Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.1972, S. 8L Venturi, Lionello: Geschichte der Kunstkritik Ist es Ignoranz oder Arroganz, die den Piper Verlag die Geschichte der Kunstkritik von Lionello Venturi als Standardwerk, gar als Pionierleistung ohne Beispiel ankündigen läßt? Sie erschien 1936 in den USA, in der italienischen Fassung letzter Hand 1948 - also nach der Wende der Kunstauffassung um 1910 und vor der zweiten um 1960. Wenn sic nun in deutscher Ausgabe erscheint, "für jeden geistesgeschichtlich interessierten Leser" gedacht, muß mehr als ein nur historisches Verdienst vorliegen. Der Vorwurf, den Venturi seinem Zeitgenossen Julius von Schlosser zu dessen "Kunstliteratur" (1924) macht, viel Wissenswertes nämlich, aber alles Einzelheiten, trifft auch auf Venturi zu. Einem Vergleich dagegen mit Albert Dresdners Die Entstehung der Kunstkritik hält Venturis viel umfangreicheres Werk in keiner Weise stand. Dresdner veröffentlichte 1915 einen ersten Band der Geschichte der Kunstkritik bis Diderot; das mangelnde Echo, in Kriegszeiten zumal, hat den verschollenen Kunsthistoriker abgehalten, die Geschichte fortzuschreiben. Leider! Denn Dresdner ging der Frage nach, warum erst der spätantike Plotin die Behauptung aufstellte, Kunst sei nicht Hand-, sondern Geistesarbeit; warum es in der Renaissance zum Selbstbewußtsein der Künstler und zur Symbiose von Kunst und Literatur kam; daß die Gründung der Akademien den Zweck hatte, die Zünfte zu brechen und den Absolutismus zu stärken, und wie durch den Ruin der Staatsfinanzen der Künstler im französischen Salon des 18. Jahrhunderts sich zum ersten Mal einem breiten Laienpublikum stellen mußte und hier die Kunstkritik entstand, als Ratgeber. Dresdner gab eine Definition, die bis heute gültig ist: "Unter Kunstkritik verstehe ich diejenige selbständige literarische Gattung, welche die Untersuchung, Wertung und Beeinflussung der zeitgenössischen Kunst zum Gegenstand hat". Dieses Buch ist durch eine verdienstvolle Neuauflage seit 1968 wieder greifbar und war Venturi bekannt. Er findet darin zu viele soziale Aspekte und zu wenig ausführliche Kunsturteile. Lionello Venturi (1885-1961), der sich zunächst als Giorgione-Spezialist einen Namen gemacht hatte und später über Cézanne und Pisarro arbeitete, tritt in der Geschichte der Kunstkritik gegen den Positivismus des 19. Jahrhunderts an, gegen die Flucht vor Werturteilen und den Methodenwirrwarr, den er an den Universitäten vorfindet. Kunsthistorie und Kunstkritik gehören für ihn, in der Nachfolge Benedetto Croces, zusammen, aber er findet keine Methode, eine kritische Geschichte der Kunst, der Kunsthistorie, der Kunsturteile, der Kunsttheorien, der philosophischen Ästhetik und der Kunstkritik auseinanderzuhalten, es gerät ihm alles zu einem Kompendium von Anmerkungen über dieses und jenes. Leitgedanke ist eben nicht ein Gedanke, sondern die Sehnsucht nach der Kreativität. Verständlich damals, aber gerade diese Sehnsucht ist aus Mangel an Gedankenfestigkeit so völlig vergoren zu schöngeistiger Allgemeinplätzigkeit, daß die heutige Generation von Kunsthistorikern und Kunstkritikern äußerste Mühe hat, durch unverdorbene Argumente das Recht auf Imagination und Arationalität überhaupt zu halten. Venturi geht es um den "inneren Gehalt", um das Schöpferische, das stets gefeiert, aber nie definiert wird. In Anlehnung an Croces Unterscheidung, Literatur bringe Zeitströmungen zum Ausdruck, Dichtung sei das Universale, löst Venturi die Kunst heraus als "Repräsentant des Ewigen" und als Höhepunkte in einer Geschichte des Geschmacks. Unter den Begriff "Geschmack" summieren sich die zeittypischen Werke, aber auch der ganze historische und ästhetische Kontext, während der soziale ausgeschieden wird, der als einziger eventuell eine Geschichte des Geschmacks hätte interessant machen können. In altväterlicher Bekennerrhetorik manifestiert sich hier die für die Bildungsgeneration des Jahrhundertanfangs kennzeichnende Haltung, vor Kunst die Welt nicht zu sehen. "Aufgabe der bildschöpferischen Phantasie ist es, eine Form zu erschaffen, Form im Sinne einer höheren geistigen Ordnung, die der Welt der Sinneserfahrungen und des Gefühlslebens zugeordnet ist... Form, die künstlerische Form zu sein beansprucht, kann nicht kopiert und nicht erfunden werden, sie muß erschaffen sein. Erfindung ist die Herstellung eines Gegenstandes, der mit der geistigen Existenz des Menschen im Grunde nichts zu tun hat (z. B. ein Telephon oder ein Flugzeug). Kunst hingegen... ist ein neues menschliches Sein, das sich von der Nachahmung oder der Erfindung durch das Schöpferische unterscheidet". Kunst wird ins Ontologische isoliert. Die Rache der "ungeistigen", aus dem Denken ausgestoßenen Technik folgte auf dem Fuß. Da Ventrui folglich entgehen muß, daß eine zusammenhängende Geschichte der Kunstkritik nur eine Wirkungsgeschichte sein kann, bleibt ihm nichts, als Quellenstudien aneinanderzureihen. Philosophen, Autoren und