die sie anstreben. Sie sagen, man müsse die Korruption bekämpfen, die unter dem Kapitalismus aber nie ganz ausgerottet werden könne. Die Linksparteien wissen also mehr oder weniger, wo sie hinwollen, aber sie haben große Mühe, das Hier und Jetzt zu verstehen. Manche sind zudem viel zu sehr mit Wahlen beschäftigt. Das Land liegt darnieder, seine Institutionen sind korrupt bis ins Innerste. Und die Parteien kümmern sich um ihre Kandidaturen für 2018! Über die sozialen Bewegungen muss man vielleicht das Gegenteil sagen. Sie gehen aus zentralen Anliegen des täglichen Lebens hervor. Die MST fordert Land, um es bearbeiten, davon leben, sich ernähren und überleben zu können. Die MTST fordert ein Dach über dem Kopf, da den ArbeiterInnen ein Mindestmaß an menschlicher Würde fehlt, wenn sie und ihre Familien keinen Ort zum Leben haben. Die MPL kämpft für eine Entprivatisierung des öffentlichen Verkehrs – und so weiter. Die sozialen Bewegungen sind sehr lebendig, aber es wäre von diesen Kräften, die intensiv für ihre Alltagsbedürfnisse kämpfen, zu viel verlangt, ein klares Programm für eine Zukunft jenseits des Kapitalismus auszuarbeiten und zu planen. Wenn man um sein tägliches Überleben kämpft, ist es schwer, eine ausgereifte Vorstellung von der Welt zu haben, die wir wollen. Die Gewerkschaften stehen den unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse näher, verlieren sich aber oft darin oder werden zu Sklaven einer Bürokratisierung und einer Politik von Verhandlungen und Kompromissen. Daher verlieren sie oft den Sinn für die Zugehörigkeit zur Klasse, deren Interesse sie vertreten sollten. Die Herausforderung liegt also nicht darin, zu wissen, was am wichtigsten ist, sondern von unseren aktuellen Mitteln auszugehen. Die autonomen, basisverbundenen klassenbewussten Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen stellen Widerstandsformen dar. Mit der Entwicklung von Versammlungen, Mobilisierungen in Straßen, Fabriken und marginalisierten Stadtvierteln werden sie in der Lage sein, für eine reale, positive Alternative, für eine radikale Ausrichtung zu kämpfen, die eine von der Arbeiterbewegung, den Lohnabhängigen und den sozialen Bewegungen getragene politische Veränderung hervorbringt. 30 Inprekorr 4/2016 Unmittelbar geht es darum, die Farce eines Staatsstreichs mit ihrem Anstrich von Verfassungsmäßigkeit, die im Kern aber illegal und verfassungswidrig ist, abzuwenden. Das ist aber nur der Ausgangspunkt. Bekanntlich breitet sich seit einigen Jahren eine umfassende Konterrevolution aus und extrem rechte Bewegungen gewinnen an Einfluss. Das ist keine Fiktion. Die einzige Kraft, die in der Lage wäre, diesen Prozess abzuschwächen, ist die autonome Organisierung der Bevölkerung von unten mit dem Ziel, eine radikale Politik aufzubauen – und nicht, Wahlen, einen Parlamentssitz oder einen Gouverneursposten zu gewinnen. Die letzte Chance der brasilianischen ArbeiterInnen, einen wirklichen Umschwung bei Wahlen herbeizuführen, ergab sich 2002 mit dem Sieg Lulas. Das Ergebnis ist tragisch. Wir müssen wieder von vorn anfangen, mit sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Bewegungen, die lebendig und in der realen Welt authentisch vorhanden sind, über die Arbeiterklasse und Kämpfe in anderen Bevölkerungsgruppen. Eine von Ihnen vertretene These ist, dass sich die PT ihr eigenes Grab geschaufelt hat, indem sie einer zunehmenden Entpolitisierung und Demobilisierung der Arbeiterklasse Vorschub leistete, was zu einer Schwächung der Linken führte. Was für Lösungen gibt es in der Linken und was halten Sie vom Bündnis „Volk ohne Angst“ (Povo sem Medo)6? Die PT hat an den „Volkskapitalismus“ von Margaret Thatcher, an die Ideologie des Bündnisses zwischen Kapital und Arbeit für das Wachstum des Landes geglaubt. Sie glaubte mit anderen Worten an sehr alte Konzepte und hat das Positivste aufgegeben: ihren Mut und ihre Klassendynamik. Das wichtigste Ereignis des Jahres 2015 in Brasilien war die Bewegung von GymnasiastInnen von São Paulo. Eine verhängnisvolle antisoziale Regierung, die Privatisierungen vorantreibt und vorgibt, die Bildung zu verbessern, sie in Wirklichkeit aber zerstört hat. Die Konsequenz war ein eindrücklicher Aufstand der Schuljugend, der Eltern, des Lehrpersonals und der betroffenen Stadtteile. In São Paulo fühlte sich der PSDB-Bürgermeister, der den Aufstand, der rasch starke Unterstützung aus der Bevölkerung erhielt, provoziert. Das zeigt, was ich vorher gesagt habe: Die Antwort kann nur von organisierten Bewegungen mit großer Autonomie und Unterstützung an der Basis kommen. Die Regierung schloss unter dem Vorwand, die Bildung müsse verbessert werden, Schulen. Dossier: Br a silien Die Mütter der SchülerInnen besetzten diese Schulen, um das Recht auf Unterricht ihrer Kinder in der näheren Umgebung zu verteidigen. Was es braucht, ist eine vorsichtige Diskussion über das Bündnis Volk ohne Angst. So glaube ich, dass die MTST eine der wichtigsten Erfahrungen für die arme Bevölkerung Brasiliens darstellt, denn das erlaubte ihr, sich der enormen Ungleichheiten in unserem Land bewusst zu werden. Die MTST hat Züge einer Bewegung, die die Realität der benachteiligten Stadtviertel ausdrückt. Kürzlich auf einer Konferenz sagte Guilherme Boulos (ein führendes MTST-Mitglied), die Erfahrung mit der Regierung Dilma zeige, dass sich die Politik der Klassenversöhnung totgelaufen habe. Zu ergänzen wäre, dass sich auch der Lulaismus totgelaufen hat, also die Vorstellung, ein Führer könne die Arbeiterklasse ersetzen und „große Politik“ machen, diesmal in der schlimmsten unterwürfigen, bürgerlichen Fratze. Es ist lebenswichtig, dass diese Bewegungen einen Schritt nach vorn machen können. Um nicht nur mit der Politik der Klassenversöhnung zu brechen, sondern auch mit dem Lulaismus, der ihre Autonomie und ihren Kampfgeist zerstören wollte. Wir gehen auf eine sehr schwierige Phase der sozialen und politischen Geschichte Brasiliens zu. Viele der genannten Bewegungen werden eine entscheidende Rolle darin spielen. Man muss klar sagen, dass das mit der PT 1980 entstandene Projekt im Sinn einer linken Politik, die in der Lage ist, für die Überwindung des Kapitalismus und seine immer zerstörerischere Logik zu kämpfen, beendet ist. Die PT ist nicht unbedingt tot, sie könnte eine PMDB des 21. Jahrhunderts werden, die eine für die triste Realität Brasiliens kennzeichnende Ordnungspolitik und Ausplünderung verteidigt. Festzuhalten ist, dass viele Mitglieder, Begründer und Anhänger der PT, auch wenn deren Anzahl zurückgegangen ist, in keiner Weise mitverantwortlich sind für die tatsächlich korrupte Politik, die zur politischen und finanziellen Bereicherung der Partei beitrug und in diese Tragödie mündete. Umgekehrt besteht aber keine Chance, dass die PT selbst als in der Bevölkerung verankerte linke Massenpartei wieder aufersteht. Quellen: Das vollständige Interview auf bras. Portugiesisch: „O pântano no volume morto: degradação institucional brasileira atinge ponto mais agudo“ (http://bit.ly/25HBzIw). Auswahl auf Französisch in l’Anticapitaliste, revue mensuelle du NPA, N°76. Übersetzung aus der französischen Version: Birgit Althaler � 1 Mit „desarrollismo“, d. h. „Developmentalismus“, bezeichnet man die Politik einer nationalen Entwicklung, die in den 1940er- bis 1960er-Jahren von einer Reihe lateinamerikanischer Länder umgesetzt wurde, die sich den imperialistischen Ansprüchen mehr oder weniger widersetzen wollten. Der Begriff „neo“ wurde von manchen (fälschlich, wie Antunes zu Recht betont) ergänzt, um die Politik der heutigen Regierungen zu beschreiben, die als „fortschrittlich“ bezeichnet werden, deren „Zyklus“ nach allgemeiner Ansicht aber völlig ans Ende gekommen ist. Ein Dossier zu diesem Thema findet sich in Nr. 58 (Oktober 2014) der NPA-Monatszeitschrift L’Anticapitaliste). 2 Ein unter Lula eingeführtes Sozialprogramm, das die Auszahlung von Beihilfen an eine Reihe von Bedingungen knüpft, darunter die Verpflichtung, die Kinder einzuschulen. 3 Michel Temer, der gleichzeitig mit der Wahl Dilma Rousseffs zum Vizepräsidenten ernannt wurde, ist ein führender Politiker der PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung). Die PMDB ist die wichtigste brasilianische Rechtspartei, die am Regierungsbündnis der PT beteiligt ist und sie nun fallen gelassen hat. Nach Abschluss des Absetzungsverfahrens hat Temer die Präsidentschaft übernommen. 4 Fernando Collor de Mello, brasilianischer Präsident, der sein Amt 1992 nach einem Absetzungsverfahren niederlegen musste. 5 Zu Conlutas siehe das Interview mit deren internationalem Verantwortlichen Dirceu Travesso (der kurz darauf leider an Krebs verstorben ist) in der Ausgabe 56 (Juli/August 2014) der NPA-Monatszeitschrift L’Anticapitaliste. Auf politischer Ebene wird Conlutas namentlich von der PSTU (Vereinte Sozialistische Arbeiterpartei) und von Teilen der PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) unterstützt. Die ebenfalls erwähnte Intersyndicale wird insbesondere von anderen Teilen der PSOL unterstützt. 6 Das Bündnis „Volk ohne Angst“ wurde vor einigen Monaten von sozialen Bewegungen (insbesondere der MTST, der Bewegung der obdachlosen ArbeiterInnen) und Gewerkschaften gegründet. Es beansprucht für sich, eine unabhängige Haltung gegenüber der von rechts betriebenen Absetzung wie auch gegenüber der Regierungspolitik der PT einzunehmen. Dennoch hat es kürzlich gemeinsam mit der Brasilianischen Volksfront (FBP), die unter Führung der PT steht, Initiativen ergriffen. Ricardo Antunes, Professor für Soziologe an der Universität Campinhas (Unicamp), ist einer der bekanntesten brasilianischen marxistischen Intellektuellen und Mitbegründer der PSOL im Jahr 2004. Inprekorr 4/2016 31 Dossier: Uber Von Uber bis Airbnb: Kapitalismus 4.0 „Das Ziel ist die Wandlung zu einer Gesellschaft, die sich nicht länger durch Besitz, sondern durch Zugang definiert.“ Was steckt hinter diesem Selbstbild der Digitalwirtschaft? Ein Dossier mit 5 Beiträgen Die Angst vor der Uberisierung Seite 33 Von der Kooperative zum multinationalen Konzern Seite 35 32 Inprekorr 4/2016 „Uberisiert“ statt lohnabhängig? Uber – eine rückschrittliche Moderne Seite 40 Seite 45 Sharing Economy – ein neues Anlagefeld für das Kapital Seite 48 Dossier: Uber Die Angst vor der Uberisierung Da sich die Werbeindustrie gegenwärtig gern dazu berufen fühlt, die wirtschaftliche Zukunft zu malen, lassen wir einen ihrer Vertreter, Maurice Lévy vom mithin weltweit größten Werbedienstleister Publicis, zu Wort kommen. In einem Interview mit der Financial Times vom Dezember 2014 meinte er: „Alle Welt hat allmählich Angst davor, ‚uberisiert‘ zu werden.“ Yann Cézard Er fährt fort: „Man glaubt, eines Morgens aufzuwachen und zu bemerken, dass einem die Geschäftsgrundlage abhanden gekommen ist.… Niemals zuvor war die Kundschaft dermaßen desorientiert oder beunruhigt wegen ihres traditionellen Markenzeichens oder Geschäftsmodells.“ Mediapart meint dazu: „Aus Angst, von einem „digitalen Tsunami“ überrollt zu werden, ruft Levy dazu auf, sich einen Ruck zu geben, und liefert eine vorläufige Definition dieses Phänomens der „Uberisierung“, nämlich als Angst der Giganten eines überkommenen Wirtschaftsmodells vor der digitalen Zukunft.“ „Uber“ wird somit zum Inbegriff des Durchbruchs der Digitalwirtschaft im modernen Kapitalismus und des Durchbruchs eben dieses Konzerns innerhalb dieser „Plattformökonomie“. Das kalifornische Unternehmen, das Fahrdienstleistungen vermittelt, verleiht einem Gespenst seinen Namen, das den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts umtreibt. Angeblich könnte die „Uberisierung“ in naher Zukunft sämtliche Hierarchien der kapitalistischen Welt auf den Kopf stellen. Daher grassiert die Angst, es könne zu einem weltweiten „Umschlag“ kommen. Mediapart formuliert dies so: „Ein marktbeherrschendes Unternehmen fühlt sich von einem innovativen Start-up überholt, das sich über das Internet auf baut und mit niedrigeren Preisen die üblichen Gepflogenheiten über den Haufen wirft.“ Über seine „App“ hat Uber mit seiner Flotte „selbstständiger“ Chauffeure eine (bes. in Frankreich) penibel reglementierte Branche einfach übergangen. Das Unter- nehmen wird inzwischen von den Finanzmärkten auf über 50 Milliarden Euro taxiert und damit genauso hoch wie General Motors. „Uber steht symbolisch für alle neuen Internetplattformen, über die Transaktionen und Tauschgeschäfte zwischen den Nutzern abgewickelt werden. Von Airbnb als Hotelier ohne eigene Hotels, über Deezer und Spotify als Musikbörsen oder Drivy als Autovermietung bis hin zu KissKissBankBank für „Crowdinvesting“ – keine Branche wird ausgespart von diesem so verblüffenden wie umstrittenen Wirtschaftsmodell.“ Angeblich stände die Uberisierung kurz davor, sogar die Regeln des Kapitalismus auf den Kopf zu stellen und gar die lohnabhängige Beschäftigung, wie wir sie seit über 100 Jahren kennen, abzuschaffen. Und vor diesem Hintergrund müssen wir uns die eingangs zitierten Worte des Werbemanagers Lévy auf der Zunge zergehen lassen, die daherkommen wie bei einem Amtsstubenleiter, der zugleich Butterbrot und Peitsche verteilt. Wenn der von einem „Ruck“ spricht, meint er nicht nur seinesgleichen, sondern auch die arbeitende Bevölkerung, der er Uber als Drohung und Versprechen zugleich, quasi als Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht in einem, vorhält. In Zukunft lauter kleine Uber? Die dahinter stehende Drohung liegt auf der Hand und sie ist nicht neu. Früher war es im Westen der Feudalherr, der die Entscheidungen getroffen hat. Sie war gottgegeben, diese Welt aus Adligen und Dienern, und man musste sich drein fügen. Als sich mit dem Kapitalismus und der Marktwirtschaft der Liberalismus durchsetzte, war Schluss mit diesem altmodischen Schreckensszenario. Fortan galt der freie Markt – auch für Arbeitskräfte – als die Natur. Später korrigierte Malthus: „Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeck für Alle gelegt.“ Die Katastrophen und Wandlungen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert veranlassten die Ideologen des Marktliberalismus, ihre Diktion ein wenig abzuschwächen. Der Markt bringt die menschliche Natur zur Entfaltung und zur Selbstverwirklichung und ermöglicht ihr zusätzlich, mehr Geld zu scheffeln, aber naturgegeben ist er nicht. Man muss ihn auf bauen und dabei zählt man auf den Staat und seinen Durchsetzungswillen (seine Gesetze und mitunter auch seine Knüppel), um ihn dergestalt bestehen und wachsen zu lassen, dass er die gesamte Existenz der Menschen regelt. Heutzutage werden in New York, Paris oder Brüssel viele Spitzenbeamte und Politiker (reichlich) dafür bezahlt, diese Inprekorr 4/2016 33 Dossier: Uber Aufgabe zu erfüllen. Trotzdem ist es immer ein wenig lästig, wenn die Staatsmacht gar zu augenfällig in Aktion treten muss. Vielmehr braucht es von Zeit zu Zeit ein wenig „nachhaltige“ Belehrungen, um den Menschen Realitätssinn einzubläuen und sie in die Schranken zu weisen. Schaut auf die Konkurrenz und so, die Leute … und gebt Euch einen Ruck! Auch auf die Globalisierung … und auf die neuen Technologien, das Internet, die Digitalisierung, Uber – all dies ist unvermeidlich, modern, die Zukunft. Daher muss es einen Ruck geben! So oder so müsst Ihr dran glauben, also fügt Euch! Außerdem haben Valls, Macron und El Khomri alles dran gesetzt, die Gesetze den neuen Gegebenheiten anzupassen, dafür gebührt ihnen aller Dank. Uber als Inbegriff der Prekarisierung Dabei geht es nicht um jedwede Form von Prekarität, nämlich nicht um befristete oder Zeitverträge, Scheinpraktika oder unfreiwillige Teilzeitarbeit. Vielmehr ist angeblich das gewöhnliche, im Lauf der letzten 200 Jahre aus den Bedürfnissen des Kapitalismus und den Kämpfen der Lohnabhängigen heraus entstandene Lohnarbeitsverhältnis veraltet. Der moderne, „uberisierte“ Arbeiter soll fortan selbständiger Unternehmer sein, der selbst in seine „Aktiva“ (seinen Computer, seine Software, sein Auto oder einfach nur seine Qualifikationen und Kompetenzen) investiert und sie zu Markte trägt. Wir sollen immer weiter dazu angehalten werden, selbständige Arbeiter, Dienstleistungsanbieter und Ich-Unternehmer zu werden, schwärmen manche glühende Vertreter der marktliberalen Denkschule. Nicht nur das unbefristete Arbeitsverhältnis – vom Beamtenstatus ganz zu schweigen – sondern die Lohnabhängigkeit soll als vorherrschende Form und überhaupt als Norm der Arbeit verschwinden. Und zugleich die damit verbundene soziale Absicherung! Wunschtraum der Unternehmer Es gibt aber auch immer mehr Unternehmer und marktliberale „Vordenker“, die in dieser Bedrohung ein Heil sehen und eine gute Neuigkeit für die Gesellschaft, die Welt und den Einzelnen. Die Entwicklung der digitalen Plattformökonomie liefert angeblich den Schlüssel zu neuem Wachstum, indem sie die Preise senkt und Innovationen und neue Geschäftsfelder schafft. Obendrein wird uns dabei gerne ein „grünes Wachstum“ versprochen, da die Internetplattformen 34 Inprekorr 4/2016 doch angeblich ein Wirtschaftsmodell voranbringen, in dem geteilt und wiederverwendet wird, Gebrauchtes neue Besitzer findet oder Gebrauchsgegenstände untereinander verliehen werden und Zugang statt Besitz ermöglicht wird. Und sorgen sie nicht tatsächlich dafür, dass Autos gemeinsam genutzt werden statt noch mehr die Umwelt zu verpesten, Wohnungen getauscht oder vermietet werden statt immer mehr Betonburgen zu bauen, die nur saisonal von den Touristen genutzt werden? Und ist es nicht besser, Gebrauchsgegenständen ein neues Leben einzuhauchen statt sie wegzuwerfen? Tatsächlich sind die einschlägigen Magazine für Manager und Geschäftsleute voll von hochtrabenden Worten über die künftige Wirtschaftsentwicklung, die neues Wachstum und Ökologie vereinen soll. Hört man die Start-up-Unternehmer und die notorischen Steuerbetrüger in den Konzernetagen bei Google und Facebook daherreden wie Anti-AKW-Aktivisten, wird die ganze Heuchelei offenbar. Dort ist von „green washing“ die Rede, d. h. ich übertünche meine die Umwelt verpestenden Geschäftsfelder mit grüner Farbe, oder von „share washing“, wenn Transaktionen, die den größtmöglichen Reibach bringen, plötzlich als „Teilen“ verkauft werden. Da der Mensch nicht vom Brot allein lebt, malen uns diese Jünger eines neuen Kapitalismus vom Schlage Uber noch einen ideologischen Überbau. Freiheit lautet dafür das Stichwort, ein altbekanntes Lied dieser liberalen Ideologen, das sie singen, wenn sie den Markt meinen und das Recht auf schrankenlosen Profit. Die Freiheit „des freien Fuchses im freien Hühnerstall“, hat Lenin dies genannt. Diesmal gehen sie zu weit. Diese neuen Technologien sind angeblich eine Einladung an den Kapitalisten, sein Unternehmen ohne die geltenden lästigen Gesetzeszwänge zu betreiben, an den Verbraucher, die Anbieter in noch mehr Konkurrenz untereinander zu treiben, an den Arbeiter, sich als Ich-AG neu zu erfinden und an den Nutzer, der zugleich Verbraucher und Arbeiter ist, sich in einen permanenten Unternehmer zu verwandeln, der „seine Aktiva verwertet“ – sein Auto, seine Wohnung oder seine Haarschneidemaschine. Dies alles in einer flachen, hierarchiefreien und „gleichberechtigten“ Wirtschaft und auf einem weltweiten Markt, wo die Individuen absolut frei sind, nach Belieben zu tauschen und Verträge zu schließen. Vorausgesetzt natürlich, dass der Staat sie endlich mit seinen Gesetzen, Bestimmungen und Steuern in Ruhe lässt! Dossier: Uber Wahrhaftig lassen Uber und Konsorten die hemmungslosesten wirtschaftsliberalen Denker davon träumen, dass unsere Zukunft unter kalifornischer Sonne reift, wo High-tech-Schmieden ein neues Zeitalter schaffen, in der das Geld vom Himmel regnet. Allerdings lässt Uber neuerdings auch die Alarmglocken schrillen: All diese absurden Versprechungen klingen plötzlich hohl angesichts der dort praktizierten brutalen Vorgehensweise. Das positive Moment dieser Plattformökonomie könnte darin liegen, dass wir uns Gedanken über die Zukunft der Arbeit machen müssen. So wie auf der einen Seite die Auguren des neoliberalen Kapitalismus von den rosigen Aussichten der Digitalwirtschaft, einer Wirtschaft 4.0, träumen, so könnten wir gehalten sein, unsere Perspektiven einer künftigen Gesellschaft zu überdenken. Dann hätte Uber doch etwas Gutes. Übersetzung: MiWe � Die Nebel lichten … Uber, das ist zugleich das Glücksversprechen für die Wirtschaftsliberalen und der soziale Albtraum für die Anderen. Beide Projektionen müssen entmystifiziert und im Licht der Realität betrachtet werden. Dafür bedarf es einer Betrachtung, wie die digitale Sharing Economy überhaupt funktioniert. Besteht ein