Über die unsachgemässe Anwendung von Octenisept® bei

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FALLBERICHTE
Von der Bagatellverletzung zum partiellen Funktionsverlust
Über die unsachgemässe
Anwendung von Octenisept®
bei Handverletzungen
Dr. med. Martina Greminger a ; Carsten Ernert a , dipl. Arzt; Dr. med. Elmar Fritsche a ; Dr. med. Dominique Merky a ;
Pascal Ducommun a , M.Sc.; Dr. med. Marco Rossi b ; Dr. med. Philipp Kaiser b ; Dr. med. Urs Hug a
Luzerner Kantonsspital, Klinik für Hand- und Plastische Chirurgie; b Luzerner Kantonsspital, Abteilung für Infektiologie und Spitalhygiene
Hintergrund
schädigung kommen kann. Residuelle Funktionsstö­
Octenisept® ist ein weitverbreitetes Antiseptikum zur
rungen der Hand können die Folge sein. Nach ersten
Desinfektion von Haut und Schleimhaut. Es wird so­
entsprechenden Fallberichten im Jahre 2008 wurde
wohl bei elektiven Eingriffen als auch nach Verletzun­
vom Hersteller ein Warnhinweis zur Anwendung von
gen angewendet. Laut Fachinformation im Schweizer
Octenisept® bei penetrierenden Handverletzungen
Arzneimittelkompendium (www.compendium.ch) sind
veröffentlicht. Dieser Hinweis findet sich auch wie
folgende Anwendungsmöglichkeiten gegeben: «Des­
folgt auf dem Etikett des Präparates: «Um möglichen
infektion der Schleimhaut und der Haut vor operativen
Gewebeschädigungen vorzubeugen, darf das Präparat
und diagnostischen Eingriffen im Urogenitalbereich
nicht unter Druck ins Gewebe eingebracht bzw. injiziert
und im Rektalbereich. Vor Katheterisierung der Harn­
werden. Bei Wundkavitäten muss ein Abfluss jederzeit ge-
röhre oder Untersuchungen der Gebärmutter. Desin­
währleistet sein (z.B. Drainage, Lasche)».
fektion der Mundschleimhaut. Desinfektion bei Verlet­
Dennoch wurden auch in der Folge Fälle publiziert, bei
zungen, Wunden und zur Nahtversorgung.» Octenisept®
denen die unsachgemässe Anwendung des Produktes
ist eine wässrige Lösung und enthält den Wirkstoff
fatale Folgen hatte. Wir berichten von zwei Patienten
Octenidindihydrochlorid, als Hilfsstoff das Konservie­
aus unserer Klinik – und möchten damit erneut auf die
rungsmittel Phenoxyethanol. Octenisept® wirkt bakte­
Problematik aufmerksam machen.
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a
rizid und fungizid. Das Präparat ist auch wirksam gegen
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lipophile Viren und Hepatitis B Viren.
Octenisept® darf nicht unter Druck ins Gewebe inji­
Martina Greminger
Fallbericht 1
ziert werden, da es sonst zu einer schweren Gewebe­
Anamnese
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Ein 71 jähriger Jäger erlitt eine Hundebissverletzung in
der Thenarregion der linken Hand. Zehn Tage nach
dem Ereignis stellte sich der Patient aufgrund zuneh­
mender Schwellung und Schmerzen auf der Notfallsta­
tion vor (Abb. 1).
Befunde und Therapie
Es wurde ein Débridement im Operationssaal durch­
geführt und eine Antibiotikatherapie mit Amoxicillin/
Clavulansäure installiert. Abstriche und Gewebeproben
wurden entnommen. In der mikrobiologischen Unter­
suchung konnte kein Keimwachstum nachgewiesen
werden. In den Gewebeproben zeigten sich histologisch
eine granulierende Entzündung und Nekrosen.
Bei postoperativ erneuter Schwellungszunahme erfolgte
eine Magnetresonanztomographie. Darin zeigte sich
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Abbildung 1: Eintrittsbefund (Fall 1): Schmerzhafte Schwellung und Entzündung im
Thenarbereich der linken Hand bei Status nach Hundebiss vor zehn Tagen.
2016;16(32):642–644
eine ubiquitäre Weichteilentzündung an den Faszien,
Sehnenscheiden und in der Thenarmuskulatur. Nach
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allberichte
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Wechsel der Antibiotikatherapie auf Piperacillin/Ta­
Befunde, Therapie und Diagnose
zobactam und weiterhin ausbleibendem Ansprechen
Laborchemisch zeigte sich keine Erhöhung der Entzün­
wurde eine infektiöse Genese unwahrscheinlich. Die
dungsparameter. Bei zunehmender Schwellung ent­
Antibiotikatherapie wurde sistiert.
wickelte der Patient jedoch ein Kompartementsyndrom.