Regelbücher der Antike werden nach sporadischen Kunstbeschreibungen und Kunsturteilen abgefragt, Kunstkritik ist das sowenig wie Homers Schilderung vom Schild des Achill. Es wird da zwar manche aufschlußreiche Bemerkung ausgegraben, besonders von Lukian, aber hinter großspurigen Überschriften wie "Antinomien der Kunstkritik" verbirgt sich nichts anderes als eine professorale Sammlung dürftiger Zitate zum Grotesken, zur Schönheit der Geometrie etc. Schlüsse zum Kunstverständnis der Antike werden nicht daraus gezogen. Aber Männer machen Geschichte: die hohe Blüte der Architektur im Mittelalter verdanken wir letztlich Augustmus' Geschmack an Architektur, im übrigen war das Mittelalter, ohne Autonomie der Kunst, ein Kulturverfall, wo "jegliches Interesse an den Fragen des Geschmacks geschwunden war". Die besten Seiten gelingen Venturi bei der Renaissance: bis zur Methodik Galileis glauben die Künstler, gleich den Wissenschaftlern verborgene Kräfte der Natur ans Licht holen zu können. Gegenüber den Künstlerviten (z. B. Vasari) und den Kunsttraktaten (z. B. Alberti und Leonardo) erscheint ihm Aretino "belanglos", weil sein Stil "an moderne Zeitungsartikel denken läßt". Dabei war Aretino durch seine regelrechten Kunstberichte und seine Machtprobe mit Michelangelo (nicht nur der Künstler sei zu einem angemessenen Urteil über Kunstwerke fähig) der erste Vorläufer der Kunstkritik. Ähnlich wird später Roger de Piles abgefertigt, weil Venturi nicht auf die Wirkung seines Textes sieht, sondern nur auf seinen Stil. Auf Seite 147 kommen wir zum ersten Mal zur öffentlichen Kunstkritik. Gegenüber Dresdner, der handfeste Gründe angibt, wirkt Venturis Darstellung, warum es zum Begriff Genie, zum Instrument der Akademien oder zum sozialen Akzent der Salonkritik kam, wie die eines Dilettanten, der blind Quellen studiert und feststellt, die Auffassungen "wandelten sich" eben. Dafür wird Diderot, dem Erfinder der analytischen Bildbeschreibung, Ideenarmut bescheinigt, Winckelmann war eine Verirrung und überhaupt kein tauglicher Denker, Lessing (von dem der Begriff "bildende Künste" stammt) war der, "der alles allein vom rein Körperlichen her begriff", und dem englischen Kritiker John Ruskin, der der Kunst nach ihrer Entlassung aus einer sozialen Bedeutung den Ausweg der Autonomie wies, hält Venturi vor, er habe Bonington nicht gewürdigt, "um so lauter pries er den mittelmäßigen Turner". Auf je ein paar Seiten werden die ästhetischen Theorien von Kant, Herder, Goethe, Schelling, Gebrüder Schlegel und Hegel abgerissen, die Romantik hat nicht viel mehr getan als das Mittelalter entdeckt. Wenn schon eine Kompilation aller ästhetischen Theorien, dann sie auch nicht nur immer streifen, streifen 300 Seiten lang. Gewiß ist Baudelaire der König der Kunstkritik, aber dichterische Sensibilität und Respekt vor der Individualität des Künstlers sind sehr vage Begründungen. Ein Vergleich der Salonkritik von 1845, die noch von konventionellen Kategorien ausgeht, mit der von 1846, wo Baudelaire die ersten Gedanken zu semer späteren Synästhetik kommen, hätte gezeigt, daß Baudelaire zum ersten Mal von den Intentionen des Bildes ausgeht und nicht mehr von Regeln. Und diese Einstellung, nicht aber cine Skandalchronik, könnte erklären, warum der Naturalist Zola so vehement für die Impressionisten eintrat. Das "reine Sehen" von Konrad Fiedler, Alois Riegl und Heinrich Wölfflin nimmt breiten Raum ein, Wilhelm Worringers "Abstraktion und Einfühlung", das Evangelium Kandinskys, bekommt gerade eine Zeile. Die Kunstkritik des 20. Jahrhunderts beschränkt sich fast ganz auf die Reflexionen der Künstler, warum aber Apollinaire der "Wortführer des Kubismus" war, erfahren wir sowenig wie die Kriterien, wonach die japanische Druckgraphik einen ungünstigen Einfluß auf den Impressionismus gehabt haben soll. Im Schlußwort ahnt Venturi die Kunstwende von 1960 voraus: Kritik habe, wie Baudelaire forderte, leidenschaftliche Parteinahme zu sein. Und erst der Umgang mit der Gegenwartskunst öffne den Blick für die alte Kunst, nicht umgekehrt. "Man kann nicht an der griechischen Kunst Gefallen finden, wenn man sich in der seiner eigenen Zeit nicht auskennt. Beweise dafür sind Winckelmann und Hegel..." Zu empfehlen ist das Buch Zitatensammlern, SchmiK'eelfreunden kauziger Fehlurteile und Dissertanten, die untersuchen wollen, warum die tastenden Schritte zur Neuorientierung der Kunsthistorie zwischen den beiden Kriegen nicht weiterkamen und diese nicht vollzogenen und verlangten Schritteheute zur Zerreißprobe und zum Schisma der Kunsthistoriker geführt haben. Zu empfehlen ferner den Leichtgläubigen, die immer wieder hoffen, Kriterien lägen in Büchern herum wie Lesezeichen. Wem noch? GEORG JAPPE Lionello Venturi: "Geschichte der Kunstkritik". Aus dem Italienischen von Paula Keutner. Piper Verlag, München 1972. 364 S., Ln. 38,- DM. Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main
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