Unterschied zwischen dem Bösewicht Uber und anderen guten und fortschrittlichen Plattformen und wohin tendiert die künftige Entwicklung? Darauf versuchen wir eine Antwort zu geben, indem wir zunächst einen Überblick über das weite Spektrum der Internetplattformen geben. Des Weiteren widmen wir uns der Frage, ob die Plattformökonomie für manche ArbeiterInnen wirklich eine Chance darstellt, den Folgen von Krise und Arbeitslosigkeit zu entrinnen und ob hier neue Arbeitsformen entstehen, die die Lohnabhängigkeit tendenziell zurückdrängen. Insofern befassen wir uns kurz mit der Entwicklung der Lohnarbeit (in Frankreich), der Zunahme von Prekarisierung und Scheinselbständigkeit und den leeren Versprechungen der „uberisierten“ Zukunft. Dass sich dieses System weltweit durchsetzen könnte, ist ein Hirngespinst, das obendrein wenig erbaulich für die Lohnabhängigen wäre. Was hingegen zutrifft, ist, dass sich die Bourgeoisie dieses Phänomens bedient, um zu verunsichern und die Rechte der Beschäftigten in den Unternehmen weiter einzuschränken und die Arbeitsbedingungen noch mehr zu flexibilisieren. Eine Politik, die freilich seit über dreißig Jahren betrieben wird, ohne dass es dafür Uber gebraucht hätte. Wie die Politik die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchsetzung dieses Geschäftsmodells gegen die „klassische“ Regulierung etwa der Personenbeförderung schafft und wie die Industrie darauf reagiert, nämlich als Chance für neue Anlagefelder, darauf geht der letzte Beitrag dieses Dossiers kurz ein. Von der Kooperative zum multinationalen Konzern Was haben Couch-Surfing, BlaBlaCar, (die Plattform für kostenlose Kleinanzeigen) LeBonCoin und die Giganten der „neuen digitalen Wirtschaft“ wie Uber und Airbnb gemein? Und was eint Airbnb (die Agentur für Ferienwohnungen) und Uber, der zunehmend als ausbeuterischer und betrügerischer Raubtierkapitalist in die Kritik gerät? Yann Cézard All diese Internetplattformen firmieren unter dem Label der „Sharing Economy“ – im Unterschied zu den anderen Internetunternehmen wie Google oder Amazon. Diese Vertreter der Digitalwirtschaft stellen ihre Plattformen im Internet zur Verfügung, um den NutzerInnen den Kontakt untereinander zu erleichtern – „von gleich zu gleich“, wie es dort so schön heißt. In der Tat reibt man sich die Augen, welche Worte plötzlich in den Internetforen zu lesen sind. Linke Basisinitiativen träumen dort vom Teilen und von Umweltschutz, gar vom Ausstieg aus Kapitalismus, Wachstumszwang und Konsumfetischismus. Andere wiederum versprechen eine Inprekorr 4/2016 35 Dossier: Uber neue wirtschaftsliberale Revolution, wo jeder zum Unternehmer (seiner selbst) wird und mit allem freihändigen Handel treibt, ob mit der eigenen Haarschneidemaschine oder dem Rasenmäher, mit der eigenen Wohnung oder dem Auto – oder mit seinen beruflichen Kompetenzen. Ein entkrampfter Kapitalismus, der flexibler und agiler, effizienter und v. a. profitabler ist und sowohl ein bislang unerreichtes Wachstum und als auch die ökologische Revolution verspricht. Ein Paradebeispiel auf diesem Jahrmarkt der Träume ist die Familie Kisciusko-Morizet: Der Bruder Nicolas scheffelt Millionen als Internethändler mit PriceMinister.com; die Schwester Nathalie, deren neuer Liberalismus den Kern des Programms in den offenen Vorwahlen der Rechten (Les Républicains) in Frankreich bildet. Innerhalb des Spektrums dieser Sharing Economy im Internet gibt es gewaltige Unterschiede, die nicht nur den Umfang der Geschäfte und die Zahl der NutzerInnen betreffen, sondern auch die Funktionsweise als Wirtschaftsmodell, also ob der Zugang kostenlos ist, ob gegen Geld getauscht wird, ob die Plattform auf professioneller oder ehrenamtlicher Basis betrieben wird, ob sie sich aus Vermittlungsgebühren oder Werbung finanziert, usw. Stehen sich also auf der einen Seite das Modell Uber und auf der anderen Seite die online betriebene Vertragspartnerschaft von bäuerlicher Landwirtschaft und Abnehmerhaushalten gegenüber? In einem Dossier der Monatszeitschrift Alternatives Economiques vom November 2015 heißt es hierzu: „Demnach gäbe es in der Sharing Economy Gute und Böse: Die tugendhaften Akteure, die den Gründungsgedanken dieser Branche befolgen, nämlich Umweltvorsorge und Schaffung nicht hierarchischer sozialer Beziehungen auf der einen Seite; und auf der anderen die Gauner, die die ursprüngliche Philosophie dieser Bewegung pervertieren, um Steueroptimierung und Sozialdumping zu betreiben und dabei auf der Welle des Sharings segeln.“ Der Autor fügt natürlich hinzu, dass die Dinge „nicht so einfach liegen“ und spricht von „Grauzonen“. Zeichnet man eine Landkarte der Sharing Economy im Internet, ließe sich leicht unterscheiden, wo die „Gutmenschen“ sitzen, die kostenlosen Tausch betreiben, und wo die knallhart kapitalistischen Unternehmen sitzen, die entweder Provision kassieren (Airbnb) oder – schlimmer noch – neue Arbeitsformen extremer Ausbeutung entwickeln, ohne selbst dabei das mindeste „wirtschaftliche Risiko“ zu tragen und obendrein noch Steuern und Sozialabgaben umgehen (Uber). Wenn man den Dingen 36 Inprekorr 4/2016 aber auf den Grund gehen will, genügt es nicht, eine solche Auflistung der Idealisten einerseits und der Ausbeuter andererseits zu machen, sondern es bedarf eines Aufrisses der – kurzen – Entwicklungsgeschichte dieser Branche, um zu erkennen, wer und was sich durchsetzt und letztlich den Reibach macht. Dabei stößt man auf ganz unterschiedliche Verläufe. Ideen teilen ist einfacher … Nehmen wir Wikipedia als Beispiel. Die kostenlose Internetenzyklopädie wurde 2001 auf dem sog. WikiPrinzip gegründet, das Ward Cunningham 1995 erfunden hat: ein Arbeitspapier oder eine Rohfassung, zu der jeder Nutzer beitragen und Änderungen nach seinem Gusto vornehmen kann, wobei die Änderungen in ihrem Verlauf sichtbar gemacht werden. Die Initiative, die anfänglich von einer kleinen Anhängerschar sympathischer Verfechter einer Demokratisierung des Wissens getragen wurde, hat sich rasch nach dem Schneeballprinzip entwickelt, als die hierfür kritische Größe erreicht worden war. Dazu ist eine Mindestzahl von MitarbeiterInnen und Erzeugnissen notwendig, um diese Website interessant zu machen und neue MitarbeiterInnen anzuziehen und schließlich auch „ExpertInnen“ oder Betroffene zu zwingen, sich damit zu befassen. Wikipedia hat mittlerweile auf seiner englischen Website fünf Millionen Einträge und ist bei vielen Recherchen unter den Gemeinsterblichen zwischen 7 und 77 Jahren unumgänglich geworden, wenn auch nicht unumstritten, aber das trifft ja auf alle Ausgangspunkte für Recherchen zu. Inzwischen gibt es zwei Millionen „Wikipedianer“, die freiwillig mitwirken. Um dieses exponentielle Wachstum zu ermöglichen, musste jedoch das berühmte Problem des „Wirtschaftsmodells“ und der Eigentumsrechte an der Website geregelt werden. Ursprünglich schwebte dem Gründer eine ganz klassische Enzyklopädie vor, in der die Beiträge von Fachleuten geschrieben und validiert würden und die kostenlose Nutzung im Internet durch Werbung finanziert würde. Diese Ursprungsversion „Nupedia“ funktionierte jedoch nicht und wurde 2003 durch Wikipedia ersetzt, deren Inhalte in „kooperativer“ Manier und lizenzfrei erstellt werden, wobei die Spontanbeiträge in gewisser Weise zertifiziert werden. Die Finanzierung läuft nicht über Werbung, sondern über Spenden, die durch die Anerkennung der Wikimedia-Stiftung in den USA als gemeinnützig steuerlich absetzbar sind. Ganz anders ist die Geschichte von Couch-Surfing, das 2003 gegründet wurde, um mittellosen, aber abenteuerlus- Dossier: Uber tigen Reisenden eine Unterkunft auf einer „Sofaecke“ zu ermöglichen, vorausgesetzt, man selbst beherbergt im Gegenzug andere Reisende. Nach eigenen Angaben zählt die Plattform inzwischen zehn Millionen Mitglieder. So wie Wikipedia ist Couch-Surfing in seinem Marktsegment beherrschend. Die Gründer jedoch haben ihre hegemoniale Position als Vorreiter auf dem entsprechenden Marktsegment anders genutzt. Während die ersten Nutzer noch von Reisefieber und der Lust auf Neues und nicht vom Drang nach Geld geprägt waren und dachten, dass CouchSurfing nur von Spenden und ehrenamtlicher Tätigkeit lebt, kam 2011 der Schock. Der nicht kommerzielle Verein wurde aufgelöst und seine „Aktiva“ (Website, Namen, Kundendaten etc.) in ein neues Privatunternehmen überführt, das in der US-amerikanischen Steueroase Delaware ansässig ist. Entsprechend intransparent sind inzwischen die Rechenschaftsberichte, alles dreht sich um Profitabilität, Werbung wird geschaltet und unter den Kunden gilt mittlerweile ein Zweiklassensystem mit kostenpflichtigen Zusatzleistungen. Ein trauriger – mithin gar erbärmlicher – Triumph der Kommerzialisierung. …als Dinge zu teilen So kommen wir zu der Überzeugung, dass Digitalwirtschaft und Sharing Economy, sobald es um materielle Güter und Dienstleistungen statt um patentfreie Ideen und Wissen geht, und sobald die Plattformen eine kritische Größe erreicht haben, fatalerweise dazu neigen, sich mit dem Großkapital zu verbinden und eher wie Couch-Surfing als wie Wikipedia zu enden. Einer der dahinter stehenden Mechanismen ist die bereits genannte kritische Größe. Durch die Internetplattformen ist ein massenhafter und komplikationsloser Handel ermöglicht worden. Man kann inzwischen seine Wohnung oder sein Auto durch verbindliche Buchungen unbekannten Menschen anvertrauen, wobei die Plattformen zusätzlich bestimmte (kostenpflichtige) Garantien wie Versicherungen, Nutzerprofil oder Bewertungen anbieten können. Sobald eine Plattform durch die Zahl ihrer Abonnenten oder Nutzer eine bestimmte Schwelle überschreitet, wird sie interessant. Fortan treten Menschen, die einander nicht kennen, in eine Tauschbeziehung und werden weniger von Idealismus getrieben als von einer gewissen Pfiffigkeit, Schnäppchenjäger machen sich breit, zusätzliche Einkommensquellen sollen gefunden werden und die kleinen (oder auch großen) Besitzer wollen ihre Besitztümer „optimal“ verwerten – von der Schlagbohrmaschine bis hin zur Wohnung. Diese Dynamik führt auf ganz natürliche Weise zum Entstehen von Monopolstellungen. Es liegt auf der Hand, sich bei der Suche nach Angeboten zunächst an die größte Plattform zu wenden. Man nennt dies den Netzwerkeffekt („the winner takes all“) dieser Art von Geschäften, der zwangsläufig auf eine Monopolbildung zusteuert. Um sich als die Plattform für Wohnungsvermietungen oder Mitfahrgelegenheiten schlechthin durchzusetzen, ist Kapital erforderlich sowie Technologie und Arbeitskräfte, womit wir beim Ergebnis wären, nämlich dass der Kapitalismus das Ruder übernimmt. Und wenn wir von Monopolen reden, dann zwangsläufig auch von Profit, Raffgier, Schmarotzertum, Preismanipulation, Machtmissbrauch etc. Damit haben wir es mehr mit Big Business zu tun als mit gegenseitiger Hilfe und nicht erwerbsgetriebenem Teilen, wie es manchen basisbewegten Verbänden vorschwebt. Und dieses Big Business ist sogar fernab des offiziellen ordoliberalen Selbstverständnisses, wonach angeblich eine freie und unverfälschte Konkurrenz herrschen und jedwede Innovation, Herausforderung und unorthodoxer Erfindungsgeist willkommen sein sollen. In diesen Zusammenhang gehört auch der Werdegang dreier anderer Plattformen, nämlich BlaBlaCar, Airbnb und Uber. Von der Mitfahrerzentrale zu BlaBlaCar Hinter der Mitfahrerzentrale steckt der Gedanke, dass ein Nutzer anderen anbietet, sein Auto und die anfallenden Kosten zu teilen, um von A nach B zu gelangen. Unter ökologischen oder gar sozialen Gesichtspunkten mag diese in den letzten Jahren entstandene Praxis ebenso wie das Carsharing (das in Frankreich u. a. in der Hand des eher skrupellosen Unternehmers Vincent Bolloré liegt) durchaus sinnvoll sein, wenn dadurch die Zahl der Autos und Fahrten eingeschränkt wird. Man denke nur an den skandalösen Umstand, dass täglich Millionen Autos mit nur einem Insassen und vier leeren Sitzen durch die Gegend fahren. Ökonomen nennen dies ein „funktionsorientiertes Geschäftsmodell“, wo bspw. die kilometerbezogene Nutzung von Reifen statt der Reifen verkauft werden, Ausrüstungsgüter also gemeinsam genutzt werden und so deren Nutzung den Besitz ersetzt. Noch gibt es zu wenig belastbare Studien zu diesem Modell beispielsweise über mögliche Reboundeffekte, die die Effizienzsteigerung und die positiven Aspekte wieder aufheben. In diesem Beispiel also könnten die Einsparungen dazu genutzt werden, sich ein neues Auto zu kaufen oder Mitfahrgelegenheiten statt der teureren öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. So kostet Inprekorr 4/2016 37 Dossier: Uber etwa die Strecke Paris – Rennes 20–25 Euro per MFG und 60–80 Euro per Zug. Zudem könnte diese Entwicklung von der öffentlichen Hand als Vorwand genutzt werden, die öffentlichen Verkehrsmittel noch mehr zu vernachlässigen. Auf die sich in diesem Zusammenhang aufdrängende Frage, ob es einen „grünen“ Kapitalismus überhaupt geben könne, soll hier nicht eingegangen werden. Das französische Start-up BlaBlaCar hat nach eigenen Angaben 20 Millionen Mitglieder (in Zeiten der Sharing Economy wird nicht mehr von Kunden gesprochen) und ist – mit Ablegern in 19 Ländern – Weltmarktführer auf dem Sektor der Langstrecken-MFG. Der Vorläufer war die Plattform covoiturage.fr (vergleichbar mitfahrgelegenheit.de), die kostenlos und ohne ein bestimmtes „Geschäftsmodell“ funktionierte, wobei damit noch unklar war, wie damit Geld zu verdienen sein könnte. Nachdem die Plattform 2006 von einem gewissen Fred Mazella gekauft worden war, dümpelte sie zunächst weiter vor sich hin, bis 2008 die Wende einsetzte. Da nämlich „wurde den Betreibern klar, dass das Haupthindernis beim Anbieten einer Mitfahrgelegenheit darin liegt, nicht mit Unbekannten reisen zu wollen. Daraufhin wurden mehrere Zusatzfunktionen eingerichtet, nämlich dass die Nutzer ein Personenprofil und ein Foto einstellen und ihre Vorlieben benennen sollten: Raucher oder Nichtraucher, schweigsam (Bla), mäßig gesprächig (BlaBla) oder gar geschwätzig (BlaBlaBla). Eine weitere Neuerung lag in der Einführung eines Bewertungssystems der Nutzer.“ Wie viele andere Plattformen zeigen, wird zumeist ein System von Bewertungen und Nutzerprofilen eingeführt, wenn man persönliche Gegenstände oder Dienstleistungen vermieten will. Laure Wagner, die ehemals erste bezahlte Kraft bei covoiturage.fr und jetzige Unternehmenssprecherin von BlaBlaCar (BBC), raubt auch die letzten Illusionen über dieses Metier der „sharing community“, wenn sie glasklar sagt: „Die Leute suchen keine verwandten Seelen, wenn sie eine Fahrt antreten. Ihnen geht es um eine billige, unkomplizierte und vertrauenswürdige Dienstleistung.“ Nebenbei kann dieses Bewertungssystem dazu führen, dass Mitreisende diskriminiert werden: nicht schön, nicht jung oder nicht weiß etc. Um der Zuverlässigkeit willen müssen seit 2011 auch die Zahlungen, die bis dahin in bar unter den Beteiligten vorgenommen worden waren, über die Plattform abgewickelt werden. Dies senkt die Zahl der Stornierungen, da es keine volle Erstattung des Preises mehr gibt, und schafft zugleich die Basis für die Unternehmensprofite, nämlich 12 % Provision pro Buchung. 38 Inprekorr 4/2016 Damit hatte man endlich ein „Geschäftsmodell“ parat und konnte getrost in das „eiskalte Wasser egoistischer Berechnung“ eintauchen, wie es im Kommunistischen Manifest so schön heißt. Sicherlich ist BBC nicht mit Uber vergleichbar, diesem „Raubtier des Internet“. Nach französischem Recht stellt BBC den Kontakt zwischen Fahrern und Mitfahrern her, die sich die Fahrtkosten teilen. Dies ist legal, da der Fahrer nicht bloß aufgrund der Anfrage des Passagiers seine Fahrt unternimmt und der Fahrer nicht entlohnt wird, sondern eine Kostenbeteiligung erhält, deren Höhe durch die Plattform vorgegeben wird. BBC schafft also keine Gelegenheitstaxifahrer (wie Uber), die von der Plattform ausgebeutet und um die Sozialabgaben gebracht werden. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich um ein (fast wäre man versucht zu sagen: „ehrbares“) kapitalistisches Unternehmen handelt, das Provisionen kassiert und Profite erzielen muss. Damit ist man also näher am Big Business als an der reinen und unbefleckten Sharing Economy. Die Profitabilität und damit die weitere Zukunft von BBC werden entscheidend davon abhängen, ob es seine marktbeherrschende Position beibehalten kann, die ihm fast ein Monopol verschafft, dem der o. g. Netzwerkeffekt zugute kommt. Aus diesem Grund hat sich BBC, noch bevor es rentabel wurde und sein „Geschäftsmodell“ gefunden hat, in andere Länder ausgebreitet. Seit 2009 existiert ein Ableger in Spanien und seither werden andere Plattformen in dieser Branche aufgekauft, bspw. auch Carpooling, der größte deutsche Anbieter, der mit zehn Millionen Mitgliedern genauso groß wie BBC war. Zu diesem Zweck hat die Geschäftsführung weiteres Kapital bei den sog. „business angels“ (Finanzunternehmen, die Risikodarlehen für Existenzgründer gewähren) akquiriert, allein im September 2015 in Höhe von 177 Millionen Euro. BBC gilt nunmehr als sog. Einhorn unter den Start-ups: Ein Unternehmen, das nicht an der Börse gelistet ist und mit über einer Milliarde Dollar taxiert wird. Ob es wirklich so viel wert ist, wird sich zeigen. In jedem Fall war die Weiterexistenz nur möglich, indem man sich auf die Finanzwelt einließ: die Investmentbank, bei der der französische Wirtschaftsund Finanzminister Macron früher tätig war. AirBnB – das kalifornische Geschäftsmodell Das erst 2009 gegründete Unternehmen mit Sitz in San Francisco gilt als die weltweit größte Plattform der Sharing Economy und ist auf die Vermittlung von Unterkünften spezialisiert, indem es Kontakt zwischen Anbietern und Dossier: Uber Suchenden herstellt. Weltweit sind 40 Millionen Nutzer registriert und 1,5 Millionen Wohnungen in 34 000 Städten und 190 Ländern annonciert. Allein im Großraum Paris werden 40 000 Wohnungen angeboten, während es 2009 gerade mal 144 waren. Airbnb bildet das Gegenstück zu Firmen wie (dem gleichwohl kapitalistischen) Couch-Surfing, über das Nutzer kostenlose Übernachtungen an Unbekannte anbieten können, oder GuestToGuest (Wohnungstausch ohne Bezahlung) oder Nightswapping (worüber mit jeder gewährten Übernachtung ein Guthaben erworben wird, das in gleicher Weise über die Plattform einlösbar ist). Der Zuverlässigkeit und Praktikabilität halber haben diese Firmen eine Bewertung für Unterkunft und Interessenten eingeführt mit Parametern, nach denen die Qualität der Unterkünfte bemessen wird, ohne aber eine Bezahlung für die Übernachtungen zu erheben. Die Idee ist vielmehr, ein virtuelles Tauschmittel zu schaffen, eine eigene Währung, die nur innerhalb der Community gilt. Airbnb hingegen hat ein Bezahlungssystem etabliert und erhebt eine doppelte Provision sowohl bei den Vermietern als auch bei den Gästen. Damit ist keine neue Form des Reisens und Konsumierens entstanden, es wird vielmehr den Touristen damit auf viel breiterer Grundlage ermöglicht, statt Hotelzimmer Privatunterkünfte zu buchen. Aber es ist eine neue Form geschaffen worden, sein Eigentum, nämlich die Wohnung, optimal zu verwerten. Airbnb hat sich zu einem neuen Riesen im Übernachtungsgewerbe aufgeschwungen, der im März 2015 auf 20 Milliarden Dollar taxiert wurde und bis 2020 einen Gewinn von drei Milliarden Dollar erzielen will. Damit sackt er einen Teil der Gewinne ein, die früher den Hoteliers vorbehalten waren, und missbraucht dafür seine hegemoniale Position als Vermittler. Ohne selbst auch nur die geringste Summe in die Errichtung von Hotels zu stecken, streicht er eine regelrechte Rente in einer kompletten Wirtschaftsbranche ein. Gemeinsam mit dem homologen Unternehmen Uber verfügt Airbnb damit über die beeindruckende Fähigkeit, Profite zu schöpfen und dabei nahezu alle „wirtschaftlichen Risiken“ auf die Nutzer abzuwälzen, die er bloß untereinander „vermittelt“. Der Fahrdienstleistende, der von Uber abhängig ist, muss sich selbst um sein Fahrzeug und seine Sozialversicherung kümmern, da er „selbständig“ ist. Genauso muss sich der Wohnungsinhaber selbst kümmern, um seine „Aktiva“ auf dem Markt zu verwerten. Von dieser quasi unsichtbaren Arbeit profitiert Airbnb immer mit. Je nach der persönlichen Situation lässt sich sagen, dass der Vermieter dieses System nutzt, um sein Kapital zu verzinsen, oder auf schlaue Weise seinen Urlaub finanziert, indem er währenddessen die freie Wohnung vermietet oder vorübergehend anderweitig unterkommt und vorher die Wohnung blitzblank verlässt etc. Gewieftheit, unbezahlte Arbeit, kleines Gegenmittel der Mieter gegen die überhöhten Mieten in den Großstädten oder aber Spekulation