642 FALLBERICHTE Von der Bagatellverletzung zum partiellen Funktionsverlust Über die unsachgemässe Anwendung von Octenisept® bei Handverletzungen Dr. med. Martina Greminger a ; Carsten Ernert a , dipl. Arzt; Dr. med. Elmar Fritsche a ; Dr. med. Dominique Merky a ; Pascal Ducommun a , M.Sc.; Dr. med. Marco Rossi b ; Dr. med. Philipp Kaiser b ; Dr. med. Urs Hug a Luzerner Kantonsspital, Klinik für Hand- und Plastische Chirurgie; b Luzerner Kantonsspital, Abteilung für Infektiologie und Spitalhygiene Hintergrund schädigung kommen kann. Residuelle Funktionsstö Octenisept® ist ein weitverbreitetes Antiseptikum zur rungen der Hand können die Folge sein. Nach ersten Desinfektion von Haut und Schleimhaut. Es wird so entsprechenden Fallberichten im Jahre 2008 wurde wohl bei elektiven Eingriffen als auch nach Verletzun vom Hersteller ein Warnhinweis zur Anwendung von gen angewendet. Laut Fachinformation im Schweizer Octenisept® bei penetrierenden Handverletzungen Arzneimittelkompendium (www.compendium.ch) sind veröffentlicht. Dieser Hinweis findet sich auch wie folgende Anwendungsmöglichkeiten gegeben: «Des folgt auf dem Etikett des Präparates: «Um möglichen infektion der Schleimhaut und der Haut vor operativen Gewebeschädigungen vorzubeugen, darf das Präparat und diagnostischen Eingriffen im Urogenitalbereich nicht unter Druck ins Gewebe eingebracht bzw. injiziert und im Rektalbereich. Vor Katheterisierung der Harn werden. Bei Wundkavitäten muss ein Abfluss jederzeit ge- röhre oder Untersuchungen der Gebärmutter. Desin währleistet sein (z.B. Drainage, Lasche)». fektion der Mundschleimhaut. Desinfektion bei Verlet Dennoch wurden auch in der Folge Fälle publiziert, bei zungen, Wunden und zur Nahtversorgung.» Octenisept® denen die unsachgemässe Anwendung des Produktes ist eine wässrige Lösung und enthält den Wirkstoff fatale Folgen hatte. Wir berichten von zwei Patienten Octenidindihydrochlorid, als Hilfsstoff das Konservie aus unserer Klinik – und möchten damit erneut auf die rungsmittel Phenoxyethanol. Octenisept® wirkt bakte Problematik aufmerksam machen. a rizid und fungizid. Das Präparat ist auch wirksam gegen - - lipophile Viren und Hepatitis B Viren. Octenisept® darf nicht unter Druck ins Gewebe inji Martina Greminger Fallbericht 1 ziert werden, da es sonst zu einer schweren Gewebe Anamnese - Ein 71 jähriger Jäger erlitt eine Hundebissverletzung in der Thenarregion der linken Hand. Zehn Tage nach dem Ereignis stellte sich der Patient aufgrund zuneh mender Schwellung und Schmerzen auf der Notfallsta tion vor (Abb. 1). Befunde und Therapie Es wurde ein Débridement im Operationssaal durch geführt und eine Antibiotikatherapie mit Amoxicillin/ Clavulansäure installiert. Abstriche und Gewebeproben wurden entnommen. In der mikrobiologischen Unter suchung konnte kein Keimwachstum nachgewiesen werden. In den Gewebeproben zeigten sich histologisch eine granulierende Entzündung und Nekrosen. Bei postoperativ erneuter Schwellungszunahme erfolgte eine Magnetresonanztomographie. Darin zeigte sich SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Abbildung 1: Eintrittsbefund (Fall 1): Schmerzhafte Schwellung und Entzündung im Thenarbereich der linken Hand bei Status nach Hundebiss vor zehn Tagen. 