Wirtschaft Altersvorsorge NZZ am Sonntag 17. Juli 2016 25 «Jeder denkt nur noch an sich» Zu wenig Solidarität, zu viel Individualismus und Hedonismus untergraben das Pensionskassen-System. Vorsorge-Doyen Werner C. Hug über den Verrat an der zweiten Säule. Interview: Charlotte Jacquemart TOMAS WÜTHRICH NZZ am Sonntag: Viele Pensionskassen senken die Umwandlungssätze – sprich Renten – massiv. Bei der CS gilt neu ein Umwandlungssatz von 4,2%. Das sind pro 100 000 Fr. Kapital nur noch 4200 Fr. Jahresrente. Vor wenigen Jahren waren es noch 6800 Fr. Gehen die Kassen aus Angst vor der Zukunft zu weit? Werner C. Hug: Ich finde: ja. Jeder Satz unter 5% ist übertrieben und in keiner Art und Weise gerechtfertigt. Solch krasse Sen kungen des Umwandlungssatzes schaffen Renteneinbussen von über 30%. Vor allem bei Besserverdienenden. Wieso ist das so? Im sogenannten Obligatorium der zweiten Säule sind Jahreslöhne bis 84 600 Fr. ver sichert – und es gilt ein Umwandlungssatz von 6,8%, von Gesetzes wegen. Im überobli gatorischen Bereich dürfen Pensionskassen Umwandlungssätze theoretisch auf null senken, wenn sie wollen. Zur Sicherung der Umwandlungssätze von 6,8% werden also tiefe von hohen Löhnen quersubventioniert. Sie sagen, weniger als 5% Umwandlungssatz seien ein Skandal. Rechtfertigen die negativen Zinsen aber nicht solche Massnahmen? Nein. Wer mit so tiefen Umwandlungs sätzen rechnet, kalkuliert wie ein Lebens versicherer. Pensionskassen sind aber keine Lebensversicherer. Sie gehören Arbeitgebern und Arbeitnehmern, haben keine Aktionäre, die mitverdienen müssen. Pensionskassen sind von Gesetzes wegen freier reguliert als Lebensversicherer. Pensionskassen dürfen über 7 bis 10 Jahre eine Unterdeckung haben. Lebensversicherer dürfen dies nicht. Mit anderen Worten: Pensionskassen können grosszügiger sein als Lebensversicherer? Genau. Ich beklage, dass man heute eine Pensionskasse führt wie eine Lebensver sicherung. Geschäftsführer und Stiftungsräte wollen sich zu über 100% absichern. Das entspricht nicht der Philosophie der zweiten Säule. Wenn die paritätisch geführten Kassen wie Lebensversicherer geführt werden, brau chen wir sie nicht mehr. Dann können wir sie den Lebensversicherern übertragen. Arbeitgeber sind mitschuldig an der Entwicklung. Sie verabschieden sich zunehmend aus der zweiten Säule, indem sie immer mehr Risiko auf die Versicherten überwälzen. Sie führen zum Beispiel sogenannte 1e-Pläne ein. Darin wählen Versicherte eine eigene Anlagestrategie, tragen aber das Anlagerisiko selber. Was halten Sie davon? Nichts. Diese Pläne sind nichts anderes als Steueroptimierungsinstrumente für Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit Löhnen über 126 900 Fr. Die Arbeitgeber entledigen sich damit der Verpflichtungen in ihrer Bilanz. Renten gibt es aber keine aus diesen 1ePlänen. Es gibt nur noch Kapitalbezug. 30 Jahre zweite Säule Werner C. Hug ist einer der profun desten Kenner des Schweizer Sozialver sicherungssystems. Der Ökonom hat in Bern und Philadel phia studiert und dissertiert. Als Un ternehmer, Publizist und Berater (u. a. des Bundesrates) beglei tet er die Entwick lung der beruflichen Vorsorge seit den siebziger Jahren. Er ist unter anderem Mitgründer der Pen sionskasse Rück und der IG der Sammel und Gemeinschafts einrichtungen IGaSG (heute Inter pension). (jac.) satzes längst korrigieren. Aber mit den 1ePlänen verabschieden sich die Besser verdienenden ganz aus dem System. Die grossen Löhne legen ihr Geld steuerbegüns tigt am Aktienmarkt an – die kleinen Löhne kriegen eine schlechte Rentenlösung. Das widerspricht der Idee der zweiten Säule. Wie verbreitet sind solche 1e-Pläne schon? Viele sind daran, sie