Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 130 Kapitel 6 Theorien des Textverstehens Das Verstehen (und auch das Interpretieren) sprachlicher A uüerungen (gleich ob mundlich oder schriftlich) war erstaunlicherweise lange Zeit uberhaupt kein Thema fur die moderne Linguistik. Obgleich (oder vielleicht gerade weil?) Verstehen und Interpretieren von Texten herausragende Themen der Philologie seit ihrem Entstehen waren, wurde dieser Aspekt der sprachlichen Versta ndigung aus der sprachwissenschaftlichen Analyse nahezu ausgeblendet. Unter der Vorherrschaft informationstechnisch ausgerichteter "Kommunikationsmodelle" in den 60er Jahren war die Leistung der Textrezeption (entsprechend der Auffassung der Textproduktion als "Encodierung") als ein bloües "Decodieren" einer im sprachlichen "Code" fertig vorgegebenen Information aufgefaüt worden. "Verstehen" und "Interpretieren" geriet gar nicht erst als Leistung der Textrezipienten in den Blick. Auch das Aufkommen der linguistischen Pragmatik a nderte daran wegen der alleinigen Orientierung auf die Leistung der "Sprecher" in der Sprechakttheorie zuna chst nichts. Zu lange herrschte das falsche Bild vor, daü die Rezeption sprachlicher Daten eine sich aufgrund der "Sprachkenntnis" quasi automatisch vollziehende Angelegenheit sei. Erst allma hlich, unter anderem auch unter dem Einfluü der neuerlich aufbluhenden Psycholinguistik, aber auch infolge der Hinwendung einer zunehmenden Zahl von Linguisten zu Problemen der Semantik und der semantischen Tiefenanalyse, geriet das "Verstehen" von Texten als wissenschaftliches Problem wieder ins Blickfeld der Sprachwissenschaft. Ergebnisse der Pragmatik wurden auf die Leistung der Textrezipienten ubertragen, wie es etwa in folgender A uüerung von von Polenz deutlich wird: "Was man Verstehen oder Rezeption einer A uüerung nennt, ist nicht ein bloüer 'Empfang' fertiger transportierter Informationseinheiten - wie man es in technischen Informationsmodellen (mit 'Sender' und 'Empfa nger') darstellt - sondern Ergebnis eines kombinierten Handelns der Rezipierenden, na mlich eine Kombination aus einerseits Anwenden von Sprachwissen (Wiedererkennen von Ausdrucksformen und -Bedeutungen) und andererseits Annahmen machen uber das, was der Sprecher/Verfasser mit seinen A uüerungen gemeint hat oder haben ko nnte."1 Mit dieser Umdeutung des Verstehens von einem automatenhaften Vollzug fertig vorgegebener Information zu einer aktiven 1 von Polenz 1985, 299 f. Ä Dietrich Busse 1991 107 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 131 Ta tigkeit der Rezipierenden wurde sprachliche Kommunikation aber zugleich ihres objektivistischen Anstrichs (als gebe es eine "objektive Textbedeutung") entkleidet; "Verstehen" ist nun den Zufa lligkeiten je spezifischer Wissensmo- / mente und Deutungsweisen einzelner rezipierender Individuen ausgesetzt: "Wenn man Gluck hat, kann man mit seinen Annahmen das vom Sprecher/Verfasser Gemeinte wenigstens anna hernd treffen; oft aber ist das Verstandene nur eine ungenaue, unvollsta ndige oder uberinterpretierende Rekonstruktion des Gemeinten; und verschiedene Ho rer/Leser kommen dabei meist zu teilweise verschiedenen Ergebnissen."2 Die Einsicht in die unhintergehbare Individualita t jeden Textverstehens korrespondiert mit einer in der Psychologie verbreiteten Auffassung, daü Bedeutung eigentlich eine individuelle mentale Kategorie sei.3 Eine solche Auffassung von "Bedeutung" kann jedoch aus linguistischer Sicht nicht befriedigen, kommt es doch hier darauf an, zu erkla ren, wie trotz der Individualita t von epistemischen Momenten und Operationen Versta ndigung zwischen mehreren Individuen zustande kommt. D.h. die psychologische Perspektive der Individualita t mentaler Operationen muü mit der linguistischen Perspektive der Intersubjektivita t der Sprache in Einklang gebracht werden. Gegen die vor allem durch die neuere Psycholinguistik aufgekommene Deutung des Verstehens als aktiver Handlung von Individuen ist aus sprachphilosophisch begrundeter Perspektive Kritik angemeldet worden; es wurde der Vorwurf erhoben, daü Verstehen aktivistisch definiert wurde, obgleich die Terminologie der Handlungstheorie darauf nicht anwendbar sei; allenfalls ko nnte es sinnvoll sein, dem "Verstehen" als sich intuitiv vollziehendem "Prima rpha nomen" (Wittgenstein) das "Interpretieren" als aktiver Handlung gegenuber zu stellen. Trotzdem bleibt das Problem bestehen, daü "Textverstehen" durch das "Meinen", die Intention der Textproduzenten nicht festgelegt werden kann; die "Transgression des Verstehens"4 muüalso auch in linguistischen Verstehenstheorien berucksichtigt werden. Es wird daher im folgenden Kapitel zuna chst darum gehen, neuere Psycholinguistische Verstehenskonzepte und ihre Aufnahme in der Linguistik darzustellen, um dann, nach Darstellung der Kritik an aktivistischen Verstehensmodellen, eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie ein genuin linguistisches Modell des Textverstehens und der Textinterpretation formuliert werden kann, das den mittlerweile allseits anerkannten Aspekt der Subjektivita t des Textverstehens berucksichtigt, ohne "Verstehen" als Handeln zu miüdeuten und es mit "Interpretieren" zu verwechseln. 2 von Polenz 1985, 300. 3 Vgl. Engelkamp 1984a, 4: "Bedeutung ist nicht mehr eine Eigenschaft sprachlicher Zeichen und schon gar keine ein fur allemal festgelegte Eigenschaft, sondern allenfalls etwas, das ein Verstehender anla ülich eines sprachlichen Zeichens konstituiert." Vgl. fur die Aufnahme dieser Auffassung in der Linguistik Lutzeier 1985. 4 Wolski 1980, 187. Ä Dietrich Busse 1991 108 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 132 6.1 Psychologische Modelle des Verstehens in der Textlinguistik Unter der aus technologischen Interessen entsprungenen Leitfrage nach den Mo glichkeiten der Rekonstruktion menschlicher Versta ndigungsprozesse auf elektronischen Maschinen, d.h. der Modellierung von "Sprachverarbeitung" auf dem Computer, ist in den letzten Jahren unter dem Oberbegriff der "Cognitive Science" ein die traditionellen Fa chergrenzen uberschreitendes Konglomerat von Forschungs- und Theoriebildungsprozessen entstanden, welches von Bei- / tra gen aus Psychologie, Neurophysiologie, Linguistik, Philosophie und sog. "Kunstlicher Intelligenz"-Forschung (KI) gespeist wird. Gerade manche neuere Ansa tze der Textlinguistik (van Dijk, de Beaugrande/Dressler), aber auch Forschungen der Psycholinguistik zum Textverstehen (vgl. etwa zusammenfassend Strohner) werden als Teil dieser neuen U berwissenschaft verstanden. "Verstehen" von sprachlichen Daten wird (ebenso wie das "Produzieren") als Teil eines prinzipiell beschreibbaren, "im Kopf" der (sprachlich) kommunizierenden Menschen ablaufenden Mechanismus der "Textverarbeitung" verstanden; oft werden "A uüern" und "Verstehen" schlicht mit "Textverarbeitung" gleichgesetzt. Verstehen bestunde dann darin, daü eine Textbedeutung in bestimmter Weise "im Kopf" der Textrezipienten epistemisch bzw. kognitiv repra sentiert wird. Eine solche Repra sentation wird modelliert als Struktur aus "Propositionen", d.h. der Verbindung eines "Konzepts" mit einem "Pra dikat"; es handelt sich dabei um das uns schon aus der Textsemantik bekannte Modell der Erfassung von Textbedeutungen. Verstehen eines sprachlich gegebenen Textes wird dann (cum grano salis) in der Psycholinguistik und der Textwissenschaft als Aufbau einer kognitiven Wissenstruktur aus Propositionen aufgefaüt.5 Nach verbreiteter Auffassung werden nur ein Teil der fur das Verstehen eines Textes notwendigen Propositionen dem Text selbst "entnommen". So sagt van Dijk, daü aufgrund des allgemeinen (enzyklopa dischen) Wissens der Textrezipienten aus den "im Text ausgedruckten", d.h. "expliziten" Propositionen noch zusa tzlich "eine Anzahl besonderer impliziter Propositionen abgeleitet werden. Ohne solche impliziten Propositionen durfte [eine] Sequenz nicht vollsta ndig interpretierbar sein".6 Alle Propositionen zusammen ("explizite" und "implizite") ergeben die "Propositionale Textbasis". Verstehen eines Textes ist dann die "Rekonstruktion" dieser Textbasis durch die Rezipienten.7 Wie der Ausdruck "Rekonstruktion" schon zeigt, wird in dieser Forschungsrichtung das Textverstehen aktivistisch, als "konstruktiver Prozeü"8 aufgefaüt. 5 "Die Zuschreibung eines Pra dikats zu einem thematisierten Konzept im Rahmen einer Proposition bildet den Elementarakt des Verstehens." Engelkamp 1984b, 33. 6 van Dijk 1980, 33. 