2016;16(32):642–644 eine ubiquitäre Weichteilentzündung an den Faszien, Sehnenscheiden und in der Thenarmuskulatur. Nach 643 allberichte F Wechsel der Antibiotikatherapie auf Piperacillin/Ta Befunde, Therapie und Diagnose zobactam und weiterhin ausbleibendem Ansprechen Laborchemisch zeigte sich keine Erhöhung der Entzün wurde eine infektiöse Genese unwahrscheinlich. Die dungsparameter. Bei zunehmender Schwellung ent Antibiotikatherapie wurde sistiert. wickelte der Patient jedoch ein Kompartementsyndrom. Diagnose Bei intraoperativer Desinfektion der Hand mit Braunol®, Es konnte eruiert werden, dass bei der initialen Wund einer Jod Povidon Lösung, kam es zu einer violetten versorgung ein farbloses Desinfektionsmittel in die Verfärbung der Haut – was typisch für eine sequen Wunde injiziert worden war. Damit stellten wir die Ver tielle Anwendung von Octenisept® und jodhaltigen dachtsdiagnose einer toxischen Reaktion im Rahmen Antiseptika ist. Somit bestand aufgrund dieses Be dieser Wundspülung. Durch den initial behandelnden fundes Verdacht auf eine stattgehabte Spülung mit Arzt wurde bestätigt, dass wiederholt eine Injektion von Octenisept®. Dies konnte rückwirkend anamnestisch Octenisept® mit Druck in die Penetrationsverletzung bestätigt werden. - - Damit wurde die notfallmässige Operation notwendig. Intraoperativ zeigte sich avitales Gewebe und eine durchgeführt wurde. ödematös geschwollene intrinsische Handmuskulatur (Abb. 2). Es wurden mehrere Abstriche und Gewebe Der Patient ist aktuell in der Rehabilitationsphase; es proben entnommen. Eine infektiöse Genese konnte erfolgen Massnahmen zur Abschwellung und Mobili ausgeschlossen werden, insbesondere konnten keine sation durch die Ergotherapie. Ob eine vollständige atypischen Mycobakterien gefunden werden. Die his Wiederherstellung der Handfunktion erreicht werden tologische Untersuchung der Gewebeproben bestätigte kann, bleibt noch abzuwarten. das Vorliegen einer aseptischen Nekrose. Verlauf Verlauf Fallbericht 2 Im weiteren Verlauf wurden erneute Débridements im Operationssaal in engmaschigen Abständen durchge ausgiebigen Tenolyse der Beugesehnen verschlossen Daumen eine subkutane Penetrationsverletzung mit werden. Es folgte eine langwierige Rehabilitationsphase einer Stricknadel zu. In der Erstversorgung erfolgte mit intensiver Ergotherapie. Ein halbes Jahr nach dem die Entfernung der Nadel und Spülung der Wunde. Auf Ereignis hatte der Patient wieder 80% der Kraft der lin grund einer progredienten Schwellung wurde der Pa ken, gesunden Hand. Als funktionelles Defizit persis tient in unsere Klinik verlegt. tierte ein Oppositionsverlust des Daumens. Eine Sehnen führt. Erst nach 42 Tagen konnte die Haut nach einer Ein 16 jähriger Schüler zog sich am rechten, dominanten - Anamnese transposition wurde dem Patienten angeboten. Diskussion In beiden beschriebenen Fällen zeigten sich schwer wiegende Gewebeschädigungen aufgrund der unsach gemässen Anwendung von Octenisept®. Die Diagnose konnte jeweils erst verzögert gestellt werden. Initial ging man von einem infektiösen Geschehen aus. In den Abstrichen konnte kein Keimwachstum, insbeson dere auch kein atypisches Mykobakterium, nachge wiesen werden. Auch das fehlende Ansprechen auf die Antibiotikatherapie war Hinweis für eine nicht infek tiöse Genese. In der histologischen Untersuchung zeig ten sich ödematöse, entzündliche Gewebeverände rungen und Nekrosen. Beiden Fällen gemeinsam war auch ein langwieriger Verlauf mit nur langsamer Re gredienz des Befundes. In einem Fall persistierte ein funktionelles Defizit. Analoge Fälle sind in der Literatur bei Erwachsenen [1] SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Abbildung 2: Intraoperativer Befund nach Débridement (Fall 2). 