Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz
Von Ed Stuhler
Produktion: DLF 2016
Redaktion: Ulrike Bajohr
Erstsendung: Freitag, 05.August 2016 , 20:10-21:00 Uhr
Regie: Anna Panknin
Sprecherin 1 (Marie, alte Stimme): Susanne Flury
Sprecherin 2 (Marie, junge Stimme): Simone Pfennig
Sprecher für Zwischentexte: Daniel Berger
Männerstimme (Spielszenen): Tom Jacobs
Frauenstimme (Spielszenen): Isis Krüger
Urheberrechtlicher Hinweis
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©
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01 O-Ton 1 Marie Jalowicz
Ich habe meine Geschichte mir immer wieder erzählt und geschrieben, ohne Papier
und ohne Schreibwerkzeug. Es ging um die Wahrheit und nur um die Wahrheit.
Lügen kam nicht in Frage.
Ansage:
Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz
Ein Feature von Ed Stuhler
Alte Marie
Einmal ging ich in die Konditorei Dobrin. Eine Filiale am Hackeschen Markt existierte
noch, wobei die Gäste jetzt ausschließlich Juden waren. Ich hatte gehört, dass man
dort ein wenig Abwechslung hat und für wenige Pfennige eine Tasse Kaffee-Ersatz
bekommt.
Junge Marie
Als ich die Tür öffne, blicke ich in einem Raum voller Männer mit Skimützen. Gegen
diese Art der Kopfbedeckung habe ich eine furchtbare Abneigung: Sie ähnelt den
SA-Mützen und ist zugleich zur Uniform der degradierten Juden geworden.
Am liebsten hätte ich geschrien:
Macht doch endlich was! Uniformiert euch nicht auch noch! Trottet nicht alle im
selben Schafpelz herum!
Alte Marie
Ich setzte mich hin und trank meinen Kaffee-Ersatz. Und plötzlich wurde ich von
einer würgenden Angst gepackt. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment könne die
Gestapo in diesen Saustall einmarschieren. Ich dachte wirklich das Wort "Saustall"
und guckte, peinlich berührt, auf den Fußboden: Er war anständig gefegt und
gebohnert. Was ich wahrnahm, war kein äußerer Dreck, sondern der innere Schmutz
dieser Kaffee-Ersatz-Gesellschaft.
Szene1:
Mann: Kennste den? In so ner Wohnung, wo in jedem Zimmer `ne andere jüdische
Familie wohnt, liest ein zwölfjähriges Mädchen ´n Buch, das da rumliegt und fragt
den Vater: "Papa, was ist denn ein Komet?"
Und da sagt der Papa: "Ein Komet ist ein Stern mit einem langen Schwanz."
"Ach so!", sagt sie, "dann ist der Onkel Rosenthal ein Komet".
Alte Marie
Mich überwältigte der Ekel. In diesem Moment stand meine Entscheidung fest:
Junge Marie
Was auch immer mit diesen Leuten geschehen wird, es wird nicht mit mir geschehen.
Ich werde nicht mitgehen!
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Junge Marie
Mein Vater ist Rechtsanwalt. Er darf nicht mehr tätig sein. Wir haben unser SommerHäuschen an Hannchen und Emil Koch verkauft. Auch unsere große Wohnung in der
Prenzlauer Straße mussten wir aufgeben.
Sprecher
Die Prenzlauer Straße in Berlin gibt es nicht mehr. Die Gründerzeithäuser zwischen
Alexanderplatz und Hackeschem Markt sind zerbombt und abgeräumt worden. Hier,
wo ein zwölfstöckiger DDR-Neubau mit McDonald's, Nordsee-Restaurant und dem
"Unmöglichen Kartoffelhaus" die Karl-Liebknecht--Straße von ihrem Hinterland
abriegelt, hier irgendwo ist Marie Jalowicz, Jahrgang 1922, aufgewachsen.
Hermann Simon
Man bleibt in der Gegend. Das spielt alles in der Gegend am Alexanderplatz, die
Straßen gibt`s ja heut nicht mehr. Man zieht zur Untermiete, das ist dann
problematisch auch. Mutter sicher hatte wenig Verständnis, dass ihr Vater, dann
irgendwelche Beziehungen mit der Wirtin hat. Es ist alles wie im richtigen Leben, das
meine Mutter sehr, sehr früh kennen lernt.
Junge Marie
Ich bin erst 16, aber mir ist klar, was hier gespielt wird.
Mein Vater hat eine Affäre, und der Ehemann weiß das.
Ich muss etwas tun, damit wir nicht auf die Straße gesetzt werden: Ich muss dem
Ehemann dieser Frau zu Willen sein. Was soll`s, bringen wir`s hinter uns.
Hermann Simon
Es war so, dass Juden Zwangsarbeit leisten mussten. Und da gabs das berühmte,
berüchtigte Arbeitsamt nur für Juden in der Fontanepromenade, eine Adresse mit
Schreckensnimbus, von den Berliner Juden auch Schikane-Promenade bezeichnet.
Also die Menschen, die da anstehen mussten, wurden ganz widerlich behandelt,
insbesondere von dem Leiter dieser Behörde.
Sprecher
Fontanepromenade 15, Berlin-Kreuzberg. Das langgestreckte neobarocke Gebäude,
1906 errichtet, in der Nazizeit die „Dienststelle für Juden“, ist seit langem leer,
verwahrlost und voller Graffiti.
„Das Objekt steht vor allem auf Grund seiner geschichtlichen Bedeutung vollständig
unter Denkmalschutz“ – so wirbt ein Immobilienbüro um Käufer für das Haus.
Von hier aus wurden 26 000 Berliner Juden zur Zwangsarbeit verteilt. Marie Jalowicz
wird zu Siemens vermittelt.
3
Junge Marie
Ungefähr 200 jüdische Mädchen. Harte Arbeit an der Drehbank, im Akkord.
Stumpfsinn und ewige Wiederholung. Judenlohn. Dazu das Gefühl , etwas Falsches
zu tun, die deutsche Rüstungsindustrie zu unterstützen.
Marie
„Ich habe die vielleicht naive Vorstellung gehabt, meine Aufgabe, um dieser
unermesslichen Widerwärtigkeit der Zwangsarbeit Sinn zu geben, besteht darin,
Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln, nicht Erlebnisse, das ist was anderes,
sondern Erfahrungen, und ich will so viel wie möglich von allen wissen und so viel
Bekanntschaften wie möglich machen.