seitens derer, die von diesen hohen Mieten profitieren – all dies kann dahinter stehen und damit ist die Realität vielschichtiger, als die Werbung von Airbnb verspricht, nämlich eine gute Adresse, die sich Reisende und coole und sympathische Gastgeber teilen. Dieser „teilungsbereite“ und dermaßen coole Kapitalismus hat insofern alle Eigenschaften der Monopolherrschaft und des globalisierten Finanzsektors. Die Büros gleichen denen der Finanzmakler: wenig Beschäftigte, hohe Umsätze. Denn so sieht der Kapitalismus unserer Zeit aus und weder die Globalisierung, noch die neuen Technologien noch die neoliberalen Reformen haben die Monopole, Vermögensdynastien und die Couponschneider abgeschafft, allen Ammenmärchen von den Selfmademen unserer Zeit zum Trotz. Im heutigen Kapitalismus sorgen die Renten aus Land- und Immobilienbesitz einerseits und das Wirtschaftssystem mit der Privatisierung des Wissens und des Internets andererseits zunehmend für eine ungleiche Verteilung des Reichtums. Die großen sog. „kollaborativen“ Internetplattformen sind uneingeschränkt Teil dieses parasitären Rentierwesens. Wenig Licht, viel Schatten Mag sein, dass Airbnb ein paar Vorzüge hat: kurzfristig niedrigere Preise, ein bisschen Umweltschutz oder ein wenig Linderung der Krisenfolgen. Aber hinter diesen „Vorzügen“ treten die fatalen Folgen zutage. Airbnb ist ein kapitalistisches Unternehmen ohne sonderliche Skrupel: Um weniger Steuern zu bezahlen, hat es seinen Firmensitz nach Dublin verlagert. Wie viele andere multinationale Internetunternehmen hat es naturgemäß mehr Möglichkeiten, Steuervermeidung zu betreiben. Zudem trägt es zur Immobilienspekulation bei und damit langfristig eher zum Anstieg der Immobilienpreise in bestimmten Städten. Zu diesem Schluss kommt eine Studie dreier Wirtschaftswissenschaftler am Beispiel von Paris, die bei Mediapart erschienen ist, nämlich dass sich diese saisonalen Vermietungen tatsächlich nachteilig auf den Immobilienmarkt auswirken. Da sie rentabler als normale Vermietungen sind, nehmen diese tendenziell ab und somit werden die eingesessenen Bewohner immer mehr aus den zentralen und touristisch interessanten Stadtvierteln Inprekorr 4/2016 39 Dossier: Uber vertrieben. Zudem können die Kaufpreise für Wohnungen leichter nach oben getrieben werden, weil die Käufer für deren Finanzierung die künftigen Einnahmen via Airbnb einkalkulieren. Voraussetzung für all dies ist natürlich, dass die Behörden weiterhin der Steuerflucht der Reichen und der Unternehmen tatenlos zusehen und auch den Immobilienboom treiben lassen – mit all seinen Konsequenzen: Ghettobildung, Verdrängung der Armen aus den Innenstädten, Diskriminierung und Bereicherung der Immobilienmagnaten und der Finanzkonzerne. Wörtlich heißt es in der Studie: „Manche Nutzer haben aus der Dienstleistung ein regelrechtes Geschäft gemacht. (…) 19 % der bei Airbnb angebotenen Wohnungen in Paris werden von Mehrfacheigentümern gehalten. Im Stadtteil Marais sind dies sogar 36 %. Damit sind wir weit entfernt von der Sympathie heischenden Selbstdarstellung des Unternehmens, wonach Studierende und bescheidene Familien damit ihr Auskommen sichern.“ Ob das Plattformunternehmen letztlich zur Steigerung oder Senkung der Immobilienpreise in einer Stadt beiträgt, entscheidet sich entsprechend der Kräfteverhältnisse in der Realwirtschaft aus Stein und Beton zwischen Angebot und Nachfrage. Die Plattform verstärkt nur die bestehende Dynamik. Weit davon entfernt, die Welt zum Besseren zu verändern, stellt sie nur eine zusätzliche Methode dar, sie regelmäßig zu schröpfen. Wenn man also die – freilich erst kurze – Geschichte der Sharing Economy im Internet über die guten Absichten der ehrlichen Verfechter einer Wirtschaft der Teilhabe und über die neoliberalen Ammenmärchen hinaus bilanzieren will, kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis: Von der Mentalität des Teilens über die freie Konkurrenz hin zu monopolistischen Großunternehmen, die mit der schrankenlosen Finanzwelt verbandelt sind; es ist die gesamte Geschichte des Kapitalismus, die wir im Schnelldurchgang erleben. Aber trotz alledem haben diejenigen, die von den Vorzügen einer neuen postkapitalistischen Digitalwirtschaft schwärmen – mag man sie Hippies, Alternativlinge oder Naivlinge nennen – nicht ganz unrecht. Durch die neu eröffneten Möglichkeiten, die in ihnen stecken, lassen uns die digitalen Technologien durchaus ihren Nutzen für eine andere und bessere Welt erkennen, da wir mit ihrer Hilfe Handel und Produktion genauer und effektiver planen können. Zudem wird hinter ihnen das Schmarotzertum der kapitalistischen Konzerne, die ihre Gewinne aus unserer Arbeit, unserem Austausch, unserem Wissen und selbst aus unseren Personendaten (big data) ziehen, viel40 Inprekorr 4/2016 leicht besser sichtbar und somit unerträglicher. Aber dieser Gedanke bleibt natürlich eine Illusion ohne eine wirkliche Änderung der Eigentums- und sozialen Verhältnisse. Die wiederum wird nicht über Algorithmen zu erreichen sein. Übersetzung: MiWe � „Uberisiert“ statt lohnabhängig? Für die ArbeiterInnen bedeutet „Uberisierung“ die Rückkehr der Tagelöhnerei als Scheinunabhängige und wahrhaft Prekäre. Jahrzehnte kollektiver Kämpfe um mehr Rechte für alle werden dadurch infrage gestellt. Camille Lefèbvre Uber steht als Unternehmen stellvertretend für die neue sog. Sharing Economy, die eher „Dienstleistungswirtschaft auf Nachfrage“ heißen sollte, wo Anbieter von Dienstleistungen und Kunden via Internetplattformen oder HandyApps untereinander vermittelt werden. Uber zieht wohl das größte Medieninteresse auf sich, ist aber bei Weitem nicht das einzige dieser Art. Aus Ausfahrern, Fremdenführern und Handwerkern aller Gewerke werden nunmehr scheinselbständige Arbeiter und „Mikro-Unternehmer“. Für sie ähnelt die Uberisierung einer Art Mini-Franchising, wo sie zwar de iure selbständig, de facto jedoch den Unternehmen untergeordnet sind, deren Eigentümer oft erhebliche Profite scheffeln. Insofern ist Uber gewissermaßen zum Symbol einer ganzen Entwicklung geworden, die weit darüber hinaus reicht und letztlich eine erzwungene Rückentwicklung zu prekärer Tätigkeit unter dem Deckmantel der „Selbständigkeit“ beschreibt. Abschied von der Lohnarbeit? Im 19. Jahrhundert vollzog sich der Aufstieg des lohnabhängigen Proletariats. In Frankreich bspw. waren 1962 ca. Dossier: Uber 72 % der Beschäftigten lohnabhängig. Durch die abnehmende Zahl kleiner Einzelhändler und Landwirte hat dieser Anteil weiter zugenommen und liegt heute bei 89 % der berufstätigen Bevölkerung. Somit ist dies nach wie vor die weitaus gängigste, allerdings auch zunehmend instabile Form der Beschäftigungsverhältnisse. Leiharbeitsverträge dürfen zweimal verlängert werden, ohne dass eine Festeinstellung erfolgen muss. Die Zahl der auf unter einen Monat befristeten Arbeitsverträge hat binnen fünfzehn Jahren um 146 % zugenommen. Somit ist der Übergang von der Lohnarbeit zu anderen Beschäftigungsformen notgedrungen für immer mehr Menschen unumgänglich geworden. Seit Beginn dieses Jahrhunderts hat die Zahl der nicht lohnabhängig Beschäftigten ständig zugenommen und liegt inzwischen bei fast drei Millionen oder 10 % aller Erwerbstätigen. Unter diesen drei Millionen haben 1,7 Millionen keine Lohnabhängigen unter sich und etwa 980 000 sind sog. Ein-Mann-Unternehmer. Innerhalb dieser Kategorie finden sich diejenigen, die ihre Arbeitskraft an Unternehmen wie Uber verkaufen. Nahezu nicht betroffen sind Angehörige traditionell freier Berufe wie Ärzte, Architekten, Anwälte etc., sondern ganz überwiegend gering qualifizierte Menschen. Nachdem 2014 die Zahl dieser Mini-Unternehmer explodiert war, ist inzwischen die Tendenz etwas rückläufig. Dies liegt nicht an der Regierung, die beständig versucht, die Menschen dazu zu animieren, sondern eher daran, dass damit alles andere als Unabhängigkeit, Sicherheit und Stabilität für diejenigen verbunden ist, die sich als solche versuchen. Die Abzocke mit der „Selbständigkeit“ Vorausgeschickt sei, dass der Wechsel von der Lohnarbeit in die „Selbständigkeit“ selten freiwillig geschieht. Entweder verursacht die Arbeitsstelle solchen physischen oder psychischen Druck, dass gar keine andere Wahl bleibt, als zu kündigen, oder der Arbeitsplatz entfällt im Zuge „wirtschaftlicher“ Umstrukturierungen, so dass sich die Betroffenen gezwungenermaßen als Ein-MannUnternehmer versuchen. Zumal es immer gängiger wird, im Zuge von Sozialplänen auf „freiwilliges Ausscheiden“ und diese Formen der Scheinselbständigkeit zu setzen als auf Umsetzungen innerhalb des Betriebes. Daneben gibt es all diejenigen, die der Arbeitslosigkeit nur auf diesem Weg entrinnen können, zumal das Arbeitsamt die Betroffenen dazu animiert. Insofern kann sich Uber auch leicht damit brüsten, Menschen aus der Misere geholfen zu haben, und beruft sich dabei auf eine Studie des Marktforschers IFOP, wonach 25 % der Uber-Chauffeure zuvor arbeitslos waren. Um Kosten zu sparen (Sozialabgaben, Mindestlohn, Abfindungen etc.) beauftragen die Unternehmen lieber „Subunternehmen“, wozu gehört, dass sie Scheinselbständige beschäftigen, die realiter der Weisungsbefugnis der Unternehmen unterliegen. Damit haben sie es in der Hand, aus Lohnabhängigen Scheinselbständige zu machen. Dazu passt, dass 8 % dieser Ein-Mann-Unternehmer nach eigenen Angaben auf Aufforderung ihres ehemaligen oder künftigen „Arbeitgebers“ ihr eigenes „Unternehmen“ gegründet haben. Die Realität dieser „uberisierten“ ArbeiterInnen ist zumeist nicht weit von der Lohnarbeit entfernt, zumal sich einzelne juristische Kriterien eines Arbeitsvertrages – die o. g. Weisungsbefugnis – auch bei den „Vertragspartnern“ dieser Plattformunternehmen wiederfinden, die die Erfüllung der Aufträge kontrollieren und ggf. sanktionieren. Damit sind wir weit von einer Selbständigkeit entfernt. Fahrradkurieren bspw. wird zumeist ein Trikot mit Firmenlogo vorgeschrieben und sogar ein Exklusivvertrag mit einer einzigen Plattform, obwohl sie ihre Arbeitsmittel – das Fahrrad – selbst bezahlen müssen. Bei Uber wiederum werden die Preise für die Beförderung seitens der Plattform vorgegeben. Demnach kann die Unternehmensleitung einseitig die Preise senken, um die Chauffeure zu höheren Arbeitszeiten zu zwingen, was wiederum die Profite der Investoren mehrt, wie im Oktober 2015 auch geschehen, als Uber eine zwanzigprozentige Preissenkung vorgenommen hat. Wie eng die Kontrolle über die Chauffeure in Wirklichkeit ist, zeigt auch ein Gerichtsurteil in Kalifornien, das einen Uber-Chauffeur als Lohnabhängigen eingestuft hat, da die Verpflichtung besteht, das Fahrzeug registrieren zu lassen, und die Fahrer von den Kunden zensiert werden und bei ungenügender Bewertung den Zugang zu der App verlieren. Der Selbständigenstatus gewährt also lediglich eine Scheinfreiheit. Im Übrigen fahren nur ein Drittel der Uber-Chauffeure auf eigene Rechnung. Die anderen sind de facto bei Unternehmen angestellt, die in großem Stil die seit dem Aufstand der Taxifahrer restringierten Zulassungen zum Personentransport aufgekauft haben. Die Kehrseiten der „Selbständigkeit“ Der Erwerb der „Selbständigkeit“ ist kein Garant für ein verlässliches und auskömmliches Einkommen. So betreiben statistisch 10 % der selbständigen Fahrer und ein Drittel der Ein-Mann-Unternehmen einen Zweitjob als Inprekorr 4/2016 41 Dossier: Uber Lohnabhängige. Auch in der Armutsstatistik schneiden sie schlechter ab: Gelten unter den Lohnabhängigen 6,5 % als working poor, so sind es unter den Selbständigen 19,5 %. Die Einkommen liegen in Wahrheit weit unterhalb dessen, was mit viel Aufwand propagiert wird. So hat Uber bspw. eine Studie in Auftrag gegeben, wonach seine Chauffeure für 5 Wochenstunden 3600 Euro netto verdienen könnten. Dabei bleiben allerdings die Benzinkosten und der Unterhalt für das Fahrzeug außen vor, so dass sich realiter das genannte Einkommen halbiert. Hinzu kommen noch die Ausgaben für die Sozialversicherung. Am Ende landet man also beim Mindestlohnniveau plus bezahlte Überstunden. Jenseits dieser Studie ist die Realität noch trister. Viele Betroffene beklagen, dass der Lohn noch unterhalb des Mindesteinkommens liegt und die Wochenarbeitszeiten oft 60 Stunden überschreiten. Nach Angaben von Capa VTC, eines kürzlich gegründeten Interessensverbandes der Chauffeure, „erhalten unsere Kollegen maximal etwa 6,5 Euro pro Stunde“ (Mediapart). Bei den anderen EinMann-Unternehmen sieht es nicht besser aus. Die Fahrradkuriere, die durch Paris flitzen, arbeiten 50–60 Stunden pro Woche und erzielen dabei noch nicht einmal den Mindestlohn. Ganz zu schweigen, dass sie ihre Haut dabei riskieren, ohne im Geringsten offiziell gegen Arbeitsunfälle abgesichert zu sein. Die Restaurant-Lieferdienste Tok Tok Tok, Take eat easy, Deliveroo, Stuart etc. dürfen bis zu 200 solcher Ein-Mann-Unternehmer zu solch erbärmlichen Bedingungen beschäftigen. A propos Sozialversicherung. Als Selbständiger führt man viel geringere Beiträge ab als ein Lohnabhängiger: Im Falle der Krankenversicherung liegen diese Beträge bei monatlich 130 Euro resp. 271 Euro. Folge davon ist, dass bspw. eine Selbständige nur 44 Tage bezahlten Mutterschutzurlaub erhält, während eine lohnabhängig Beschäftigte auf 16 Wochen kommt. Insofern werden die Selbständigen dazu gehalten, Zusatzversicherungen abzuschließen, wie bspw. in einem Gesetz von 1994 (loi Madelin) vorgesehen. Bestimmte Freiberufler (Händler, Handwerker etc.) hatten es 1948 abgelehnt, der allgemeinen gesetzlichen Sozialversicherung beizutreten und zahlen auch keine Arbeitslosenversicherung. Das mag damals seine Berechtigung gehabt haben, die aber auf die neue „uberisierte“ Welt keineswegs mehr zutrifft, da hier sehr wohl Arbeitslosigkeit eine ganz konkrete Bedrohung darstellt. Dasselbe gilt für die Altersvorsorge. Konnten sich früher Freiberufler dadurch absichern, dass sie ihren Betrieb verkauften 42 Inprekorr 4/2016 und damit die Rente finanzierten, haben die heutigen Dienstleister in den genannten Gewerben keinerlei dieser Sicherheiten, da sie außer ihrer Arbeitskraft allenfalls noch über ihr Fahrrad oder ihre Handwerkskiste verfügen. Mit dem ihm eigenen Zynismus hat sich Macron im November 2015 zu diesem Thema so geäußert, dass er es als Berufsanfänger allemal vorziehen würde, ein EinMann-Unternehmen zu gründen als arbeitslos zu sein. Für die Betroffenen hingegen ist dies ein Hohn, dass ihnen seitens der Regierung eine solch prekäre Existenz als wünschenswerte Perspektive vorgegaukelt wird. Der Sprecher der Transportarbeitergewerkschaft Unsa-VTC sieht in der bestehenden Lage „eine falsche Hoffnung, die man den arbeitslosen Menschen vorspielt. Nach wenigen Monaten wird ihnen klar, dass sie die Verlierer in diesem Spiel sind.“ Rechtlich unterfüttertes Sozialdumping Seit fast 40 Jahren bemühen sich die Regierungen der Industrieländer darum, die gesunkene Profitrate des Kapitals wieder anzuheben, indem sie die „zu starren“ Beschränkungen des Arbeitsmarktes abbauen, in erster Linie den Kündigungsschutz der Beschäftigten. Zwischen 2000 und 2013 wurde das bestehende Arbeitsrecht allein in diesem Punkt unter den verschiedensten Aspekten siebzehnmal reformiert, ohne dass sich an der Arbeitslosigkeit deswegen etwas geändert hätte. Trotzdem werden immer neue Anläufe zur Flexibilisierung unternommen und in diesem Zusammenhang kommt die Uberisierung als hire-andfire-Prinzip der heftig umkämpften Reform des Arbeitsgesetzes entgegen. Zugleich wertet die Regierung zunehmend das in Mode gekommene Prinzip personengebundener Sozialrechte auf. In dem Gesetzesentwurf von El Khomri findet demnach auch das von dem als Berichterstatter bei der Regierung tätigen Orange-Chef Bruno Mettling vorgeschlagene „individuelle Arbeitskonto“ (CPA) Eingang. Dahinter steckt eine simple Absicht, nämlich dass es kein Arbeitsgesetz mit Schutzbestimmungen für Alle braucht – schon gar nicht, wo alle Welt selbständig wird – wenn künftig die Rechte an die Person und nicht mehr an das Beschäftigungsverhältnis geknüpft sind. Dieses CPA soll nach jetzigem Stand das Ausbildungskonto und den Nachweis über erschwerte Tätigkeiten zusammenfassen und könnte in Zukunft auch die Sozialversicherungsrechte einschließen. Die dahinter stehende Logik liegt in der Aufweichung kollektiver Rechte und ihrer Individualisierung. Demnach wäre jeder Beschäftigte nicht nur für seine „Beschäftigungsfähigkeit“ selbst verantwortlich, sondern Dossier: Uber könnte sich auch noch um seine soziale Absicherung gebracht sehen. Dies ei egal, meint der als Vordenker geltende Nicolas Colin in einem Beitrag für den think-tank Terra Nova vom Oktober 2015 und argumentiert, dass die privaten Versicherungsunternehmen durch die Sharing Economy und die Internetplattformen einen Vorsprung gegenüber der klassischen Sozialversicherung haben werden, was die Abdeckung vieler Risiken angeht, besonders solchen, die mit der Zeitarbeit verbunden sind. Dies mag vorerst noch Minderheitenmeinung sein und so klingen, als sei es die Ausgeburt völlig enthemmter neoliberaler Phantasten, aber nicht umsonst findet sich dies in den Spalten einer als sozialdemokratisch und fortschrittlich geltenden Publikation. Ein Mythos wird wiederbelebt In der Tat probiert der neoliberale Mythos eines marktwirtschaftlichen Systems mit freien, gleichen und vernunftgesteuerten Akteuren, mithilfe der Uberisierung der Arbeitswelt seine Wiederauferstehung zu feiern. Mit dieser ollen Mär wurden schon im 19. Jahrhundert die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus gerechtfertigt. In Frankreich wurden im code civil Arbeitsverhältnisse durch zweierlei Vertragsarten geregelt. Die erste spricht von einer Unterordnung des Lohnabhängigen, regelt also das Dienstleistungsverhältnis zwischen dem Herrn und dem arbeitenden Volke. In der Praxis kam er kaum zur Anwendung. Vielmehr bezog man sich dort auf die zweite Vertragsart, die das Verhältnis unter Gleichen regelt und einen freiwilligen Werkvertrag auf vereinbarter Grundlage beschließt. Hierbei wird also die Subordinationspflicht juristisch verneint. In der Praxis konnte dies zu grotesken Folgen führen, wie ein Urteil von 1866 über das Tragen von Holzpantoffeln zeigt. Dabei wurde einer Arbeiterin ein Drittel ihres Lohnes abgezogen, weil sie in Holzpantinen zur Arbeit gekommen war, was gegen die Betriebsvereinbarung verstieß. Da davon ausgegangen wurde, dass die Arbeiterin aus freien Stücken dieser Vereinbarung zugestimmt hatte, durfte der Unternehmer ihr folglich eine Geldstrafe auferlegen, die zwar unverhältnismäßig, aber regelkonform war. