Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?

Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Eine Analyse der „offenbarten“ Renntaktiken anhand
faktischer Rennverläufe beim Berlin Marathon 2015
Mit freundlicher Unterstützung der SCC Events GmbH
Juli 2016
http://www.blumento.de/DL/BM2015.pdf
Keywords: Renntaktik, Marathon, Endbeschleunigung
Autor:
Reiner Braun
[email protected]
1
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
WAS MAN HAT, DAS HAT MAN – ODER ETWA NICHT?
Der Sieger des Berlin Marathon 2015 war nach 02:04 Stunden im Ziel. Der
letzte Finisher benötigte für die 42,195 km etwas mehr Zeit, für ihn blieb
die Uhr nach 07:07 Stunden stehen (Abbildung 1). Das sind die Extreme.
Dazwischen laufen Meier, Müller, Schulze. Von denen finishte knapp die
Hälfte unter 4 Stunden, jeder vierte in weniger als 3:35 Stunden und jeder
zwanzigste unterschritt sogar die magische 3-Stunden-Grenze. Soweit die
Statistik. Aber was unterscheidet eigentlich die schnelleren von den langsameren Läufern?
Klar, im Durchschnitt sind Jüngere schneller als Ältere, Männer schneller
als Frauen und Talentierte schneller als Bewegungslegastheniker
(Abbildung 2). Aber nicht alle Faktoren sind vom Läufergott gegeben. Abgesehen vom Trainingsfleiß gibt es einen Parameter, den sich jeder Läufer
immer wieder selbst zurechtschmiedet: die Renntaktik.
Abbildung 1: Verteilung der Zielzeiten 2015
7:30:00
7:00:00
6:30:00
Zeit in h:mm:ss
6:00:00
5:30:00
5:00:00
4:30:00
4:00:00
3:30:00
3:00:00
2:30:00
2:00:00
0
10
20
30
40
50
60
Anteil Teilnehmer in %
Berlin Marathon vom 27.09.2015; N = 36.768 Finisher
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
© Reiner Braun 2016
70
80
90
100
2
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Abbildung 2: Mittlere Zielzeiten nach Alter und Geschlecht 2015
05:30
Zeit alle
Anzahl Frauen
Anzahl Männer
7.000
Zeit Frauen
6.000
04:30
5.000
04:00
4.000
03:30
3.000
03:00
2.000
02:30
1.000
02:00
Anzahl Läufer
Zeit in h:mm
05:00
Zeit Männer
0
JA
HK
30
35
40
45
60
50
55
Altersklasse
65
70
75
80
alle
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Das Tempo im Rennverlauf
Der Rennverlauf des durchschnittlichen Marathoni sieht so aus: Bis Kilometer 25 ist das Tempo überdurchschnittlich, dann fällt es zusehends ab.
Aber so wie sich die Zielzeiten unterscheiden, so unterscheiden sich auch
diese Tempovariationen. Der eine variiert seine Pace großzügig um +/15%, die andere weicht kaum 5% vom mittleren Tempo nach oben oder
unten ab (Abbildung 3). Doch welche Taktik führt zum Erfolg?
Über Erfolg und Misserfolg dürfte jener Teil des Rennens entscheiden, auf
dem die Masse der Läufer ihr Tempo (noch) im Griff hat. Das sind offensichtlich die ersten 25 km, danach kommt irgendwann der Mann mit dem
Hammer. Die Tempovariation auf diesem Teilstück ist demnach ein Indiz
für die individuelle Renntaktik. Also schauen wir nach, wie sich die Pace
vom Anfang bis zum Ende dieser 25 km entwickelt (Einbruchrate). Der
Statistiker geht dabei pragmatisch vor und teilt alle Läufer in „gleichbreite“ Gruppen ein (Breite = halbe Standardabweichung der Einbruchrate;
Abbildung 4).