Ich hatte sogar den Ehrgeiz, sämtliche Namen im Kopf zu haben - das ist natürlich
heute nicht mehr der Fall, aber es war für mich doch eine Bereicherung, so viel und
so seltsame menschliche Beziehungen zu haben.“
Alte Marie
Ruth Hirsch war die allerbeste Arbeiterin unserer Kolonne. Oft sagte sie: Wie schön
wäre es doch, wenn man richtig lernen, die Gesellenprüfung machen und Dreherin
werden könnte.
Bei ihr waren Nora und ich einmal zum Geburtstag eingeladen. Es wurde ein
Trichtergrammophon herausgeholt und dann wurden uralte Gassenhauer aufgelegt.
Ich erinnere mich einer Schallplatte, die ich nicht kannte typisches Tingeltangel der
Zwanziger Jahre: `Schallplaaatten, die schwarze Mazze, die große Mode…` und so
weiter. Das alles prägte sich wie eine Filmszene in mein Gedächtnis ein.
Junge Marie
Das krähende Grammophon, die peinlichen Schlager, Ruths hässliche schamlose
Cousine, die beim Tanzen den Rock hebt und ihre dicken Beine zeigt. Eine Groteske.
Szene 2:
Junge Marie: Man müsste später einen Film machen, darüber, wie sich die
Geburtstagsfeier eines jüdischen Mädchens von Jahr zu Jahr verändert. Erst
kommen die christlichen Kinder nicht mehr und dann am Ende zeigt man Familie
Hirsch in ihrem Notquartier.
Nora: Bist du noch normal? Wer soll denn über Ruths Geburtstag einen Film
machen?
Junge Marie: Wir.
Alte Marie
Wenige Monate später starb mein Vater. Ich hatte einen sehr intensiven,
entsetzlichen Angsttraum: Wir beide rannten eine asphaltierte Straße entlang.
Verfolger waren hinter uns her. Ich kam sehr schnell voran, aber mein Vater hatte
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Filzpantoffeln an. Alle zwei oder drei Schritte blieb ein Pantoffel kleben, so dass er
stehenbleiben musste.
Als ich aufwachte, hatte ich die Gewissheit, dass mein Vater gestorben war, um mir
den Weg freizugeben. Dass ich leben durfte, leben sollte und leben würde, weil er es
so gewollt hatte.
Marie
Ich wollte ausbrechen von Siemens, ich war oft am Rande der Raserei vor innerem
Aufbegehren. Und habe stumm, stumm geschrien: Freiheit, dass die Wände
gewackelt haben! Mir war alles egal. Und Alice Büchler hat oft gesagt, hör mal, wir
haben alle das Gefühl, du strebst hier weg, was soll denn das? Und sieh mal, so sind
wir den ganzen Tag zusammen. Wenn wir zusammen deportiert werden, dann haben
wir auch unsere Strohsäcke nebeneinander. Und ich habe ganz klar gesagt: Ich will
das nicht! Ich will mich retten und ich will ausbrechen.
Hermann Simon
Meine Mutter hat sich da rausschmeißen lassen, sie konnte ja nicht selber kündigen,
andere haben sich da eben insoweit untergeordnet, dass sie dann plötzlich froh
waren, wenn sie die Norm erfüllt, übererfüllt, mehr Schrauben gedreht, also
sozusagen Gefallen an dem Irrsinn und Gefallen an der Sinnlosigkeit gefunden
haben.
Alte Marie
Mit unserem Werkmeister, SS-Mann Schönfeld, hatte ich eine lange Unterhaltung.
Szene 4:
Junge Marie: Mein Vater ist gestorben. - Ich möchte entlassen werden.
Schönfeld: Warum wollen sie denn von uns weg?
Marie: Ich will mich retten.
Schönfeld: Da draußen sind sie ja allein in der Eiswüste.
Marie: Ich will in die Eiswüste und ich will allein sein. Denn ich sehe, worauf das hier
alles hinausläuft. Sie werden uns deportieren und das ist für alle das Ende.
Schönfeld: Gut, ich werde das veranlassen. Wir kündigen Ihnen wegen Krankheit.
Ich wünsche Ihnen Glück und Segen auf ihrem Weg durch die Eiswüste.
Hermann Simon:
Und das ist schon stark. Lässt sich rausschmeißen und taucht ab.
Hermann Simon
Nach dem Tod der Eltern, dann insbesondere des Vaters, begannen in Berlin die
Deportationen und eine der ersten, die nach Lodz deportiert wurden, war Tante
Grete. Und diese Tante Grete, zu der meine Mutter ´ne besondere Beziehung, enge
Beziehung hatte seit der frühen Kindheit, sagt zu meiner Mutter:
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Komm mit! Ich habe hier den Befehl, mich einzufinden. Komm mit!
Junge Marie
Komm mit! Ich habe hier den Befehl, mich einzufinden.
Wir Jungen müssten den Alten im Konzentrationslager beistehen.
Hermann Simon
Und meine Mutter lehnt ab, weil sie für sich sagt, und wahrscheinlich auch der Tante,
und das kann nicht ohne Debatte da abgegangen sein: Ich werde mich wehren, ich
weiß nicht, ob ich überlebe, aber ich will und ich werde mich nicht freiwillig da
irgendwo einfinden. Und die Tante ist ermordet worden.
Junge Marie
Ich habe ein Zimmer gefunden, obwohl Juden jetzt überall auf die Straße gesetzt
werden. In Kreuzberg. Bei Jacobsohn.
Das Zimmer ist düster und schmal wie ein Handtuch. Trostlos!
Sprecher
Die Schmidstraße, ein kurzes Stück zwischen Heinrich-Heine-Straße und
Michaelkirchplatz. Neubauten, zwei Kindergärten, die „Trauminsel“ und „Alegría“
heißen. Die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte GmbH plant dort weitere
Wohngebäude. Eine Nummer 26 gibt es in der Schmidstraße nicht mehr, hier war
Maries erstes Versteck.
Marie
Es hatte also zu so früher Stunde geklingelt. Jemand mit einem Haftbefehl hatte
verlangt, mich zu sprechen. Ich schlief noch in meinem Bett, wachte dann mit
furchtbarem Schreck auf und der sagt ruhig und freundlich: Ziehen sie sich an,
machen sie sich fertig, wir wollen sie verhören, es dauert nicht sehr lange, in ein
paar Stunden sind sie wieder zurück. ...