7 "Um einen Text zu verstehen, mussen wir kognitiv [...] die vollsta ndig explizite Textbasis rekonstruieren aufgrund der impliziten Textbasis, wie sie in der Satzsequenz erscheint." van Dijk 1980, 33. 8 Engelkamp 1984b, 32; Groeben 1984, 185. Ä Dietrich Busse 1991 109 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 133 "Textverarbeitung" wird dann als ein auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfindender9 Prozeü begriffen, in dem unter Anwendung kognitiv/epistemischer Operationen10 sog. "textgebundene Informationen" mit anderen Wissens- bestandteilen11 so in Beziehung gesetzt werden12, daü sich den Rezipienten die Textbedeutung erschlieüt, bzw. kognitivistisch ausgedruckt - daü eine der Textbedeutung entsprechende kognitive Struktur im Kopf der Textrezipienten aufgebaut wird. "Diese Bearbeitung [la uft] im Grunde auf eine kognitive Interpretation von einlaufenden Signalen hinaus, d.h.: auf eine U bersetzung auf Begriffe oder Relationen zwischen Begriffen in eine Proposition (oder in ein Netzwerk von Begriffen)."13 Laut van Dijk sind die wichtigsten Operationen: (a) segmentieren (des kontinuierlich einflieüenden Lautstroms; in Schrifttexten durch die Trennung in Wo rter z.T. schon vorgegeben); (b) kategorisieren (d.h. das Zuordnen einer Buchstaben-Konfiguration zu einer Wortform, welche zugleich notwendigerweise eine syntaktische Einordnung bedingt); (c) kombinieren (d.h. Einheiten werden aufgrund der Sprachkenntnis als "zusammengeho rig" begriffen) und (d) interpretieren (d.h. "den Wortformen, Satzteilen und / Sa tzen wird eine bestimmte, konventionell festgelegte Bedeutung zugeordnet").14 Der letzte Aspekt zeigt, daühier ein recht statischer Bedeutungsbegriff angesetzt wird; werden "Wortbedeutungen" als fertig abrufbare kognitive Entita ten aufgefaüt? Diesen Eindruck erwecken wenigstens viele Formulierungen von Psychologen, in denen "Verstehen" als Aktivierung von als kognitive Entita ten aufgefaüten "Begriffen" ("Konzepten") modelliert wird.15 Sprachwissenschaftlich betrachtet stellt eine Verstehenstheorie, die "Wortbedeutungen" als "konventionell verfugbare" Entita ten bzw. als abrufbare "Begriffe" betrachtet, so daü das Problem des "Verstehens" nur 9 van Dijk 1980, 164. 10 van Dijk 1980, 163 ff.; vgl. auch van Dijk 1980, 213: "Eine Reihe von Basisprinzipien der komplexen Informationsverarbeitung [sind] de facto auf fast allen Ebenen zu finden: Segmentieren, Kategorisieren, Anwenden von Regeln, Benutzen von Strategien, Konstruieren oder Ausfuhren von Makrostrukturen und die Verwendung konzeptioneller und sozialer Bezugsrahmen (frames), die zur Organisierung von Wissen, Denken, Ableiten, Interpretieren und sozialem Handeln unentbehrlich sind." Vgl. auch de Beaugrande/Dressler 1981, 138. 11 Dazu za hlen u.a. die schon behandelten "Rahmen", "Skripts" etc. 12 van Dijk 1980, 161 f. 13 van Dijk 1980, 166; vgl. auch Biere 1989, 84 f.: "Verbal wie nonverbal dargebotene Informationen werden im Geda chtnis - so die Annahme - nicht in der Form wie sie eingehen, quasi identisch 'abgespeichert', sondern in einem bestimmten 'Format' organisiert und repra sentiert. Die so repra sentierten Denkstrukturen sind als 'aktive' Strukturen gedacht, d.h. als Strukturen, die einerseits in Wechselwirkung mit neuem Inputmaterial sta ndig modifiziert bzw. spezifiziert werden ('bottom-up'Prozeü), die andererseits aber auch die Informationsaufnahme aktiv interpretativ steuern ('top-down'Prozeü)." 14 van Dijk 1980, 163 ff. 15 So Seiler 1984, 59, fur den das Wort (d.h. die Zeichenausdrucksseite) "sekunda r" ist; vgl. auch Engelkamp 1984b, 37. In der Textlinguistik sprechen de Beaugrande/Dressler 1981 in psycholinguistischer Weise von "Konzepten"; van Dijk 1980, 173 betont, daü fur das Modell der Textverarbeitung "ausschlieülich Begriffe der konzeptionellen Strukturen benutzt" werden: Propositionen, Elemente von Propositionen, und Relationen zwischen Propositionen oder Elementen von Propositionen. Vgl. auch die Rede vom "Wortkonzept" bei Strohner 1990, 98 ff. Ä Dietrich Busse 1991 110 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 134 noch ein solches der Disambiguierung und der Zuordnung16 verschiedener "Konzepte" zu "Propositionen" bzw. zu "Wissensrahmen" ist, einen Ruckfall hinter das in der Linguistik mittlerweile entwickelte Problembewuütsein zu semantischen Fragen dar.17 Weder berucksichtigt eine solche Theorie, daü der Status von "Wortbedeutungen" und ihre Konstitution in Verstehensprozessen selbst alles andere als gekla rt ist, noch nimmt sie zur Kenntnis, daü alle begriffstheoretischen Varianten der Wortbedeutungstheorie wegen des ungekla rten Status von "Begriff" in der Linguistik und Sprachphilosophie mittlerweile zu Recht in Frage gestellt werden.18 La üt man den beachtlichen terminologischen Benennungsaufwand der Psycholinguistik und der psycholinguistisch orientierten Textlinguistik beiseite19, dann stellt sich das Modell der Textverarbeitung etwa folgendermaüen dar: Eingehende Schallwellen (Verstehen von Schrifttexten wird interessanterweise theoretisch kaum behandelt20) werden von den Textrezipienten unter Anwendung von erlerntem SchemaWissen in Phoneme (als Bestandteile des linguistischen Lautsystems) zerlegt, diese Phoneme werden zusammengesetzt zu Wo rtern, welche unter Abfrage des syntaktischen und morphologischen Wissens Wortarten zugeordnet werden. Zugleich werden den Wo rtern Bedeutungen zugeordnet und die Relationen zwischen den Wo rtern syntaktisch analysiert, d.h. zu bestimmten, im Sprachwissen gespeicherten Satzstrukturen zugeordnet. Nachdem der syntaktische Zusammenhang so klar ist, werden die einzelnen Bestandteile des Satzes "Konzepten" zugeordnet (die im Wissensspeicher vorhanden sind) und zu Propositionen zusammengefaüt. Die Textbedeutung ist schlieülich als eine Struktur, bestehend aus Propositionen bzw. Elementen von Propositionen (Konzepten) und Relationen zwischen Propositionen (bzw. Elementen von Propositionen) abgespeichert. D.h. daü Textbedeutungen nicht in der Form, in der sie sprachlich gegeben sind, im Geda chtnis gespeichert werden, sondern als eine solche "propositionale Textbasis".21 Das beschriebene Modell ist aus linguistischer Sicht problematisch. Zuna chst fa llt auf, daü "Textverstehen" hier ziemlich a hnlich aussieht wie ein linguistischer Analyseprozeü etwa in 16 Vgl. van Dijk 1980, 163. Vgl. auch Strohner 1990, 95, der trotz eines (systemtheoretisch) ho chst differenzierten Ansatzes zum Textverstehen mit dem "Codewissen" auf unreflektierteste Weise traditionelles bedeutungstheoretisches Denken aufnimmt. 17 Dieselbe Kritik a uüert Scherner 1989, 96 ff. 18 Man ko nnte die sich so modern gebende Psycholinguistik in ihrem Begriffs-Begriff auch als einen Ruckfall hinter die Kritik an der Ende des letzten Jahrhunderts entstandenen Vorstellungstheorie der Bedeutung kennzeichnen. 19 Der u.a. dazu fuhrt, daümanche Autoren wohl meinen, daüsie sich die Probleme der Definition des Begriffs "Begriff" schon dadurch vom Halse geschafft haben, daü sie in anglizistischer Weise stattdessen von "Konzept" reden. 20 Zur expliziten Ablehnung der Auseinandersetzung mit Schriftverstehen vgl. Ho rmann 1981, 9. Eine Ausnahme bildet etwa Strohner 1990. 21 Vgl. van Dijk 1980, 171: "Textverarbeitung beruht auf Strukturen, die A uüerungen bei der Aufnahme ins und beim 'Verarbeiten' im Kurzzeitgeda chtnis zugewiesen werden." Einen etwas differenzierteren Ansatz zum Textverstehen legt Strohner 1990 vor; allerdings ist dieser durch das deduktive U berstulpen eines systemtheoretischen Theorierahmens zu technisch und uberdifferenziert geraten, als daüer im uns interessierenden Rahmen einer Interpretationstheorie noch verwendbar wa re. Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 135 der Syntaxtheorie. Die wahrgenommene Ausdrucksstruktur wird in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, diese Bestandteile werden einer syntaktischen Struktur zugeordnet, und diese Struktur schlieülich mit Bedeutung "aufgefullt". Nichts spricht jedoch dafur, daü beim intuitiven Textverstehen notwendigerweise ein syntaktischer Analyseprozeü zwischen Wahrnehmen der Zeichenkette und Bedeutungskonstitution tritt, wie er vom Syntaxanalytiker in / seiner linguistischen Beschreibung formuliert wird. Die Einteilung der Forschungsgegensta nde der Linguistik in Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik bedingt nicht notwendigerweise, daü jedes Textverstehen diese wissenschaftlichen Analyseprozeduren nachvollziehen muü. Vielmehr deutet vieles darauf hin, daü phonologische, morphologische und syntaktische Zuordnungen schon unter Ansetzung von semantischem Wissen (oder semantischen Hypothesen) geschehen.22 Ein weiteres Problem des Modells ist der dort latent unterstellte semantische Atomismus. "Textbedeutung" wird als eine quasi atomistische Struktur aus "Konzepten" und Relationen dazwischen aufgefaüt. Erstens bleiben dann "Konzepte" unanalysiert (was aus einer merkmalsemantisch gestutzten Perspektive auf die Textkoha renz heraus nicht akzeptiert werden ko nnte), und zweitens bleiben Bedeutungsmomente, welche nicht in Form von "Konzepten" oder "Relationen" beschrieben werden ko nnen, vo llig unberucksichtigt.23 "Bedeutung" wird daher in allen propositionalen Modellen mehr oder weniger direkt auf "Information" reduziert. Ein Blick auf die Voraussetzungen der psycholinguistischen Theoriebildung kann den Status kla ren helfen, den die dort zur Erkla rung des Textverstehens verwendeten Termini haben. Jede psychologische Erforschung kognitiver Prozesse (also auch psychologisch motivierte Theorien des Textverstehens) muü sich mit dem Problem auseinandersetzen, daü uber die Struktur und den Ablauf von Denkprozessen nur Mutmaüungen mo glich sind. Da bei allen denkbaren Experimenten zur Sprachverarbeitung kognitive Abla ufe immer nur sprachlich vermittelt zutage treten ko nnen, wird in der Psycholinguistik das zur Erkla rung von Textverstehen entwickelte Modell der kognitiven Repra sentation von Textbedeutungen umgekehrt und auf den Sprachtext selbst angewendet, d.h. "der Text wird seinerseits als Repra sentation entsprechender (mentaler, kognitiver) Strukturen aufgefaüt".24 Liegt allein schon darin eine problematische Hypostasierung und die Gefahr einer Verwechslung von theoretischer Repra sentation semantischer Gehalte im Rahmen eines Modells mit der Textbedeutung selbst enthalten25, so 22 "Im konkreten Fall muü der Ho rer fur das Verstehen von Sa tzen eine Reihe von Hypothesen aufstellen, die sich auf die sich zuna chst ergebende Segmentierung, Kategorisierung, Kombination und Interpretation beziehen." van Dijk 1980, 165. 23 Vgl. zur Kritik daran Biere 1989, 71. Der Ansatz von Strohner 1990 ist einer der wenigen differenzierten und nicht-atomistischen Ansa tze zum Textverstehen. 24 Biere 1989, 66; er fugt hinzu: "Die Frage ist dann allerdings, inwieweit die notwendig lineare Anordnung der Textelemente eine nicht notwendig lineare Geda chtnisstruktur repra sentieren kann." 25 "Wir haben es dann bereits mit einer doppelten Repra sentation zu tun, denn Wissensstrukturen sind ihrerseits als mentale Repra sentationen, 'Encodierungen' von Informationen aufzufassen. In der Ä Dietrich Busse 1991 111 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 136 versta rken sich die Bedenken, wenn man berucksichtigt, daü die Analyse von Textbedeutungen in Form sogenannter "Propositionen" allein deshalb notwendig ist, um die fur psychologische Experimente beno tigten Kriterien dafur zu haben, ob ein Text, welcher einer Versuchsperson vorgegeben wurde, und der Text, den diese Versuchsperson dann (aus der Erinnerung) produziert, "dieselbe" Bedeutung haben.26 Der von dem Psychologen Kintsch (zusammen mit van Dijk) entwickelte Begriff der "semantischen Textbasis" als geordneter Liste von Propositionen basiert auf der Annahme, "die Textbasis sei eine vollsta ndige, explizite und eindeutige Repra sentation der 'Ideen', die der Sprecher oder Schreiber im Kopf hat".27 Damit wird aber zugleich unterstellt, die sprachliche Form eines Textinhalts sei ein bloües "Oberfla chenpha nomen" und die Realisierung eines Textes durch Sprecher/Schreiber ein bloües "Formulierungsproblem". Abgesehen davon, daüeine solche Auffassung von der Relation zwischen sprachlicher Ausdrucksform und Textinhalt ziemlich an das informationstheoretische Miüversta ndnis von Kom- / munikation erinnert, wonach sprachliche Versta ndigung in der U bersetzung von "Gedanken" in einen sprachlichen "Code" besteht, ergeben sich forschungspraktisch immense Probleme bezuglich der Frage, inwiefern eine "propositionale" Notierungsform einer "Textbedeutung" mit dem semantischen Potential einer sprachlichen Zeichenkette gleichgesetzt werden kann. Wie Biere in seiner luziden Kritik der psycholinguistischen Verstehensmodelle herausgearbeitet hat, gibt es keinerlei Kriterien dafur, wie einer bestimmten "propositionalen Struktur" eine bestimmte Textoberfla che (d.h. sprachliche Formulierung) zugeordnet werden kann. Selbst wenn man einmal dahingestellt sein la üt, ob "Textverstehen" mit propositionalen Modellen uberhaupt zureichend beschrieben werden kann (d.h. ob nicht schon der dahinterstehende Gedanke des U bersetzungsverha ltnisses zwischen sprachlicher Ausdrucksform und propositionaler Repra sentation des Textinhaltes "im Kopf" irrefuhrend ist), so bleibt das Problem ungelo st, daü eine propositionale Struktur (wegen ihres abstrakten Charakters) durchaus durch mehrere "Textoberfla chen" (Formulierungsvarianten) ausgedruckt werden kann. Die Zuordnung einer Formulierungsvariante zu einer "propositionalen Struktur" ist also ebenso willkurlich, d.h. durch intervenierende individuelle Faktoren eines Textproduzenten gesteuert, wie umgekehrt die Ableitung einer "propositionalen Textbasis" aus einer sprachlichen Textformulierung.28 In jedem Literatur werden diese zwei Ebenen der Repra sentation, theoretische und mentale Repra sentation, nicht selten vermischt, so daü der Eindruck entsteht, theoretische Repra sentationen ha tten die gleiche (ggf. neurophysiologisch verifizierbare) Form wie mentale Repra sentationen." Biere 1989, 65. Da Kognitives nicht unmittelbar beobachtbar ist, braucht man eine "Theoriesprache" zu seiner Repra sentation; eine solche Notationsform ist die "propositionale" Ausdrucksweise (vgl. Biere 1989, 64). 26 Vgl. Biere 1989, 67. 27 Biere 1989, 68. 28 "Aus der Annahme, daü bei der Oberfla chenrealisierung der Textbasis eine Reihe individueller Faktoren intervenieren und insofern auch unterschiedliche Texte aus der gleichen Textbasis abgeleitet werden ko nnen, folgt nun aber, daü es, solange diese Faktoren nicht theoretisch erfaüt werden, im Prinzip uberhaupt keinen Grund gibt, einer gegebenen Textbasis einen bestimmten Text zuzuordnen. Ä Dietrich Busse 1991 112 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 137 psycholinguistischen Versuchsaufbau intervenieren zwischen Ausgangstext und modellhafter Repra sentation des "Textinhalts" in Form einer "propositionalen Textbasis" also interpretative Entscheidungen des Forschers, deren Kriterien im Dunkeln bleiben.29 Aus all dem ergibt sich, daü der theoretische Status der als Wiedergabe der Textbedeutung aufgefaüten "propositionalen Textbasis" bei den Psycholinguisten unklar bleibt; d.h. es wird nicht gekla rt, ob es sich dabei um subjektive Pha nomene des individuellen Textverstehens oder um "objektive" Momente einer objektiv feststellbaren "Textbedeutung" handeln soll.30 Berucksichtigt man zudem, daü der Begriff der "Proposition" seinen sprachphilosophischen Ursprung u.a. in der Sprechakttheorie Searles hat, wo er gerade das fur diese Theorie beno tigte Konstrukt eines "Bedeutungsgehaltes" vor der Sprechaktfunktion (Illokution) erkla ren soll, dann wird deutlich, daüwichtige Momente der Textbedeutung (na mlich alle Aspekte, die von der Sprechakttheorie beschrieben werden; daruber hinaus noch die sog. "konnotativen" Momente, wie z.B. emotive und wertende Bedeutungsfaktoren) von dem Modell ihrer psychologischen Repra sentation ausgeschlossen werden. Schon daher kann die "propositionale Textbasis" der Psycholinguisten nicht mit der Textbedeutung gleichgesetzt werden.31 Damit verliert aber zugleich das auf "Propositionen" basierende Modell seine Anziehungskraft fur die Erkla rung von "Textverstehen". Textverstehen kann offensichtlich nicht ohne weiteres auf die Konstruktion von "Propositionen" reduziert werden.32 D.h. umgekehrt, daü die Rekonstruktion einer Textbasis als Repra sentation der kognitiv-semantischen Struktur eines gegebenen Textes im Prinzip ebenso willkurlich ist. [...] Wir stehen in jedem Fall vor einem Verstehens- und Interpretationsproblem, das daraus resultiert, daü die Relation zwischen Oberfla chentext und Textbasis eine mehrdeutige Relation ist. Aus einer Textbasis ko nnen verschiedene Oberfla chentexte abgeleitet werden und der gleiche Oberfla chentext kann verschiedenen Textbasen zugeordnet werden." Biere 1989, 69. 