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Arbeitsrecht weiterentwickelt und nunmehr eine bestehende Ungleichheit zwischen den beiden Parteien eines Arbeitsvertrages anerkannt. Erst ab da wurde die Gehorsamspflicht des Lohnabhängigen gegenüber seinem Arbeitgeber zum zentralen Bestandteil des Arbeitsvertrages. Wenn man die juristische und v. a. ökonomische Macht des Arbeitgebers anerkennt, muss man auch zugestehen, dass sie auch eingegrenzt werden muss. Diese Weiterentwicklung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts war die Folge zahlreicher Kämpfe der Arbeiterklasse um ihre kollektiven Rechte. Reformen regnen nicht vom Himmel Es bedurfte vieler Opfer und harter Kämpfe, bis für Alle geltende Grundrechte erreicht waren. Im 19. Jahrhundert wurden die ersten wirklichen Fortschritte für die ArbeiterInnen in der Zeit der Pariser Commune erzielt, als erstmals und bisher auch einmalig ein Arbeitsministerium geschaffen wurde, das im Dienst der ArbeiterInnen stand und auch von ihnen selbst geleitet wurde. So hat die damalige Arbeitskommission bspw. die Nachtarbeit in den Bäckereien verboten. Nach jahrzehntelangen Kämpfen, deren Zahl sich allein zwischen 1870 und 1890 verfünffacht hat, und noch vor dem Aufkommen der Gewerkschaften wurden die sogenannten „Arbeitergesetze“ verabschiedet: 1892 die Reglementierung der Kinder- und Frauenarbeit; 1893 zu Hygiene und Schutz der Arbeiter; 1898 die Verpflichtung der Unternehmer, ihre Arbeiter gegen Arbeitsunfälle zu versichern. Lange Zeit bildeten sie die Basis für den rechtlichen Schutz der ArbeiterInnen. Erst 1910 wurde infolge einer ab 1906 beginnenden Streikbewegung (die namentlich für den arbeitsfreien Sonntag eingetreten ist) der Code du Travail verabschiedet, in dem all diese Gesetze zusammengefasst wurden. Nachfolgend wurden die Schutzbestimmungen für die Arbeiter weiter ausgebaut. Ein grundlegender Fortschritt wurde mit der großen Streikbewegung 1936 erzielt. Außer um Lohnerhöhungen, die 40-Stunden-Woche und bezahlten Urlaub ging es dabei an vorderer Stelle um die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Die Arbeiter wollten, dass der individuelle Arbeitsvertrag in ein die Gesamtheit betreffendes Rahmenwerk eingebettet wird, das dieselben rechte für alle Beschäftigten einer Branche festschreibt. Natürlich war es immer auch implizites Ziel dieser Rechtsreformen, den sozialen Frieden damit zu erkaufen, den gewerkschaftlichen Einfluss zu begrenzen und die „soziale Frage“ wieder in den Schoß des Staates zu legen. Denn dort war ein gesetzlicher Rahmen für die kapitalistische Ausbeutung gewährleistet, wo jeder Unternehmer den Mehrwert herauspressen konnte, indem er seine Macht über die Lohnabhängigen zur Mehrung seines Reichtums ausspielte. Und genau dieser zentrale Aspekt beim Arbeitsverhältnis, nämlich der Schaffung von Reichtum durch die Inprekorr 4/2016 43 Dossier: Uber Arbeiter zum Wohle des Arbeitgebers, wurde in dem erwähnten Gerichtsurteil zur Causa Uber in den USA auf den aktuellen Stand gebracht. Von der Scheinselbständigkeit … In Kalifornien haben die Richter die selbständige Tätigkeit eines Uber-Chauffeurs als faktisches Lohnabhängigkeitsverhältnis eingestuft, besonders weil „die geleistete Arbeit ein integraler Bestandteil des Wirtschaftsmodells des Unternehmens ist, denn ohne diese Arbeiter würde das Business von Uber nicht lebensfähig“. Anhand dieses Kriteriums und nicht bloß mehr dem der Gehorsamspflicht könnten ein Arbeitsvertrag und das Lohnabhängigkeitsverhältnis für alle „uberisiert“ Beschäftigten anerkannt werden. Und noch weit darüber hinaus für alle Zeitarbeiter oder Praktikanten. In Frankreich jedoch galt schon immer die Gehorsamspflicht, die darin besteht, dass eine Arbeit zum Wohle des Arbeitgebers ausgeführt wird, der Anordnungen und Weisungen trifft und deren Ausführung sanktioniert, als zentrales Kriterium des Arbeitsvertrages und dies könnte auch so bleiben. Im September dieses Jahres wird arbeitsgerichtlich über ähnlich gelagerte Fälle in Frankreich entschieden werden. Anhand des G7-Taxiunternehmens weiß man jedoch schon, dass es sehr selten zu gleichgelagerten Urteilen kommt, obwohl der Chauffeur sein Auto mieten und exklusiv für die Taxi-Zentrale fahren muss. Dennoch wäre es in jedem Fall illusorisch, wenn wir unser Heil seitens der Justiz erwarten. Statt auf juristische Auseinandersetzungen sollten alle Beschäftigten wieder auf ihre kollektive Kampfkraft bauen. Denn letztlich zeigt die Betrachtung der realen Arbeitsbedingungen der uberisiert Beschäftigten ganz eindeutig, dass sie von den gleichen Problemen betroffen sind wie die große Mehrheit der Lohnabhängigen: Hungerlöhne und Hetze – und all dies im Dienste eines Konzerns, der sie kontrolliert. Amerika – gelobtes Land? Die Uberisierung marschiert und nichts wird sie aufhalten – so weniger selbständige Arbeiter unter der erwerbstätigen Bevöl- wollen uns die gut bezahlten Propagandisten des Neolibera- kerung als in Frankreich (7–8 % vs. 11 %). lismus glauben machen. Als Beweis führen sie an, dass in den Wenn es eine sprunghafte Zunahme der Freiberufler in den USA die Lohnabhängigkeit auf dem Rückzug sei und die meisten USA gibt, dann ist dies erst seit kurzem der Fall und weist eher neuen Jobs als Freiberufler entstünden, dank der neuen Tech- auf die Ambivalenz des Konjunkturaufschwungs hin. Die Mehr- nologien. heit dieser Jobs liegt im Bereich unqualifizierter und schlecht Die US-Statistiken hingegen belegen dies keineswegs. Zwar bezahlter Dienstleistungen, die sich auf Teilzeitebene bewegen: mag die Zahl der bei Uber registrierten Chauffeure mit einer Mil- 85 % der Uber-Chauffeure arbeiten Teilzeit, oft weniger als 10 lion beeindruckend hoch sein und außerdem arbeiten 30.000 Stunden pro Woche. Die Uberisierung ist größtenteils einer der Ein-Mann-Unternehmer via TaskRabbit in Teilzeit für Nutzer als versteckten Aspekte der Arbeitslosigkeit: Die offizielle Arbeits- Gärtner, Nachhilfelehrer etc. und für Unternehmen. losenquote liegt bei 5,5 %, aber die Registrierung als Arbeitssu- Über einen längeren Zeitraum (2005–2015) betrachtet, chende ist mit 62 % geringer als in Frankreich, da viele resigniert kommt der französische Wirtschaftswissenschaftler Philippe haben. Wenn man die unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten und die Askenazy zu der Feststellung, dass „wenn es eine Tendenz gibt, „Uberisierten“ einbezieht, dann erhöht sich die Zahl der nicht dann vielmehr die, dass die selbständige Beschäftigung zurück- vollbeschäftigten Personen auf 12,6 %. geht (von 11 % auf 10 %) und dass mehrere Jobs nebenher Ob durch unfreiwillige Teilzeitarbeit, Sklavenarbeit oder Pre- ausgeübt werden. Keinesfalls ist es so, wie oftmals in Europa hal- karität – seit 30 Jahren stagniert der Reallohn in den USA und die luziniert, dass die vorrangig lohnabhängige Beschäftigung un- Zahl der Armen ist zwischen 2006 und 2012 von 39,8 auf 46,4 aufhaltsam abnimmt. … Das Gesamteinkommen der Selbstän- Millionen gestiegen. digen zeigt keine klare Tendenz“ (10 % des Mehrwerts 2005, Die Uberisierung ist keine Wunderwaffe zur Schaffung von 9 % in 2010 und 10 % in 2012). Wenn man die innovative und Arbeitsplätzen. Dass sie sich durchsetzen wird, ist eher eine (we- flexible USA mit dem starren Europa (der Fünfzehn) vergleicht, nig tröstliche) Mär, da die kapitalistischen Konzerne sicher nicht ist der Anteil der Freiberufler dort von 9,6 % auf 10,3 % ge- mit Heeren von Selbständigen funktionieren können. Yann stiegen, während er in den USA eher rückläufig ist. Dort gibt es Cézard 44 Inprekorr 4/2016 Dossier: Uber Alle ArbeiterInnen, ob Leiharbeiter oder befristet Beschäftigte, ob selbständig oder lohnabhängig, einschließlich derer, die arbeitslos geworden sind, nachdem man sie wie eine Zitrone ausgequetscht hat, sie alle haben eines gemeinsam, dass sie nämlich die Reichtümer erzeugen, von denen ihre Herren leben. Dieses Bewusstsein, eine soziale Klasse zu sein und auch die Macht zu haben, als solche handeln zu können, muss wiederhergestellt werden. Dabei müssen wir gegen den herrschenden Diskurs angehen, der uns glauben machen will, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, und gegen diese „Uberisierung“, die uns als vorbildlich angepriesen wird und dabei doch nur die Arbeiter atomisieren und auseinander dividieren soll, als wären wir alle Individuen, die nichts miteinander zu tun haben. Diesen Kampf müssen wir führen, wenn wir die Schlachten von morgen gewinnen wollen. untergeordnete Rolle (gespielt), obwohl sie in psychologischer Hinsicht von Bedeutung war (und in diesem Sinne als Mittel zur Lohnsenkung diente)“. Er hielt auch fest, der Maschinenwebstuhl habe „nur als Ausrede“ für eine ganze Reihe von Entwicklungen der Beschäftigung und der Arbeitsbedingungen gedient. „Das Ende von Gewohnheitsrecht und Gewerkschaftsbewegung“ war durchaus nicht wegen der Entwicklung der Technik unvermeidlich geworden, sondern „geht unmittelbar auf die Intervention des Staates zurück. Dies war nur dann ,unvermeidlich‘, wenn wir die herrschende Ideologie und die konterrevolutionäre Stimmung dieser Jahre übernehmen.“1 Obwohl wir weit über hundert Jahre von jener Epoche entfernt sind, ergeben sich schlagende Analogien zur Entwicklung des sogenannten „Transports von Personen auf Abruf “, also der Beförderung durch Taxis. Übersetzung: MiWe � Eine Tradition der Reglementierung Uber – eine rückschrittliche Moderne In Frankreich ist Realität, was in Deutschland noch verboten ist. Einem kürzlich veröffentlichten Bericht der FR zufolge wetzt Uber aber schon die Messer, um die hinderlichen Gesetze auch hierzulande auszuhebeln. Ein Blick auf die Verhältnisse in Frankreich könnte sich lohnen. Henri Wilno In seinem klassischen Buch über die englische Arbeiterklasse behandelt E. P. Thompson eine Epoche an einer Nahtstelle in der Entwicklung der Industrie am Anfang des 19. Jahrhunderts, die Zeit des Wettbewerbs zwischen Maschinen- und Handwebstühlen. Er erklärt, in einer ersten Phase habe der Maschinenwebstuhl „nur eine Diese Tätigkeit ist in Frankreich wie in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern traditionell reglementiert (vgl. www.taxis-de-france.com/historique/index.htm), was mit der Qualität der Dienstleistung und der nötigen Beschränkung der Zahl der Taxis gerechtfertigt wird. TaxifahrerInnen müssen einen Erlaubnisschein und eine Stationierungsbefugnis besitzen, die von der Stadtverwaltung (in Paris die Polizeipräfektur) ausgestellt werden, die auch die Anzahl der Taxis bestimmt. Ein Taxiunternehmen kann mehrere Erlaubnisscheine besitzen und FahrerInnen anstellen, um sie auszubeuten. Die Erlaubnis (gewöhnlich Lizenz genannt) zeigt sich in einer Plakette, die gekauft und verkauft wird und deren Preis in Paris 200 000 Euro übersteigen kann. Die Situation der TaxifahrerInnen ist sehr unterschiedlich: es gibt solche, denen das Taxi und die Lizenz gehören, es gibt Pächter (die das Taxi gemietet haben) und es gibt auch angestellte Fahrer. In ganz Frankreich gibt es 47 000 Taxis, davon 17 000 in der Ile-de-France (Großraum Paris). Unter den Fahrern sind die Angestellten in der Minderheit. Die Einkünfte der TaxifahrerInnen fallen bescheiden aus: Nach verfügbaren Zahlen (siehe www.slate.fr/story/103491/salaire-chauffeurs-taxis-riches-pauvres) sind es etwa 1400 Euro für die PächterInnen, 1600 für die angestellten FahrerInnen und 3000 für die TaxibesitzerInnen (die aber höhere Abgaben entrichten müssen und sich für die Lizenz verschulden). Die Taxis besitzen das Monopol darauf, überall Kunden aufnehmen zu können. Dieses Monopol fällt, sobald es eine Reservierung gibt. Zunächst gibt es die Konkurrenz der VTC (véhicule de Transport avec Chauffeur – Inprekorr 4/2016 45 Dossier: Uber Transportfahrzeug mit Chauffeur), die von ausgebildeten FahrerInnen geführt werden und die nur nach vorheriger Bestellung fahren dürfen. Die Vorgaben für die VTC sind geringer als die für Taxis. Ihre Zahl ist seit der Änderung ihrer Zulassung 2009 deutlich angestiegen: Sie hat sich zwischen 2011 und 2014 um den Faktor 4,6 erhöht; inzwischen gibt es 6500 VTC-FahrerInnen in einem Bereich, der auch von den Pariser Taxis abgedeckt wird.2 Eine Variante dieser VTC rangiert unter den Bedingungen des Inlandsverkehrgesetzes (LOTI).3 Schließlich gibt es auch illegale Taxis. Seit mehreren Jahren steht das Problem mit den Taxis, insbesondere in Paris, auf der Tagesordnung. Es wird vor allem über ihre Zahl gestritten, die angeblich einen Mangel (an Beförderungsmöglichkeiten) hervorruft, vor allem zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten, aber die TaxifahrerInnen sehen in der Beschränkung der Anzahl der Taxis ein Mittel für ein höheres Einkommen und weniger Arbeitstage. Es gab verschiedene Versuche, die Zahl der Taxis anzuheben oder auch die Lizenz abzuschaffen. Seit 2009 besteht die Orientierung eher darin, zu deregulieren und die Zahl der VTC zu erhöhen. Eine gigantische Finanztransaktion Unter diesen Bedingungen kam Uber 2011 auf den französischen Markt. Uber wurde 2009 in Kalifornien gegründet und entwickelt und nutzt Mobilfunkapplikationen, um Kunden mit FahrerInnen zusammen zu bringen; es besitzt keine Fahrzeuge. Sein Marktwert lag 2015 bereits bei 50 Milliarden Dollar; seine Applikationen wurden in über 50 Ländern und über 310 Städten angewandt. In Frankreich ist Uber zunächst in den VTC-Bereich eingestiegen, wobei es von der Ausweitung des Status des freien Unternehmers profitiert hat. In Frankreich soll Uber inzwischen 10 000 FahrerInnen „anstellen“, die 20 % der Einnahmen aus den Fahrten an Uber abtreten müssen. Die Aktivitäten von Uber haben sofort zu Protesten der Taxi-Unternehmen wegen „Schmutzkonkurrenz“ geführt. Es wird auch wegen seiner Steuergestaltung kritisiert, die es ihm ermöglicht, in Frankreich keine Steuern und Abgaben zu bezahlen. Die Rechnungen für die Fahrten werden nicht von der französischen Filiale erstellt, sondern über eine Tochter in den Niederlanden (Uber BV), die das Geld (abzüglich 20 % Provision) an die FahrerInnen auszahlt. Das von Uber BV empfangene Geld wandert sodann in Form einer Gebühr, die an eine Uber international CV genannte Firma bezahlt wird, womit angeblich die von Uber gehaltenen Marken-Rechte 46 Inprekorr 4/2016 bezahlt werden, auf die Bermudas. Die Gebühren bewirken, dass Uber praktisch keine Gewinne macht und somit auch in den Niederlanden keine Steuern bezahlt. Auf den Bermudas aber werden Gewinne erst gar nicht besteuert. In diesen Kreislauf ist auch Delaware eingeschlossen, das Steuerparadies in den USA. UberPop In einer Reihe von Ländern (Belgien, Deutschland, Spanien usw.) sind die Aktivitäten von Uber beschränkt oder verboten. In Frankreich hat die Kritik deutlich zugenommen, als im Februar 2014 im Großraum Paris UberPop gestartet hat, eine App, die es einzelnen Fahrern ermöglicht, mit Kunden zwecks Fahrt durch Paris Kontakt aufzunehmen. Unter dem Druck von massiven Demonstrationen der TaxifahrerInnen und der Anrufung der Gerichte hat der Staat eine doppelte Bewegung vollführt: Die Aktivitäten der VTC wurden gleichzeitig eingegrenzt und kontrolliert (Thévenoud-Gesetz) und UberPop verboten – doch es folgte eine juristische Guerilla-Schlacht und intensives Lobbying durch Uber. UberPop hatte sämtliche TaxifahrerInnen und VTC gegen sich, die die Schmutzkonkurrenz und die fehlende Ausbildung der FahrerInnen anprangerten. Doch diese Dienstleistungen wurden erst im September 2015 nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtes (Conseil constitutionnel) eingestellt. Uber und seine FahrerInnen Doch Uber beschränkt sich nicht darauf, das Transportsystem der Taxis zu destabilisieren, es beutet auch auf bestimmte Weise seine FahrerInnen aus, obwohl man so tut, als handle es sich bei ihnen um unabhängige Besitzer ihrer Arbeitsgeräte. Die Gesellschaft Uber betont immer wieder, sie sei keine Transportgesellschaft, sondern nur „eine vom technologischen Gesichtspunkt aus gesehen neutrale Plattform“; anders gesagt, sie macht ihren FahrerInnen keine Vorschriften, weder im Hinblick auf die Arbeitszeiten noch auf die Mindestanzahl von Fahrten (natürlich sind die FahrerInnen dort auch nicht kranken- oder rentenversichert und Kosten werden auch nicht übernommen). Diese Lage wurde im Juni 2015 von einem Gericht in Kalifornien aufgegriffen: Dadurch, dass Uber bei der Auswahl der FahrerInnen seine Kriterien durchsetzt und sie auswählt, verhält es sich wie jeder „Arbeitgeber“. Außerdem wird die App von Uber, wenn es nicht genügend Beförderungen gibt oder wenn ein Chauffeur binnen 180 Tagen keine Einsätze hat, abgeschaltet. Dadurch übt Uber Dossier: Uber eine disziplinierende Macht über die FahrerInnen aus, gegen die sie keine Einspruchsmöglichkeit haben. Die Rentabilität von Uber hängt davon ab, dass seine FahrerInnen nicht als lohnabhängig angesehen werden. Um gewisse Klagen abzuwehren, die in den USA in diesem Zusammenhang angestrengt wurden, hat Uber Ende April 2016 ein Abkommen vorgeschlagen: Es akzeptiert, den betroffenen FahrerInnen bis zu 100 Millionen Dollar zu zahlen – im Gegenzug verzichten diese dann darauf, ihre Festanstellung einzuklagen. Uber hat seinen Fahrern die Möglichkeit vorgegaukelt, dass sie gute Einkommen erzielen könnten. Doch wie sieht es in Wirklichkeit aus?4 Laut einer im Auftrag von Uber Frankreich 2015 erstellten Studie liegt der durchschnittliche Stundenlohn der FahrerInnen nach Abzug der Provision, die sie an Uber überweisen müssen, bei 19,90 Euro – ein Betrag, der doppelt so hoch ist wie der SMIC (der französische Mindestlohn). Doch wie die AutorInnen der Studie selbst schreiben, kommt dieser Betrag nicht direkt in den Taschen der FahrerInnen an. Denn sie müssen 40 bis 50 Prozent abziehen, um das Benzin und evtl. die Leasing-Gebühren für das Auto zu bezahlen. Daher liegt der Durchschnittsverdienst doch auf der Höhe des SMIC. Doch die AutorInnen der Studie meinen hinzufügen zu müssen, dass die Einkünfte der FahrerInnen höher liegen, denn diese würden auch für andere Plattformen arbeiten (z. B. AlloCab) oder KundInnen auch direkt aufnehmen. Diese Argumentation wurde jedoch auf der Website von BFM TV [eines privaten Fernsehsenders] zurückgewiesen, dadurch ist die Studie vervollständigt worden. Denn auch wenn die FahrerInnen ungefähr 45 Stunden für Uber arbeiten, dürften sie laut Gesetz insgesamt 60 Stunden arbeiten. Wenn man aber annimmt, dass sie dies tun, läge ihr Monatseinkommen bei 4800 Euro. Doch wenn wir ihre Kosten für Benzin und das Auto wieder abziehen, dann verdienen diese für mehrere Plattformen arbeitenden FahrerInnen etwa 2400 Euro monatlich für 60 Stunden pro Woche, was kaum über dem SMIC liegt. In Frankreich hat Uber im Oktober 2015 einseitig eine Senkung des Mindesttarifs um 20 % durchgesetzt. Diese Senkung hat zu Protesten der FahrerInnen geführt. So sagten ChauffeurInnen von Uber in einem Interview mit Le Monde: „Das Benzin kostet ungefähr 500 Euro im Monat, die Versicherung 280 Euro. Die Kosten für den Unterhalt des Fahrzeugs sind variabler, doch wenn man ein technisches Problem hat, kann das leicht 500 Euro kosten. Was bleibt uns dann am Ende des Monats? Fragt sich Hicham. Wir reden hier nicht über den Kauf des Fahrzeugs, denn Uber verlangt, dass die Autos unter vier Jahre alt sind und eine gewisse Ausrüstung haben. „Ich habe für meinen Skoda 37 000 Euro bezahlt“ gibt Hicham an (…). Wie kann man unter solchen Bedingungen weiterarbeiten? „Immer noch besser als Arbeitslosigkeit“, lächelt Mohamed. Bevor er als VTC-Chauffeur angefangen hat, war er zwei Jahre ohne Beschäftigung. Marwan ist seit fünf Monaten bei Uber, er meint: „Wenn man dir einen Job anbietet, was machst du dann? Man sagt ja und investiert. Und dann senken sie von einem Tag zum andern die Preise. Man hat den Eindruck, eine Maschine zu sein.“5 Der Wirtschaftswissenschaftler Yann Moulier-Boutang erklärt: „Darin liegt das Paradox dieser Plattformen – sie verbinden eine sehr entwickelte Technik (Internet, Big data usw.) mit den primitivsten Formen von Marktwirtschaft (…). Würde die öffentliche Hand ihre Arbeit machen (…), also für diese ,bestellten‘ Arbeiter den sozialen Schutz einfordern, dann würde die Rentabilität dieses Modells nicht mehr stimmen (…). Warum sollte man statt einer allgemeinen kapitalistischen Uberisierung sich nicht vorstellen, dass der Staat die öffentlichen Dienstleistungen mit diesen technischen Mitteln neu erfindet?“6 Ja, warum sollte man sich das nicht vorstellen? Doch vom Staat der Gegenwart kann man solches nicht erwarten. 1 Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 321, 321, 322. Erste Ausgabe dieses Werks: The Making of the English Working Class, London 1963. 2 Guillaume Lejeune, „La fin des taxis?“, in: La vie des idées, 11. Juni 2015, http://www.leviedesidees.fr./La-fin-des-taxis. html. 3 Die LOTI (die Bezeichnung ist abgeleitet von dem „Loi d’orientation des transports intérieurs“, dem Gesetz zur Regelung des Binnenverkehrs aus dem Jahr 1982) müssen immer mehr als eine Person transportieren. 4 Vgl. http://bfmbusiness.bfmtv.com/entreprise/operationverite-sur-les-revenus-des-chauffeurs-uber-957841.html. 5 „Chauffeurs pour Uber, ,on a l’impression d’être des machines‘“, in: Le Monde, 18.12.2015, https://www.lemonde.fr/ entreprises/article/2015/12/18/chauffeurs-pour-uber-on-a-limpression-d-etre-des-machines_4834877_1656994.html. 6 „L’ubérisation est un symptome, pas une solution à nos problèmes“, in: L’Humanité, 21. April 2016, http://www.humanite. fr/luberisation-est-un-symptome-pas-une-solution-nosproblemes-605290. Inprekorr 4/2016 47 Dossier: Uber Sharing Economy – ein neues Anlagefeld für das Kapital In Deutschland ist die Zwiespältigkeit der sogenannten „Sharing Economy“ bisher noch vergleichsweise wenig problematisiert worden. Selbst unter Linken und „Alternativen“ herrscht bei diesem Thema eine weit verbreitete Blauäugigkeit. Unter GewerkschafterInnen allerdings gibt es inzwischen eine intensiver werdende kritische Beschäftigung, aber auch hier mangelt es meist an einer Gesamtschau der involvierten Fragen. Jakob Schäfer Nicht zuletzt machen sich so manche noch Illusionen über die – vorläufigen! – Restriktionen bei der Ausbreitung dieses neuen kapitalistischen Geschäftsmodells. So hat der Fahrdienstvermittler Uber noch einige Hürden beim hiesigen Einbruch in den Taxi-Markt zu überwinden (die gerichtlichen Auseinandersetzungen halten an). Zum anderen hat das Berliner Ferienwohnungsverbot für Konzerne wie Airbnb einen (u. E. nur kleinen) Stolperstein geschaffen. Es wäre völlig verfehlt, von staatlicher Seite eine Einschränkung dieses neuen Geschäftsmodells zu erwarten. Schließlich handeln alle staatlichen Akteure (national wie international) weiter nach neoliberalen Grundsätzen. Und die ebnen schließlich dem Vordringen multinationaler Konzerne – gegebenenfalls auch als Monopolisten – den Weg. So hat am 2.6.2016 EU-Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska erklärt: „Die Sharing Economy ist eine Chance für Verbraucher, Einzelunternehmer und Unternehmen – wenn wir die richtigen Maßnahmen ergreifen.