© Reiner Braun 2016
3
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Abbildung 3: „Offenbarte“ Renntaktik nach Läufertypus
Pace-Index (Mean = 100) nach Streckenabschnitt
115
Pace (Mean = 100)
110
105
Lemminge
Übermütige
100
alle
Sammler
95
Jäger
Los-Schlurfer
90
85
15
610
1115
1620
2125
26- 31- 36- 4130 35 40 42
Streckenabschnitt
121
2242
142
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Abbildung 4: Verteilung der Einbruchraten
Einbruchrate = Veränderung der mittleren Pace auf Kilometer 16 bis 25
gegenüber Kilometer 1 bis 10
50
40
20
10
Verteilung
M+0,5*Stabw
0
Mean (M)
-10
M-0,5*Stabw
M-1,0*Stabw
-20
-30
-40
-50
Los-Schlurfer
Einbruchrate in sec/km
30
0
Jäger
Sammler
20
40
60
Anteil Teilnehmer in %
Übermütige
80
Lemminge
100
Mean = arithmetischer Mittelwert = 11,2 sec, Stabw = Standardabweichung = 23,5 sec
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
© Reiner Braun 2016
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
4
Typologie der Renntaktik
Lemminge: Jeder fünfte Läufer (19%; Abbildung 5) überlebt sein Anfangstempo nicht annähernd und stürzt sich daher wie die Lemminge ins
Verderben: Die Einbruchrate auf den ersten 25 km liegt bei mehr als 23
sec/km. Dazu zählen vor allem Frauen und über 50-Jährige. Die Zielzeit
der Lemminge liegt meist über 4:30 h. Vermutlich wollen die alten Haudegen ihrem Körper mehr abringen, als er noch leisten kann.
_____________________________________________________________________________________
Übermütige: Schon vor dem Hammermann ist für jeden sechsten Läufer
(16%) die Jagd zu Ende: 11 bis 23 sec/km bricht er ein. Beliebt ist diese
Taktik in allen Altersklassen – vor allem jenseits der AK 45 – und bei
Frauen etwas mehr als bei Männern. Bis zum Ziel brauchen die Übermütigen meist mehr als 4:00 h.
_____________________________________________________________________________________
Sammler: Die meisten Läufer sind Sammler (38%). Sie werden beim Kilometersammeln höchstens 11 sec/km langsamer, manche sogar bis zu
1 sec/km schneller als zu Beginn. Auch diese Taktik ist in allen Altersklassen beliebt, vor allem in den stark besetzten AK 35 bis AK 45, bei Männern
etwas mehr als bei Frauen. Das Ziel erreicht das Gros der Sammler unter
4:00 h.
_____________________________________________________________________________________
Jäger: Jäger stellen die zweitgrößte Gruppe (23%). Sie lauern zunächst
ihren Opfern auf, werden auf Kilometer 15 bis 25 bis zu 12 sec/km schneller und packen dann zu: Diese vor allem in der AK 45 und den Altersklassen darunter beliebte Taktik trifft man bei Männern eher an als bei Frauen. Sie führt ebenfalls meist zu einer Nettozeit unter 4:00 h.
_____________________________________________________________________________________
Los-Schlurfer: Sie verhalten sich zunächst recht träge, können im Rennverlauf aber um mehr als 12 sec/km zulegen. Dabei handelt es sich nur um
eine kleine Gruppe (5%) vorwiegend jüngerer Läufer unter AK 30, vermutlich unerfahrene Marathonis. Männer und Frauen halten sich die
Waage. Trotz der beachtlichen Beschleunigung rächt sich das anfängliche
Geschlurfe: Typische Finisherzeiten liegen jenseits der 4-Stunden-Marke.
© Reiner Braun 2016
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Abbildung 5: Läufertyp nach Geschlecht, Zielzeit und Altersklasse
100%
100%
17%
Anteil an allen Läufern
80%
19%
24%
16%
70%
19%
60%
Lemminge
39%
Übermütige
38%
Sammler
33%
40%
Jäger
Los-Schlurfer
30%
20%
24%
20%
23%
5%
5%
5%
M
W
Geschlecht
alle
10%
0%
0%
4%
2%
9%
6%
14%
15%
80%
15%
50%
0%
1%
90%
Anteil an allen Läufern
90%
33%
20%
70%
60%
5
63%
80%
68%
52%
44%
50%
Lemminge
23%
Übermütige
37%
Sammler
40%
Jäger
25%
30%
20%
33%
10%
19%
0%
0%
<2:30
34%
31%
Los-Schlurfer
15%
21%
14%
7%
5%
5%
3%
1%
2:30-3:00 3:00-3:30 3:30-4:00 4:00-4:30 4:30-5:00
Zielzeit
11%
4%
2%
>5:00
100%
90%
19% 18% 16% 16% 15% 17% 21%
Anteil an allen Läufern
80%
70%
19%
41% 45%
19%
32%
35% 37% 39% 41%
Lemminge
20%
39%
37%
36%
30%
Übermütige
21%
23%
26% 27%
7%
8%
6%
5%
4%
4%
3%
2%
JA
H
30
35
40
45 50 55
Altersklasse
60
26% 25% 24%
Sammler
Jäger
33%
16% 20%
23%
10%
0%
64% 60%
19%
21%
40%
20%
30%
15%
13% 13% 14%
16%
60%
50%
25%
Los-Schlurfer
27%
19% 17%
14% 14%
4%
2%
65
10%
6%
1%
70
9%
1%
75
20%
0%
80
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Welche Taktik bringt Erfolg?