Ich war natürlich schlau genug, so zu tun, als ob ich das glaube. ... Und sofort setzte
ich ein total schwachsinniges Grinsen auf und sagte: Also wissen se, aber so ne
Vernehmung, die kann doch ne ganze Stunde dauern, wa? Ich machte auf
schwachsinnig und ordinär. ... Ja, sagt der, ein Weilchen kann… Ick hab nischt zu
essen hier. Meine Nachbarin, die hier unten wohnt, im Tiefparterre, die hat immer
Kaffee uffn Herd stehen und die könnte mir oochn Stücke Brot borgen, dürf ick mir
det holen, so iin Unterrock kann ick, naja, mir sieht ja keener früh um sechse, und na
wegloofen kann ick ihnen ja so bestimmt nich.
Hermann Simon
Nachdem meine Mutter also geflüchtet ist, erst den einen überzeugt sozusagen mit
`nem Trick, dass sie aus der Wohnung kann, dann wissend, dass unten der zweite
steht, unten steht immer der zweite, sagt sie, und ich hatte eine Flasche bei mir und
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ohne mich zu wehren, gehe ich nicht mit. Entweder geht die Flasche kaputt oder
dessen Schädel, aber soweit kam`s nicht, sie konnte den, der wusste ja nicht, wer sie
ist, konnte mit `m Witzchen und dann war sie eben raus.
Junge Marie
Ich zwinge mich, bis zur nächsten Straßenecke langsam zu gehen. Dann bin ich
losgerannt. Ein älterer Arbeiter hat mir seine Windjacke geborgt. Ich besitze nichts
mehr, außer ein paar Pfennige, meine Judenkennkarte und die leere Flasche.
Hermann Simon
Frau Jacobsohn, die die Situation ganz genau begriffen hatte, hat dann die Gestapo
da noch ewig aufgehalten, indem sie irgendwelche Familienfotos gezeigt hat und den
Tisch quer vor die Küchentür und das noch und das muss ich ihnen noch erzählen,
bis dann der andere von unten hochkam und sagte, was macht ihr denn so da jetzt
so ewig? Und dann platzte das Ding und die beiden beschimpften sich da furchtbar.
Und Frau Jacobson wurde dann auch noch zur Gestapo da vorgeladen. Und da
gibt`s diese ganz beeindruckende (lacht) Formulierung, dass diese beiden Beamten
da wohl reingeführt wurden, und die waren von den eigenen Leuten grün und blau
geschlagen, und da wurde Frau Jacobsohn gefragt, erkennen sie die Herren? Und
dann sagte sie, ja, aber sie sehen etwas verändert aus.
Diese Frau Jacobsohn hat bei meiner Verhaftung ihr Leben und das Leben ihrer
Familie riskiert, und zwar bewusst und in Freuden, das ist das Wichtigste, riskiert, um
mich zu decken. Das ist also grandios! Diese Frau ist völlig über sich
hinausgewachsen. Man kann nie wissen im Menschlichen, wer sich bewährt und wer
versagt.
Alte Marie
Mir war inzwischen eingefallen, wo man mich am wenigsten vermuten würde: in der
Höhle des Löwen und zwar bei Emil Koch. Der arbeitete als hauptamtlicher
Feuerwehrmann bei der Polizei.
Sprecher
Kaulsdorf, Nitzwalder Straße 13. Das Sommerhäuschen kannte Marie gut: Ihre
Eltern hatten es an das Ehepaar Koch verkaufen müssen. Es ist längst abgerissen
worden. Das Viertel am östlichen Stadtrand gehört heute zum Bezirk MarzahnHellersdorf, es ist bebaut mit bescheidenen Einfamilien- und Reihenhäusern.
Hermann Simon
Johanna und Emil Koch, schwieriger Fall, auch für meine Mutter schwierig. Weil, ich
denke mal, Johanna Koch wird man nicht unbedingt als normal bezeichnen können.
Objektiv, das hat meine Mutter auch immer wieder betont, hat Johanna Koch ihr
geholfen, hat ihr das Leben gerettet, hat meiner Mutter ihre Identität zur Verfügung
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gestellt. Meine Mutter hatte Papiere, die waren nicht besonders gut, aber immerhin,
sie hatte Papiere auf den Namen Johanna Koch.
Alte Marie
Mir war klar, dass ich nicht lange in Kaulsdorf bleiben konnte. Dort gab es Nachbarn,
die fanatische Nazis und so niederträchtig waren, dass die gesamte Umgebung vor
ihnen zitterte. Ich musste mit meiner Ankunft warten, bis es draußen stockdunkel
war, und das war am beinahe längsten Tag des Jahres ziemlich spät.
Als ich spätabends endlich schlafen wollte, fragte ich Hannchen Koch:
Junge Marie: Kannst du so nett sein und mir ein Nachthemd borgen?
Hannchen (spitz): Ach, das gnädige Fräulein braucht Nachtwäsche?
Alte Marie
Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich musste vorsichtig sein und mich den
Lebensgewohnheiten der Leute, die mich aufnahmen, blitzschnell anpassen. Ich war
auf Hilfe angewiesen und durfte niemanden verärgern.
Sprecher
Hiddenseestraße 4A.
Das Mietshaus ist eines der wenigen nicht sanierten Gebäude in Berlin-Pankow. Die
Rauhputzfassade weist noch heute Einschusslöcher von den Straßenkämpfen der
letzten Kriegstage auf.
Hermann Simon
Eine sehr frühe Station, unmittelbar danach, nachdem sie da aus ihrem ehemaligen
Wochenendhaus ihrer Eltern raus muss, ist dann ein Mann namens Kupke, den ich
übrigens kannte aus meiner Kindheit, Arbeiter, Kommunist, richtig so ein netter Typ
in meiner Erinnerung, und ja, der vergewaltigt sie auch gleich.
Alte Marie
Schon in meiner ersten Nacht dort stand Willi bei mir am Bett. Der schmächtige
Mann mit dem zerknitterten Gesicht und einem viel zu kurzen Nachthemd brabbelte
ein paar widerliche Zoten vor sich hin. Den Rest kann man sich denken. Ich konnte
weder Krach schlagen noch ihn zurückschicken, also ließ ich es über mich ergehen.