“ In einem Leitlinienkatalog hat die Kommission die zurzeit gültigen EU-Gesetze für den Umgang mit solchen Unternehmen zusammengestellt. Das Institut der deutschen Wirtschaft kommentiert dies so: „Die Initiative der EU ist generell wichtig und richtig.“ Kein Wunder, ist doch in 48 Inprekorr 4/2016 diesen Leitlinien nicht die geringste Einschränkung dieses neuen Geschäftsmodells enthalten. Auf deutscher Seite hat – als flankierende Maßnahme – die digitalpolitische Vereinigung der CDU Vorschläge für eine Reform des Personenbeförderungsgesetzes vorgelegt. Neben der Eigendynamik, die in der Entwicklung profitorientierter Unternehmen der Sharing Economy liegt, kommt verschärfend der Einstieg großer Konzerne hinzu, nicht zuletzt der Automobilindustrie. Dies ist ein Ergebnis der sich verschärfenden Konkurrenz auf deren traditionellen Feldern (dem Fahrzeugbau) und der Schwierigkeit, überschüssiges Kapital dort mit der Aussicht auf das Erzielen des Durchschnittsprofits anzulegen. So wollen diese Konzerne ihr Angebot an Mobilität besser „abrunden“. Ein paar signifikante Zahlen: VW ist mit 300 Mio. Dollar bei der israelischen TaxiApp Gett eingestiegen (und erklärt, dies sei „die Zukunft“). Toyota und Fiat würden gerne Uber übernehmen. Kleines Problem: Uber wird (ob zu Recht oder zu Unrecht) im Moment mit 60–70 Mrd. Dollar taxiert. Der saudische Staatsfonds hat gerade 3,5 Mrd. Dollar in Uber investiert, um durch Diversifizierung die Abhängigkeit vom Ölgeschäft zu verringern. General Motors investierte kürzlich 500 Mio. Dollar in das Fahrdienstunternehmen Lyft. Und BMW arbeitet ebenfalls am Auf bau eines Konkurrenzunternehmens (Scoop) zu Uber, ist dazu beim israelischen Start-Up Moovit (moovitapp.com) eingestiegen und will in diesem Projekt seine Car-Sharing-Flotte Drive Now nutzen. Früher oder später wird sich aber bei den Fahrdienstunternehmen aus strukturellen Gründen dieses spezifischen Geschäftsmodells ein Monopol herausbilden, ähnlich anderen Bereichen der Sharing Economy. Um seine Chancen als heißester Anwärter auf ein solches Monopol zu wahren, betreibt Uber eine aggressive Expansionsstrategie, insbesondere in Asien – dort in Konkurrenz zu nationalen Unternehmen in China und Indien – und Nordafrika. Die zweite Achse ist die Diversifizierung des Angebots: Statt bloß mehr die „urbane Mobilität“ zu bedienen, wird inzwischen bereits Essen ausgeliefert und bereitet man sich auf die Paketzustellung vor. Um solche Ambitionen bedienen zu können, muss „der Markt fit gemacht werden“ (Uber-Deutschland-Chef Freese) – und dies werden „unsere“ Politiker besorgen, auf dass auch unsere gesamte Lebenswelt „kolonialisiert“, also der Verwertung zugeführt werden möge, um ein Wort von Jürgen Habermas zu gebrauchen. Imperialismus Der neoliberale Imperialismus als neues Stadium des Kapitalismus Dieser Text möchte dazu beitragen, die groben Linien eines zu entwickelnden Dokuments „Der Imperialismus heute“ zu skizzieren. Die gegenwärtige Phase der Entwicklung zwingt uns dazu, in den neunziger Jahren entwickelte Strategieelemente neu zu durchdenken, darunter die Idee der „breiten Parteien“. Yvan Lemaitre Der Kampf, der heute von den Arbeiterinnen und Arbeitern und den verarmten ländlichen und städtischen Schichten überall auf der Welt geführt wird, findet in einer bestimmten Entwicklungsphase des weltweiten Kapitalismus statt, eines spezifischen Momentes seiner Geschichte, die ihrerseits die Geschichte der ganzen Menschheit ist. Die im Juli/August 2007 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise, die im September einen ersten Höhepunkt erreichte (Zusammenbruch der Lehman-Bank) und zu einer weltweiten Rezession führte und in eine anhaltende Stagnationsphase mündete, ist viel mehr als eine „sehr große Krise“. Sie markiert in einem bislang nicht gekannten Ausmaß die historischen Grenzen des Kapitalismus, die, da er nicht überwunden werden konnte, eine barbarische Epoche ankündigen. Diese umfasst als zentrale Elemente die – sicherlich je nach Land und Kontinent unterschiedliche – Verwandlung der Ausbeutungsformen und der Lebensbedingungen der Arbeiter- klasse und der verarmten Massen, aber auch die klimatischen Veränderungen und andere Dimensionen der Umweltkrise (beispielsweise die chemischen Verschmutzungen), von der gerade diese verarmten Bevölkerungen oft genug die ersten sind, die deren Folgen zu tragen haben. Die Periode ist zudem durch neue Kriege geprägt, deren Opfer ebenfalls vor allem verarmte Bevölkerungen sind, wie etwa im Nahen und Mittleren Osten. (François Chesnais1) 1. Wachsende Instabilität Die zweite große kapitalistische Globalisierung hat, ein Jahrhundert nach der ersten, die in die Herausbildung des Imperialismus und in die beiden Weltkriege hineingeführt hat, den Kapitalismus und den Planeten tiefgreifend verändert. Dabei änderten sich die grundlegenden Voraussetzungen des Klassenkampfes im internationalen MaßInprekorr 4/2016 49 Imperialismus stab. Wir stehen in einer neuen Phase der Entwicklung des Kapitalismus. Die Umwälzungen, die zu der sogenannten großen historischen Wende geführt haben, wurden durch die 2007-2008 einsetzende Krise beschleunigt und verstärkt und scheinen sich in einer anhaltenden Krise zu verlängern, einem langen Prozess der Stagnation und der Verwesung des Kapitalismus. Parallel dazu gewinnen reaktionäre Kräfte der extremen Rechten und des religiösen Fundamentalismus zunehmend Oberwasser. Sie versuchen, das Wasser der Unzufriedenheit aufgrund der gesellschaftlichen Zerfallsprozesse, der Destabilisierung aller Verhältnisse, des Militarismus, der Kriege auf internationaler Ebene auf ihre Mühlen zu lenken. Dies insbesondere, da die Arbeiterbewegung von der politischen Bühne verschwunden ist. Die Steigerung der internationalen Konkurrenz unter dem Druck der Krise erzeugt eine immer größer werdende Instabilität, ein geopolitisches Chaos, eine Zunahme der militärischen Konflikte. Die globale Ordnung des Kapitalismus wird in einen Zerfallsprozess hineingezogen, der seinerseits wiederum eine neue Phase revolutionärer Umwälzungen einleiten wird. 2. Eine neue Periode Diese neue Welle der Globalisierung des Kapitalismus hat nach einer langen Periode der Niederlagen und des Rückzuges der Arbeiterbewegung eingesetzt. Nachdem sie von der Sozialdemokratie verraten, von der stalinistischen Bürokratie, die mit der bürgerlichen Reaktion im Bunde stand, erstickt, zerschlagen und physisch ausgelöscht wurde, wurde die Revolte der unterdrückten Völker nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gefangene des Nationalismus. Das Proletariat war nicht in der Lage, ihnen eine internationalistische Perspektive anzubieten. Dieser revolutionäre Auf bruch hat die Welt nichtsdestotrotz umgestaltet, indem Millionen von Unterdrückten ihr Joch kolonialistischer und imperialistischer Unterdrückung abschütteln konnten. Aber weit entfernt davon, sich auf einen Weg sozialistischer Entwicklung zu begeben, haben die neuen Regimes versucht, sich in den kapitalistischen Weltmarkt zu integrieren und darin ihren Platz zu finden. Kuba ist der letzte aus dieser revolutionären Welle geborene Staat gewesen, der der größten Weltmacht die Stirn geboten hat, und ist eine Bestätigung der Macht der Völker, sofern sie es wagen, die herrschenden Klassen und Staaten herauszufordern. Der Kapitalismus hat über den gesamten Planeten triumphiert; während sich die alten Strukturen der Herr50 Inprekorr 4/2016 schaft der Großmächte und der kapitalistischen Klassen auflösen, bringt er nur mehr Krisen, gesellschaftlichen und demokratischen Rückschritt, Kriege, ökologische Katas trophe. Er eröffnet eine Periode von Krieg, von Instabilität und von Revolutionen. 3. Theorie als strategische Aufgabe In dieser neuen Phase in der Entwicklung des Kapitalismus kombinieren sich die alten imperialistischen Beziehungen mit den neuen Beziehungen des globalisierten Neoliberalismus. Man spricht von der imperialistischen und neoliberalen Entwicklung. Es bilden sich neue Beziehungen zwischen den alten herrschenden Staaten und den unterdrückten Nationen heraus. Dieser Zusammenhang muss herausgearbeitet werden, sowohl was die Geschichte des Kapitalismus, den Verlauf seiner Entwicklung, als auch die Möglichkeiten einer neuen Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft, den Sozialismus und den Kommunismus, die Möglichkeit einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft betrifft. Dabei handelt es sich nicht um eine akademische Diskussion über die Frage einer formalen Definition des Imperialismus, sondern eher um einen Versuch, die Entwicklungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, indem man sie in eine strategische Debatte einbettet, diejenige um die revolutionären Perspektiven, um unsere Aufgaben. Diese Debatte erfordert eine breite kollektive Arbeit und deren Verbindung mit unseren Aufgaben als Aktivistinnen und Aktivisten. Welches sind die Folgen der Integration der unterdrückten Länder, die ihre Unabhängigkeit erkämpft haben, in den Weltmarkt? Der neuen internationalen Arbeitsteilung? Der Proletarisierung der Millionen von ruinierten Bauern und Bäuerinnen auf der ganzen Welt? Des sich über den ganzen Planeten erstreckenden Neoliberalismus? Des neuen Modus der Finanzakkumulation? Kann zwischen diesen verschiedenen Wirkmechanismen eine Einheit ausgemacht werden, um ein neues sozialistisches Programm und eine revolutionäre Strategie zu begründen? 4. Die klassische Imperialismustheorie Der Rahmen, wie er in der Diskussion um die erste imperialistische oder koloniale Globalisierung, dem kolonialen Imperialismus des Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts, entwickelt wurde, genügt nicht mehr für eine Interpretation der gegenwärtigen Epoche, sosehr die Umwälzungen des verflossenen Jahrhunderts für die Völker auch von Bedeutung waren. Unsere Überlegungen reihen sich ein in eine Kontinuität der Klassenkämpfe und des revolutio- Imperialismus nären Marxismus, der „permanenten Revolution“. Die erste überlieferte Idee aus jener Epoche ist der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg, zwischen dem Krieg und dem Klassenkampf, die Jaurès mit seiner berühmten Formel aufgezeigt und illustriert hat: „Der Kapitalismus birgt den Krieg in sich wie die Wolke das Gewitter“. Lenin wird dies dann mit der Formel „die unvermeidliche Verbindung zwischen den Kriegen und dem Klassenkampf“ theoretisieren. In der Schrift „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ zeigt er auf, dass die Herausbildung des Imperialismus in der eigentlichen Natur des Kapitalismus liegt. Es ist hilfreich, sich an seine Argumentation zu erinnern: „Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, dass daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung. Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müsste man sagen, dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopo- listischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde. Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muss man – ohne zu vergessen, dass alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist“2 . Ohne hier darauf einzugehen, dass Lenins Analyse eine erschöpfende Beschreibung der imperialistischen Beziehungen in ihrer Vielheit und Entwicklung liefert, dass bei ihm keinerlei Automatismus zwischen den ökonomischen Veränderungen, ihren gesellschaftlichen Folgen und den revolutionären Möglichkeiten besteht, so bietet seine in der Argumentation entwickelte Methode den Rahmen, um die Analyse für unsere Periode weiterzuentwickeln, ohne den geschichtlichen Faden zu verlieren. In dieser Diskussion geht es in Wirklichkeit darum, die revolutionären Perspektiven herauszuarbeiten, die Möglichkeiten des Auf baus einer Gesellschaft, die von Ausbeutung befreit ist, und darum, die möglichen Beiträge bei der Herausbildung einer internationalistischen revolutionären Bewegung festzulegen. 5. Der neoliberale Imperialismus Die imperialistische Entwicklung und der Kampf der imperialistischen Mächte um die Aufteilung der Welt führten in den ersten imperialistischen Krieg und dann in eine Inprekorr 4/2016 51 Imperialismus Welle von Revolutionen, die durch die faschistische und stalinistische Reaktion besiegt und zerschlagen wurde. Diese Revolutionen konnten deshalb die zweite barbarische Periode des Kampfes um die Aufteilung der Welt nicht verhindern - den Zweiten Weltkrieg, mittels dessen sich die amerikanische imperialistische Macht als einzige Kraft durchsetzte, die in der Lage ist, die kapitalistische Weltordnung zu verwalten. Dann kam es zu zwanzig Jahren Krieg und Revolutionen, zu der Erhebung der kolonialisierten Völker. Der Sieg des vietnamesischen Volkes hat in einem gewissen Sinne diese Periode des kolonialen Imperialismus beendet. Die Aufteilung der Welt in Einflusszonen zwischen den imperialistischen Ländern spielt sich seither anders ab. Seit dem Ende der 1970er Jahre wurde eine neue Phase eröffnet, diejenige der neoliberalen Offensive, unter der Führung der nun einzigen imperialistischen Großmacht, den USA, und des verbündeten Großbritanniens. Damit begann als Antwort auf den Einbruch der Profite die zweite Globalisierung, mit der der Kapitalismus sich weltweit, über den ganzen Planeten, als Produktionsweise durchsetzte. Diese neoliberale Offensive hat am Ende der 1980er Jahre, nach dreißig Jahren Wachstum seit dem Ende der 1940er Jahre, in den Zusammenbruch der UdSSR und der Bürokratie geführt; diese hatte einerseits die nationalen Befreiungskämpfe gestärkt, andererseits aber die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltordnung im Namen der friedlichen Koexistenz, das heißt, die Verteidigung der Interessen der Bürokratie, gefördert 6. Die Ursachen der geopolitischen Instabilität Das Ende der UdSSR eröffnete eine Verschärfung der Offensive der Kapitalistenklasse unter der Führung der USA. Die neoliberale und imperialistische Euphorie hatte während der Ära Bush Oberhand, der Kapitalismus triumphierte über den ganzen Planeten. Aber der Mythos vom „Ende der Geschichte“ verlor schnell seine realen Grundlagen. Der erste Irakkrieg eröffnete eine lange Periode von Angriffen auf die Völker, um den globalisierten Neoliberalismus mit einer „Strategie des Chaos“ aufzuzwingen, die in eine destabilisierte Weltordnung und in neue Kriege hineingeführt hat. Das Scheitern der Neokonservativen beweist die Unmöglichkeit eines Superimperialismus, von dem die Nato der bewaffnete Arm gewesen wäre. Dieser bewaffnete Arm ist zum Instrument der Verteidigung der Interessen der westlichen Mächte gegen ihre neuen Rivalen geworden. Das „Nordatlantische Verteidigungsbündnis“ hat, 52 Inprekorr 4/2016 nachdem es sich nach Osteuropa (bis ins Innere der ExUdSSR) und nach Zentralasien ausgebreitet hat, sein Augenmerk nun auf andere Regionen vorerst im Mittleren Osten und in Afrika gerichtet; nachdem es 2011 Libyen mit einem Krieg zerstört hat, wendet es sich gegenwärtig den Gewässern des Indischen Ozeans und des Golfes von Aden, Lateinamerika und dem Pazifik zu. Aber es ist heute nicht in der Lage, eine stabile Weltordnung aufrechtzuerhalten. Obama hat behauptet, nach der Ära Bush eine neue Politik zu führen. Da er aber auf die durch die „Strategie des Chaos“ geschaffene Situation keine entsprechende politische Antwort zu geben vermochte, hatte er keine andere Wahl, als sich anzupassen, vorerst im Irak und dann in Afghanistan, das auf dem besten Weg ist, in eine amerikanische Militärbasis verwandelt zu werden. Seit der Finanzkrise von 2007/2008 tendiert dieser internationale Neoliberalismus, in eine Phase der Reorganisation der internationalen Beziehungen überzugehen, während die globalisierte Ökonomie jedweder Regulation entrinnen kann, da keine Macht mehr die Mittel dazu besitzt. Derweil verschärft sich der Widerspruch zwischen einer durch die globalisierte Konkurrenz erzeugten Instabilität und der Notwendigkeit, einen umfassenden Rahmen des Funktionierens des Kapitalismus, der Produktion und des Austausches, zu gewährleisten. Während 30 Jahren wurden die Kräfteverhältnisse grundlegend verändert; die BRICS-Staaten und vor allem China, alle Völker kämpfen in der Krise um eine Teilhabe an der Entwicklung der Weltwirtschaft. Selbst wenn die USA in allen Bereichen weiterhin die erste Weltmacht bleiben, so müssen sie doch Verbündete suchen. Heute stammt die Hälfte der Weltindustrieproduktion aus Schwellenländern. Der Widerspruch zwischen dem Nationalstaat und der Internationalisierung der Produktion und des Austausches ist so stark wie noch nie, während keine herrschende Macht in der Lage ist, die internationalen Beziehungen auf geordnete Grundlagen zu stellen. Die beiden Faktoren wirken zusammen und schaffen so die Voraussetzungen für eine Destabilisierung der internationalen Beziehungen. 7. Militarismus und wachsende Instabilität Der Imperialismus entfaltet sich nach dem Ende der Kolonialreiche und der UdSSR im Rahmen der freien Konkurrenz auf Weltebene. Die Kartelle und die internationalen monopolistischen Zusammenschlüsse gehen mit der globalisierten Konkurrenz Hand in Hand. Die Monopole haben sich zu transnationalen Konzernen entwickelt und sind in den Bereichen Industrie, Handel und Finanzen tätig. Es Imperialismus kam zu einer großen wirtschaftlichen Konzentration, so dass 147 transnationale Konzerne über 40 % des ökonomischen Wertes aller weltweiten multinationalen Konzerne verfügen. Wenn diese auch eine nationale Basis beibehalten, so sind sie doch weltweit in einem weitverzweigten Beziehungsnetz tätig. Die parasitäre Entwicklung des Finanzkapitals hat eine beträchtliche Masse von spekulativem Kapital hervorgebracht, begleitet von einer Verringerung der produktiven Investitionen. Dieser parasitäre einem Kampf um die Absatzkanäle, die Produktionsstandorte, die Energieversorgung etc. Die Logiken des Kapitalismus und der territorialen Kontrolle kombinieren sich, nach einer Formulierung von David Harvey4, unter anderen Formen. Die Rivalitäten unter den alten imperialistischen Mächten haben sich, ohne dass sie aufgehoben worden wären, unter amerikanischer Hegemonie den neuen Gegebenheiten angepasst. Die daraus hervorgehende wachsende Instabilität der Welt Dabei werden die Errungenschaften der „Arbeiteraristokratie“ der alten imperialistischen Zentren in Frage gestellt und mithin auch die materielle Basis des Reformismus untergraben.