29 Das Problem verscha rft sich nur quantitativ, nicht prinzipiell, wenn man berucksichtigt, daü im Forschungsalltag die U bersetzung der von Versuchspersonen erstellten Texte in propositionale Strukturen schematisch und ha ufig durch Hilfskra fte vorgenommen wird, welche die theoretischen Hintergrunde dessen, wozu sie von ihren Projektleitern angehalten werden, meist gar nicht ubersehen. Dazu Biere 1989, 69 f.: "Kintsch scheint darin [der Mehrdeutigkeit der U bersetzungsmo glichkeiten, D.B.] aber kein grundsa tzliches Problem zu sehen. Der Verstehensprozeü des Forschers scheint wieder einmal in den Bereich der Heuristik verwiesen zu werden, wo er forschungslogisch nicht weiter reflektiert zu werden braucht. Dennoch ist nicht einzusehen, warum dem Verstehensprozeü des Forschers eine grundsa tzlich andere Qualita t als dem des 'normalen' Lesers zugesprochen werden sollte." 30 "Sollen aus einer Textbasis konkrete Texte erzeugt werden, so muü die Textbasis individuell gedacht werden. Ist die Textbasis ein idealisiertes Modell des mo glichen Versta ndnis eines Textes durch mo gliche (idealisierte) Leser, so ko nnen individuelle Sprecher nicht auf der Basis eines solchen Modells, sondern nur auf der Basis ihrer subjektiven Wissensstrukturen Texte erzeugen." Biere 1989, 70. 31 "Repra sentieren wir einen Text in einer ausschlieülich propositionalen Textbasis, so bleibt der illokutiona re und damit pragmatische Aspekt bei der Erzeugung von Texten ausgespart. Wenn Propositionen aber nur als Bestandteile vollsta ndiger Sprechakte ausgedruckt werden ko nnen, ist das propositionale Modell empirisch inada quat." Biere 1989, 71. Das vollsta ndige Fehlen aller illokutiven und sonstigen pragmatischen Bedeutungskomponenten von Texten uberrascht gerade bei solchen, als doch umfassend angelegten, Forschungsansa tzen zum Textverstehen, wie ihn etwa Strohner 1990 vorlegt. 32 Biere 1989, 71 zur Reduktion der Textbedeutung auf eine Pra dikat-Argument-Struktur: "Eine solche Reduktion von 'Kommunikation' auf 'Information' la üt es dann allerdings kaum zu, in Rekonstruktionen kognitiver Strukturen und Prozesse den Schlussel zu einer allgemeinen Bedeutungs- oder Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 138 Eine wichtige Rolle in neueren psycholinguistischen Theorien spielen die aus Fillmores "Kasusgrammatik" abgeleiteten "Schemata"33 (wie Rahmen, Skripts etc.), da mit ihnen der aktive Charakter des Textverstehens begrundet / wird. Ohne daü irgendeine Klarheit daruber bestunde, welchen Status solche "Schemata" haben sollen34, wird das Konzept vor allem dafur benutzt, um zu begrunden, auf welche Weise "Inferenzen" (Schluüfolgerungen) im Textverstehen eine zentrale Rolle spielen.35 Anknupfend an Fillmores Theorie der Kasusrahmen wird davon ausgegangen, daü Schemata eine bestimmte Form der Wissensorganisation darstellen, die es den Textrezipienten erlauben, dann, wenn ein in einem Text angesprochenes "Schema" sog. "Leerstellen" aufweist (vgl. die "Bezugsstellen" bei von Polenz), die fur das Textverstehen notwendigen Informationen zu erga nzen.36 D.h. daü die als Wissensrahmen fungierenden Schemata gewisse "Rahmenerwartungen"37 bei den Textrezipienten aktivieren; diese Erwartungen und das durch sie aktualisierte Wissen spielen nach ubereinstimmender Auffassung eine zentrale Rolle beim Textverstehen. In dem textlinguistischen Ansatz von de Beaugrande/Dressler ist dieser Aspekt unter dem Begriff der "Akzeptabilita t" eines Textes fur Textrezipienten (als Gegenstuck zur "Intentionalita t" bei den Textproduzenten) behandelt worden.38 Die ErwarVerstehenstheorie zu sehen." Die von uns formulierte Kritik am Propositionsmodell trifft nicht notwendig auf die Analyse von Satzbedeutungen bei von Polenz 1985 zu, da von Polenz die Pra dikat-ArgumentStruktur nur als ein Gerust begreift, durch das die Tiefenstruktur eines Satzinhaltes zuga nglich wird. Der Vorzug seiner Analyse ist gerade, daü er (im Gegensatz zu den Psycholinguisten) nicht reduktionistisch verfa hrt, sondern die Pra dikat-Argument-Analyse expansionistisch nutzt, um nichtausgedruckte Bezugsstellen und versteckte Pra dikationen offenzulegen. Zudem erweitert er die Pra dikat-Argument-Analyse ausdrucklich um Illokutionen und Konnotationen (wie emotive und wertende Momente), so daü fur ihn "Textbedeutung" nur in der Gesamtheit aller semantisch/pragmatischer Faktoren gegeben ist. 33 Nach Biere 1989, 79 f. sind Schemata (bei Thorndyke/Yekovich) etwa folgendermaüen charakterisiert: "Ein Schema stellt eine Datenstruktur zur stereotypen Repra sentation der im Geda chtnis gespeicherten 'Konzepte' dar. [...] Schemata sind hierarchisch organisiert, d.h. entweder werden aus generellen Schemata entsprechende Spezifizierungen abgeleitet, die dann den generellen Schemata untergeordnet werden, oder ein komplexes Schema wird als aus Konstituenten zusammengesetzt aufgefaüt. [...] Schemata sind variable Strukturen, die Leerstellen ('slots') ero ffnen. Deren Besetzung mit konkreten Elementen wird als 'Instantiierung' des Schemas interpretiert. [...] Unter Bezug auf Schemata ko nnen unvollsta ndige oder nicht 'explizite' Informationen erga nzt, 'inferiert' werden, da die Aktivierung eines Schemas 'Voraussagen' uber Zahl und Art der zu besetzenden 'Leerstellen' ermo glicht. [...] Schemata werden als generische Konzepte angesehen, die aus verschiedenen Vorkommen von Elementen, die als Instanzen ein und desselben Schemas interpretiert werden (ko nnen), induktiv abgeleitet werden." Vgl. zu Schemata, Skripts und Rahmen auch die Ausfuhrungen oben in Kap. 5.1 und die Ausfuhrungen zu Referenzrahmen bei Fillmore und von Polenz in Kap. 4.2. 34 Laut Biere 1989, 76 definiert sie fast jeder Psycholinguist anders. 35 Vgl. Engelkamp 1984b, 39. 36 "Die kognitiv-aktive Rolle des Lesers kann nun als Aktivierung seiner individuell verfugbaren Schemata vorgestellt werden, aufgrund deren er Daten selegierende und interpretierende Hypothesen bildet. [...] Wenn der Aktivierung von Schemata eine zentrale Rolle im Verstehensprozeüzugesprochen wird, so kann man sagen, daü ein Text dann verstanden werden kann, wenn - lerntheoretisch gesehen - die dargebotene (textuelle) Information in seine Wissensstrukturen integriert, d.h. mit vorhandenen Konzepten oder Schemata verknupft bzw. diesen untergeordnet werden kann." Biere 1989, 86. 37 van Dijk 1980, 184. 38 "Diese betrifft die Einstellung der Text-Rezipienten, einen koha siven und koha renten Text zu erwarten, der fur ihn nutzlich oder relevant ist, z.B. um Wissen zu erwerben oder fur Zusammenarbeit Ä Dietrich Busse 1991 113 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 139 tungshaltung der Rezipienten ist, so die Vorstellung, Anlaü fur sie, durch "Inferenzen" das Textformular uberhaupt erst zu einem sinnvollen Text zu machen. Vor allem das zentrale Kriterium fur "Textualita t", die "Textkoha renz" (d.h. die Verknupfung einzelner Sprachdaten zu einem zusammenha ngenden Text) ist weniger durch explizite sprachliche Signale gestutzt ("Koha sion") sondern kommt weitgehend aufgrund von Inferenzen der Textrezipienten zustande.39 D.h. "Koha renz" wird von Textrezipienten im Verstehensprozeü hergestellt.40 Wenn "Akzeptabilita t" eines Textes seine Eigenschaft ist, in einem kognitiven oder einem Handlungszusammenhang auf seiten der Rezipienten eine besondere Funktion zu haben, dann wird - z.B. gerade im Zusammenhang mit institutionellen Bereichen der Textinterpretation, wie etwa der Gesetzes- oder Bibelauslegung - das wichtig, was van Dijk den "funktionellen Relevanzwert" von Texten nennt: "Es geht in diesen Fa llen nicht nur darum, die Informationen aus dem Text so korrekt und effektiv wie mo glich zu verstehen und zu behalten, sondern den gespeicherten Informationen eine Funktion fur eine bestimmte Aufgabenstellung zu geben, d.h.: fur die Verwirklichung eines bestimmten Ziels, etwa Lo sen eines Problems."41 Die Zuweisung eines funktionellen Relevanzwertes zu einer Textpassage ist eine von mehreren verschiedenen Mo glichkeiten, wie Textrezipienten einen Text (oder Textbestandteile) in die Wissensrahmen (oder Schemata), uber die sie verfugen, integrieren ko nnen. Dabei darf die Relationierung von Textdaten zu Wissensschemata nicht als eindirektionale Informationsaufnahme miüverstanden werden: "Konfrontiert mit einem Text, aktiviert der Leser individuelle Schemata, als deren Instantiierung er bestimmte Textpassagen interpretieren zu ko nnen glaubt. Andererseits versucht er aber nicht nur die 'Daten' seinen Schemata 'anzupassen', sondern er wird auch versuchen mussen, dabei den 'Daten' gerecht zu werden. Dazu wird er u.U. neue Schemata bilden, alte spezifizieren, modifizieren oder umstrukturieren mussen, um so die vom Text gelieferten Informationen mit dem bereits in seinem Geda chtnis repra sentierten Wissen verknupfen zu ko nnen."42 Schemata sind dem- / nach keine festen Gro üen, sondern ko nnen selbst wieder durch neue Erfahrungen (auch textgestutzte Erfahrungen) vera ndert werden. Die Hervorhebung der "Inferenzen" ko nnte den Blick dafur verstellen, daü im Prozeü der "Textverarbeitung" (also dem, was Textrezipienten mit einem Text "kognitiv" oder praktisch "anfangen") mo glicherweise noch Operationen anderer Art stattfinden. Ohne an dieser Stelle eine Vorentscheidung zu treffen, ob "Operationen", "Strategien", "Prozeduren" von Textrezipienten, d.h. ein "aktivistisches" Konzept von in einem Plan vorzusorgen." de Beaugrande/Dressler 1981, 9. Vgl. zur Rolle von Erwartungen beim Textverstehen auch van Dijk 1980, 184 und Pause 1984, 39. 