Sprecher
Neukölln, Braunauer Straße 36.
Seit 1947 wieder: Sonnenallee. Nummer 36: schmutzig-gelb, im Erdgeschoss ein
türkischer An- und Verkauf. Vor dem Haus eine Bushaltestelle.
„Schenk“ stand an der Wohnungstür, hinter die Marie sich diesmal retten konnte.
Karola Schenk wollte Marie eigentlich nicht aufnehmen.
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Alte Marie
Sie war keine fanatische Nazianhängerin, aber sie war obrigkeitstreu, empfand
Widerstand als unanständig und war politisch vollkommen desinteressiert.
Sie verwöhnte mich zwei Wochen lang nach allen Regeln der Kunst. Jeden Abend
kam sie an mein wundervoll weiß bezogenes Bett, um mir einen Gutenachtkuss zu
geben. Einmal heizte sie für uns beide auch den Badeofen ein. Als ich im Wasser
saß, kam sie, um mich zu waschen. Sie hatte extra ein Stück feinster,
wohlriechender Vorkriegsseife herausgesucht.
Szene 6:
Karola: Auf dich habe ich lange gewartet, du bist meine Freundin, meine kleine
Schwester! Du bist das, was ich immer ersehnt habe, du bist meine Tochter!
Junge Marie
Sie küsst mich am ganzen Körper. Ich denke die ganze Zeit "Oh Gott, das ist doch
eine Sünde, das ist ja eine Perversion." Im Bett spreche ich das Sündenbekenntnis
Marie
Und war es schon absurd genug, dass ich nirgends so gut aufgehoben war, wie bei
der Nichtantifaschistin, Nichtnazigegnerin Karoline Schenk, so ist es doch
andererseits peinlich zu erzählen, dass nicht alle, aber die meisten, ich sag `s jetzt
sehr vorsichtig und euphemistisch, derer, die mir als dezidierte Antifaschisten
geholfen haben, ein wenig auffällig waren.
Hermann Simon
Leute, die ihr geholfen haben, das war nicht der normale Bürger. Die haben ihr auch
mitunter geholfen, vielleicht mal ein paar Marken oder ein Brot oder irgendwas. Aber
die, die wirklich geholfen haben, waren häufig Randfiguren der Gesellschaft. Zum
Beispiel die Fiochi aus dem Artistenmilieu in Zeuthen.
Sprecher
Das Einfamilienhaus ist frisch renoviert. Es steht in einer stillen Nebenstraße,
umgeben von viel Grün. Ein Grundstück in dieser wald- und wasserreichen Gegend
südlich von Berlin ist heute kaum bezahlbar. Hier, in Zeuthen, Waldstraße 5, landete
Marie bei einer Artistin: Camilla Fiochi.
Alte Marie
Karola Schenk hatte mich vorgewarnt: "Camilla Fiochi ist verrückt, du wirst es schwer
mit ihr haben. Sie rast und tobt, sie bekommt Anfälle, wenn keine Zigaretten, kein
Kognak und kein Bohnenkaffee im Haus sind.“All diese Dinge gab es nur noch zu
Schwarzmarktpreisen, und Camilla war inzwischen völlig verarmt. Mal wurde das
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Gas gesperrt, weil sie nicht bezahlen konnte, dann wieder das Licht und das
Telefon. "Es ist rührend, dass sie dich trotzdem bei sich aufnimmt. Sie ist bei allem
ein herzensguter Mensch."
20 Hermann Simon
Fiochi hat meiner Mutter schon das Leben gerettet, zweimal. Zweimal sechs
Wochen, das war schon ne lange Zeit, nur wusste meine Mutter immer nicht, wenn´s
dann zum Konflikt kam, wenn die irgendwie tobte, es konnte ja jedes Mal das Ende
sein, es konnte ja jedes Mal sozusagen der Satz fallen, du ziehst jetzt hier aus und
haust jetzt hier ab.
Ich habe noch nicht gesagt, dass sie die merkwürdige Gewohnheit hatte, plötzlich,
sei es, dass sie wütend war oder dass sie fröhlich war oder aus gar keinem
ersichtlichen Anlass, in die Grätsche zu springen und die Beine dann bis zum Spagat
gleiten zu lassen. Sie trug immer Hosen, die als Trainingskostüm geeignet waren,
weil sie der Meinung war, man müsste jede Minute ausnutzen, um ein guter Artist zu
sein.
In diesem Sinne war also die Fiochi auffällig. Sie war dabei eine so dezidierte
Nazigegnerin, dass jeder anständige Mensch sich vor ihr zu verneigen hat.
Hermann Simon
Es sind diverse Quartiere, fünfzehn vielleicht, in den verschiedensten Gegenden, die
meine Mutter vorher nie betreten hatte, weil sie sich dort einfach am sichersten
fühlte. Meine Mutter war sich über die Greifer, die es gegeben hat, also jüdische
Gestapo-Spitzel im Klaren und hat eben einfach gewisse Gegenden gemieden.
Sprecher
Das Geschäft im Erdgeschoss des fünfstöckigen Mietshauses hat Marie gekannt,
aber vermutlich nie betreten: Die Konditorei und Bäckerei Krautzig, gegründet 1932,
noch immer “ein alter Familienbetrieb.“
Und noch immer läuft die Hochbahntrasse an den Häusern vorbei. Marie hat die UBahn rattern hören in ihrem Versteck: Schönhauser Allee 126.
Alte Marie
Bei Ida Kahnke.
Musik
Die zahnlose alte Frau sah aus wie eine Hexe. Als Klofrau in einer Behörde konnte
sie jeden zusätzlichen Pfennig gebrauchen. Aber sie machte deutlich, dass sie es
auch ohne Geld getan hätte:
Szene:
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Ida Kahnke:"Wie ick jung war, war ick kommunistisch jewesen, aber wenn man in
die Jahre kommt, wird man reljees."
Alte Marie
Die alte Frau schlief in einer Art Alkoven in einem hinteren Winkel der Diele und
dieses große alte Holzbett musste ich zwangsläufig mit ihr teilen.
Ich hatte den ganzen Tag über nichts anderes zu tun, als auf einem wackligen
Korbstuhl zu sitzen. Herumlaufen durfte ich nicht. Eine Etage tiefer wohnte ein
Invalide, der mich sofort gehört hätte.