“ Charakter drückt sich in der Schuldenwirtschaft aus wie auch in der Tatsache, dass die USA und die alten imperialistischen Mächte zu einem jeweils unterschiedlichen Grade Nettoimporteure von Kapital sind. Dieser Kapitalimport stellt eine Art des Abzweigens des Reichtums in die alten imperialistischen Zentren dar, der vom Proletariat der Schwellenländer produziert wird. Es kommt zu einer noch nie dagewesenen Konzentration des Reichtums. Ein Banken-Oligopol kontrolliert die Finanzen und hat sich die Staaten mit dem Hebel der öffentlichen Schulden unterworfen. Parallel dazu hat sich die weltweite Arbeiterklasse durch einen globalisierten Arbeitsmarkt erheblich ausgeweitet, wobei die Lohnabhängigen des gesamten Planeten miteinander in Konkurrenz gesetzt werden. Dabei werden die Errungenschaften der „Arbeiteraristokratie“ der alten imperialistischen Zentren in Frage gestellt und mithin auch die materielle Basis des Reformismus untergraben. Durch die wirtschaftliche Entwicklung der ehemaligen Kolonien oder unterdrückten Länder, insbesondere der Schwellenländer, bildet sich eine neue internationale Arbeitsteilung heraus, eine Globalisierung der Produktion und nicht lediglich eine Internationalisierung, eine „weltweit integrierte Wirtschaft“, wie Michel Husson das ausdrückt3. Die territoriale Aufteilung der Welt, die durch die beiden Weltkriege und die Welle der nationalen Befreiungsbewegungen in Frage gestellt wurde, wurde durch einen von den multinationalen Konzernen strukturierten Kapitalismus der freien Konkurrenz im weltweiten Maßstab abgelöst. Der Kampf um die Aufteilung der Welt wich führt zu immer mehr Militarismus, und zu wachsenden Spannungen, die die USA gezwungen haben, sich militärisch neu aufzustellen und sich dabei die alten Mächte - Europa, Japan - und die Schwellenländer in dieser Politik der Aufrechterhaltung der Weltordnung beizugesellen. Die Ausweitung der Nato ist ein Instrument dazu gewesen. Diese Politik ist ein Fehlschlag, der lediglich in ein weiteres Anwachsen der Instabilität und des religiösen und terroristischen Fundamentalismus geführt hat, der zu einem Faktor des permanenten Chaos geworden ist. 8. Ökonomische und ökologische Krise Zur selben Zeit, in der der Kapitalismus die Grenzen des Planeten erreicht hat, ruft er eine bislang ungekannte ökologische Krise globalen Ausmaßes hervor, die sogar die Frage der Zukunft der Menschheit stellt. Die Profitlogik führt im globalen Maßstab in eine aberwitzige Organisation der Produktion, mit einer Verachtung für die Bevölkerungen und das ökologische Gleichgewicht. Die Kombination der ökologischen und klimatischen Krise einerseits und der wirtschaftlichen und sozialen Krise andererseits stellt für die Menschheit eine bislang nicht gekannte Herausforderung dar. Ohne eine Überwindung des Kapitalismus gibt es keine Lösung, schon gar nicht im nationalen Rahmen und ohne eine weltweite demokratische Planung, die sich auf die Zusammenarbeit der Völker entsprechend ihren gesellschaftlichen und ökologischen Bedürfnissen abstützt. Diese Krise stellt einen Faktor für die Entwicklung eines internationalistischen Bewusstseins dar, nicht nur im Inprekorr 4/2016 53 Imperialismus Sinne, dass unser Vaterland die Menschheit ist, sondern auch im Sinne des Lokalen und des Globalen. Der Kampf gegen die Gefahren, die auf der Zukunft des Planeten lasten, überschreitet alle Grenzen. Er ist integrierender Bestandteil des Kampfes für den Sozialismus, im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Klassenkämpfen. Die ökologische und die soziale Frage hängen zusammen, es gibt keine Antwort auf die erste, ohne dass auf die zweite geantwortet wird. 9. Das Drama der Flüchtenden Das Drama der Flüchtenden drückt in besonders empörender Form die Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls als Folge von Krieg, des Wirtschaftsliberalismus, der beherrschenden Stellung der multinationalen Konzerne, der Landenteignungen, des Ruins der breiten Bauernschaft, des Erstarkens von reaktionären fundamentalistischen Kräften wie auch von der Umwelt- und Klimakrise aus. Diese Vorgänge erreichen extreme und irreversible Ausmaße, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nie mehr erreicht wurden. Sie beziehen ihre Dynamik aus der durch die kapitalistische Globalisierung erzeugten Instabilität, den permanenten Kriegszustand als Antwort auf diese permanente Instabilität, in die der Mittlere Osten und große Teile Afrikas abgedrängt wurden, auf die heftige Konkurrenz zwischen den alten und den neuen Großmächten, beispielsweise im Mittleren Osten zwischen Iran und Saudi-Arabien, als Antwort auch auf den sozialen Krieg, den die großen Finanzgruppen und ihre Staaten gegen die Arbeiter, Arbeiterinnen und die Völker führen. Die Krise, wie sie sich besonders in Europa äußert, verweist auf das Scheitern des Projektes des Auf baus eines kapitalistischen Europas. Wir stehen einer humanitären Krise außergewöhnlicher Tiefe gegenüber. Unsere Interventionen müssen die Solidaritätsbewegungen, wie sie gerade in Europa erstarkt sind, ernst nehmen. Damit aber unsere Politik sich nicht nur auf das Humanitäre beschränkt, müssen wir uns in den Gewerkschaften und den Basisorganisationen der Arbeiterbewegung entsprechend einbringen. Die Migrantinnen und Migranten sind ein integraler Teil des Proletariates, in Europa, in den USA oder sonst wo. Diese Krise ruft ein Anwachsen von fremdenfeindlichen Angst- und Abwehrreflexen hervor und bringt alle politischen Kräfte durcheinander; sie kann ein revolutionäres Ferment sein, im Sinne, dass die einzige Antwort eine umfassende internationalistische Solidarität gegenüber denjenigen Kräften sein kann, die als Antwort 54 Inprekorr 4/2016 nichts als Krieg und polizeiliche Repression haben, um die durch ihre Politik hervorgerufene dramatische Instabilität in Schach zu halten. 10. Krise der Hegemonie des US-Imperialismus Die an ihre Grenzen stoßende erweiterte Finanzakkumulation, die auf dem exponentiellen Wachstum des Kredits und der Schulden basiert, geht nach der Formel von D. Harvey in eine Herausbildung der „Akkumulation durch Enteignung“ über. Da der Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist, den Hunger des Kapitals durch eine entsprechende Steigerung des Mehrwertes zu stillen, sucht der Kapitalismus eine Lösung der Akkumulationsprobleme in der Eröffnung einer doppelten Offensive: Gegen die Lohnabhängigen und gegen die breite Bevölkerung, um ihnen eine zunehmend unvorteilhaftere Verteilung des Reichtums aufzuzwingen. Damit entsteht ein erbitterter Kampf um die Kontrolle von Territorien, Energiequellen, Rohstoffen, Handelswegen, … Die globalisierte freie Konkurrenz entwickelt sich zu einem Kampf um die Kontrolle der Reichtümer, um die Aufteilung der Welt, wobei sich allerdings die Kräfteverhältnisse am Beginn des XXI. Jahrhunderts radikal von denen des ausgehenden XIX. Jahrhunderts unterscheiden. Die Krise von 2007–2008 stellt deshalb auf der Ebene der internationalen Beziehungen eine Wende dar, indem sie eine Steigerung der Spannungen hervorgerufen hat. Die USA verfügen nicht länger über die Mittel, um sich gegenüber den anderen Großmächten und Ländern durchzusetzen. Das tritt im Mittleren Osten offen zutage. Sie sind gezwungen, ihre Politik den neuen Kräfteverhältnissen anzupassen, um ihre eigene Hegemonie durchzusetzen und die Weltordnung abzusichern. Beides hängt zusammen. Die Hegemonie der USA hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Weltordnung aufrechtzuerhalten, die sogenannte „Lenkungsordnung der Welt“. Hierzu müsste die herrschende Großmacht in der Lage sein, ihren Anspruch, im allgemeinen Interesse handeln zu können, glaubwürdig aufzuzeigen; die militärische und wirtschaftliche Übermacht alleine reichen dafür nicht aus. Das Hervortreten neuer Mächte mit imperialistischen Ambitionen oder von regionalen Mächten mit eigenen Interessen, die sie im Machtspiel zwischen den Großmächten verteidigen wollen, macht die amerikanische Führung immer fragiler und die internationale Lage immer chaotischer. Wieweit können sich diese Spannungen und Ungleichgewichte entwickeln? Langfristig sind alle Hypothesen möglich. Es geht darum, die möglichen Imperialismus Entwicklungen der Weltlage zu verstehen, um Auswege aus dieser Krise zu formulieren, in die die herrschenden Klassen uns hineingeführt haben. Nichts berechtigt dazu, die schlimmste aller Hypothesen außer Acht zu lassen, diejenige einer Globalisierung der lokalen Konflikte in einer verallgemeinerten Feuerbrunst, einem neuen Weltkrieg oder eher einem globalisierten Krieg. Die Ausweitung des Krieges in Syrien gibt dazu eine gute Illustration ab, wie vorher derjenige in der Ukraine. abstützt, die sie möglich und notwendig machen und von unserer konkreten Erfahrung, der Erfahrung der breiten Bevölkerung ausgeht. Die Fortentwicklung des Imperialismus in den neoliberalen Imperialismus hat mehrere Konsequenzen hinsichtlich der Aktualität der revolutionären Strategie. Wir versuchen, das Wesentliche zusammenzufassen. Durch die Verminderung der imperialistischen Surplus-Profite, einem Kitt der Klassenzusammenarbeit, Die Parteien und die Institutionen stehen gänzlich unter der Fuchtel des Kapitals, ohne Unabhängigkeit und ohne Manövrierraum.“ Am Grunde der Problematik liegt die Beziehung zwischen China und den USA und ihrer möglichen Entwicklung. Ist die gegenwärtige Krise die Krise des Aufstieges Chinas, so wie die Krise von 1929 die Krise des amerikanischen Aufstieges war (Joshua5)? Ebenso wie die imperialistische Politik aus der internen Krise des englischen Kapitalismus geboren wurde, könnte eine aggressivere Politik Chinas aus seinen inneren Widersprüchen hervorgehen, aus der Unfähigkeit seiner herrschenden Klassen, eine Antwort auf die soziale Frage zu finden, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne den sozialen Frustrationen ein Ventil zu verschaffen. Wir sind noch nicht so weit, aber nichts berechtigt uns, die Hypothese auszuschließen, dass daraus ein Konflikt um die Weltherrschaft entbrennen könnte. Die Antwort darauf hängt in Wirklichkeit vom Proletariat und den Völkern ab, ihrer Fähigkeit, direkt einzugreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Es geht hier nicht darum, Prognosen zu formulieren, sondern darum, unsere eigene Strategie auf ein Verständnis der Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und den Nationen zu gründen. Die Krise der Klassenherrschaft und der herrschenden Staaten eröffnet eine Periode der revolutionären Umbrüche. Durch sie bilden sich die Bedingungen für die Geburt einer neuen Welt heraus. 11. Revolutionäre Strategie jenseits des Lagerdenkens Die revolutionäre Strategie ist kein Glaube, dem man sich anpasst oder für den man sich begeistert, sondern vielmehr eine Praxis, die sich auf objektive Fakten, auf eine Politik werden die materiellen Grundlagen des Reformismus untergraben, und es kommt zu einer verstärkten Konzentration des Reichtums mit einer Verschärfung der Ungleichheiten und der Armut. Die Diktatur des Kapitals schränkt den Manövrierraum der Staaten und der Politiker weitestgehend ein, unabhängig davon, ob sie nun direkt in seinen Diensten stehen oder diese Diktatur bekämpfen, ohne aber den vorgegebenen Rahmen des Systems zu verlassen. Das griechische Drama und die Kapitulation von Tsipras sind eine gute Illustration dafür. Sie verleiht dem Internationalismus einen konkreten Inhalt, der im Alltag von Millionen Proletarier und Proletarierinnen verankert ist. Die soziale Frage und der Internationalismus werden fortan in ihrer viel größeren gegenseitigen Abhängigkeit wahrgenommen, als dies in der Vergangenheit der Fall sein konnte. Die zunehmende internationale Destabilisierung rührt ebenso von der Instabilität der Staaten, die ihrer Arbeiterklasse und breiten Bevölkerung gegenüberstehen, wie auch von den zunehmenden Rivalitäten zwischen den Großmächten, zwischen den Großmächten und Regionalmächten …, einer Instabilität, die neue Interventionsmöglichkeiten für die ausgebeuteten Klassen eröffnet. Der Antiimperialismus hat in der Vergangenheit oft die Form des Kampismus angenommen und dabei den Klassenkonflikt der nationalen Unterdrückung untergeordnet, während die Geografie der internationalen Politik die kolonialen Länder direkt den Kolonialmächten gegenüberstellte. So sehr dies bereits ein Fehler war, so kann dies heute in noch fatalere Fehlentwicklungen führen. Jedwede manichäische kampistische Einstellung, die die Klassenanalyse vergisst, führt in eine Sackgasse. Die neoliberale und imperialisInprekorr 4/2016 55 Imperialismus tische Offensive ließ die alten politischen Beziehungen auseinanderbrechen, auch in den stabilsten Ländern des alten kapitalistischen Europa. Die Parteien und die Institutionen stehen gänzlich unter der Fuchtel des Kapitals, ohne Unabhängigkeit und ohne Manövrierraum. Der alte parlamentarische links-rechts-Gegensatz hat jeden Inhalt verloren. Der einzige fortdauernde Gegensatz, unser Kompass, ist der Klassengegensatz, der unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, zwischen den ausgebeuteten Klassen und der Kapitalistenklasse. Die Zukunft scheint auf im Hervortreten einer internationalen Arbeiterklasse. Sie interveniert immer häufiger in der Verteidigung ihrer Rechte, der Löhne, gegen die Arbeitslosigkeit; ohne eigene politische Organisation, unabhängig von den politischen Organisationen kann sie jedoch noch nicht als eine Klasse intervenieren, die sichtbar die Zukunft der Gesellschaft in sich trägt. Außerhalb dieser unabhängigen politischen Intervention des Proletariates bleibt die Kritik des neoliberalen Imperialismus durch andere Klassen oder andere soziale Schichten moralisch oder reformistisch und wird sogar von reaktionären, nationalistischen, neofaschistischen oder religiös-fundamentalistischen Kräften verfälscht. Der Kampf gegen die aufsteigenden Kräfte der Zerfallsprodukte einer durch die Politik der Kapitalistenklasse zerstörten Gesellschaft ist heute zur zentralen politischen Frage geworden. Antwort wie Lösung dieser Frage liegen in einer Klassenpolitik für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. 12. Kampf für den Sozialismus und gegen den Fundamentalismus Der religiöse Fundamentalismus in seinen radikalsten Ausprägungen, dem Terrorismus und dem Dschihadismus, wurde durch die Politik der Großmächte hervorgebracht, ist jedoch im umfassenden Sinne das Kind der neoliberalen Politik, die das Elend hervorruft und die Ungleichheit wie noch nie zuspitzt. Der Kampf gegen das Anwachsen der reaktionären Kräfte, der extremen Rechten, sei sie nun faschistisch oder religiös-fundamentalistisch, ist ein weltweiter Kampf gegen den gesellschaftlichen und politischen Zerfall, wie er durch die Politik der kapitalistischen Klassen hervorgerufen wird. In den reichen Ländern wäre es ein Fehler, eine Hierarchie der Bedrohungen zu erstellen. Die Bedrohungen durch einen westlichen Neofaschismus speisen sich aus den Bedrohungen durch einen religiösen Fundamenta56 Inprekorr 4/2016 lismus. Die beiden sind Feinde des Fortschrittes, der Demokratie und der Freiheiten, Feinde der Lohnabhängigen und der Völker, die sie sich unterwerfen wollen. In dieser nationalen und internationalen Lage, wo die soziale und die politische Frage auf komplexe Art miteinander verknüpft sind, sind die manichäischen Argumente des Kampismus oder des Moralismus unangemessen, wenn nicht gefährlich. Wir bekämpfen alles, was uns auf die eine oder andere Art in die Falle eines Krieges der Zivilisationen, des Kommunitarismus, laufen lassen könnte. Wir zielen darauf ab, die Ziele der Großmachtpolitik, den Zusammenhang zwischen dem sozialen Krieg der verschiedenen Bourgeoisien gegen die Arbeiterklasse und dem Krieg gegen die Völker, zwischen der globalisierten Konkurrenz und den Rivalitäten zwischen den verschiedenen Mächten auf dem internationalen Terrain aufzuzeigen. Wir stellen uns auf die Seite von allem, das die Organisierung und die Intervention der ausgebeuteten Klassen weiterbringt, ganz besonders angesichts des Anwachsens der fundamentalistischen religiösen und terroristischen Kräfte. Wir verurteilen die angebliche Bekämpfung des Terrorismus und des radikalen Islamismus durch die westlichen Mächte, die ebenso in den Krieg führt wie der religiöse Fanatismus, der sich die Völker unterwerfen will. Unser Kampf für den Frieden und die Demokratie ist untrennbar von unserem Kampf für den Sozialismus. 13. Feminismus In diesem Zusammenhang des Aufstiegs der reaktionären Kräfte gewinnt der Kampf für die Gleichheit der Geschlechter eine ganz besondere Wichtigkeit. Er wird zu einem entscheidenden revolutionären Faktor. Wir beteiligen uns an diesem Kampf in allen Aspekten und uneingeschränkt, am Arbeitsplatz, am Wohnort, bei der Ausbildung. Wir übernehmen die demokratischen Forderungen gegen die Männerherrschaft und die patriarchalische Familie, die einhergeht mit dem Privateigentum und eine Form der Unterdrückung und der Beherrschung der Frau und der Jugend darstellt; es wird immer offensichtlicher, dass das Patriarchat der modernen Entwicklung und dem sozialen Fortschritt im Wege steht. Die Frauen sind die ersten Opfer der Ausbeutung und der zerstörerischen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung der gesamten Gesellschaft. Sie reihen sich in diesem Prozess ein in die Klasse der Lohnabhängigen. Ihr Kampf wird der von allen Ausgebeuteten und Unterdrückten. Weit entfernt davon, die Unterdrückten unter Imperialismus sich zu spalten, dem Kampf der Frauen den Kampf der Männer gegenüberzustellen, setzen wir uns dafür ein, dass sich die gesamte Arbeiterbewegung die feministischen Kämpfe für die politische und die gesellschaftliche Befreiung der Frauen zu eigen macht. Die beiden Kämpfe sind eins. Wenn die Frau die Proletarierin des Mannes ist, so wird dieser doch nur seine Ausbeutung beenden können, wenn er die Frau als ihm gleichgestellt betrachten wird. Der Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter vereinigte Arbeiterklasse im Kampf gegen unsere eigene Bourgeoisie. Der Prozess des gesellschaftlichen Zerfalls, wie er die aktuelle Epoche charakterisiert, schafft komplexe Situationen, wie sie sich etwa als Folge der Interventionen der Großmächte im Irak, in Libyen oder in Syrien mit dem Auftreten des Islamischen Staates, von al Qaida oder von Boko Haram herausbilden. Diese fundamentalistischen und terroristischen Organisationen, Produkte der Heute geht es darum, eine Strategie der Neugruppierung der antikapitalistischen und revolutionären Kräfte voranzubringen ...“ ist untrennbar vom Kampf gegen die Fundamentalismen und die Vorurteile, wie sie von den Religionen gefördert werden, die alle die Unterwerfung der Frauen rechtfertigen und verteidigen. 14. Unabhängigkeit und Einheit der Arbeiterklasse Wenn auch die größtmögliche Einheit der demokratischen Kräfte in den reichen wie in den armen Ländern erforderlich ist, um die Bedrohung durch faschistische und fanatische fundamentalistisch-religiöse Kräfte zu bekämpfen, so kann uns diese Einheit nur dahin führen, im Namen der nationalen Einheit, welche Form diese auch immer annehmen möge, auf die Klassenunabhängigkeit zu verzichten. Unsere Solidarität mit den Völkern darf sich nicht auf die angebliche „internationale Gemeinschaft“ berufen, auch nicht auf die UNO, deren Funktion zunehmend darin besteht, für die Politik der Großmächte einen demokratischen Deckmantel abzugeben. Demgegenüber bringen wir immer wieder die notwendige Solidarität zwischen den Arbeitern, Arbeiterinnen und den Völkern zur Geltung, den einzigen Ausweg aus der aggressiven und militaristischen Politik der Großmächte, die die Völker manipulieren und gegeneinander auf hetzen. Unsere internationale Solidarität kritisiert ohne Einschränkung die nationalistische Politik der Bourgeoisien, die die Aufstände und die demokratischen Hoffnungen auf Abwege lenken. Die Solidarität darf die politischen Meinungsverschiedenheiten nicht überdecken. Unser Internationalismus definiert sich als die unablässige Suche nach einer unabhängigen Politik für die kapitalistischen Barbarei, besitzen ihre eigene Strategie der Machteroberung, um sich der breiten Bevölkerung mittels Terror aufzuzwingen. Wir verurteilen diese Kräfte unzweideutig und bekämpfen sie und handeln aus Solidarität mit den fortschrittlichen Bewegungen, die gegen sie kämpfen oder Widerstand leisten; dabei verurteilen wir die Propaganda der Großmächte, die sich auf eine neue Version vom „Kampf der Kulturen“ beziehen, um ihre Politik zu rechtfertigen. Unsere Solidarität vermischt sich auf keine Art und Weise mit der Politik der herrschenden Staaten. 