39 de Beaugrande/Dressler 1981, 9. 40 de Beaugrande/Dressler 1981, 108; "Im engeren Sinne des Wortes mussen Textrezipienten eine Textstelle als koha siven, koha renten, gebrauchsfa higen Text akzeptieren." (135) 41 van Dijk 1980, 194. 42 Biere 1989, 86. Vgl. auch Seiler 1984, 61 und Engelkamp 1984b, 40. Ä Dietrich Busse 1991 114 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 140 "Textverarbeitung" zu Recht als Modell des Verstehens gelten kann (oder vielmehr Formen des Umgangs mit Texten bzw. textgestutztem Wissen sind, nachdem Verstehen schon stattgefunden hat), und ohne auf die problematische propositionale Grundlage seines Konzepts einzugehen, seien hier funf Formen "semantischer Transformationen" genannt, die van Dijk ansetzt: Auslassen, Hinzufugen, Permutation, Ersetzen, und (Re-)Kombination von Propositionen oder Elementen von Propositionen.43 Es handelt sich dabei um Operationen, wie sie nach seiner Ansicht zur Konstitution einer den gesamten Text umfassenden "Textbedeutung" (semantische "Makrostruktur") angewendet werden; mo glicherweise lassen sich diese Operationen aber auch als Formen des "Umgangs mit Texten" durch Textrezipienten auffassen. Das "Auslassen" ist wohl eine der wichtigsten Formen der Informationsverarbeitung, da Rezeption immer auch Auswahl von relevanten Daten aus einer Menge von mo glicherweise irrelevanten Daten ist. Es besteht kein Grund anzunehmen, warum diese wichtigste aller Wahrnehmungsfunktionen nicht auch bei der Sprachwahrnehmung bzw. -weiter"verarbeitung" eine Rolle spielen sollte. Das "Hinzufugen", welches charakteristisch fur die schemageleitete Textrezeption ist, muü nicht notwendig im objektivistischen Sinne "korrekt" sein, wie van Dijk hervorhebt.44 Hier nennt er drei verschiedene Formen der Hinzufugung: Propositionen werden aus anderen Textstellen oder der ubergeordneten "Textbedeutung" abgeleitet; die Propositionen werden aus einem relevanten Wissensrahmen abgeleitet, z.B. zur Explizierung eines Textes; die Propositionen werden nach relevanten semantischen Assoziationen, Bewertungen usw. abgeleitet. Vermutlich gibt es noch viele andere Formen des "Hinzufugens"; wenngleich eine scharfe Grenzziehung hier kaum mo glich sein durfte. Eine Operation, die wohl vornehmlich Geda chtnisleistungen und "Weiterverarbeitungen" von Texten (z.B. TextReproduktion) betrifft, ist das "Ersetzen" von Propositionen durch andere, lexikalisch a quivalente oder a hnliche bzw. analoge Propositionen. Da (wenn nicht das Verstehen, so jedoch) das Interpretieren von Texten meist mit der Bildung von Paraphrasen einhergeht, ko nnen Ersetzungen dann eine Rolle spielen, wenn es "auf den Wortlaut ankommt". Solche Ersetzungen, gerade zwischen lexikalisch verwandten Ausdrucken, unterlaufen einem schnell und ko nnen, wegen der prinzipiellen NichtIdentita t verschiedener sprachlicher Formulierungen, zu gravierenden Interpretations-Irrtumern fuhren.45 Eine a hnliche problematische Rolle ko nnen auch Rekombinationen von Textelementen spielen, und zwar 43 van Dijk 1980, 196 f. 44 Dies wirft wieder die Frage nach dem Status von "Schemata", "Rahmen", "Skripts" etc. hinsichtlich ihrer Subjektivita t oder Intersubjektivita t auf. 45 Ein Beispiel fur solche unbewuüten Ersetzungen ist das Gerichtsurteil BGHZ 46, 74 ff., wo der Ausdruck des Gesetzestextes "Verlagserzeugnisse" von den Richtern durch "Verlag" ersetzt wird, dessen (allgemeinere) Bedeutung dann zur Grundlage der Gesetzesinterpretation und Entscheidungsfindung gemacht wird, obwohl das entscheidungsrelevante Bedeutungsmoment im Gesetzesausdruck "Verlagserzeugnisse" keine Rolle spielt. - Van Dijk 1980, 197 weist darauf hin, daü auch zum Hinzufugen bei Explizierung eines Textes Sprachgebraucher "ziemlich rasch geneigt" sind. Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 141 gerade dann, wenn es bei tiefensemantischen Aspekten auf die genaue Wortstellung ankommt. / Der sich in dieser aktivistischen Deutung des Textverstehens niederschlagende, u.a. im Zusammenhang mit der in den USA entstandenen Idee einer "Cognitive Science" als Einheitswissenschaft stehende, "kognitive Konstruktivismus"46 der neueren Psycholinguistik findet seine Entsprechung in dem gleichfalls aktivistischen, aber sich eher aus pha nomenologischen Wurzeln speisenden Konzept der "Sinnkonstanz" des deutschen Psychologen Ho rmann47, welches vor allem in der Bundesrepublik zunehmenden Einfluü auf die psycholinguistische und sprachwissenschaftliche Verstehenskonzeption gewinnt. Manche Psychologen sehen allerdings den Vorteil von Ho rmanns Ansatz gerade darin, daü er das "Verstehen" von dem Konzept der Bedeutung (im sprachwissenschaftlichen Sinne) abgelo st habe.48 Dieser Verzicht auf semantische Begriffsbildung ist ein wesentlicher Mangel der psycholinguistischen Verstehenskonzepte, der ihre Anwendbarkeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht stark in Frage stellt.49 "Sinnkonstanz" im Sinne Ho rmanns soll heiüen: "Die Tendenz zu einer sinnvollen Auffassung steuert und bestimmt den Analyseprozeü [eines Verstehenden, D.B.]."50 Damit will Ho rmann erkla ren, daü auch zuna chst als sinnlos erscheinende Wahrnehmungsgegensta nde, z.B. ein ungrammatisch erscheinender Satz, vom wahrnehmenden Individuum auf einen mo glichen Sinn hin "abgeklopft" werden und zwar so lange, bis das Pha nomen in die Wissensstruktur des Individuums eingeordnet werden kann. Diese nach Ho rmann jedem Individuum eigene Tendenz zum Sinnvoll-Machen begrundet er mit dem aus der Pha nomenologie (Meinong, Husserl) 46 Dieser Ausdruck stammt von Groeben 1982, 8; "Je mehr die Forschung in komplexere Bereiche von Satzsequenzen bzw. Texteinheiten vorstieü, um so mehr setzten sich klassische kognitionspsychologische Positionen durch, die dem Rezipienten als Verarbeiter von Texten eine kognitiv aktive, konstruktive Rolle zuschreiben." (a.a.O.) 47 Ho rmann 1976, 195. 48 So Engelkamp 1984a, 3: "Nach Ho rmann ist jeder Versuch, den Vorgang des Verstehens zu erhellen, zum Scheitern verurteilt, der prima r vom sprachlichen Zeichen und nicht vom Verstehenden ausgeht. [...] Indem Ho rmann den Prozeüdes Verstehens als einen Prozeüder Sinngebung konzipiert, gibt er nicht nur die Beschra nkung des Verstehensbegriffs auf das Verstehen von Sprache auf, sondern er lo st den Verstehensbegriff auch von dem Konzept der Bedeutung, zum mindesten von dem der Bedeutung sprachlicher Zeichen." Daü dies nicht unbedingt vorteilhaft sein muü, zeigt die Tatsache, daü sich die mangelhafte bedeutungstheoretische Reflexion in der Psycholinguistik dadurch ra cht, daü manche ihrer theoretischen Bemuhungen sta ndig weit hinter den in der Linguistik erreichten Stand der Bedeutungstheorie zuruckzufallen drohen. Dieses Bedenken trifft nicht gleichermaüen auf Ho rmann selbst zu. Engelkamp ubersieht hier, daü sich Ho rmanns (1976) Argumentation vor allem gegen die in der Psychologie der siebziger Jahren anscheinend ubiquita re unreflektierte U bernahme der generativen Transformationsgrammatik Chomskys und seiner Anha nger richtet, dessen Syntaxtheorie (abgesehen von dem ihr zugrundegelegten Nativismus) bekannterweise - wie Ho rmann herausstreicht - die Semantik zu einer "armen Verwandten" machte, d.h. das Problem der Bedeutung sprachlicher Zeichen(ketten) vernachla ssigte. Andererseits macht Ho rmann selbst starke Anleihen u.a. bei Wittgenstein, der fur neuere, pragmatische Bedeutungskonzepte in der Linguistik wichtig ist. 49 Vgl. Biere 1989, 90: "Was die semantische Ebene der Textverarbeitung betrifft, so gehen hier - a hnlich wie in der linguistischen Diskussion um eine angemessene Bedeutungstheorie - die Auffassungen weit auseinander. Gerade auf dieser Ebene gilt es aber, den Verstehensbegriff zu explizieren." 