Entweder ich habe die Wohnung nicht verlassen und musste mich
mucksmäuschenstill verhalten und saß auf dem Korbstuhl, eine Erinnerung an einen
Anblick, der eine Art Albtraum ist. Oder aber ich bin schon früh um Sieben mit
losgegangen und bin den ganzen Tag rumgelaufen, so dass ich dann wirklich mit
wundgelaufenen Füßen spätabends, als Besuch eben dort geklingelt habe. Und ich
habe damals den Satz gedacht, wenn Heimat eine ertretbare Größe wäre, dann
hätte ich mir nach derartigen Wandertagen Berlin als Heimat ertreten.
Junge Marie
Ich bin schwanger. Der einzige, der mir helfen kann, ist Benno Heller. Er hat vielen
Frauen geholfen.
Hermann Simon
Ein Arzt aus Neukölln, der einerseits viele Juden gerettet hat, andererseits aber also meine Mutter kam irgendwie mit ihm menschlich überhaupt nicht klar und dass
es da zu einem Konflikt kam, liegt auch ein bisschen in der Persönlichkeit meiner
Mutter, die sich da unter keinen Umständen unterordnen wollte und nun besonders
den akzeptieren wollte als großen Retter.
Alte Marie
Heller hatte etwas von einem Halbgott in Weiß, das mochte ich nicht. Er gerierte sich
als der Jude, der die Juden rettet. Offenbar erpresste er frühere „arische“
Patientinnen. Dafür, dass er sein Wissen über sie für sich behielt, mussten sie Juden
verstecken. Das konnte nicht gut gehen. Ein Jude, der sich unverwundbar fühlt.
Szene 7: In der Arztpraxis
Heller: Kennst Du das jüdische Glaubensbekenntnis?
Junge Marie: Sch´ma Jisroel Adaunoj elauhenu Adaunoj echod - Höre Israel: Der
Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.
Heller: Das kennt nun wirklich kein Fremder. Ich werde dir ein Mittel geben, um eine
Fehlgeburt einzuleiten. Die musst du dann allein durchstehen. Eine Ausschabung ist
danach nicht nötig. Du bekommst Wehen und dann geht das ganze Zeug ab. Das
schmeißt du weg und die Sache ist erledigt.
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Alte Marie
Angesichts all dessen, was schon hinter mir lag, geschah nun also auch noch das.
25 Hermann Simon
Der Schwangerschaftsabbruch, der ohne Heller nicht möglich gewesen wäre, das
wird nicht der Einzige gewesen sein, den er in dieser Zeit gemacht hat, war
lebensrettend, klar.
Junge Marie
Ich habe den Schlüssel zu einer Laube in Nordend. Ganz allein fahre ich dort hin.
Nach ein paar Stunden beginnen die Wehen. Im Garten finde ich einen alten Eimer
und setze mich darauf. Es geht ziemlich schnell.
Ich bin traurig, es war ein Junge. Aber ich habe keine moralische Bedenken: Ich will
leben. Ich will leben! Anders ging es nicht.
Sprecher
Im Nordend von Pankow gibt es noch immer Schrebergärten mit Lauben. Den
genauen Ort, an dem sie sich einsam abquälte, hat Marie nicht überliefert. Vielleicht
wollte sie die Adresse schnell vergessen.
Junge Marie
Ich habe einen Bulgaren kennen gelernt. Er heißt Dimitr Tschakalow. Ich bin verliebt
in seine dunklen Augen. Er hat schneeweiße Zähne und ganz dunkle Haare.
Er will mich mit nach Bulgarien nehmen.
Hermann Simon
Und mit ihm geht sie nach Bulgarien, weil sie die Idee hat, über die Türkei nach
Palästina zu flüchten von Bulgarien aus. Und das ist ein schönes Kapitel eigentlich in
ihrem Leben. Sie genießt das sehr, kommt zu Kräften, war ja ziemlich ausgehungert
vorher. Und isst sich da an Obst satt.
Musik: Rudi Schuricke: Schenk mir dein Lächeln, Maria
Szene 8
Junge Marie: Das heißt nicht Löcheln, Mitko, sondern Lächeln! Du hast den Text
falsch verstanden. Es ist nicht von Marias Löchlein die Rede.
Hermann Simon
Das war für meine Mutter `ne glückliche Zeit - bis sie in Bulgarien verhaftet wird.
Meine Mutter hatte, um nach Bulgarien zu kommen, sich selbst Papiere irgendwie
herstellen lassen, entworfen, die sie als Kantinenpächterin der Wehrmacht
ausweisen. Diese Papiere sind aber richtig schlecht.
Sie wird denunziert, weil sie da jemanden nicht zu Diensten sein wollte. Ist da wie so
`ne Zivilgefangene in `nem Hotel untergebracht. Aber mit Hilfe ihres Freundes und
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der bulgarischen Widerstandsbewegung flüchtet sie aus diesem Quartier und ihr hilft
der Leiter des deutschen Arbeitseinsatzes für Bulgarien, Hans Goll. Er beschafft ihr
Papiere, einen Pass von der Deutschen Gesandtschaft auf den Namen Johanna
Koch - also so war ja ihre Kennkarte - aber dieser Pass war echt, mit falschem
Namen. Nur der Pass hat n kleinen Schönheitsfehler. In dem Pass steht: Die
Passinhaberin hat ihre Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen. ... Das ist quasi ` ne
Ausweisung. Meine Mutter war ohnehin der Meinung, wenn es eine Chance gibt zum
Überleben, dann wirklich nur in Berlin.Und sie fährt nach Berlin zurück.
Junge Marie
Die erste Nacht nach meiner Rückkehr bei Hannchen Koch in Kaulsdorf verbracht.
Vierundzwanzig Stunden tief und fest geschlafen. Aber ich kann hier nicht bleiben.
Hannchen redet wirr von Okkultismus und Mystik. Sie will Hitlers Astralleib
schädigen, um die politischen Verhältnisse zu verändern.
Hermann Simon
Sie wollte die Retterin sein. Und irgendwie geht´s da bei ihr im Kopf auch
durcheinander. Dadurch, dass sie die Papiere zur Verfügung gestellt hat, ist sie dann
plötzlich Marie Jalowicz selbst oder ein zweites Ich. Also ich glaub mal, wir liegen
hier nicht falsch, wenn wir sagen, Frau Koch war verrückt.
