Wissen Sonntag, 14. April 2013 / Nr. 15 Zentralschweiz am Sonntag 45 Versteckte Gefahr im Magen-Darm-Trakt Medizin In der Schweiz leben etwa 1000 Menschen mit der seltenen Krankheit GIST. Die Heilungschancen dieser Tumoren sind sehr unterschiedlich. Dies ist die Geschichte eines Betroffenen. OP. Wenn der Tumor geplatzt wäre, hätten sich die befallenen Zellen im Bauchraum verteilen können.» Um sicher alle betroffenen Zellen zu erwischen, schnitt der Chirurg zusammen mit dem GIST ein zirka 15 Zentimeter langes Stück Dünndarm heraus und fügte die Enden gekonnt wieder zusammen. Dabei hatte Wettstein ein weiteres Mal Glück: Es blieben keine Tumorzellen zurück. Nach der Operation musste er das selbe Medikament noch eine Zeit lang weiter einnehmen. Sämtliche Nachkontrollen mit Computertomogramm – zuerst halb-, dann dreivierteljährlich, schliesslich jährlich – waren bisher negativ. Seit viereinhalb Jahren ist Martin Wettstein nun absolut beschwerdefrei und muss keinerlei Einschränkungen im Alltag auf sich nehmen. «Mein Arzt meint, dass ich mich somit wieder als gesunden Menschen betrachten kann – obwohl Rückfälle nie mit 100-prozentiger Sicherheit auszuschliessen sind.» Als sich die einstige Patientengruppe 2009 in den Verein GIST-Gruppe Schweiz verwandelte, wurde Wettstein angefragt, ob er Interesse hätte, das Präsidium zu übernehmen. «Aus Dankbarkeit für die von der Patientengruppe erfahrene Hilfe nahm ich das Amt gerne an.» Dank diesem Engagement kennt er mittlerweile weltweit Betroffene, darunter auch viele, die nicht so viel Glück hatten wie er. Das führt immer wieder zu traurigen Momenten: «Manchmal ist jemand gut ‹zwäg›, und schon beim nächsten Vereinstreffen ist er nicht mehr dabei.» AnneTTe WIrTHlIn [email protected] Eines Abends im Jahr 2007 sass Martin Wettstein aus Meggen im Luzerner KKL – in einer Aufführung von Beethovens Neunter –, als er einmal mehr von schier unerträglichen Bauchschmerzen heimgesucht wurde. «Ich sass da, eingeklemmt mitten im Publikum, schweissüberströmt, und konnte nicht aufstehen», erinnert sich der heute 62-Jährige. Nach 15 bis 30 Minuten liessen die Schmerzen von selbst wieder nach. Da Wettstein bereits seit zwei Jahren solche sporadischen, extremen Bauchschmerzen gehabt hatte, die mit der Zeit häufiger geworden waren, nahm er den Zwischenfall im Konzertsaal zum Anlass, endlich einmal einen Arzt aufzusuchen. 110 neue Fälle pro Jahr Heute weiss Martin Wettstein: In der Aussenwand seines Dünndarms befand sich ein 11 mal 8 Zentimeter grosser bösartiger Tumor, ein sogenannter Gastrointestinaler Stromatumor, kurz GIST. Jedes Mal, wenn die Schmerzen wieder zuschlugen, muss der ansonsten unbemerkt vor sich hin wachsende Tumor auf eine Nerven- oder Blutbahn gedrückt haben, vermutet Wettstein, der unterdessen so ziemlich alles weiss, was für Betroffene wichtig ist. GIST ist eine seltene Krankheit, unter der zurzeit in der Schweiz nur ungefähr 1000 Personen leiden. Jährlich erkranken ungefähr 12 bis 15 Personen pro Million Einwohner, das macht in der Schweiz etwa 110 neue Fälle pro Jahr. GIST sind Weichteiltumoren, die erst seit etwas über zehn Jahren eindeutig diagnostiziert werden können. Am häufigsten entstehen sie im Magen, gefolgt vom Dünndarm. Wesentlich seltener befallen sie den Enddarm, den Zwölffingerdarm oder die Speiseröhre. Immer