50 Ho rmann 1976, 193. Ä Dietrich Busse 1991 115 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 142 entliehenen Konzept der "Intentionalita t" jeglicher Bewuütseinsaktivita t: "Grundlegend ist die Intentionalita t des Bewuütseins: die gerichtete (nicht bloü assoziative) Relation eines Akts meines Ichs auf ein Objekt, das dadurch bedeutungshaltig, d.h. als empfangender Partner dieses Akts strukturiert wird."51 "Intentionalita t" in diesem pha nomenologischen Sinne hat also zuna chst wenig mit dem in der Linguistik ublichen Konzept der "Sprecher-Intention" zu tun. Allerdings stellt Ho rmann dann selbst diesen Zusammenhang her, indem er das Verstehen als einen Akt des Rezipienten konzipiert, die Sprecher-Intention "nachzuvollziehen".52 Verstehen im Sinne des "SinnvollMachens" ist gleichzusetzen mit der Einordnung eines Wahrnehmungsobjektes (ob sprachlich oder nicht) in den "Wissenshorizont" der Verstehenden: "Bedeutung wird erfaüt, indem etwas hineingestellt wird in einen ebenfalls im Bewuütsein anklingenden allgemeinen Horizont von Zusammenha ngen."53 Indem die rezipientenseitige "Intention des Sinnvoll-Machens" die wahrgenommene Zeichenkette in den Wissenshorizont der Rezipienten "einordnet", erfolgt gleichzeitig eine Orientierung an der von den Rezipienten bei dem (oder den) Textproduzenten vermuteten "Autor-Intention". Intentionale Ausrichtung auf Sinn und Autor-Intention, so Ho rmann, erga nzen sich also gegenseitig: "Verstehen entspricht also dem Meinen."54 Nicht ganz in Einklang zu bringen mit dieser These der Ada quanz zwischen Verstehen und Meinen ist Ho rmanns Auffassung der vollsta ndig kreativen Rolle des Verstehens: "Der Ho rer schafft, geleitet von der sprachlichen A uüerung, Information."55 Diese aktivistische Konzeption ist auch nicht / mit Ho rmanns Auffassung in U bereinstimmung zu bringen, daü "Meinen" und "Verstehen" lediglich Akte des "Verbalisierens" eines immer schon vorhandenen Wissens sind.56 Damit wurde zugleich die problematische These aufgestellt, daü "Wissen" bzw. "kognitive Zusammenha nge" uberhaupt auüersprachlich konzipiert werden ko nnen; eine These, die, da Epistemisches bzw. Kognitives immer nur sprachlich formuliert zuga nglich ist, spekulativ, zumindest aber unbeweisbar ist. Wenngleich Ho rmann darin zugestimmt werden kann, daü"Verstehen" ein Vorgang ist, der immer "von einer bestimmten Ausgangslage her kommt", so gelingt es ihm nicht, die 51 Ho rmann 1976, 196; bei Husserl werden dafur die Begriffe "Protention" und "Retention" gebraucht. 52 "Der Ho rer muü die Impulsfigur dieser Intention [des Sprechers, D.B.] mit-wollen, muü den ihm angetragenen Akt mit- oder nachvollziehen." Ho rmann 1976, 250 f. 53 Ho rmann 1976, 201; vgl. auch 198: "Wer wahrnimmt (und Ho ren ist eine Form des Wahrnehmens), versteht etwas. Das heiüt: er erfaüt im physikalischen Substrat und durch es hindurch eine Bedeutung, die uber dieses Substrat hinausgeht und eine Beziehung zu der sinnvollen Einheit darstellt, die im Ho rer schon vorhanden ist." 54 "Etwas verstehen heiüt nach unserer Auffassung also, eine Mitteilung dadurch erfolgreich verarbeiten zu ko nnen, daüman die in ihr enthaltene Information in einer Weise auf einen Horizont des Allgemein-Sinnvollen bezieht, die dem Meinen des Sprechers entspricht. [...] Verstehen entspricht also dem Meinen." Ho rmann 1976, 206. 55 Ho rmann 1976, 506. 56 "Semantische Strukturen durchziehen nicht nur die Sprache, sondern die kognitive Welt des Sprachbenutzers; sie werden [...] lediglich fur die Akte des Meinens und Verstehens teilweise verbalisiert." Ho rmann 1976, 237. Ä Dietrich Busse 1991 116 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 143 argumentativen Lucken zwischen einzelnen seiner Thesen vo llig zu uberbrucken. Auch das Bild von der sprachlichen A uüerung als eines "magnetischen Punkts" im "kognitiven Feld" des Rezipienten erkla rt das "Verstehen" kaum.57 Hier wirkt sich die, von Ho rmann an anderem Ort58 verteidigte, Beschra nkung der meisten Psycholinguisten auf mundliche Kommunikation bei Ko-Pra senz von Sprecher und Ho rer negativ aus; fur die Erkla rung des Verstehens von Schrifttexten sind zumindest noch differenziertere U berlegungen notwendig. Daü ein Textrezipient schon eine "intentionale Ausrichtung auf Sinn" mitbringen muü, um einen Text verstehen zu ko nnen, scheint unbestreitbar; doch ebensowenig, wie die "Intention" von Textproduzenten als Handlung, Teil einer Handlung oder gar handlungsexterne "Ursache" einer Handlung miüverstanden werden darf, darf die "Intention des Rezipienten" als "Ursache" oder Teil einer "Verstehenshandlung" miüverstanden werden. Am Beispiel der richtigen Wahrnehmung von Phonemen macht Ho rmann plausibel, daü die korrekte "Identifizierung" eines Phonems59 immer nur unter Ansetzung von "Schemawissen" der Ho renden mo glich ist.60 Ho rmann spricht schon auf dieser Ebene von einer "Hypothesenbildung" der Textrezipienten, welche anschlieüend an den jeweils gro üeren linguistischen Einheiten (Wort, Satzteil, Satz) uberpruft und gegebenenfalls korrigiert wurde.61 Textverstehen wird dann modelliert als ein Vorgang, in dem Textrezipienten schon auf linguistisch elementarster Stufe (bei der Lautwahrnehmung) "Hypothesen" bilden, um diese nach Bedarf zu korrigieren bzw. in die Konstitution der Bedeutung auf ho herer Ebene einflieüen zu lassen. Was hier, an Ho rmann anknupfend, in der Textlinguistik als "Kumulationsprinzip" des Textverstehens62 neu erfunden wird, ist die alte, aus der Hermeneutik 57 "Das Verstehen [ist] eine Bewegung, die von einer bestimmten kognitiven Ausgangslage her kommt. Im Vorgang des Meinens setzt der Sprecher in das von ihm angenommene (pra -supponierte) kognitive Feld des Ho rers sozusagen einige magnetische Punkte hinein, damit es sich in ganz bestimmter Weise vera ndere." Ho rmann 1976, 421. 58 Ho rmann 1981, 9. 59 Hier ist wichtig zu wissen, daü "Phonem" in der Linguistik als Teil des "Sprachsystems" eine wissenschaftliche Gro üe ist und kein Begriff fur ein physikalisches Pha nomen; das physikalische Substrat wird als "Laut" oder "Phon" bezeichnet. Ein "Phonem" wird aufgefaüt als ein Bundel von Lautmerkmalen, welches, als Teil eines Lautsystems (welches wiederum Teil der Sprache als System langue - ist), unterschiedliche physikalische Realisierungen zu einer sprachlichen Einheit zusammenfaüt. Wichtig fur die Bedeutungsgebung ist dabei nicht die Lautsubstanz, sondern die Differenz einzelner Laute untereinander (d.h. hinsichtlich ihrer charakteristischen Merkmale). So wird im Deutschen das "ch" in "ich" oder "ach" zwar unterschiedlich ausgesprochen, hat jedoch im deutschen Lautsystem (im Unterschied etwa zum arabischen) keine bedeutungsunterscheidende Funktion, so daü die beiden Aussprachevarianten ("Allophone") zu einem einzigen Phonem "X" zusammengefaüt werden ko nnen. 60 Vgl. dazu Biere 1989, 88. 61 Ho rmann 1980, 19. (Dieser Vortrag ist fast unvera ndert als "Verstehens"-Kapitel in Ho rmann 1981, 123 ff. wieder abgedruckt.) 