Sprecher
Berlin-Kreuzberg, Bergfriedstraße 6. Ein 70er-Jahre Bau mit vier Stock
Balkonwaben, wechselweise bestückt mit Satellitenschüsseln, Geranien und
Sonnenschirmen. Als Marie bei Karl Galecki, genannt „der Gummidirektor“ unterkam,
hieß die Straße noch Fürstenstraße.
Hermann Simon
Der Gummidirektor, das ist eine Episode, dass sie an einen wirklich fanatischen Nazi
gerät, der sie beherbergt, kurz, der deshalb wohl von ihr so genannt wird, weil er auf
Grund seiner Erkrankung so einen watschelnden Gang hat.
Der war so fanatisch, der hatte ein Bild im Zimmer und erläuterte dann meiner
Mutter, was er da hatte. Und da war also ein Haar des Führers Schäferhund, und das
habe ihn doch viel Mühe und wahrscheinlich auch Geld gekostet, das zu beschaffen.
Alte Marie
Das Domizil des Gummidirektors, eine langgestreckte Baracke. Er lebte ganz allein
und frönte der Leidenschaft, die ihm half, seine Einsamkeit zu ertragen: seinen
Fischen. Die Wände waren rechts und links mit Aquarien zugepflastert.
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Szene 7
Gummidirektor: Die Juden muss man alle umbringen!
Junge Marie (erschrocken): Schau mal, die Fischchen haben sich gerade anders
getummelt als sonst!
Gummidirektor: Bravo, wie gut du doch meine Lieblinge beobachtest!
Junge Marie
Gelobt seist du König der Welt, baure ha dogim, der die Fische geschaffen hat. Ich
bin in Lebensgefahr und von allen verlassen. Ihr seid unschuldige Kreaturen genau
wie ich. Seid bitte, ihr stummen Fische, meine Fürsprecher, wenn die Menschen
mich im Stich lassen.
Alte Marie
Ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt existierte. Aber andererseits war er mein
verlässlicher Kumpan:
Auch als mir der Gummidirektor mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen
verkündete, er müsse mich enttäuschen, er sei zu keiner sexuellen Beziehung mehr
imstande. Mich überwältigten ein solcher Jubel und eine solche Erleichterung, dass
ich nicht mehr sitzen bleiben konnte. Ich floh auf die Toilette. Es wurde der
erhabenste und erhebendste Klobesuch meines Lebens.
Marie
Nach Jahrzehnten jetzt, alt und nach schweren Operationen, im Gedanken auch,
dass spätere Generationen das, was ich berichte, zur Kenntnis nehmen werden,
spreche ich oft sehr erregt, mir kommen auch manchmal die Tränen - das war
damals nicht der Fall. Nicht nur, um nach außen hin nicht aufzufallen, sondern weil
übertriebene Gefühlsreaktionen nicht in meiner Art liegen.
Sprecher
Schönleinstraße 13. Ein lindgrün gestrichenes Eckhaus am Hohenstaufenplatz in
Berlin-Kreuzberg. Auf dem Platz spielen Kinder, dienstags und samstags ist Markt:
Im Februar 1943, als Paulus` Armee in Stalingrad untergegangen war, nahm Trude
Neuke Marie unter ihre Fittiche.
Hermann Simon
Rote Fahnen, rote Haare, rotes Herz und rotes Blut, so bezwangst du diese Jahre,
glühe weiter, mach es gut. - Das war die rote Trude, die von ihrer Befreiung noch `ne
rote Fahne hatte, stand irgendwas drauf "Zur Erinnerung an ..." und sagte, mit der
Fahne will ich beerdigt werden! (lacht)
Also ich erinnere mich deutlich an Szenen aus meiner Kindheit, dass sich die beiden
auf der Straße trafen, sich miteinander unterhielten, lang, laut, und immer sehr
intensiv. Und sie war die Einzige, die meine Mutter mit Hannchen begrüßte, niemals
hat sie Marie gesagt. Sie hat sie als Hannchen kennen gelernt und sie blieb für sie
Hannchen.
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Also ich habe schon gehört, du bist Hannchen. Und ich werde die rote Trude
genannt. Dass mein Haar knallrot ist, siehst du ja, aber meine Gesinnung ist genauso
rot und wenn möglich noch röter.
Und nun geschah etwas, was ich bezeichnen muss als einen der großen
Höhepunkte meines Lebens; nicht erst jetzt, sondern schon damals. Trude sagte
ohne Überspanntheit, ohne Übertreibung, etwas lauter, als man gewöhnlich am
Kaffeetisch spricht, aber ohne Erregung und ohne zu schreien: "Ab sofort bis zum
Sieg der Roten Armee übernehme ich die Verantwortung für dein Leben und für
deine Rettung vor unseren gemeinsamen Feinden." Und darauf streckte sie mir die
Hand hin, und ich schlug ein. Über diese Hand muss ich auch ein Wort sagen: Sie
führte laute kämpferische Reden, ballte sehr oft eine Faust und ließ dann diese Faust
durch die Luft sausen. Und da war dieser merkwürdige Widerspruch. Es war eine
kleine fette, besonders zierliche Damenfaust, die ganz intensiv an die Hand meiner
Mutter erinnerte.
Hermann Simon
Die beiden Frauen, Johanna Koch und Trude Neuke, ja, wie Feuer und Wasser... Die
eine, die Kommunistin, die andere die Kleinbürgerin. Beide haben meine Mutter
gerettet, aber sie mochten sich nicht, nee überhaupt nicht. Und da gab`s halt ne
absurde Konkurrenz. Johanna Koch war wahrscheinlich wirklich verrückt, das kann
man von Trude Neuke nicht behaupten.
Bei Frau Koch, die wirklich Unermessliches, das ist keine Übertreibung,
Unermessliches für mich riskiert und getan hat, bestand immer die Tendenz, dies
auch zu betonen. Und das hat etwas Peinliches an sich, wenn man an seine
Dankbarkeitspflichten erinnert wird. Es ist auf die Dauer demütigend, und Trude
arbeitete dieser Demütigung entgegen. Mit übertriebenem Juhu, möchte ich mal
sagen, erklärte sie und schwenkte wie so oft ihre Faust durch die Luft, nicht das
geringste macht es mir aus. ... Ich konnte es nicht lassen, meine beiden etwa
gleichaltrigen Helferinnen Koch und Neuke zu vergleichen.