jedoch entwickeln sich GIST aus den kleinen Zellen in den äusseren Wandschichten des Verdauungstraktes, welche für die dortige Muskeltätigkeit verantwortlich sind. Die Tumoren wachsen im Gegensatz zu den klassischen Krebstumoren meist nicht in die Organe hinein, sondern breiten sich nach aussen in den Bauchraum aus. Am Stress lag es nicht Dass der Tumor bei Martin Wettstein erst relativ spät entdeckt wurde, ist typisch für GIST. Der Allgemeinpraktiker, den er zuerst aufsuchte, stellte zuerst einmal gar nichts fest und schickte ihn zur weiteren Untersuchung ins Spital Schwyz. Dort wurden Ultraschallprüfungen im Bauchraum und eine Dickdarm- «Man schiebt das Geniessen weniger in die zukunft.» M A rT I n W e TT ST e I n , G I ST- PAT I e n T spiegelung durchgeführt, ebenfalls mit negativen Befunden. «Man riet mir, einfach mal in die Ferien zu gehen, um mich zu entspannen», erzählt Wettstein. «Doch auch das brachte keine Besserung.» Rückblickend macht für den Ingenieur alles Sinn: «Meine Symptome waren völlig atypisch. Und ich kenne auch keine Betroffenen, die sogenannt typische Symptome aufwiesen.» Tatsächlich wird die Krankheit meist zufällig entdeckt, etwa bei einer Untersuchung in einem anderen Zusammenhang. So zufällig wars dann bei ihm aber auch wieder nicht: «Nach all den Mehr im Moment leben Ein Computertomogramm der Verdauungsorgane hilft dem Spezialisten, einen GIST frühzeitig zu erkennen. Getty Schmerzen und negativen Befunden nötigte mich meine Frau, endlich ein Computertomogramm machen zu lassen.» Dieses zeigte in der Aussenwand des Dünndarms ein grosses «Raumerfordernis», das auf einen Tumor schliessen liess. Nach einer Gewebeentnahme kam vom Pathologen die Diagnose per Telefon: Gastrointestinaler Stromatumor. Er sei gar nicht so sehr erschrocken gewesen, sagt Wettstein, sondern eher erleichtert, dass endlich eine Erklärung für sein Leiden gefunden worden sei. Obwohl ihm schnell klar gewesen sei, dass in ihm ein gefährlicher Tumor wucherte. «Ich bin kein ängstlicher Typ. Zudem sagte man mir bald, ich hätte Glück gehabt und eine gut behandelbare Art von Tumor erwischt.» Nicht alle GIST sind mit dem gleichen Risiko behaftet. Von der Grösse her hätte Wettsteins Tumor eigentlich eher ein hohes Risiko bedeutet. Doch für seine Heilbarkeit sprach zum einen die Tatsache, dass der Tumor noch keine Metastasen gebildet hatte. Zum anderen war die Zellteilungsrate, die für die Geschwindigkeit des Tumorwachstums verantwortlich ist, bei ihm sehr tief. Weiter ergab eine Analyse des Tumors, dass ihm eine seltene, sogenannte Exon-9-Mutation zu Grunde lag. Dies bedeutete, dass man sich mit einer höher dosierten medikamentösen Vorbehandlung gute Heilungschancen versprach. erträgliche nebenwirkungen Über das Internet beziehungsweise die GIST-Gruppe Schweiz stiess Wettstein auf das Triemlispital in Zürich, wo ein Ärzteteam auf GIST spezialisiert ist. Dort wurde ihm eine neo-adjuvante (also voroperative) Therapie mit dem Medikament Glivec empfohlen, mit dem Ziel, die aktiven Tumorzellen «auszu- schalten». Der im Medikament enthaltene Wirkstoff Imatinib hindert die bösartigen Zellen daran, sich weiter zu vermehren. Täglich musste Wettstein Tabletten schlucken. Er sagt: «Eine kompromisslose Therapietreue ist sehr wichtig für den Erfolg.» Das hatte gewisse