2016;16(32):642–644 und Kindern [2, 3] beschrieben. In der Publikation von 644 allberichte F Lysen und Koagulation bei diversen lokalen Antisep Dr. med. Martina Greminger es infolge unsachgemässer Applikation von Octenisept® tika nachweisen. Auch Octenisept® zeigte in dieser Luzerner Kantonsspital bei Verletzungen an der Hand zu aseptischen Gewebe Studie einen hohen Toxizitätswert. Dies ist die wahr nekrosen und chronischen Entzündungen kam. scheinliche Ursache für die Entstehung der Weichteil Schwere Komplikationen infolge fehlerhafter Anwen schwellung. Inwieweit die Ergebnisse dieser Studien dung bei Kindern wurden 2009 durch Hülsemann et Rückschlüsse auf die beschriebene Zytotoxizität beim al. [2] publiziert. Auch dort führte die Applikation von Menschen erlauben, ist noch unklar. Octenisept® bei penetrierenden Handverletzungen zu Obwohl verschiedene Studien für einige im klinischen persistierenden Ödemen und langfristigen Funktions Alltag häufig gebrauchte Desinfektionsmittel hohe To einschränkungen. Weiter wurden persistierende sub xizitätswerte nachweisen konnten, wird bei frischen kutane Ödeme und aseptische Fettgewebsnekrosen bei Verletzungen und Wunden die Indikation zur Desin Kindern auch an anderen Körperstellen (Glutealregion fektion selten in Frage gestellt. Oftmals würde jedoch und Wange) nach unsachgemässer Wundspülung mit auch die einfache Wundspülung mit Débridement ge Octenisept® beschrieben [3]. nügen. Aufgrund der möglichen Komplikationen bei Nach ersten Fallberichten hat der Hersteller Schülke & fehlerhafter Anwendung sollte die Indikationsstellung Mayr Ltd. im Februar 2008 einen Warnhinweis veröf zur Wunddesinfektion eine ärztliche Aufgabe bleiben. fentlicht [4]. Kurz danach wurde auch ein Hinweis auf Weiter sollten Wunden mit kleinen Eintrittspforten dem Etikett des Präparats angebracht. grundsätzlich nicht ausgespült, sondern im Operati Über die Pathogenese dieser gewebetoxischen Effekte onssaal débridiert werden. Bei Wunden mit Stichkanal ist bisher wenig bekannt. Octenidin und Phenoxyetha kann die Spülflüssigkeit in der Tiefe durch ein Kulis nol, die Inhaltsstoffe von Octenisept®, reagieren mit senphänomen nicht abfliessen. Dies verursacht eine Zellmembranen von Mikroorganismen und zerstören Gewebeschwellung, ohne damit den gewünschten Rei diese so, scheinen aber auch auf exponierte körperei nigungseffekt zu erzielen. Spitalstrasse - CH 6000 Luzern martina.greminger[at] luks.ch Franz et al. [1] wurden vier Fälle beschrieben, bei denen Korrespondenz: gene Zellen toxisch zu wirken. Diverse Studien haben im Tiermodell und in vitro die Zytotoxizität von Anti septika untersucht. Kalteis et al. [5] konnten in ihrer Studie vaskuläre Gewebereaktionen wie Hämorrhagien, Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur Das Wichtigste für die Praxis 2 • Die Anwendung von Octenisept ist klinisch weit verbreitet. Im Gegen ® 3 satz dazu ist das Wissen um die beschriebene Problematik nur wenig vorhanden. 4 • Octenisept® darf nicht unter Druck ins Gewebe injiziert werden. • Die Anwendung bei tieferen Wunden und Wundhöhlen ist ohne Gewährleistung eines Abflusses kontraindiziert. • Bei unsachgemässer Anwendung drohen bleibende Funktionseinschrän- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM wender des Produktes gelangt. 2016;16(32):642–644 5 kungen. Daher ist es essentiell, dass dieses Wissen vermehrt an die An- Franz T, Vögelin E. Aseptic tissue necrosis and chronic inflamma tion after irrigation of penetrating hand wounds using Octenisept®. J Hand Surg Eur Vol. 2012;37(1):61–4. Hulsemann W, Habenicht R. Severe side effects after Octenisept irrigation of penetrating wounds in children. Handchir Mikrochir Plast Chir. 2009;41:277–82. Schupp CJ, Holland Cunz S. Persistent subcutaneous oedema and aseptic fatty tissue necrosis after using octenisept. Eur J Pediatr Surg. 2009;19:179–83. Schülke & Mayr Ltd. Wichtige Information zur Arzneimittelsicher heit von Octenisept® (Octenidindihydrochlorid, Phenoxyethanol): Oedematöse Schwellungen und Gewebeschädigungen nach Einbringen unter Druck in Stichwunden bei handchirurgischen Eingriffen. Feb 2008. Kalteis T, Luring C, Schaumburger J, Perlick L, Bathis H, Grifka J. Tissue toxicity of antiseptics. Z Orthop Ihre Grenzgeb. 2003;141:233–8. - 1
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