15. Übergangsstrategie Die große historische Wende ist keine bloße Formel. Sie spielt sich als Drama und im Blute ab und verpflichtet uns, alles neu zu überdenken. Wie kann man dazu beitragen, eine revolutionäre Bewegung im nationalen, europäischen und internationalen Maßstab entstehen zu lassen – diese Frage wird uns unter neuen Bedingungen gestellt. Die Strategie der sogenannten „Breiten Parteien“ war Teil der Prozesse der Neuzusammensetzung, die durch den Zusammenbruch der ehemaligen UdSSR und der kommunistischen Parteien ausgelöst wurden. Sie ließ die neuen Gegebenheiten der Periode außer Acht, ungeachtet der Tatsache, dass sie kein funktionierendes Instrument gewesen ist. Wir müssen unsere Strategie in einem Augenblick neu formulieren, in dem die Kräfte, die aus den Veränderungen oder dem Zusammenbruch der alten stalinistischen Parteien hervorgegangen sind, sich in das System einordnen oder darauf hoffen, dies tun zu können und die Austeritätspolitik zu verwalten, wie Syriza in Griechenland. In einem Moment auch, wo man sieht, Inprekorr 4/2016 57 Imperialismus wie Podemos in Spanien dazu dient, die Unzufriedenheit in die institutionellen Kanäle zu lenken; oder wie der Linksblock in Portugal, der sich in seinem Bündnis mit der Sozialistischen Partei in einer von der Bourgeoisie und der Troika aufgezwungenen Zwangsjacke einschließt. Heute geht es darum, eine Strategie der Neugruppierung der antikapitalistischen und revolutionären Kräfte voranzubringen; diese stützt sich auf ein Programm der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, ausgehend von elementaren Bedürfnissen der Ausgebeuteten, einem garantierten Lohn und anständigen Renten, der Beseitigung der Arbeitslosigkeit mittels einer Aufteilung der Arbeit auf alle, der Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen, um dann die Machtfrage zu stellen, so dass die Schulden gestrichen, ein öffentliches Bankenmonopol geschaffen und die großen Industrie- und Handelsunternehmen vergesellschaftet werden können. Diese Strategie und dieses Programm werden je nach Land und Situation verschieden ausgestaltet sein, sie werden jedoch um eine Übergangsstrategie herum organisiert und stellen die Frage der Macht der Arbeiter, der Arbeiterinnen und der breiten Bevölkerung, der 99 %, um mit den Schulden aufzuhören und den Banken und den multinationalen Konzernen das Handwerk zu legen, so dass sie nicht mehr schaden können. Wir müssen in der Lage sein, aus den vergangenen Niederlagen und Rückzügen sowie aus den aktuellen Umwälzungen die Elemente herauszuarbeiten, die im Sinne einer revolutionären Gesellschaftstransformation wirken, um zur unabhängigen Organisierung der Arbeiterklasse beitragen zu können, so dass diese imstande ist, die sozialen, demokratischen und ökologischen Forderungen der anderen Gesellschaftsklassen, der ganzen Gesellschaft vorwärtszubringen. Während die reaktionären Kräfte die durch die Verwüstungen der Globalisierung erzeugten Ängste und Verzweiflung der breiten Bevölkerung ausspielen, um ihre fremdenfeindliche und nationalistische Propaganda zu entfalten, müssen wir auf eine Neugruppierung am entgegengesetzten Pol hinarbeiten, bei den Arbeiterinnen und Arbeitern ansetzen, die mit dem Kapitalismus und seinen Institutionen gebrochen haben. Wir arbeiten auf eine Einheit der ausgebeuteten Klassen hin, für ihre Organisierung auf der Basis der Unabhängigkeit ihrer Klasse. Der Dringlichkeit und den Anforderungen der Situation gerecht zu werden heißt, den Dialog und die politische Zusammenarbeit mit den anderen antikapitalistischen und revolutionären Kräften weltweit einzuleiten, mit dem Ziel 58 Inprekorr 4/2016 der Bildung einer neuen Internationale. Die IV. Internationale, wie alle anderen internationalen Gruppierungen, kann nicht beanspruchen, für sich allein die Zukunft der revolutionären Bewegung zu repräsentieren. Eine neue Internationale muss im Sinne von neuen Orientierungspunkten neue Zusammenschlüsse bewirken. Die Zukunft hängt von denjenigen ab, die auf einen Neuzusammenschluss der revolutionären Kräfte in einer einzigen Bewegung hinwirken und mit sektiererischen und antidemokratischen Praktiken aus der Vergangenheit brechen, die die revolutionäre Bewegung auseinanderbrechen ließen. Die große aktuelle weltweite Instabilität eröffnet auf kurze und mittlere Frist neue Möglichkeiten; um diese nutzen zu können, muss sich die antikapitalistische und revolutionäre Bewegung die erforderlichen Instrumente schaffen. Übersetzung: W. Eberle � 1 http://alencontre.org/laune/economie-mondiale-unesituation-systemique-qui-est-specifique-a-la-financiarisationcomme-phase-historique.html 2 Beginn des Kapitels VII: Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus [Anm. d. Ü.] 3 Siehe beispielsweise: Michel Husson: La formation d’une classe ouvrière mondiale. Dezember 2013. Unter : http://hussonet.free.fr/classow.pdf [Anm. d. Ü.] 4 David Harvey : The New Imperialism. Oxford University Press, 2003 [Anm. d. Ü.] 5 Isaac Joshua: La crise de 1929 et l’émergence américaine. PUF, „Actuel Marx confrontation“, 1999 [Anm. d. Ü.] N ac h ru f Claude Jacquin (1947–2016) Charles Michaloux Nach zehn Jahren unermüdlichen Kampfes, der ihn allerdings immer öfter zur Erschöpfung brachte, ist Claude Jacquin in der Nacht vom 16. auf den 17. April gestorben. Der Krebs erwies sich als stärker als seine Kräfte. Einige Wochen vorher musste er als Notfall in ein Krankenhaus eingeliefert werden, seine schwachen Kräfte verließen ihn. Er konnte sich nicht mehr selbst fortbewegen und ernähren. Vor einer Woche konnte er sich noch einmal kurz erholen und sein Bewusstsein wiederfinden, da hat er mich lange angerufen, wie zum Abschied. Wir wussten beide, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten und dass eine lange, fast 50 Jahre währende Freundschaft dem Ende entgegenging. Einige Tage danach ist er verstorben, kurz vor seinem 69. Geburtstag (erwurde am 21. Mai 1947 geboren). Claude hatte die „École des Travaux Publics“, eine Ingenieurschule in der Nähe von Lyon, besucht. Nachdem er sein Diplom gemacht hatte und ein paar kleine Jobs zum Überleben hinter sich hatte, wurde er Geschäftsführer bei dem „Office des HLM“ (Büro für Sozialwohnungen) in Paris. Dort mühte er sich ab, um Lösungen für schwierige Sozialfälle zu finden. Zugleich war er jeden Tag im Einsatz und bei all den Abenteuern in dieser stürmischen Zeit voller Aktivitäten und intensiv gelebter Hoffnungen dabei. Ein Freund, zugleich einer seiner damaligen Kollegen in dem „Office“, hat mir vor kurzem ein Foto von der Demonstration zugeschickt, mit der seine Freilassung aus einer mehrwöchigen Haft gefordert wurde. 1976 war unter Präsident Giscard ein Dekret erlassen worden, um die Zulassung von ausländischen Studierenden an französischen Universitäten zu beschränken. Claude war darüber wie viele andere aufrichtig empört und wegen seines internationalistischen Solidaritätsgefühls engagierte er sich stark für die großen Mobilisierungen, die nicht nur von StudentInnen getragen wurden. Bei einer Demonstration in Paris wurde er festgenommen. Die Aufnahme zeigt recht gut, in was für einem guten Ruf er bei seinen ArbeitskollegInnen stand, bei allen Gewerkschaften durch die Bank. Als schließlich seine Freilassung erreicht wurde, dankte er allen auf einer Vollversammlung an der Fakultät Jussieu (im Quartier Latin im Zentrum von Paris). Mit seinen ersten Worten brachte er seine Verunsicherung und seine Empörung über das, was er im Gefängnis gesehen hatte, zum Ausdruck: junge Menschen unterschiedlicher Herkunft, aufgrund ihrer Armut an den Rand der Gesellschaft gedrückt, verlassen in den stinkenden Kerkern der Republik. Er rief mitreißend dazu auf, sie nicht fallen zu lassen, und das ging dem Publikum unter die Haut, dafür wurde er gefeiert. So war Claude: nie blasiert, immer mit dem Elend der Welt beschäftigt, pausenlos dazu bereit, etwas beizutragen, um diese Welt zu verändern. In solch einer Episode, an die wir uns gerade erinnert haben, muss man vielleicht die Quelle und den Antrieb seines zugleich gesellschaftlichen und internationalistischen Engagements suchen, das beständig alles andere als abstrakt gewesen ist. Afrika im Herzen Es ist schwierig, seinen ein halbes Jahrhundert umfassenden Lebensweg zusammenzufassen. Als aktives Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und der IV. Internationale wandte er sich schnell Bereichen zu, die ihm am Herzen lagen. Er brachte viel Zeit auf und machte viele Reisen, um afrikanischen GenossInnen zu helfen, zu denen er enge und vertraute Beziehungen hatte. In den 1980er Jahren begab er sich nach Neukaledonien, er fuhr mehrere Male hin, um die „Front National de Libération de Kanaky Socialiste“ (FLNKS) in ihrem Kampf gegen die französische „Links“-Regierung zu unterstützen. Als die Gendarmen im Mai 1988 auf Anordnung von Präsident François Mitterrand (1981 bis 1995) und seinem damaligen Ministerpräsidenten Michel Rocard die Grotte auf der Insel Ouvéa stürmten, war er ganz verzweifelt wegen der Unreife der radikalen jungen Leute von den Kanaken, die in diese Falle gegangen waren, aber er wetterte zehnmal mehr gegen die französischen Behörden, die einmal mehr zeigten, wie viel blutige Verachtung sie für ihre Kolonie auf brachten. In diesen Jahren freundete er sich mit südafrikanischen AktivistInnen an – vor allem einem Paar (Mercia und Brian).1 Damals war Südafrika gefährlich, das Regime sprang nicht gerade sanft mit denen um, die es wagten, sich gegen es aufzulehnen, doch er reiste kreuz und quer durch das Land, um dabei behilflich zu sein, dort eine unabhängige Inprekorr 4/2016 59 N ac h ru f Bewegung aufzubauen. Oft traf er führende politische und gewerkschaftliche AktivistInnen, die auf unterschiedlichsten Ebenen Verantwortung trugen. Er feierte mit, als die Apartheid Anfang der 1990er Jahre schließlich zusammenbrach. Selbst wenn er sich kaum Illusionen gemacht hatte, war er wegen des Ausmaßes der Kooptierung der früheren Aktiven in Aufsichtsräte der großen Unternehmen des Landes enttäuscht. Damit die Kosmetik stimmte und die Macht in den Händen der multinationalen Konzerne blieb, die aber eine erneuerte Fassade bekamen, wurden beispielsweise mehrere große Gewerkschaftsführer an die Spitze großer Konzerne gehievt, die praktisch wie vorher funktionierten, mit den entsprechenden Vorteilen für diese Herren ... Die Revolte der Bergleute im Sommer 2012 und ihre Kampfansage an die Instanzen des Regimes haben sein Ungestüm wieder aufleben lassen. Im Februar ist er trotz seines schwankenden Gesundheitszustands für eine Woche nach Südafrika gefahren; Brian und Mercia hatten dort für ihn wichtige Diskussionen im Zusammenhang mit der Herausbildung einer von dem korrupten ANC-Regime unabhängigen politischen und Gewerkschaftsbewegung organisiert. Er ist zuversichtlich und voller Optimismus, was die Zukunft der südafrikanischen Revolution anbelangte, von dort zurückgekommen; das war ein außergewöhnlicher Abschnitt seines Lebens.2 Texte, die ihm ähnlich waren Vor über 20 Jahren hatte Claude seine Stelle als HLM-Geschäftsführer aufgegeben. Stattdessen war er dem Experten-Kabinett beigetreten, aus dem die Beratungsfirma Apex entstanden ist. Nach einer harten Phase der Initiierung in das Geheimwissen eines Beraters für die „comités d’entreprise“3 (die er selbstverständlich mit Glanz und Gloria bestand), wurde er rasch zu einem sehr kompetenten Experten in wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Angelegenheiten. Ich hatte seinen Überdruss bei seinem bisherigen Beruf mitbekommen und konnte ihm vorschlagen, die neue Tätigkeit aufzunehmen; er wurde rasch ein anerkannter Leiter und gehörte dann zur Generaldirektion von Apex-Isast. Während er sich in dieser Arbeit, die er sehr gerne machte, entfaltete, weitete er das Feld seiner Interessen in den wirtschaftlichen und sozialen Bereichen immer weiter aus. Er schrieb viel für das Bulletin Lettre du CE et du CHSCT und hat nicht wenig dazu beigetragen, dass es im Milieu der GewerkschafterInnen und der PersonalvertreterInnen zu einer geschätzten Quelle geworden ist. Zur gleichen Zeit verfasste er zahlreiche Artikel zu politischen, ökonomischen und sozialpolitischen Themen, die 60 Inprekorr 4/2016 er mit seinem alten Pseudonym Claude Gabriel zeichnete. In den letzten Jahren sind diese Texte auf den Webseiten von Ensemble, Europe solidaire sans frontières und in der Zeitschrift ContreTemps veröffentlicht worden.4 Diese Texte waren ihm ähnlich: In ihnen ist nichts von dem hohlen Schematismus und den zigmal wieder aufgewärmten Gemeinplätzen zu finden, vor denen er einen wahren Horror hatte; er versuchte beständig neue Pfade zu erkunden, um die sich verändernde Wirklichkeit des Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu packen. Seine Beiträge zur industriellen Modernisierung, der Produktionsorganisation im Zeichen der Digitalisierung oder der neuen Probleme der Lohnarbeit sind in dieser Hinsicht ausgesprochen bemerkenswert. Alle, die ihn kannten und die ihm zugehört haben, haben Claude geschätzt, denn er war herzlich, brillant und aufgrund der Tiefe seiner Überzeugungen und der Weite seines Horizonts überzeugend. Daher wird niemand von ihnen ihn vergessen können. Für mich war er ein Genosse, ein Freund, ein Bruder. Und das wird er bleiben. Charles Michaloux ist Mitglied der französischen Organisation „Ensemble“ und war 1966 Mitbegründer der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (JCR), 1969 der Ligue communiste, der französischen Sektion der IV. Internationale. Er gehörte lange der Leitung der LCR und der IV. Internationale an. Später gründete er die Beratungsfirma Apex-Isast. Er leitet die Société Louise Michel, die Bildungs- und Diskussionsveranstaltungen mit WissenschaftlerInnen und AktivistInnen organisiert. Aus dem Französischen übersetzt, bearbeitet und mit � Anmerkungen versehen von Friedrich Dorn 1 Siehe den Nachruf von Brian Ashley und Mercia Andrews: „Claude Gabriel, Claude Jacquin (1947-2016): Comrade, friend and mentor – an immense human being“ (27.4.2016), http:// www.internationalviewpoint.org/spip.php?article4478. 2 Siehe auch: Claude Gabriel, „Afrique du Sud: une nouvelle étape de luttes, de nouvelles perspectives à gauche“ (9.11.2015), http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article36296. 3 Die „Comités d’entreprise“ (CE), wörtlich: Betriebskomitees, sind nicht mit Betriebsräten in Deutschland gleichzusetzen, da sie keine Vertretung der „Arbeitnehmer“ sind; Vorsitzender ist der Betriebsleiter, seine Rechte sind auf Informations- und Konsultationsrechte beschränkt, daneben verfügt es über ein Sozialbudget für soziale und kulturelle Aktivitäten. Verhandlungen über Betriebsvereinbarungen führen nur die „délégués syndicaux“ (Gewerkschaftsdelegierten). 4 Siehe https://www.ensemble-fdg.org/blogs/claude-gabriel; http://www.europe-solidaire.org/spip.php?page=auteur&id_ auteur=9371; http://www.europe-solidaire.org/spip. php?page=auteur&id_auteur=9892; http://www.contretemps.eu. Die Internationale 62 Sozialismus von unten. Für eine organisierende und verbindende Linke Im Zentrum der Version eines „Sozialismus von unten“ steht die sog. transformative Organisierungsarbeit. Das Ziel: eine politische Strömung aufzubauen, die … Brücken schlägt und eine unterschiedliche Kämpfe und soziale Bewegungen verbindende sozialistische Kraft werden kann. d i e I n t e r n at i o n a l e Sozialismus von unten. Für eine organisierende und verbindende Linke Mit dem vorliegenden Artikel wollen wir, die Autoren, zur Diskussion darüber beitragen, wie sich eine antagonistische Linke, die auf die Überwindung des Kapitalismus setzt, heute ausrichten sollte. Was ist unsere Ausgangslage? Wie sollten wir deshalb unsere Arbeit organisieren? Michael Sankari und Thomas Linnemann V erabschieden wollen wir uns von einem Politikansatz, den Panagiotis Sotiris als „imaginären Leninismus“ bezeichnet hat. Darunter verstehen wir in etwa die Gewohnheit, einer neuen und in vielen Punkten noch unübersichtlichen Situation mit den politischen Ansätzen unserer (Ur-)Großeltern zu begegnen. Als Persiflage auf die historische Vergangenheit: Organisation auf bauen und Programm schreiben, in Kämpfen aktiv sein, sozialistische Aktivisten auf der Grundlage des Programms entwickeln, warten auf die politische Krise, sich bewegende Massen führen. Können wir also mit einem bolschewistischen Kostümfest wenig anfangen, gilt dies nicht weniger für post-autonome Interventions- und Eventpolitik ohne nachvollziehbaren Bezug auf die Probleme und Kämpfe der arbeitenden Klassen. 62 Inprekorr 4/2016 Unseren eigenen Ansatz verstehen wir als Spielart eines „Sozialismus von unten“, der heute aber neu erfunden werden müsste. Im Hintergrund steht die Wahrnehmung, dass es heute in der Bundesrepublik zwar in erheblichem Maße Konflikt- und Protest-Potential gibt, dieser sich aber kaum von selbst in Aktivitäten entlädt. Darüber hinaus gibt es vielfältige Spaltungslinien in und zwischen den Volksklassen, die dem entgegenwirken. Im Zentrum unserer Version eines „Sozialismus von unten“ steht die sog. transformative Organisierungsarbeit. Damit verbunden ist das Ziel, eine politische Strömung aufzubauen, die lernend in sozialen und politischen Auseinandersetzungen arbeitet, Brücken schlägt und eine unterschiedliche Kämpfe und soziale Bewegungen verbindende sozialistische Kraft werden kann. Nur so, davon sind wir d i e I n t e r n at i o n a l e überzeugt, kann ein neues populares Bündnis entstehen, das in der Lage ist, Kämpfe so zu führen, dass Übergänge in eine bessere Gesellschaft möglich werden. Zu flankieren wäre dies durch den Auf bau von „Orten der Gegenseitigkeit“, seien es Stadtteilläden, soziale Zentren, ansprechbare und sichtbare Organisationen vor Ort, nicht für die linke Szene, sondern für einfache Leute. Die Ausgangslage: Integrations- und Legitimationskrisen Deutschland wird häufig als Hort der Ruhe in einer stürmischen europäischen See dargestellt. Dabei ist es aufgrund des eigenen Exportmodells und der im Inneren (Agenda 2010) wie nach außen durchgesetzten Austeritätspolitik einer der Schrittmacher der politischen und der ökonomischen Integrationskrise in Europa. Insbesondere in Südeuropa haben beide Krisenformen zur Zersetzung lange dominierender Machtblöcke geführt. Offensichtlich war dies in Griechenland, wo der sozial- und christdemokratische politische Block zwar nicht gänzlich verschwunden ist, wohl aber die hegemoniale Position verloren hat. Ansatzweise gilt dies auch in Spanien und Portugal. Wir leben also in stürmischen Zeiten und es ist wohl nicht zu pathetisch, wenn man sagt: mit dem Atem der Geschichte im Nacken. Beschränkt sich die ökonomische Integrationskrise weitestgehend auf das südliche Europa, sind tiefere Legitimationskrisen auch in den west- und nordeuropäischen Ländern verbreitet. Ihr Hintergrund ist die Neoliberalisierung der Gesellschaften. Natürlich ist es nicht so einfach, dennoch kann man zugespitzt sagen, dass die permanente Ausweitung der Kapitalmacht, Privatisierungspolitiken und angebotsorientierte Sozialstaatsreformen z. B. in Österreich, Dänemark, Deutschland und Frankreich der extremen und populistischen Rechten den Boden bereitet haben. Die Prekarisierung hat eine „populistische Lücke“ entstehen lassen, die von Rechts besetzt wurde. Während im Süden Europas bisher eher linke Kräfte an Boden gewannen, konnten die Legitimationskrisen im Westen und Norden bisher vor allen Dingen von der Rechten ausgenutzt werden. Auch das ist kein widerspruchsloser, sondern ein polarisierender Prozess. In Frankreich etwa mussten wir einen lange anhaltenden Aufschwung des Front National beobachten, in jüngster Zeit wurden wir allerdings auch Zeugen beeindruckender Arbeiter- und Jugendmobilisierungen. In Spanien kam es bisher sogar kaum zur Stärkung der Rechten, dafür aber – auch im Gefolge neuartiger Mobilisierungen und Platzbesetzungen – zum rasanten Aufstieg der linkspopulistischen Formation Podemos. In England konnte bei den letzten Wahlen zunächst die rechtspopulistische UKIP besorgniserregende Wahlerfolge in den traditionell sozialdemokratischen Milieus feiern, dann folgte der erstaunliche Erfolg der Corbyn-Linken in der Labour-Party. Alles scheint in Bewegung zu sein. Auch Deutschland ist natürlich keineswegs der Hort von Stabilität und Ruhe, als der es zuweilen dargestellt wird. Und das ist nicht erst seit der Flüchtlingskrise so. Auch in Deutschland führte die Neoliberalisierung der Gesellschaft zu tieferen sozialen Krisenerscheinungen, die zugleich ein links- wie rechtspopulistisches Potenzial haben entstehen lassen. Umfrageergebnisse und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen das ganz deutlich. Diese schleichende Legitimationskrise ist eingebettet in eine komplizierte Fragmentierung der Volksklassen, also der verschiedenen Teile der Lohnabhängigenklasse und der kleinen Selbstständigen und Gewerbetreibenden. Von einer Krise des politischen Blocks an der Macht kann gleichwohl in Deutschland kaum die Rede sein, wenngleich der nominell sozialdemokratische Flügel der „extremen Mitte“ (Tariq Ali), die bei uns aus Grünen, SPD, CDU und FDP gebildet wird, zusehends an Boden verloren hat. Während sich nach 2005 erstmalig mit DIE LINKE eine real existierende bundesweite Partei links der SPD festsetzen konnte (in der PDS galt der Auf bau West zum damaligen Zeitpunkt als gescheitert), konnte diese bisher weder von der Zersetzung der SPD in nennenswertem Maße profitieren noch zu einem wirklichen Motor für Widerstand oder den Auf bau von Gegenmacht von unten werden. Auch in Deutschland entstand schließlich ein rechter Populismus, der sich aber zumindest vor der Flüchtlingskrise nicht in größerem Maße sozial bzw. wahlpolitisch auch in Arbeitermilieus verankern konnte. Das schien zunächst ein krasser Unterschied gegenüber der österreichischen FPÖ und der FN in Frankreich zu sein. Dies hat sich erst im Zuge des Sommers der Migration verändert und es bleibt abzuwarten, ob sich dies fortsetzt. Frei von Widersprüchen ist diese Entwicklung aber auch in Deutschland nicht. Auf der einen Seite finden wir einen neuen Aufschwung von Ungerechtigkeitswahrnehmungen, von Gesellschafts- und gar Kapitalismuskritik; auf der anderen Seite sind wir mit vielfältigen Spaltungslinien innerhalb der Volksklassen konfrontiert, agieren wir als eine relativ schwache Linke, die sozial schlecht Inprekorr 4/2016 63 d i e I n t e r n at i o n a l e verankert und nicht besonders mobilisierungsfähig ist, und erleben wir in jüngster Zeit eine Art „europäischer Normalisierung“ des Rechtspopulismus durch den Durchbruch der Af D. Die (radikale) Linke Das bringt uns zur LINKEN, auf die seit 2005 viele Menschen große Hoffnungen setzten. Bisher ist es ihr nicht gelungen, sich als handlungsfähige und attraktive Kraft aufzubauen, die für Menschen, die sich wehren wollen, einen praktischen Nutzen oder wenigstens einen interessanten Diskussionsraum darstellt. 