Der Grat zwischen Kritik und Feindlichkeit ist schmal geworden

Samstag, 23.07.2016
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Lebenszeit
"Der Grat zwischen Kritik und Feindlichkeit ist schmal geworden"
22.07.2016
Furcht vor dem Islam
"Der Grat zwischen Kritik und
Feindlichkeit ist schmal
geworden"
Paris, Brüssel, Nizza: Terrorakte im Namen des Islam häufen
sich. Diese Ereignisse machen vielen Menschen Angst.
Muslime sehen sich deswegen Anfeindungen ausgesetzt. Doch
ist der Islam tatsächlich die gewalttätige Religion, wie viele
Kritiker sie sehen? Nein, sagten Wissenschaftler und liberale
Muslime in der DLF-Lebenszeit - das zeige sich derzeit auch in
der Türkei.
Viele Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Kreuzberg, Berlin
in Deutschland. (imago/Mike Schmidt)
Nushin Atmaca, Erste Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, kann
verstehen, dass es aufgrund der Ereignisse in der letzten Zeit Vorbehalte
gibt. Auch sie habe manchmal Angst vor Terrorismus, das sei menschlich.
Aber: "Gleichzeitig macht es mich traurig zu sehen, was mit der eigenen
Religion passiert und wie sie benutzt wird."
Sie betonte allerdings zugleich, man müsse unterscheiden zwischen der
Religion und den Personen, die die Religion ausüben oder für sich nutzen.
Der Islam selbst sei kein Akteur. Er werde von Menschen auf
unterschiedliche Art und Weise gelebt.
Unterscheidung zwischen spirituellem und politisiertem Islam
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Berechtigte Vorbehalte?
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dram:article_id=360526] Die Furcht vor
dem Islam
Themenportal "Islam in Deutschland"
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Auch Ethnologin Susanne Schröter wies daraufhin, dass es nicht DEN Islam
gebe. "Wie jede Religion ist auch der Islam sehr facettenreich. Es hängt
immer davon ab, wie man die heiligen Quellen benutzt und interpretiert, um
dann Positionen zu beziehen zu alltäglichen Problemen oder auch
politischen Ereignissen." Für sie sei die Unterscheidung zwischen einem
spirituellen Islam und einem politisierten Islam entscheidend.
Derzeit könne man eine Form des politisierten Islam in der Türkei
beobachten. Dort vermische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Religion
mit Nationalismus und Chauvinismus zu einer "totalitären Gemengelage".
Das sei eine verhängnisvolle Melange. "Davor muss man sich fürchten," so
Schröter. Denn so eine Vermengung sei auch verantwortlich für den
Terrorismus.
"Erdogan handelt im Namen der Demokratie"
Religionssoziologe Detlef Pollack wies daraufhin, dass die Mehrheit der
Muslime "natürlich nicht gewalttätig" sei, sondern friedliebend. "Sie sind
integriert, bevorzugen Demokratie als Staatsform und sind ganz gewiss in
der Nähe unserer Gesellschaft." Es gebe zwar in einigen Gemeinden eine
Gewaltakzeptanz: "Sieben bis acht Prozent der türkischstämmigen Muslime
halten es für akzeptabel, den Islam mit Gewalt zu verbreiten." Weltweit
seien Dinge wie Demokratie und Freiheit jedoch unbestrittene Werte für
Muslime. Das wisse auch der türkische Präsident Erdogan: "Er weiß, dass
Demokratie und Freiheit beliebte Werte sind - deswegen tut er, was er tut,
im Namen der Demokratie. Auch wenn das widersprüchlich ist."
Nushin Atmaca betonte, dass bei der aktuellen Entwicklung in der Türkei
nicht nur Religion eine Rolle spiele. "Die autoritäre Herrschaft speist sich
nicht nur aus religiösen Vorstellungen, sondern auch aus
Machtbestrebungen und Nationalismus." Man dürfe das nicht durch die
"Islambrille" betrachten: Erdogan sei nicht nur wegen seines religiösen
Programms gewählt worden, sondern auch wegen des wirtschaftlichen
Erfolges und der zunächst erfolgten Öffnung des Landes. Sie führte aus, dass
es keine islamische Staatsform an sich gebe. In der Geschichte habe es
unterschiedliche Konstellationen gegeben, wo Staat und Religion aneinander
gebunden wurden.
Bewahrertum und Selbstvergewisserung in den Moscheen
Muslime sehen sich derzeit viel Kritik und Vorwürfen ausgesetzt. Pollack und
Schröter mahnten hier mehr Fähigkeit zur Selbstkritik an. "Als aufgeklärter
Europäer muss man schon kritische Fragen stellen: Wie viel Kritik wird in
den Gemeinden zugelassen an der eigenen Religion? Gibt es nur eine wahre
Religion oder werden auch andere zugelassen?", sagte Pollack.
Schröter beobachtet, dass man sich in den Moscheen versuche, sich selbst zu
vergewissern und zu bestärken. "Es gibt auch welche, die versuchen, sich zu
öffnen, bei anderen haben wir aber eher ein Bewahrertum." Kritische und
liberale Stimmen seien oft zu wenig organisiert, um Gehör zu finden.
Atmaca befürwortet den kritischen Dialog: "Wir müssen Räume schaffen,
damit ein kritisches Hinterfragen der eigenen Religion möglich ist." Der
Begriff "Kritik" stoße allerdings bei vielen Muslimen auf eine
Abwehrhaltung, da unter dem Begriff "Islamkritikern" unterschiedlichste
Menschen firmieren.
Gesellschaft im Konflikt
Die Stimmung in Deutschland gegenüber Muslimen hält Atmaca für
schwierig. Persönlich habe sie zwar keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Aber durch das Aufkommen der AfD habe sich die Debatte verschärft.
"Bestimmte Sachen finden sich im Diskurs, die vorher nicht sagbar waren."
Die Stimmung habe sich verschärft. "Der Grad zwischen Kritik und
Feindlichkeit ist schmal geworden."
Dabei sieht Pollack eine grundsätzliche Bereitschaft für ein positives
Verhältnis zum Islam: Die Mehrheit sage, dass eine zunehmende religiöse
Vielfalt eine Bereicherung sei. Gleichzeitig nähmen aber durch die Vielfalt
Konflikte zu. "Man möchte fair sein, andererseits gibt es Gefühle der
Fremdheit und der Bedrohung." Die Gesellschaft befinde sich im Konflikt.
Die gesamte Sendung "Lebenszeit" vom 22. Juli 2016 können Sie hier [AUDIO]
[http://ondemand-
mp3.dradio.de/file/dradio/2016/07/22/berechtigte_vorbehalte_die_furcht_vor_dem_islam_dlf_20160722_1010_4c07bc71.mp3
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(cvo/kis)
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