Sammler und Jäger gehören eindeutig zu den schnelleren Läufern. Aber
das muss nicht notwendig der Taktik geschuldet sein. Es könnte auch am
größeren Männeranteil im besten Marathonalter liegen, der sich in diesen
Gruppen zusammenfindet. Also muss geprüft werden, ob diese Taktiken
auch dann noch zu besseren Zeiten führen, wenn man um Alter und Geschlecht bereinigt! Mit speziellen statistischen Verfahren ist dies möglich.
Und das kommt dabei raus: Der statistisch „genormte“ M45er deutscher
Nationalität benötigte für den Berlin Marathon 2015 eine Zeit von 3:50 –
wenn er zur Gruppe der Jäger oder Sammler gehörte (Abbildung 6). Mit
© Reiner Braun 2016
6
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
der Los-Schlurf-Taktik war dieser Normläufer dagegen 19 Minuten (1.173
sec) länger unterwegs, als Übermütiger sogar 22 Minuten (1.347 sec) und
als Lemming überquerte er die Ziellinie erst eine Stunde nach den Sammlern und Jägern (3.590 sec).
Abbildung 6: Regression auf die Zielzeit – alle Läufertypen
Zielzeit in sec
Daten: Berlin Marathon 2015
Quelle: SCC Event
Auswahl: alle Läufertypen
Nicht standardisierte
Koeffizienten
Regressions- Standardkoeffizient B
fehler
2
R = 0,397
n = 36.768
Standardis.
Koeffizienten
T
Sig.
Beta
Konstante
14.426
43
332,55
,00
Geschlecht
Mann
Frau
-1.365
0
25
-,220
-53,56
,00
Nationalität
GER
non GER
425
0
22
,079
19,32
,00
Altersklasse
HK
ak30
ak35
ak40
ak45
ak50
ak55
ak60
ak65
ak70
ak75
ak80
akja
akso
0
-67
7
105
301
605
1.009
1.571
1.949
2.553
3.610
2.619
1.084
-4.981
45
44
42
42
44
53
69
106
165
251
923
242
2.063
-,008
,001
,015
,044
,079
,097
,106
,078
,064
,059
,012
,018
-,010
-1,49
,15
2,48
7,15
13,61
19,07
22,90
18,33
15,48
14,37
2,84
4,48
-2,41
,14
,88
,01
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,02
Los-Schlurfer
Jäger
Sammler
Übermütige
Lemminge
1.173
0
10
1.347
3.590
55
,093
21,40
,00
28
35
34
,002
,185
,526
,37
38,05
105,77
,71
,00
,00
Typus
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Aber gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen Sammlern und Jägern?
Oder sind die beiden Gruppen vielleicht einfach zu weit gefasst? Legen wir
eine Lupe an. Und tatsächlich, eine detaillierte Untersuchung nur mit Läufern dieser beiden Gruppen kommt zum Ergebnis, dass das Optimum fast
genau an der Grenze zwischen Sammlern und Jägern verläuft. Unser 45jähriger Normläufer braucht demnach nur 3:46 Stunden, wenn er seine
Pace bis Kilometer 25 exakt konstant hält (Abbildung 7). Und diese Finisherzeit verschlechtert sich schon um eine Minute, wenn er auf den ersten
25 km nur zwei bis drei sec/km schneller (zu langsam losgelaufen) oder
langsamer wird (zu schnell losgelaufen).
© Reiner Braun 2016
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Abbildung 7: Regression auf die Zielzeit – nur Jäger und Sammler
Zielzeit in sec
R2 = 0,173
Auswahl: nur "Jäger" und "Sammler"
Nicht standardisierte
Koeffizienten
R2 = 0,173
n = 22.453
Daten: Berlin Marathon 2015
Quelle: SCC Event
Standardis.
Koeffizienten
T
Sig.