2005 hatte die Partei mehr als 70 000 Mitglieder, heute sind es noch rund 59 000 – mit einem Durchschnittsalter von 60 Jahren. Gelingt es der Partei nicht, sich zu reformieren und neue Schichten zu begeistern, dann könnte sie auf mittlere Sicht in eine tiefere Existenzkrise geraten. Die biologische Uhr tickt, die Partei ist überaltert, verliert Mitglieder und kann diejenigen, die sie neu gewinnt, kaum motivieren und einbinden. Andererseits haben sich all jene geirrt, die der Partei den sicheren Weg in den Hafen der etablierten Politik vorausgesagt haben. Neuformierungsprozesse, deren zentrale strategische Wette auf eine Desillusionierung kämpferischer Mitglieder durch vorhergesagte (bzw. herbei gewünschte) Anpassungstendenzen lautete, waren Fehlschläge. Man denke nur an die Neue antikapitalistische Organisation. Gleichwohl ist die zentrale Schwäche der Linkspartei schnell auf den Punkt zu bringen: Sie ist kaum dazu in der Lage, in konkreten Auseinandersetzungen zu organisieren; sie dient nicht als sozialer Raum, in denen Kämpfende und UnterstützerInnen mit- und voneinander lernen können; sie hat es bisher nicht vermocht, eine realistische Strategie zu entwickeln, wie konkrete Reformpolitiken mit einer grundsätzlich transformatorischen Politik der Brüche und Übergänge verbunden werden können. Und das trotz der durchaus interessanten Papierlage in der Partei: Man denke an das letzte Grundsatzpapier der Vorsitzenden oder Diskussionsbeiträge aus der Rosa Luxemburg Stiftung. Wieder anders gelagert scheint uns die Sache bei der post-autonomen Linken, insbesondere der Interventionistischen Linken zu sein. Noch immer scheint sich hier ein bunter Strauß unterschiedlicher Politikansätze unter einem Dach zu sammeln. Am interessantesten und lohnenswertesten ist unseres Erachtens die Auseinandersetzung mit denen in der IL, die stärker an konkreten Organisierungsprozessen und am Auf bau von Gegenmacht von unten interessiert sind und daran arbeiten. Insgesamt 64 Inprekorr 4/2016 allerdings bleibt die zentrale Schwäche der IL als Organisation der weithin fehlende bzw. unklare Klassenbezug – damit meinen wir die Gesamtorganisation. Denn uns ist nicht entgangen, dass eine nennenswerte Zahl von GenossInnen der IL mittlerweile als hauptamtliche GewerkschafterInnen arbeiten (andere interessanterweise als bezahlte Funktionäre bei der LINKEN, wo es ein führender IL-Aktivist bis zum Büroleiter Katja Kippings gebracht hat – vielleicht eine eigene Art des post-autonomen Entrismus?). Sozialismus von unten Also: Was tun? Wir lehnen alle Ansätze ab, in denen eine Elite als Befreierin oder gar als Heilsbringerin des Sozialismus gesehen wird. Wir vertreten einen Sozialismus von unten, dessen Leitmotiv es ist, Selbstbefreiung und Selbstermächtigung zu befördern. Diese Perspektive wird allerdings naiv, wenn sie nicht gleichzeitig in Rechnung stellt, dass und wie Herrschaft in einer Mischung aus Konsens und Zwang, kompromissbehafteter Einbindung und repressiver wirtschaftlicher und politischer Disziplinierung aufrechterhalten wird. Im Hinblick auf die „ideologische Vergemeinschaftung“ gehen wir (das Problem der Verdinglichung lassen wir an dieser Stelle außen vor) von zwei paradox wirkenden Annahmen aus. Auf der einen Seite ist mit Karl Marx richtigerweise davon auszugehen, dass die herrschenden Gedanken einer Epoche die Gedanken der herrschenden Klassen sind. In normalen Zeiten existiert daher eine Hegemonie, in der die subalternen Klassen die Herrschaft und die Gesellschaftsordnung unterstützen, akzeptieren und/oder erdulden. Das ist nicht nur eine Frage der Ideologie, sondern auch der Kompromisse, die die unterschiedlichen Fraktionen der herrschenden Klassen mit den (oder einem Teil der) Lohnabhängigen- und Volksklassen schließen können, um so einen „herrschenden Block“ zu etablieren. Derartige Verteilungsbündnisse haben eine materielle und eine politische Dimension. Materiell sind bestimmte Teile der Volksklassen besser gestellt als andere – konkret etwa geht es ArbeiterInnen aus den Oligopolbetrieben der Autoindustrie besser als ArbeiterInnen aus Logistikbranchen, wenngleich das nicht heißt, in der Autoindustrie gäbe es keine Widersprüche und Konfliktpotenziale. Politisch werden Teile der Volksklassen auf unterschiedlichem Wege in den Block an der Macht integriert. Um bei den beiden Beispielen zu bleiben: Die IG Metall und die SPD repräsentieren unseres Erachtens durchaus einen Teil der Interessen von d i e I n t e r n at i o n a l e ArbeiterInnen der Oligopolbetriebe des Exportsektors. Derartige Einbindungen in Verteilungsbündnisse, die also eine im engeren Sinne ideologische, eine materielle und eine politische Dimension haben, lassen sich insofern auch nicht einfach „auf brechen“. Auf der anderen Seite kann die Befreiung der Lohnabhängigen nur das Werk der Lohnabhängigen selbst sein, d. h. die Emanzipation ist nur als Prozess der Selbstbefreiung möglich, der auf Selbstorganisation (Gewerkschaften, politische Organisationen, Bildungsinitiativen u. Ä.) und Selbsttätigkeit (aktiv sein, Kämpfe führen, sich in die Organisierungen einbringen) beruht. Beide Thesenbündel müssen wir zum Ausgangspunkt unserer Politik machen. Aus beidem lässt sich die Notwendigkeit der eigenständigen politischen antikapitalistischen Organisierung herleiten. Die antikapitalistische Organisation ist sowohl für die Herausbildung von Klassenbewusstsein, von sozialistischem Bewusstsein und damit für die bewusste Politik einer sozialistischen Gegenhegemonie im Kampf gegen die bürgerliche wichtig, als auch ein „Instrument“, durch das Initiative möglich, Kämpfe geführt und so Selbstorganisation und Selbsttätigkeit gefördert werden. Und eine in diesem Sinne bewusst agierende antikapitalistische Organisation ist unerlässlich, um gegenüber dem Block an der Macht und dem ihn stützenden Verteilungsbündnis soziale und politische Umgruppierungsprozesse ins Werk zu setzen, durch die ein mobilisierungsfähiges populares Bündnis entstehen kann. Das aber bedeutet nicht nur Auf bau von Gegenmacht von unten, um Selbstvertrauen und Selbsttätigkeit von subalternen Bevölkerungsgruppen zu fördern; es bedeutet auch, um Bevölkerungsteile zu kämpfen, die bis dato in Verteilungsbündnissen mit dem Block an der Macht stehen. „Überschattet“, wenn man so will, wird diese Herausforderung durch die vielfältigen, von der Neoliberalisierung beförderten sozialen Spaltungslinien innerhalb der Volksklassen, die in politische Konflikte umschlagen können. Wir wollen nur einige andeuten: Zwischen Prekären und eher gesichert Arbeitenden; zwischen sozial verunsicherten kleinen Selbstständigen sowie Gewerbetreibenden und sozial abgesicherten lohnabhängigen Mittelschichten; zwischen IndustriearbeiterInnen aus Hochlohnbetrieben und Niedriglohnbeschäftigten aus dem Sozial- und Pflegebereich; zwischen hier Geborenen und hierher Migrierenden; zwischen hier Lebenden und ArbeiterInnen, die nur zweitweise hier arbeiten, um danach in ihre Heimat (Polen oder Rumänien) zurückzukehren. Abschließend wollen wir – in aller Kürze – erörtern, wie eine antagonistische Linke vor diesem Hintergrund agieren sollte. Zentrale Bestandteile unseres Ansatzes sind die „transformative Organisierung“ und die „Organisation als verbindende Kraft“. Transformatives Organisieren Die erste Aufgabe ist es, eine „organisierende Linke“ aufzubauen, die ihre Arbeit darauf konzentriert, anhand konkreter Konflikte Organisierung zu ermöglichen, um subalterne Interessen durchzusetzen. Die Menschen leiden in der Regel nicht unter „dem Kapitalismus“ oder „dem System“, sondern unter miesen Vorgesetzten, schlechten Löhnen, fehlender Kinderbetreuung, hohen Mieten oder Dauerstress. Entsprechende Konfliktkonstellationen sind eben keine Mangelware, sondern eher verbreitet wie Sand am Strand. Um Ohnmachtsgefühle zu überwinden und eine politische Umorientierung zu ermöglichen, müssen wir daran mitarbeiten, Unzufriedenheiten und Konfliktpotenziale in Widerstand zu übersetzen. Dafür brauchen wir aber keine interventionistische Linke, die von außen in verschiedene Kämpfe eingreifen will, sondern eine antikapitalistische Organisierung eines möglichst großen Teils der Betroffenen selbst. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine organisierende Linke, die möglichst große Teile der Volksklassen als Aktive gewinnen möchte und den Auf bau von „Gegenmacht von unten“ ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellt. Das ist leicht geschrieben, aber es ist sehr schwer zu machen. Denn im Kern bedeutet es – sofern wir die Alltagskulturen in den meisten bestehenden linken Organisationen und Grüppchen halbwegs richtig einschätzen – einen mehr oder weniger tiefen Bruch mit vorherrschenden Logiken und Routinen in der deutschen Linken. Wie kann eine solche Arbeit in Stadtteilen aussehen? Wie in Betrieben und Universitäten? Die Anlässe und Gegenstände mögen vielfältig sein, sie reichen vom Erhalt des Öffentlichen Nahverkehrs bis hin zu Miet- und Lohnfragen. Wie aber demokratische – nicht beteiligende, sondern von Betroffenen selbst geführte – Organisierungskampagnen aufgebaut werden müssen, welche Instrumente genutzt werden sollten und welche nicht, ist noch zu lernen, auch wenn es einzelne Erfahrungen gibt, die in unterschiedlichen Zusammenhängen gemacht wurden. Teil dieses Lernprozesses wäre auch die Auseinandersetzung darüber, welche Rolle und welche Aufgaben antagonistischen Linken und antikapitalistischen Organisationen dabei zukommen können. Um es deutlich und vielleicht etwas zugespitzt zu Inprekorr 4/2016 65 d i e I n t e r n at i o n a l e sagen: Linke Propagandatruppen, die ihre Aufgabe darin sehen, das für wahr gehaltene Wissen (als eine Variante des Leninismus, Maoismus oder des Trotzkismus einerseits, der Werttheorie oder des (Post-)Operaismus andererseits …) wie einen Sack Kartoffeln in solche Kämpfe zu tragen, braucht kein Mensch. Wir beschreiben den Auf bau der „organisierenden Linken“ als Zukunftsaufgabe. Denn bisher gibt es diese „organisierende Linke“ nicht. Um auch hier Missverständnissen vorzugreifen: Wir gehen nicht davon aus, dass wir lediglich trommeln müssen, damit tausend Organisierungen blühen. Wir gehen vielmehr davon aus, dass das politische Bewusstsein und das Selbstvertrauen in den Volksklassen ungleich entwickelt sind. Das gilt für die verschiedenen Klassenteile ebenso wie für den einzelnen Menschen. Viele Marxisten haben versucht, diese Einsicht in einer schematischen, aber für die tägliche Praxis äußerst wertvollen Aufteilung der Klasse der Lohnabhängigen darzustellen. Demnach lassen sich vier Teile voneinander unterscheiden. 1. Der bewussteste Teil der Klasse, der sich über die konkrete Situation hinaus orientiert, längere Zeit in Kämpfen und im politischen Leben aktiv ist und auf die Überwindung des bestehenden Systems hinarbeitet – ein sehr kleiner Teil der Klasse im Kapitalismus. 2. Ein Teil der Klasse, der länger in konkreten Auseinandersetzungen aktiv ist, etwa in Betrieben und Gewerkschaften, in der Antirassismusarbeit oder feministischen Initiativen, ohne dieses Engagement mit einer alternativen Gesellschaftsvision zu verbinden. 3. Ein Teil der Klasse, der gelegentlich in konkreten Auseinandersetzungen aktiv wird und der sich fast täglich neu entscheidet und orientiert, mal zur spontanen Militanz greift, wenn es vielversprechend für ein konkretes Ziel erscheint, in den meisten politischen Fragen aber desinteressiert bis ablehnend erscheint – das ist der größte Teil der Klasse, in dem Ohnmachtsgefühle und Erfolgserlebnisse sich abwechseln. 4. Ein anderer Teil der Klasse, der sein Gedeih und Verderb an das bestehende System knüpft, fest in dieses eingebunden ist (sei es durch eine christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, sei es durch schnöde materielle Vorteile) und weithin regressive Vorstellungen hegt (sozialchauvinistische, rassistische und sexistische Einstellungen). Auch das ist ein Teil der Volksklassen, der aber eine bedeutende Minderheit bildet. Unseres Erachtens geht es darum, aus den ersten beiden Gruppen eine organisierende Linke zu schaffen, die dazu in der Lage ist, die dritte Gruppe in ihren Kämpfen 66 Inprekorr 4/2016 zu unterstützen, um so Selbsttätigkeit, Selbstvertrauen und politische Lernprozesse zu ermöglichen. Nur wenn uns das gelingt, finden wir auch das richtige Gegengift gegen den vierten Teil der Volksklassen, der nach unserer Überzeugung das soziale Fundament aller reaktionären Bewegungen und Organisierungen bildet, die wir in jüngster Zeit erleben mussten: Lokale Initiativen gegen Flüchtende, die Af D, Pegida. Ihren Einfluss auf die anderen Teile der Volksklassen gilt es einzudämmen und zu isolieren. Verbindende Linke und Orte der Gegenseitigkeit Ist der Auf bau von Gegenmacht für uns eine Voraussetzung dafür, dass ein mobilisierungsfähiges populares Bündnis entstehen kann, reicht er gleichwohl nicht aus. Um Fragmentierungslinien in den Volksklassen zu überwinden, müssen diese sozialen Konflikte aus ihrer Lokalität in eine gemeinsame Perspektive übersetzt werden, müssen Differenzen und Gemeinsamkeiten mit anderen entdeckt und erörtert werden. Die Differenzen können nicht vom Tisch gewischt werden, aber aus der Vielfalt heraus ist Einigung möglich. Abstrakt formuliert: Eine organisierende Linke muss „verbindend“ wirken, indem sie einerseits einer maximal großen Zahl von AktivistInnen aus unterschiedlichen Auseinandersetzungen einen gemeinsamen Rahmen bietet und indem sie andererseits unabhängig davon Orte und Räume schafft, in denen derartige Einigungen entstehen können. An dieser Stelle geht es weniger um konkrete Beispiele – etwa Ratschläge sozialer Bewegungen mit zu initiieren, übergreifenden Austausch zwischen kämpferischen AktivistInnen verschiedener Gewerkschaften anzuregen oder AntirassismusaktivistInnen mit fortschrittlichen Vertrauensleuten zu vernetzen –, sondern um die klare Formulierung der Aufgabenstellung: Aktiv soziale Spaltungslinien (auch dort, wo wir leben) zu überwinden und ein spannungsreiches Bündnis (in unserem Alltag) zwischen verschiedenen Teilen der Volksklassen zu schmieden. Zu unterfüttern wäre diese bewusste „verbindende Praxis“ durch den Auf bau und die Förderung von „Orten der Gegenseitigkeit“, die zu einer Art „sozialem Netzwerk gelebter Solidarität“ verknüpft werden könnten. Damit meinen wir beispielsweise Stadtteilläden und soziale Zentren, die aber bewusst nicht Teil einer linken Szenekultur sein sollten. Wir denken eher an „Workers Center“, mit denen seit einigen Jahren in den USA experimentiert wird, als an die Rote Flora oder ein x-beliebiges anderes autonomes Zentrum in Deutschland. In d i e I n t e r n at i o n a l e vielen Regionen müssen diese Orte nicht erst geschaffen werden; wir finden durchaus Räume und Werkzeuge vor und unsere Aufgabe wird es sein, sie zu nutzen. Gleichzeitig müssen wir diese Orte aktualisieren, sie zugänglicher gestalten, so dass sie denen als materielle Grundlage dienen können, die Widerstand organisieren wollen – ohne große bürokratische Hürden und ohne die sofortige Zuordnung zu vermeintlich linken Organisationen und (Un-)Kulturen. An diesen „Orten der Gegenseitigkeit“ kann Hilfe geleistet und Solidarität praktisch erfahrbar werden. Im besten Fall verschmilzt an diesen Orten eine Kultur des sich Begegnens, sich Helfens und sich umeinander Kümmerns mit einer Kultur der Gegenwehr und des Widerstandes. Wochenendseminar von isl und RSB Spanien 1936–1939: Revolution und Konterrevolution Im Juli 2016 jährt sich der Beginn des spanischen Bürgerkrieges (1936–1939) zum 80. Mal. In unserem Wochenendseminar untersuchen wir neben dem Kampf zwischen der ArbeiterInnenbewegung und dem Franco-Lager auch die zentrale Auseinandersetzung innerhalb des republikanischen Lagers: Soziale Revolution oder: erst den Krieg gewinnen. Es referieren u. a. Werner Abel, Vera Bianchi und Reiner Tosstorff. Beginn: Samstag, 17.9., 12 Uhr, Ende: Sonntag, 18.9., 13 Uhr Ort: Haus der Jugend Frankfurt am Main Teilnahmekosten: 60 Euro (mit Unterkunft und Verpflegung); Ermäßigungen möglich Weitere Information und Anmeldung: [email protected] oder [email protected] oder Tel. 0221 / 923 11 96 internationale sozialistische linke (isl) und Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB) https://www.facebook.com/events/271065996617143/ Inprekorr 4/2016 67 d i e I n t e r n at i o n a l e Lernen, die Welt zu verändern Das 32. internationale Sommercamp der IV. Internationalen in Katalonien Vom 24. bis zum 30. Juli dieses Jahres werden sich in Granollers in der Nähe von Barcelona mehrere hundert Jugendliche aus mindestens 18 Ländern versammeln. Sie eint die Überzeugung von der dringenden Notwendigkeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen ebenso wie der Glaube daran, dass solche Veränderungen möglich sind. Wie groß die Dringlichkeit einer Umwälzung mittlerweile ist, hat das vergangene Jahr erneut unter Beweis gestellt. Die Ankunft einer großen Zahl Geflüchteter in Kerneuropa hat viele Menschen ganz unmittelbar mit den verheerenden Folgen kapitalistischer Kriege und Ausbeutung konfrontiert. Die Antwort der Herrschenden besteht darin, den Keil des Rassismus tief in die Gesellschaft zu treiben, verschiedene unterdrückte Gruppen gegeneinander auszuspielen und zugleich die Festung Europa noch brutaler abzuschotten. Brandanschläge, gewalttätige Übergriffe und der Aufstieg der AfD beweisen dabei, wie gefährlich der Rechtsextremismus und wie aktuell der Kampf gegen ihn ist. Die nach wie vor schwelende tiefe Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft sowie die sich bereits in vollem Gang befindliche Klimakatastrophe stellen die Lebensgrundlage eines großen Teils der Menschheit in Frage. Derweil herrscht in Deutschland im Großen und Ganzen immer noch Friedhofsruhe. Soziale Kämpfe finden, wenn überhaupt, vereinzelt und isoliert statt. Insbesondere die Jugend, normalerweise die Speerspitze linker und sozialer Bewegung, verhält sich in ihrer Mehrheit ausnehmend friedlich. Prekarisierung, gesellschaftliche Vereinzelung, neoliberale Propaganda und fehlende Organisation haben zu verbreiteter Hoffnungslosigkeit im Bezug auf positive gesellschaftliche Veränderungen geführt. Dass das nicht immer so sein muss, beweist der Blick in die Geschichtsbücher ebenso wie der über die deutschen Grenzen hinaus. Von Spanien über Frankreich bis Griechenland beweisen nicht zuletzt junge Menschen, dass man für gemeinsame Ziele kämpfen und dabei auch erfolgreich sein kann, wenn der Kampf entschlossen und kollektiv geführt wird. Damit diese Erfahrungen nicht verloren gehen, ist es wichtig sich darüber auszutauschen. Anders gesagt: Die Welt verändern, kann man lernen. Genau darum geht es beim Sommercamp der IV. Internationalen. In Workshops, Vorträgen und Diskussionen wollen wir voneinander lernen und unser theoretisches und praktisches Wissen austauschen. Wie organisiert man einen Streik, wie den Kampf gegen Nazis? Welche Parteien brauchen wir und welche Forderungen sind 68 Inprekorr 4/2016 zeitgemäß und mobilisierungsfähig? Und wie durchbricht man eigentlich eine Polizeikette? Über diese und andere Fragen werden wir die Erfahrungen aus verschiedenen Ländern sammeln, diskutieren und auswerten und unsere Kämpfe damit über Ländergrenzen hinweg verbinden. Die Mitbestimmung des Campalltags ermöglicht es auch eine selbstverwaltete Struktur zu erleben und zu gestalten. Nicht zuletzt wollen wir auch bei gemeinsamen Feiern junge linke Menschen aus den verschiedensten Ländern kennenlernen. Internationalismus und Solidarität sind auf dem Sommercamp praktisch erlebbar. Auch aus Deutschland wird wieder eine Gruppe junger Menschen zum Sommercamp reisen. Die Fahrt werden wir gemeinsam möglichst kostengünstig organisieren. Egal, ob organisiert oder nicht - das Sommercamp steht allen interessierten Menschen offen. Bei Interesse an einer Teilnahme oder weiteren Fragen kann unter [email protected] oder unter [email protected] Kontakt aufgenommen werden. Weitere Informationen gibt es auch unter www.rsb4.de/sommercamp
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