Nebenwirkungen wie etwa einen heftigen Ausschlag am ganzen Körper, der jedoch innert Tagen wieder verschwand. Andere Begleiterscheinungen, wie geschwollene Augen, übermässiger Tränenfluss sowie brüchige Finger- und Fussnägel, blieben bestehen. «Doch es war absolut erträglich», findet Wettstein. Tatsächlich verlor der Tumor innerhalb eines Jahres nach Start der Therapie die Hälfte seines Gewichtes. Nach zirka 12 Monaten medikamentöser Vorbehandlung und erfolgreicher Reduktion von Grösse und Aktivität des Tumors wurde Wettstein operiert. Er erinnert sich: «Es war eine ganz heikle Auf die Frage, was die Krankheit bei ihm verändert habe, sagt der Vater von drei erwachsenen Kindern: «Man schiebt das Geniessen weniger in die Zukunft. Das ergab für mich sogar eine bessere Lebensqualität als zuvor.» Seine Frau, sagt er, hätte an seiner Stelle ihr Leben komplett umgestellt und angefangen, die Welt zu bereisen. «Bei mir persönlich hingegen war das nie ein Thema», sagt Wettstein. «Ich lebte mein Leben weiter wie bisher. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein Ende schon bevorsteht.» Er ist überzeugt, dass seine optimistische Haltung einen Teil zu seiner Genesung beigetragen hat – auch wenn dies viele Schulmediziner nicht unbedingt unterschreiben würden. Auf die Frage, was seine wichtigste Erkenntnis aus der Erkrankung sei, antwortet Martin Wettstein: «Bei solch unübersehbaren Symptomen, wie ich sie hatte, würde ich heute viel schneller einen Arzt aufsuchen.» HinWeis Am 19. April findet in Zürich das 10. Treffen der GisT-Gruppe schweiz (www.gist.ch) für Betroffene, Angehörige und interessierte statt. Anmeldung unter 041 710 80 58 oder [email protected] «es gibt kaum Symptome – und schon gar keine spezifischen» Ein Gastrointestinaler Stromatumor (GIST) ist eine seltene, nicht vererbbare Tumorerkrankung. Wieso bekommt jemand diese Krankheit? Michael Montemurro*: Das wissen wir nicht. Der Lebenswandel spielt keine Rolle, und ein Zusammenhang mit Chemiefabriken besteht ebenfalls nicht, obwohl das von Betroffenen schon befürchtet wurde. Viele Menschen haben sogenannte Mikro-GIST im Magen, das sind kleine Tumörchen im Millimeterbereich, die aber zunächst ein harmloser Schönheitsfehler sind. Wieso diese nur bei einigen Menschen gross werden und als Krankheit auftreten, hat man leider noch nicht herausgefunden. Wieso haben die meisten Patienten eine lange Geschichte von Fehldiagnosen, bevor GIST erkannt wird? Montemurro: Weil GIST kaum Symptome macht – und schon gar keine spezifischen. Bauchschmerzen, Völlegefühl und allgemeine Schlappheit können auch andere, teils harmlose Gründe haben. Sogar wenn man bei Bauchschmerzen eine Magen- oder Darmspiegelung durchführt, muss man nicht unbedingt diesen Tumor sehen, weil er sich nicht an der Oberfläche der Organwand befindet. Da man im Bauchraum viel Platz hat, kann der GIST eine beachtliche Grösse erreichen, bevor man ihn diagnostiziert. Die Unterscheidung in drei Erkran- kungsstadien ist für die Behandlung entscheidend. Bitte erklären Sie. Montemurro: Eine Gruppe von Patienten befindet sich in einem Stadium, in dem man den Tumor operativ entfernen kann. Hier kann eine echte Heilung erzielt werden. Fast alle Patienten müssen aber nach der erfolgreichen Operation zu Nachsorgeuntersuchungen kommen. Jene mit einem grossen