einzuführen: Die meisten börsenkotierten Firmen und all jene, bei denen eine amerikanische Firmenphilo sophie vorherrscht. Sie haben über ihre Boni ein persönliches Interesse an solchen Plänen und sind nicht vertraut mit unserem Vorsor gesystem. Unsere zweite Säule ist etwas ganz anderes als die Vorsorge in den USA. Können Sie den Unterschied erklären? Denken Sie an Enron oder an die Auto mobilindustrie. Die zweite Säule in den USA gehört den Firmen. Das Geld, das Arbeit geber und Arbeitnehmer einzahlen, wird möglichst renditeträchtig investiert. Je besser die Rendite, desto weniger Geld muss der Arbeitgeber einschiessen. Wenn eine Firma pleitegeht, ist das Geld weg. Für die Arbeitnehmer heisst das: keine Rente. Bei uns sind Pensionskassen rechtlich und wirtschaftlich von den Firmen abgetrennt. Ist unser System überlegen? Mit Sicherheit. Unser Pensionskassensys tem ist aus den patronalen Wohlfahrtsfonds entstanden. Zu einer Zeit, als die Arbeitgeber noch für ihre Arbeiter sorgten. Man hat Woh nungen gebaut, Invalide beschäftigt, Kran kenkassen gegründet, Kinder der Arbeiter ausgebildet. Wir hatten einmal das modernste Fabrikgesetz Europas. In den USA erhielt ich am Freitag das Lohnsäcklein, und man sagte mir, ob ich am Montag wieder arbeiten dürfe. Bei Einführung des Obligatoriums der zweiten Säule im Jahr 1985 hat man nicht mit negativen Zinsen gerechnet. Funktioniert unser System noch? Für die zweite Säule ist das, was wir heute am Kapitalmarkt erleben, eine Katastrophe. Es ist absurd. Ich bin Ökonom: Können Sie mir eine Theorie nennen, die erklären kann, wie es mit dieser Geldschwemme weiter gehen soll? Entweder gibt es einen grossen Chlapf oder aber grosse Inflation. Werner C. Hug berät Politik, Verbände, Kassen bei Sozialversicherungen. (Bern, 13. Juli 2016) Was Arbeitnehmer wissen müssen: In 1e Plänen tragen sie das Anlagerisiko allein. Ist die Börse bei Pensionsantritt im Keller, gibt es entsprechend weniger Kapital ausbezahlt. Man kann den Firmen nicht die Schuld geben, dass sie auf solche 1e-Pläne umsteigen. Die Rechnungslegung ist Treiber dieser Entwicklung. Weil Pensionsverpflichtungen seit «Grosse Löhne legen ihr Geld steuerbegünstigt am Aktienmarkt an – kleine Löhne kriegen schlechte Rentenlösungen.» kurzem anders verbucht werden müssen und Firmenbilanzen viel stärker belasten, wollen Unternehmen die Verpflichtungen loswerden. Das ist so. Die Verpflichtungen und Risi ken werden auf die Versicherten überwälzt. Die Nachfrage nach 1ePlänen ist deshalb bei hohen Einkommen gross. Anbieter stehen bereit. Aber selbst wenn man die Entwick lung erklären kann: Die zweite Säule wird damit ausgehöhlt, denn die Solidarität von hohen und tiefen Löhnen wird untergraben. Malen Sie nicht etwas zu schwarz? Nein. Die zweite Säule wird heute von innen ausgehöhlt, die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und nehmern funk tioniert nicht mehr, jeder denkt nur noch an sich. In der ursprünglichen beruflichen Vor sorge hatten Individualismus und Hedonis mus keinen Platz. Meine Generation hat sehr viel über die AHV an die Kriegsgeneration gezahlt. Viel mehr als die jetzige junge Gene ration an die heutigen Rentner. Wurde nicht genau diese Solidarität in den letzten Jahren überstrapaziert? Indem die Jungen die überhöhten Renten der Pensionäre quersubventionieren müssen? Das ist so. Und das sollten wir mit der Senkung des obligatorischen Umwandlungs Umstrittener Kapitalbezug Bundesrat Berset stützt sich auf dünne Faktenlage Das Resultat tönt gut. Vor allem ist es das, was Bundesrat Alain Berset hören will: Ein Drittel all jener, die im Alter einen Antrag auf Ergänzungsleistungen (EL) stellen, hat zuvor das Pensions