62 Nach Pause 1984, 46 f. verla uft das Textverstehen als auf Hypothesen, deren Besta tigung bzw. Revision gestutzte "Anha ufung von Informationsspuren", die schlieülich in einem (den Rezipienten zufriedenstellenden) "Verstehen" des Textes mundet: "Die Interpretation (eines Textes) beginnt meist mit der Bildung von zumeist isolierten, aber mo glichst sicheren Einzelhypothesen, die dann im weiteren Verlauf des Verstehensprozesses durch andere Hypothesen gestutzt werden und sich allma hlich zu der wahrscheinlichen Information verdichten (wobei naturlich bei Widerspruchlichkeiten im Hinblick auf die Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 144 schon lange bekannte "hermeneutische Spirale". Diese Analogie zur Hermeneutik und die Weiterentwicklung von Ho rmanns Ansatz in der Textlinguistik ko nnte ein Hinweis darauf sein, daü das, was hier erkla rt wird, nicht eigentlich "Verstehen", sondern das "Interpretieren" von Texten ist. Sowohl die psycholinguistischen Verstehenstheorien als auch ihre Anwendungen in der Textlinguistik scheinen keinen Unterschied zu sehen zwischen "Verstehen" und "Interpretieren". Auf die Probleme dieser fehlenden Abgrenzung wird noch zuruckzukommen sein. Vor allem U berlegungen zu den "Grenzen des Verstehens", d.h. der Frage nach der Abgrenzung zwischen "Ho ren was jemand sagt" und "Verstehen was er meint"63 fuhren dazu, das "Verstehen" in Analogie zum hermeneutischen Begriff der "Interpretation" als prinzipiell unabschlieübaren Vorgang / aufzufassen.64 Seine Grenze findet das "Verstehen", so Ho rmann, immer dann, wenn der Textrezipient mit dem Ergebnis zufrieden ist.65 Diese Auffassung korrespondiert dem auch von Ho rmann stark gemachten "konstruktiven" Charakter des "Verstehens": "Wir machen die uns begegnende Welt sinnvoll, indem wir Zusammenha nge konstruieren. Verstehen ist ein Konstruktionsvorgang, zu welchem die einzelnen Wo rter des Satzes das beitragen, was hier fur den Zusammenhang gebraucht wird, nicht alles, was potentiell in ihnen steckt."66 Der Hinweis auf das, "was potentiell in den Wo rtern steckt", erinnert an die bedeutungstheoretischen Implikationen jeder Verstehenstheorie, die noch ero rtert werden mussen. "Verstehen" wird von Ho rmann, wie in der neueren Psycholinguistik ublich, als Kombination sogenannter "bottom-upProzesse", d.h. dem induktiven Aufbauen des Verstehens auf den einzelnen Elementen einer sprachlichen A uüerung und sukzessivem Fortschreiten von niedrigerer zu ho herer "Analyse"-Ebene einerseits mit sog. "top-down-Prozessen", d.h. intentional gesteuerter Ansetzung umfassenden Sprach- und Weltwissens andererseits, aufgefaüt: "Zwei Dinge stehen fest: (a) Zum Verstehen einer geho rten A uüerung muü man wenigstens einige der vom Sprecher dabei produzierten Wo rter oder Lexeme erkennen, (b) das Erkennen der einzelnen Wo rter oder Lexeme einer A uüerung ha ngt umgekehrt wiederum stark vom Verstehen der Hypothesenbildung auch die Revision von Hypothesen notwendig werden kann)." Vgl. auch den Ansatz von Strohner 1990. 63 Vgl. dazu Ho rmann 1980, 18. 64 So Ho rmann 1980, 26: "Die Verarbeitung einer A uüerung ist nicht dann zu Ende, wenn ein festgelegtes Prozeümodell durchlaufen ist, sondern verschiedene Faktoren werden, vermutlich in wechselnder Abfolge und Zusammenstellung, so lange eingesetzt, bis das Ergebnis den Ho rer hier und jetzt befriedigt. Es befriedigt ihn, wenn es sinnvoll ist. Dazu ist es no tig, daü der Ho rer in allgemeiner Form immer schon wissen muü, was sinnvoll ist." Vgl. auch a.a.O. 28; a hnlich Pause 1984, 41. 65 "Verstehen scheint nicht eine Alles-oder-Nichts-Angelegenheit zu sein; vielleicht gibt es Grade des Verstehens." Ho rmann 1980, 18. 66 Ho rmann 1980, 26. So in Anlehnung an Ho rmann auch der Textlinguist Pause 1984, 39: "Textverstehen wird nicht als passive Ta tigkeit aufgefaüt, etwa als die Aufnahme der Textinformation auf dem Wege der syntaktischen, semantischen usw. Analyse des Textes durch den kompetenten Versteher. Textverstehen ist vielmehr eine aktiv-konstruktive und wissensgesteuerte Ta tigkeit, bei der der Versteher die Information konstruiert, die notwendig ist, um den Text in einen sinnvollen Zusammenhang einordnen zu ko nnen." Ä Dietrich Busse 1991 117 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 145 ganzen A uüerung ab."67 Die Formulierung "Lexeme erkennen" wirft wieder die Frage nach dem angesetzten Bedeutungsbegriff auf. Wenn "Lexem" heiüt "Wort als Lexikoneintrag", d.h. gedacht in der Form einer lexikalischen Beschreibung mit allen mo glichen Bedeutungsvarianten, was heiüt dann "ein Lexem erkennen"? Das gesamte Bedeutungspotential aktivieren, oder doch nur einen aktualisierten Ausschnitt? Und in welcher Relation steht das "Lexem erkennen" zum "Verstehen der A uüerung"? Die Verwechslung eines wissenschaftlichen Beschreibungskonstrukts ("Lexem") mit einer Einheit des Sprachgebrauchs ist symptomatisch fur die in der Psycholinguistik (wie Biere gezeigt hat) immer wieder stattfindende Konfundierung von deskriptiven Gro üen mit Einheiten des Objektbereichs. Diese Konfundierung unterla uft auch Ho rmann, wenn er das "Verstehen" als "Konstruieren einer semantischen Beschreibung" deutet: "Eine semantische Beschreibung ist ein mo glichst geschlossenes kognitives Geflecht, zu dessen Schaffung der Ho rer zwar die geho rte A uüerung heranzieht, aber daneben und dazu auch die Schluüfolgerungen, die er aus Anlaü der A uüerung aus dem, was er erfa hrt, und dem, was er schon weiü, seiner Intention entsprechend zieht."68 Hier wird deutlich, daü auch Ho rmann, wie die anderen kognitivistischen Psychologen, das Verstehen in Termini der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Bewuütseinsinhalten modelliert: Die Repra sentation einer Textbedeutung (gleichgultig, ob als "propositionale Textbasis" oder in anderer Form gedacht) in der psycholinguistischen Beschreibung wird ubertragen auf die Bewuütseinsprozesse selbst. Textbedeutung ist dann nicht etwas, das an die sprachliche Formulierung untrennbar geknupft ist, sondern eine Repra sentation, d.h. vom Theoretiker spekulativ angenommene "zusa tzliche" Ebene der Wissensorganisation "im Kopf" von Textrezi- / pienten. Nur wenn man Textbedeutung in dieser Weise als eine "Repra sentation", oder, wie Ho rmann formuliert, als "semantische Beschreibung" auffaüt, macht die These vom Verstehen als "Konstruieren" einen Sinn. Ohne hier entscheiden zu wollen, ob Konstruieren eine Eigenschaft von (unserer Beobachtung ja prinzipiell entzogenen) Denkvorga ngen ist, muü zumindest die Frage gestellt werden, ob diese Vorga nge, von denen gesagt wird, daü sie auf dem "Erkennen von Lexemen" aufbauen, noch zum "Verstehen" im engeren Sinne geza hlt werden ko nnen, oder ob es sich um Denkprozesse handelt, die auf dem Sprachverstehen schon aufbauen. Daüdie Vorstellung einer vor dem "Verstehen als Konstruieren" schon abrufbar vorliegenden "sprachlichen Bedeutung" in der psycholinguistischen "Verstehens"-Theorie offenbar vorausgesetzt wird, wird an folgender Bemerkung Ho rmanns deutlich: "Wir sehen jetzt, daü Verstehen ein scho pferischer, konstruktiver Vorgang ist, der immer uber die in der A uüerung selbst codierte Information hinausgeht, manchmal auch viel von ihr ignoriert, immer jedoch sein Ziel von der Intention des Ho rers angewiesen bekommt: die ihn umgebende Welt sozusagen durch 67 Ho rmann 1980, 18. 68 Ho rmann 1980, 27. Ä Dietrich Busse 1991 118 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 146 die Worte der A uüerung hindurch intelligibel zu machen. Sprachliches Verstehen ist also immer auch Verstehen von Nicht-Sprachlichem."69 Hier kommt nicht nur eine problematische Trennung von "Sprachlichem" und "Nicht-Sprachlichem" zum Ausdruck, die zweifelhaft erscheinen la üt, was als Beitrag zur kommunikativen Versta ndigung fur die "Sprache", den sprachlich formulierten Text, eigentlich noch ubrig bleibt, wenn seine Funktion dadurch reduktionistisch verkurzt wird, daü fast alles an der "kognitiven Sinnkonstruktion" auf "Sprache" schon aufbauen soll, d.h. "uber die in der A uüerung codierte Information hinausgeht". Zweifelhaft ist auch, ob die avisierte Theorie uberhaupt noch als Modell des Textverstehens im eigentlichen Sinne gelten kann, wenn das "Sprachliche" an der Textrezeption offensichtlich als unproblematisch uberschritten ist, dort, wo das Modell einsetzt. Eine sprachwissenschaftliche Theorie des Textverstehens hat gerade zu erkla ren, wie die "Information" aus der linearen Zeichenkette "herausgeholt" wird. Nicht nur, daü Ho rmann hier eine aus sprachwissenschaftlicher Sicht fragwurdige Unterscheidung von "wo rtlicher" Bedeutung, und "wirklichem", d.h. intentional gelenktem, d.h. inferentiellem und konstruktiven Verstehen trifft70; daruber hinaus setzt er bei allem behaupteten "Konstruktivismus" - offensichtlich ein "Code-Modell" der Sprache voraus, das erstens Sprache auf pure "Information" reduziert, zweitens das Sprachverstehen (im Sinne der Aufnahme dieser "Information" durch einen Textrezipienten) auf das Kennen der offenbar als fertig abrufbar verstandenen Wort- und Satzbedeutung reduziert und es damit drittens als offensichtlich unproblematisch aus dem Gegenstandsbereich der Psycho-"linguistik" ausgrenzt.71 Biere hat darauf hingewiesen, daü das hier angesetzte Modell der Textrezeption sein Ziel, Sprachverstehen zu erkla ren, verfehlt, wenn es auf der aus linguistischer Sicht unhaltbaren Unterscheidung eines nicht na her analysierten Verstehens "wo rtlicher Bedeutung" bzw. "explizit formulierter" Textbestandteile / einerseits und einer inferentiellen, konstruktiven "Textverarbeitung" bei Fa llen, wo eine "semantische Erga nzung" notwendig ist, andererseits basiert: "Ko nnte das, was man explizit sagt, nicht mehr miüverstanden werden? Sollte dies zu einer Bedingung von Explizitheit gemacht werden, so muüte im Fall expliziter A uüerungen uberhaupt nichts 69 Ho rmann 1980, 27. 