Tumor und hoher Zellteilungsrate benötigen zusätzlich noch eine medikamentöse Nachbehandlung, denn bei ihnen besteht ein grosses Rückfallrisiko. Wann ist ein GIST operabel? Montemurro: Ob ein Tumor operabel ist, wird bestimmt durch seine Position im Körper, seine Grösse und dadurch, an wie vielen Stellen Herde auftreten. Man kann 20 davon haben und sie gut entfernen lassen, wenn sie sich auf einen kleinen Teil eines Organs beschränken. Es kann aber auch schon ein einziger an einer so «blöden» Stelle liegen, dass er nicht entfernt werden kann. Nun gibt es eine zweite Gruppe von Patienten, die nicht operierbar sind. Montemurro: Genau. Bei diesen kommt nur eine medikamentöse Therapie in Frage. Hier gibt es bessere und schlechtere Ausgangslagen oder Untergruppen. Tumore mit der sogenannten Mutation Exon-11 sprechen z. B. sehr gut an auf die Behandlung, andere mit einer anderen Mutation leider gar nicht. Die dritte Gruppe von Patienten bewegt sich mit ihrer Erkrankung in einer Grauzone. Sie zieht möglicherweise aus einer medikamentösen Vorbehandlung einen Nutzen und kann möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt operiert werden. Wie genau funktionieren die medikamentösen Therapien? Montemurro: Der Tumor hat eine Art gestörtes Telefon, das immer klingelt und damit Signale an die Zellen sendet, dass sie wachsen sollen. Die speziell für GIST entwickelten Wirkstoffe wie Imatinib oder Sunitinib unterbinden diese Signale. Wenn der Tumor keine Kommandos zum Wachsen mehr kriegt, kann er sich nicht mehr ausbreiten, und im Idealfall schrumpft er mit der Zeit sogar. Das klingt gut. Aber wo liegt die Problematik bei den Medikamenten? Montemurro: Bei den meisten Patienten ist der Zeitraum, in dem das Medikament wirkt, begrenzt. Irgendwann findet der Tumor Umwege, um die Wachstumshemmung zu umgehen. Dann muss man von Imatinib auf einen anderen Wirkstoff, das Sunitinib, wechseln, damit es wieder funktioniert. Mittlerweile gibt es noch einen dritten Wirkstoff namens Regorafenib. In den USA ist er zugelassen, und er wird hoffentlich auch bald hier eingeführt werden. Aber wie Sie sehen und ahnen, stehen danach und für einige Patienten keine wirksamen Medikamente mehr zur Verfü- gung. Weltweit wird aber an neuen Therapien gearbeitet. Wieso ist eine Chemotherapie bei GIST nicht angezeigt? Montemurro: Weil die bei der klassischen Chemo verwendeten Substanzen bei GIST einfach nicht wirken, das hat man aus vielen Versuchen gelernt. Was kann zu den Heilungschancen bei GIST gesagt werden? Montemurro: Bei kleinen Tumoren, die entfernt wurden, sind die Heilungschancen extrem gut. Wenn der Tumor nicht entfernt werden kann, hat der Patient eine eingeschränkte Lebenserwartung. Im Durchschnitt lebt der Patient dann aber immer noch mehr als fünf Jahre über den Zeitpunkt der Diagnosestellung hinaus. Grundsätzlich kann GIST einen in jedem Alter treffen. Am häufigsten kommt die Krankheit aber in der Altersgruppe der 60-Jährigen vor. HinWeis * Michael Montemurro ist Facharzt für innere Medizin, Hämatologie und Onkologie und arbeitet an der Klinik für Onkologie am Universitätsspital Zürich. er ist Präsident der Projektgruppe Gastrointestinale Tumore der schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (www. sakk.ch).
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