kassengeld bar bezogen und verprasst. Das ist das Fazit einer nicht veröffentlichen Studie des Bundesamtes für Sozialversiche rungen (BSV). Sie ist für Berset die Grundlage dafür, den Ver sicherten den Kapitalbezug aus der zweiten Säule verbieten oder zumindest stark einschränken zu wollen (in der obligatorischen Vorsorge). Doch die untersuchte Daten reihe hält einer näheren Betrach tung nicht stand. Ausgewertet wurden nämlich lediglich 3000 EL-Anträge bei zehn AHV-Aus gleichskassen. Gut 30% davon hatten in der Tat ihr Pensions kassengeld bezogen, bevor sie bei der EL die hohle Hand mach ten. Doch nur jene Kapitalbezü ger zu untersuchen, die bei der EL landen, ist irreführend. Denn: Alle jene Rentner, die sich ihr Pensionskassengeld haben aus zahlen lassen und nie Ergän zungsleistungen beantragen, fehlen in den Daten. Avenir SuisseSpezialist Jérôme Cosan dey kritisiert die Studie denn auch. «Es fehlt eine Gesamtbe trachtung. Wer die Analyse auf EL-Bezüger beschränkt, unter sucht quasi die Notfallstation der zweiten Säule.» Ein Blick auf die Höhe der getätigten Kapitalbezüge im Datenkranz zeigt zudem, dass sich die Hälfte der Kapital bezüger weniger als 90 000 Fr. haben auszahlen lassen. Das sind Beträge an Alterskapital, bei denen eine monatliche Rente so klein ausfällt (um die 400 Fr.), dass diese Bezüger selbst mit Rente in den meisten Fällen bei der EL anstehen müssten. Zum Beispiel dann, wenn sie in ein Pflegeheim müssen, das 7000 Fr. monatlich kostet. Cosandey sieht noch einen anderen metho dologischen Fehler. «Während die Verluste der Kapitalbezüger, die bei der EL landeten, genau berechnet wurden, fehlt eine Quantifizierung der Einsparnisse bei der EL, die ebenso entstehen können.» Zum Beispiel dann, wenn jemand sein Geld bezieht und aus diesem Grunde erst Jahre später bei der EL ansteht – oder eventuell gar nicht mehr, weil er früh verstirbt. Im Bundesamt für Sozialver sicherungen wehrt sich Colette Nova, zuständig für die zweite Säule. Sie gibt zu bedenken, dass Längsschnittdaten, die Versi cherte mit Kapitalbezug über Jahre bis Jahrzehnte hinweg verfolgen, bis ein allfälliger Anspruch auf Ergänzungsleis tungen entsteht, schwierig zu erstellen seien. «Eine solche Erhebung würde mehrere Jahr 4,7 Mrd.Fr. gibt die Schweiz pro Jahr für Ergänzungsleistungen zu AHV und IV aus. Diese Ausgaben sind jüngst stark gestiegen. zehnte dauern und sehr viel kosten.» Das Parlament habe den Bundesrat bezüglich Kapital bezügen und Ergänzungsleistun gen jedoch zum Handeln aufge fordert. Deshalb habe man die vorliegende Erhebung veran lasst. Nova sagt: «Diese zeigt immerhin bemerkenswerte Kor relationen auf.» Frédéric Diserens, Geschäfts führer der TamediaPensions kasse, ist ein vehementer Gegner von Einschränkungen. «Den Kapitalbezug einzuschränken, ist eine Bevormundung der Arbeitnehmer. Es gibt auch gute Gründe, sich für das Kapital statt für die Rente zu entscheiden.» So zum Beispiel dann, wenn eine Rente sehr klein ausfällt. Oder aber auch, wenn kein Ehepartner und eventuell berechtigte Nach kommen da sind und die Gefahr besteht, dass bei einem frühen Tod – nach Rentenantritt – das angesparte Kapital der Pensions kassen anheimfällt. Grund für den SP-Bundesrat Berset, Kapitalbezüge aus der zweiten Säule zu verbieten, sind die steigenden EL-Zahlungen. Seit 2003 sind sie um fast 2 Mrd. Fr. pro Jahr gestiegen. Allerdings hängt diese Steigerung zu glei chen Teilen mit den Invaliden renten, dem erleichterten Zugang zur EL sowie den AHV Renten zusammen. Den Kapital bezug aus der zweiten Säule dafür mitverantwortlich machen zu wollen, ist hingegen verfehlt. Charlotte Jacquemart
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