Diagnose
Bei intraoperativer Desinfektion der Hand mit Braunol®,
Es konnte eruiert werden, dass bei der initialen Wund­
einer Jod Povidon Lösung, kam es zu einer violetten
versorgung ein farbloses Desinfektionsmittel in die
Verfärbung der Haut – was typisch für eine sequen­
Wunde injiziert worden war. Damit stellten wir die Ver­
tielle Anwendung von Octenisept® und jodhaltigen
dachtsdiagnose einer toxischen Reaktion im Rahmen
Antiseptika ist. Somit bestand aufgrund dieses Be­
dieser Wundspülung. Durch den initial behandelnden
fundes Verdacht auf eine stattgehabte Spülung mit
Arzt wurde bestätigt, dass wiederholt eine Injektion von
Octenisept®. Dies konnte rückwirkend anamnestisch
Octenisept® mit Druck in die Penetrationsverletzung
bestätigt werden.
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Damit wurde die notfallmässige Operation notwendig.
Intraoperativ zeigte sich avitales Gewebe und eine
durchgeführt wurde.
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ödematös geschwollene intrinsische Handmuskulatur
(Abb. 2). Es wurden mehrere Abstriche und Gewebe­
Der Patient ist aktuell in der Rehabilitationsphase; es
proben entnommen. Eine infektiöse Genese konnte
erfolgen Massnahmen zur Abschwellung und Mobili­
ausgeschlossen werden, insbesondere konnten keine
sation durch die Ergotherapie. Ob eine vollständige
atypischen Mycobakterien gefunden werden. Die his­
Wiederherstellung der Handfunktion erreicht werden
tologische Untersuchung der Gewebeproben bestätigte
kann, bleibt noch abzuwarten.
das Vorliegen einer aseptischen Nekrose.
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Verlauf
Verlauf
Fallbericht 2
Im weiteren Verlauf wurden erneute Débridements im
Operationssaal in engmaschigen Abständen durchge­
ausgiebigen Tenolyse der Beugesehnen verschlossen
Daumen eine subkutane Penetrationsverletzung mit
werden. Es folgte eine langwierige Rehabilitationsphase
einer Stricknadel zu. In der Erstversorgung erfolgte
mit intensiver Ergotherapie. Ein halbes Jahr nach dem
die Entfernung der Nadel und Spülung der Wunde. Auf­
Ereignis hatte der Patient wieder 80% der Kraft der lin­
grund einer progredienten Schwellung wurde der Pa­
ken, gesunden Hand. Als funktionelles Defizit persis­
tient in unsere Klinik verlegt.
tierte ein Oppositionsverlust des Daumens. Eine Sehnen­
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führt. Erst nach 42 Tagen konnte die Haut nach einer
Ein 16 jähriger Schüler zog sich am rechten, dominanten
-
Anamnese
transposition wurde dem Patienten angeboten.
Diskussion
In beiden beschriebenen Fällen zeigten sich schwer­
wiegende Gewebeschädigungen aufgrund der unsach­
gemässen Anwendung von Octenisept®. Die Diagnose
konnte jeweils erst verzögert gestellt werden. Initial
ging man von einem infektiösen Geschehen aus. In
den Abstrichen konnte kein Keimwachstum, insbeson­
dere auch kein atypisches Mykobakterium, nachge­
wiesen werden. Auch das fehlende Ansprechen auf die
Antibiotikatherapie war Hinweis für eine nicht infek­
tiöse Genese. In der histologischen Untersuchung zeig­
ten sich ödematöse, entzündliche Gewebeverände­
rungen und Nekrosen. Beiden Fällen gemeinsam war
auch ein langwieriger Verlauf mit nur langsamer Re­
gredienz des Befundes. In einem Fall persistierte ein
funktionelles Defizit.
Analoge Fälle sind in der Literatur bei Erwachsenen [1]
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Abbildung 2: Intraoperativer Befund nach Débridement (Fall 2).
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und Kindern [2, 3] beschrieben. In der Publikation von
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allberichte
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Lysen und Koagulation bei diversen lokalen Antisep­
Dr. med. Martina Greminger
es infolge unsachgemässer Applikation von Octenisept®
tika nachweisen. Auch Octenisept® zeigte in dieser
Luzerner Kantonsspital
bei Verletzungen an der Hand zu aseptischen Gewebe­
Studie einen hohen Toxizitätswert. Dies ist die wahr­
nekrosen und chronischen Entzündungen kam.
scheinliche Ursache für die Entstehung der Weichteil­
Schwere Komplikationen infolge fehlerhafter Anwen­
schwellung. Inwieweit die Ergebnisse dieser Studien
dung bei Kindern wurden 2009 durch Hülsemann et
Rückschlüsse auf die beschriebene Zytotoxizität beim
al. [2] publiziert. Auch dort führte die Applikation von
Menschen erlauben, ist noch unklar.