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Hermann Simon
Trude Neuke hatte ja erklärt, ich, ich rette dich und ich, ich übernehme jetzt die
Verantwortung, bisschen theatralisch. Und diese Trude Neuke macht meine Mutter
bekannt mit dem Holländer.
Der war Fremdarbeiter, das ist nicht zu verwechseln mit Zwangsarbeiter, also selber
nach Deutschland gekommen, Schweißer. Und er sagt dann zu meiner Mutter, naja,
da du nicht wirklich Johanna heißt, nenne ich dich Frauke, Frauke ist so Frauchen.
Er hatte bis dato wohl keine Frau und sagte ganz entzückt, naja, dann geh `n wir mal
nach Hause. Und zu Hause war Am Oberbaum 2, bei der Wirtin Luise Blase. Und
nach meiner Recherche muss das in der zweiten Hälfte April 1943 gewesen sein.
Sprecher
Die Adresse Am Oberbaum gibt es nicht mehr. Im März 1945 zerstörte eine
Sprengbombe die Häuserzeile. An der Stelle heute: ein schattiger Rasenplatz an der
Spree, bewachsen mit hohen Linden und Ahornbäumen. In Blickweite die
Oberbaumbrücke und der U-Bahnhof Schlesisches Tor. Gerrit Burgers hieß „der
Holländer“, der Marie mit zu seiner alten, halbblinden Wirtin nahm.
Alte Marie
Der Holländer kam sofort zur Sache. Er erklärte ihr, er habe eine Frau gefunden, die
ab sofort bei ihm wohnen werde. Ich würde ihm den Haushalt führen und sei auch
bereit, Frau Blase jederzeit zur Hand zu gehen. Weil bei mir rassisch eine Kleinigkeit
nicht stimme, sei es besser, mich nicht polizeilich anzumelden. Letzteres schien der
alten Frau ganz egal zu sein. Damit war ich eingezogen.
Hermann Simon
Und meine Mutter lebt mit ihm zusammen und dieser Frau Blase, die meine Mutter
auch als fanatische Nazisse bezeichnet. Andererseits, sie ist da ein bisschen so
Tochterersatz und hat, ja, so komisch das klingt, und hat ein gutes Leben.
Ate Marie
Der erste heftige Streit zwischen Burgers und Frau Blase kam für mich völlig
überraschend. Der Anlass war lächerlich. Der Holländer hatte sich - wie immer und
wie ich es auch tat - in der Küche gründlich gewaschen. Es gab zwar ein
Badezimmer, aber das wurde nie als solches benutzt, denn die Badewanne war mit
Kohlen gefüllt.
Die alte Frau drohte damit, ihren holländischen Untermieter fristlos auf die Straße zu
setzen! Und seine "jüdische Dulcinea" werde sie bei der Gestapo anzeigen, damit die
endlich umgebracht würde. Sie stieß fürchterliche sexualperverse Morddrohungen
aus, während er sie wild beschimpfte, infantil mit den Füßen aufstampfte, sich die
Haare raufte und plärrend „Mutter“ zu ihr sagte.
Ich hatte Todesangst, mein Herz raste wie ein Hammerwerk. Ich wusste ja noch
nicht, dass wenige Stunden später und ohne jedes klärende Wort eine Versöhnung
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zustande kommen würde. Denn Burgers und Frau Blase hassten sich gegenseitig so
sehr, wie sie sich liebten.
Hermann Simon
Burgers will einfach, dass sie für ihn da ist und erträgt' s nicht, wenn sie irgendwas
schreibt, etwas liest. Das ist ein vollkommen fremdes Milieu und dann verprügelt er
sie mal und so. Meine Mutter sieht das, auch damals schon, völlig unverklärt. Also
geliebt hat sie ihn nicht.
Marie
Ich habe sie nie madig machen wollen, und das ist einer der Gründe, ich sage es
jetzt sehr zugespitzt, oder vielleicht sogar überspitzt, weshalb ich mich nie
entschließen konnte, die ganze Geschichte, meine ganze Geschichte dieser drei
Jahre des Untergetauchtseins aufzuschreiben. Aber gegen das Sagen der Wahrheit
hatte ich dies Bedenken, dass es doch nicht meine Absicht war, Widerstandskämpfer
madig zu machen.
Alte Marie
Ich habe ohne Papier und Schreibgerät Tagebuch geführt, ich habe eigentlich
geschrieben - in Gedanken natürlich nur - wo ich ging und stand und fand das zu
lang, zu weitschweifig, zu ungeschickt, habe, so nannte ich das auch, immer wieder
die Texte redigiert, um kürzer und präziser in mein Gedächtnis einzuschreiben, was
ich erlebt habe.
Hermann Simon
Ich wundere mich immer, wie normal es dann sozusagen bis zum Schluss war, wie
das alles funktionierte, ... dass niemand meine Mutter denunziert hat. Und der Kreis
war ja wirklich groß. Meine Mutter erinnert sich an jedes Detail, wer wo wohnte, wer
welche Schwiegermutter hatte usw. Es waren ja noch viel mehr, die das wussten, ich
mein, die haben `s irgendwelchen Verkäuferinnen erzählt und so - also es muss,
hatte ne relativ große Zahl von Mitwissern gegeben.
War`s ein Wunder, ist es der Tatsache geschuldet, dass ein Ende absehbar ist? Es
ist immer von allem ein bisschen, glaube ich. Aber es ist auch ganz wesentlich eine
Frage des Milieus. Und diese Leute haben einfach Nee gesagt.
Musik
Alte Marie
Lotte war Prostituierte. In dieser vehementen Nazigegnerin hatte ich eine
zuverlässige Beschützerin:
Szene 8
Junge Marie: Du hast eigentlich einen prima Beruf, Lotte.
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Lotte: Aba nüscht für dir. Wenn du überlebst, und ick jehe davon aus, denn
studierste und wirst Dokter. Det is dein Weg, und det andere is mein Weg.
Musik: Marika Röck: Im Leben geht alles vorüber
40 Hermann Simon
Das Haus wird zerbombt da, Am Oberbaum, und meine Mutter flüchtet in ihr letztes
Quartier, das auch das erste war, nämlich nach Kaulsdorf. Und sie sagt, es brach
eine Art Niemandszeit an.
Alte Marie
Frau Koch klammerte sich an mich in einer Weise, die mich sehr quälte. Einmal
krallte sie sich mit den Nägeln ihrer fünf Finger in meinem dürftigen Sommerkleid
fest.