286,67
,00
-45,71
,00
,135
21,93
,00
54
52
50
50
54
66
91
160
266
537
1.930
304
1.930
-,005
,005
,035
,069
,117
,128
,125
,079
,064
,045
,005
,029
-,014
-,56
,53
3,71
7,44
13,65
17,09
18,57
12,65
10,37
7,41
,87
4,77
-2,37
,57
,59
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,00
,38
,00
,02
5,00
0,369
0,0619
-,025
,165
,058
-1,89
27,00
4,48
,06
,00
,00
Regressionskoeffizient B
Standardfehler
Konstante
14.060
49
Geschlecht
Mann
Frau
-1.465
0
32
-,280
Nationalität
GER
non GER
580
0
26
Altersklasse
HK
ak30
ak35
ak40
ak45
ak50
ak55
ak60
ak65
ak70
ak75
ak80
akja
akso
0
-30
28
186
374
739
1.129
1.687
2.023
2.758
3.976
1.688
1.451
-4.579
einfach
-9,47
9,971
0,2770
Einbruchrate
quadriert
(s. Abbildung)
kubisch
Beta
Auswirkung Einbruchrate auf Zielzeit (nur Jäger und Sammler)
Einbruchrate (e) = Veränderung Pace auf km 16-25 gegenüber km 1-10
1.600
Erhöhung Zielzeit - Koeffizient (k) in sec
1.400
1.200
k = -9,47 e + 9,971 e2 + 0,2770 e3
1.000
Min bei e = 0,5
k (0,5)= -2,2
800
600
400
200
zu schnell
losgelaufen
zu langsam
losgelaufen
0
-11 -10 -9 -8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3
Einbruchrate (e) in sec/km
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
© Reiner Braun 2016
4
5
6
7
8
9 10 11
7
8
Was man hat, das hat man – oder etwa nicht?
Was lernen wir daraus?
Ein bekannter Trainer propagiert den Negativ-Split. Demnach sollte das
Tempo auf den ersten 25 km um 7 sec/km steigen (Peter Greif: „CountDown-zur-Bestzeit“). Ist diese Empfehlung nun widerlegt? Vermutlich
nicht. Denn die präsentierte Analyse hat ein entscheidendes Manko: Sie
baut allein auf Daten zur „offenbarten“ Taktik. Wir wissen nicht, ob die
Taktiken so geplant waren oder ob sich die Läufer nach dem Start und im
Laufe des Rennens zum „falschen“ Tempo hinreißen ließen. Und selbst
wenn alles nach Plan verläuft: Jeder halbwegs erfahrene Läufer kennt
zwar sein realistisches Tempo. Aber kennt er es auf die Sekunde genau?
Und wer rechnet sich vor dem Wettkampf seine Form nicht gerne schön?
Von der Ziellinie rückblickend mag aus der Sicht des Statistikers also das
konstante Anfangstempo die richtige Wahl sein. Von der Startlinie vorausblickend dürfte sich aus Läufersicht aber dennoch eine gewisse Zurückhaltung beim Anfangstempo auszahlen. Denn eines zeigt die Untersuchung auf jeden Fall: Es kommt auf Sekunden an. Schon minimale Abweichungen in der Anfangsphase werden am Ende mit etlichen Minuten bestraft – und zu schnelles Loslaufen stärker als zu langsames.
Abbildung 8: Platzierungsverbesserung auf der zweiten Hälfte
Platzierung und packing rate
Daten: Berlin Marathon 2015
Quelle: SCC Event
Platzverbesserung auf der zweiten Hälfte
Teilnehmer
Anzahl
Typus
mittlere Platzierung
1. Hälfte
Ziel
packing rate
absolut
relativ
alle Läufer
36.754
18.378
18.384
-7
0%
Los-Schlurfer
1.702
22.496
19.586
2.910
13%
Jäger
8.559
15.564
14.039
1.525
10%
Sammler
13.893
14.816
14.530
286
2%
Übermütige
5.771
20.035
21.178
-1.143
-6%
Lemminge
6.829
26.722
28.994
-2.271
-8%
Quelle: SCC Events / Berlin Marathon 2015
Und seit der Fußball-EM wissen wir es ohnehin besser: Für die Selbstvermarktung zählen weniger die Tore (vulgo: Zielzeiten). Was da zählt, ist die
packing rate! Und tatsächlich ist doch nichts schöner und motivierender
als das Überholen in der zweiten Halbzeit. Diese Wertung gewinnt zwar
die Los-Schlurf-Taktik mit einer durchschnittlichen Platzierungsverbesserung um 2.910 Plätze ab der Halbmarathonmarke (13%; vgl. Abbildung
8). Gleichwohl verbessern sich – bei schnelleren Zielzeiten – auch die
Greifschen Jäger noch um 10%, während Sammler dann nur noch 2% vorankommen. In diesem Sinne: Wir packen das!
© Reiner Braun 2016