Octenisept® bei penetrierenden Handverletzungen zu
Obwohl verschiedene Studien für einige im klinischen
persistierenden Ödemen und langfristigen Funktions­
Alltag häufig gebrauchte Desinfektionsmittel hohe To­
einschränkungen. Weiter wurden persistierende sub­
xizitätswerte nachweisen konnten, wird bei frischen
kutane Ödeme und aseptische Fettgewebsnekrosen bei
Verletzungen und Wunden die Indikation zur Desin­
Kindern auch an anderen Körperstellen (Glutealregion
fektion selten in Frage gestellt. Oftmals würde jedoch
und Wange) nach unsachgemässer Wundspülung mit
auch die einfache Wundspülung mit Débridement ge­
Octenisept® beschrieben [3].
nügen. Aufgrund der möglichen Komplikationen bei
Nach ersten Fallberichten hat der Hersteller Schülke &
fehlerhafter Anwendung sollte die Indikationsstellung
Mayr Ltd. im Februar 2008 einen Warnhinweis veröf­
zur Wunddesinfektion eine ärztliche Aufgabe bleiben.
fentlicht [4]. Kurz danach wurde auch ein Hinweis auf
Weiter sollten Wunden mit kleinen Eintrittspforten
dem Etikett des Präparats angebracht.
grundsätzlich nicht ausgespült, sondern im Operati­
Über die Pathogenese dieser gewebetoxischen Effekte
onssaal débridiert werden. Bei Wunden mit Stichkanal
ist bisher wenig bekannt. Octenidin und Phenoxyetha­
kann die Spülflüssigkeit in der Tiefe durch ein Kulis­
nol, die Inhaltsstoffe von Octenisept®, reagieren mit
senphänomen nicht abfliessen. Dies verursacht eine
Zellmembranen von Mikroorganismen und zerstören
Gewebeschwellung, ohne damit den gewünschten Rei­
diese so, scheinen aber auch auf exponierte körperei­
nigungseffekt zu erzielen.
­
Spitalstrasse
-
CH 6000 Luzern
martina.greminger[at]
luks.ch
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Franz et al. [1] wurden vier Fälle beschrieben, bei denen
Korrespondenz:
gene Zellen toxisch zu wirken. Diverse Studien haben
im Tiermodell und in vitro die Zytotoxizität von Anti­
septika untersucht. Kalteis et al. [5] konnten in ihrer
Studie vaskuläre Gewebereaktionen wie Hämorrhagien,
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Das Wichtigste für die Praxis
2
• Die Anwendung von Octenisept ist klinisch weit verbreitet. Im Gegen
®
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satz dazu ist das Wissen um die beschriebene Problematik nur wenig vorhanden.
4
• Octenisept® darf nicht unter Druck ins Gewebe injiziert werden.
• Die Anwendung bei tieferen Wunden und Wundhöhlen ist ohne Gewährleistung eines Abflusses kontraindiziert.
• Bei unsachgemässer Anwendung drohen bleibende Funktionseinschrän-
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wender des Produktes gelangt.
2016;16(32):642–644
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kungen. Daher ist es essentiell, dass dieses Wissen vermehrt an die An-
Franz T, Vögelin E. Aseptic tissue necrosis and chronic inflamma­
tion after irrigation of penetrating hand wounds using Octenisept®.
J Hand Surg Eur Vol. 2012;37(1):61–4.
Hulsemann W, Habenicht R. Severe side effects after Octenisept
irrigation of penetrating wounds in children. Handchir Mikrochir
Plast Chir. 2009;41:277–82.
Schupp CJ, Holland Cunz S. Persistent subcutaneous oedema and
aseptic fatty tissue necrosis after using octenisept. Eur J Pediatr
Surg. 2009;19:179–83.
Schülke & Mayr Ltd. Wichtige Information zur Arzneimittelsicher­
heit von Octenisept® (Octenidindihydrochlorid, Phenoxyethanol):
Oedematöse Schwellungen und Gewebeschädigungen nach
Einbringen unter Druck in Stichwunden bei handchirurgischen
Eingriffen. Feb 2008.
Kalteis T, Luring C, Schaumburger J, Perlick L, Bathis H, Grifka J.
Tissue toxicity of antiseptics. Z Orthop Ihre Grenzgeb.
2003;141:233–8.
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