Szene 9
Junge Marie: Lass los, reiß mir die Sachen nicht vom Leib, ich hab nichts zum
Wechseln!
Hannchen: Du bist mein Kind! Versprich mir, dass du mich nie verlässt, dass du
immer bei mir bleibst!
Marie: Ja, natürlich.
Junge Marie
Mein Vater hatte eine Beziehung zu Hannchen. Emil wusste das und ich habe dafür
bezahlt. Emil war der erste. Da ging ich noch zur Schule. Es war widerlich. Ich hasse
ihn dafür.
Hermann Simon
Und dann erzählt ihr Emil Koch, er habe auf einer Waldlichtung eine Panzerspur
gesehen. Emil beschrieb diese Stelle, sagt meine Mutter, die neben einer kleinen
Birke lag genau.
Junge Marie:
Hier an dieser Birke ist ein Umschlagplatz. Es ist der Platz an dem Hoffnung in
Zuversicht umschlägt.
Sprecher
In der Binzstraße 7, Berlin-Pankow, gelingt es Marie Jalowicz, nach drei Jahren
Flucht und Untergrund ihre erste eigene Wohnung als freier Mensch zu finden.
42 Hermann Simon
Quasi ein Wunder! Sie bricht aus Kaulsdorf auf, ihre Habseligkeiten hat sie in einem
Leiterwagen, und wandert barfuß nach Pankow.
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Und auf dem Weg formuliert sie sozusagen in wenigen Punkten, was sie will (O-Ton
geht weiter, parallel zu Text unten):
Junge Marie
Ich will nicht mehr ausspucken, denn das war unzivilisiert. Ich will nie mehr auf
Korbstühlen sitzen. Ich will niemals undifferenziert auf "die Deutschen" schimpfen.
Ich will nie ungerecht und undankbar sein gegen Leute wie Kochs, die mir geholfen
haben. Meine Liste ist lang.
Befreiung heißt für mich Befreiung von Furcht und Angst als Dauerzustand,
Befreiung von der großen Verfolgung. Aber nicht nur Freiheit von, sondern auch
Freiheit zu etwas, zu einem sinnvollen Leben, zu einer Universitätsausbildung und,
wenn ich Glück habe, zu einer Ehe. Ich möchte nie unwürdig heiraten, ich werde
niemals einen Nichtjuden heiraten, denn ich habe hier meine innere Verbundenheit,
aber auch meine Verpflichtung in die Zukunft. Aber ich sehne mich nach einer neuen
eigenen Familie, nach einem Mann und Kindern. Und so ist es dann auch
gekommen.
Musik
Sprecher:
Ruth Hirsch , Maries Kollegin bei Siemens, wird am 3. Februar 1943 nach Auschwitz
deportiert und ermordet.
Franziska Jacobsohn, die ihr das erste Obdach bot, stirbt 1944 in Auschwitz.
Der Frauenarzt Benno Heller wird im Februar 1943 verhaftet und nach Auschwitz
deportiert. Zuletzt gesehen wird er im Januar 1945 in einem Außenlager des KZ
Sachsenhausen.
Karola Schenk stirbt 1989 in Mannheim.
Camilla Fiochi stirbt 1970 in Deutsch-Wusterhausen.
Gerrit Burgers stirbt 1983 in den Niederlanden.
Karl Galecki , der Gummidirektor, stirbt 1965 in Berlin-Tegel.
Die „rote Trude“, Trude Neuke, wird 1944 verhaftet. Zu einem Prozess wegen
Vorbereitung zum Hochverrat kommt es nicht mehr. Im Zuchthaus Bayreuth wird sie
im April 1945 von der US-Armee befreit. Sie stirbt 1981 in Berlin-Pankow.
Emil Koch stirbt 1983, seine Frau überlebt ihn um elf Jahre. Nach ihren Tod taucht
ein Testament von 1940 auf, in dem sie Fräulein Marie Jalowicz das Haus in
Kaulsdorf vererbt.
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Marie heiratet 1948 in Berlin ihren Schulfreund Heinrich Simon, der ihretwegen aus
Palästina zurückgekehrt ist. Sie will in Deutschland bleiben. Bereits 1946 hatte sie in
einem Brief geschrieben:
Junge Marie
"Bitte fall nicht aus allen Wolken, wenn ich Dir mitteile, dass ich meine
Auswanderung als vollzogen betrachte. Ich bin aus dem Deutschland Hitlers in das
Goethes und Johann Sebastian Bachs ausgewandert und fühle mich in ihm sehr
wohl."
Sprecher:
Sie schreibt sich an der Berliner Universität für die Fächer Philosophie und
Soziologie ein und promoviert 1951.
Der Autor dieses Features lernt sie 1973 als Student kennen. Frau Professor Simon
spricht ketterauchend zur Geschichte der Philosophie - ohne Manuskript, druckreif.
Ihre Vorlesungen atmen den freien Geist der antiken Philosophen, jeder
Dogmatismus ist ihr fremd. Über ihre Odyssee redet sie nie.
Aber kurz vor ihrem Tod hält sie ihr inneres Tagebuch auf 77 Tonbandkassetten fest.
Sie stirbt im September 1998.
Hermann Simon, ihr Sohn, lebt in Berlin. Unter dem Titel "Untergetaucht" gibt er 2014
im S. Fischer Verlag die Lebenserinnerungen seiner Mutter heraus.
44 O-Ton 13
Man könnte jetzt an mich die Frage richten, warum ich mich nicht gleich nach dem
Krieg, als man noch vieles hätte eruieren können, um diese Dinge gekümmert habe.
Sie waren mir gleichgültig! Von Augenblick zu Augenblick habe ich darum gekämpft
zu überleben. Alles was ich erlebt habe, war sehr kompliziert, zum Teil qualvoll, zum
Teil zum Verzweifeln - und, das muss ich zugeben, es war auch herrlich als das ganz
große Abenteuer meiner Jugend, und mir taten irgendwelche idiotischen Spießbürger
leid, die eigentlich im Grunde überhaupt gar nichts erlebt haben.
Absage:
Das innere Tagebuch der Marie Jalowicz
Sie hörten ein Feature von Ed Stuhler
Es sprachen: Susanne Flury, Simone Pfennig, Daniel Berger. Tom Jacobs und
Isis Krüger.
Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus
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Regie: Anna Panknin
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016
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