70 Ganz explizit setzt Strohner 1990, 185 diese (bedeutungstheoretisch hochproblematische) Trennung von "wo rtlicher Bedeutung" und "ubertragener Bedeutung" in seiner Verstehenstheorie voraus. Vgl. dazu Biere 1989: "Die gemeinsame Grundannahme der konstruktivistischen und intentionalistischen Perspektive liegt in jenem 'going beyond', in der Annahme einer wo rtlichen, lexikalischen 'Bedeutung' einerseits und eines daruber hinaus zu inferierenden 'Sinns' einer A uüerung bzw. eines Textes andererseits." (92) "Zumindest ein bestimmter Typ von Inferenz, wenn nicht die Annahme von Inferenzen uberhaupt, basiert also auf der Annahme einer 'wo rtlichen' Bedeutung von sprachlichen Zeichen und Zeichenverwendungen." (98) 71 Vgl. auch Groeben 1982, 49: "Hier sind Schluüfolgerungen (Inferenzen) uber das unmittelbar, direkt vom Text Ausgesagte hinaus unvermeidbar und unverzichtbar." Im gleichen Tenor seine These, "daü Textrezeption nicht nur passives Aufnehmen (Decodieren) [sic!] der Textsemantik, sondern aktive Textverarbeitung ist". Schwarze 1984, 140 unterscheidet deshalb konsequent nur zwischen "Textbedeutung" und "Textinterpretation", die er allerdings aktivistisch als "Ergebnis von einzelnen Akten des Verstehens" definiert. Ein traditionelles Code-Modell setzt auch Strohner 1990, 122, 186 u.o . voraus. Ä Dietrich Busse 1991 119 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 147 mehr 'verstanden' werden, denn der Begriff des Verstehens ist nur dann sinnvoll, wenn auch Miüverstehen mo glich ist."72 Da es, wie gerade die Psycholinguisten deutlich herausgearbeitet haben, ein Textverstehen, das grundsa tzlich niemals scheitern kann, aufgrund der Komplexita t des fur das Verstehen relevanten Wissens aus prinzipiellen Grunden nicht geben kann, kann es auch keinen Text geben, der grundsa tzlich, in allen seinen denkbaren Vorkommensfa llen "explizit" ist, d.h. keinerlei subjektiv gelenkter Deutung mehr bedarf. Damit ist aber zugleich die von Psycholinguisten angesetzte Unterscheidung zwischen einem "konstruktiven" Verstehen, das von "Inferenzen" geleitet ist, und einem Verstehen, bei dem Inferenzen, d.h. Schluüfolgerungen irgendeiner Art, keine Rolle spielen (das Aufnehmen der "expliziten", sprachlich "codierten Information"), grundsa tzlich hinfa llig.73 Biere zieht daraus den Schluü: "Das Pha nomen der Inferenz ist demnach allgegenwa rtig, es ist konstitutiv fur den Zeichenbegriff wie fur den Begriff des Verstehens."74 Diese Schluüfolgerung wird zumindest von linguistischer Seite aus gestutzt durch die Einsicht, daü eine sinnvolle Trennungslinie zwischen "wo rtlichem", "im engeren Sinne sprachlichen" Verstehen einerseits und "inferiertem" Verstehen andererseits nicht gezogen werden kann. So schreibt Pause: "Ansa tze etwa, das Erfassen der explizit sprachlichen Information eines Textes - 'das eigentliche Verstehen' - zu trennen von der im weiteren Sinne inferierten Information, sind nach unserem hier zugrundegelegten Modell nicht ada quat: Zum einen ist es vo llig unklar, wo sich eine sinnvolle Grenze zwischen inferentiell und nicht-inferentiell erworbenem Versta ndnis ziehen lassen ko nnte. Denn wie man spa ter sehen wird, ergibt sich die Bedeutung von Ausdrucken und Merkmalen des Textes meist aufgrund von Zusammenha ngen, die inferentiellen Charakter haben. Zum anderen la üt sich im allgemeinen auch keine vernunftige Grenze angeben fur Art und Umfang der erkla renden Fakten und Konzepte, die wir jeweils fur einen Text zum besseren Versta ndnis heranziehen ko nnen."75 Gerade der zuletzt genannte Aspekt spricht dafur, daü das Konzept der "Inferenz" als grundlegende Tatsache jeglichen Sprachverstehens aufzufassen ist; wobei fur dieses Zugesta ndnis noch gar nicht entschieden werden muü, ob "Inferenz" aktivistisch oder nichtaktivistisch definiert wird. Wenn eine sinnvolle Grenze fur den Abschluü von "Verstehen" bzw. "Versta ndnis" nicht angegeben werden kann, sondern als "Grenze" allenfalls praktische Bedurfnisse und Gefuhle des 72 Biere 1989, 99 73 "Wenn die 'wo rtliche' oder 'direkte' Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks von Pha nomenen uneigentlichen Redens (Metapher, Ironie usw.) abgegrenzt werden soll, so kann dies nicht mittels der Unterscheidung zwischen inferentiellem und nicht-inferentiellem Verstehen geschehen." Biere 1989, 104. 74 Biere 1989, 105; er fugt hinzu: "Die Frage nach der Unterscheidbarkeit verschiedener Zeichentypen kann demnach nicht kategorial (inferentiell vs. nicht-inferentiell), sondern nur graduell, auf dem Hintergrund der durchga ngigen Grundfigur des Schlusses beantwortet werden." 75 Pause 1984, 41. So verweisen auch de Beaugrande/Dressler 1981, 109 darauf, "daü die Unterscheidung zwischen direkt durch sprachliche Ausdrucke des Textes aktivierten Konzepten und inferentiell zur Luckenfullung beigesteuerten Konzepten kaum eindeutig sein kann". Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 148 Verstanden-Habens auf seiten der Rezipienten fungieren ko nnen76, dann wird die Abgrenzung von "Verstehen" und "Nichtverstehen" ohnehin zu einem subjektiven Problem. Wenn dies der Fall ist, dann ist aber "Verstehen" grundsa tzlich nicht mehr - und zwar in keinem seiner Aspekte - objektivistisch definierbar; damit entfa llt aber auch die Berechtigung, ein quasi "automatisches", und damit implizit als objektiv oder objektivierbar dargestelltes "Sprachverstehen im / engeren Sinne" bzw. "Decodieren" von einem subjektiv und wissensgelenkten "Inferieren" (als "zusa tzliche" Textverarbeitung) zu unterscheiden. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob an der Obergrenze der "Verarbeitungstiefe" von Rezeptionsbemuhungen noch der ganze Vorgang der Rezeption zu Recht mit dem Terminus "Verstehen" belegt wird. Es wird die Frage zu stellen sein, ob solche Vorga nge nicht besser als "Interpretation"77 beschrieben werden und ob verstehen und interpretieren nicht zwei Pha nomene sind, die einen vo llig unterschiedlichen begrifflichen Status haben. Die Einsicht, daü zum Textverstehen Pha nomene geho ren, die heuristisch als "Inferenzen" bezeichnet wurden, zwingt dazu, sich uber diesen Terminus zusa tzliche Klarheit zu verschaffen. Jedoch wird dieser Ausdruck - wie Biere herausgearbeitet hat78 - in der Psycholinguistik und Textlinguistik so unterschiedlich verwendet, daü eine klare Definition daraus nicht abgeleitet werden kann. Auf jeden Fall hat der Terminus seinen Ursprung in dem Bemuhen, die Rolle zu erkla ren, die das sog. "Weltwissen" fur das Textverstehen spielt; mit dieser Problemstellung ist aber gleichzeitig immer schon eine Unterscheidung, und die Mo glichkeit einer solchen Unterscheidung, zwischen "Sprachwissen" und "Weltwissen" bzw. "enzyklopa dischem Wissen" mitbehauptet.79 Dies betrifft wieder die schon kritisierte Trennung von einem reduktionistisch (oft in unterschwellig vorausgesetzten Code-Modellen) gedachten "Sprachverstehen im engeren Sinne" und einem "zusa tzlichen Inferieren". Da es sich bei "Inferenzen" nicht um zwingende Schluüfolgerungen handelt, sondern um solche, die von der Situierung eines Kommunikationsvorgangs und der daran 76 Dies machen de Beaugrande/Dressler 1981, 36 deutlich: "In a hnlicher Weise [wie beim Produzenten, D.B.] wird die Beurteilung der Textqualita t durch die Textrezipienten auf das Ausmaü jener Potentiale Einfluü nehmen, die sie bereit sind, fur die Textverarbeitung aufzuwenden. Es gibt schlechterdings keinen absoluten Abschluü der Rezeption, sondern eher eine Abschluüschwelle, an der das Textversta ndnis befriedigt; grundsa tzlich ko nnte sich eine weitere Person finden, die den Text weiter umgestaltet oder ihn noch tiefgreifender analysiert." 77 So spricht Pause in obigem Zitat (Anm. 75) wohlweislich von "Versta ndnis" und nicht von "Verstehen", und auch de Beaugrande/Dressler wa hlen (im in Anm. 76 wiedergegebenen Zitat) nicht den Terminus "verstehen" sondern gar "analysieren", was uber "interpretieren" fast noch hinausgeht. 78 "Der Begriff 'Inferenz' wird [...] in recht unterschiedlicher Weise verwendet, so daü es kaum mo glich ist, eine gultige 'Definition' zu geben. Als 'Inferenz' werden in der Regel verschiedenartige Schluüprozesse bezeichnet, von denen angenommen wird, daü sie immer dann angewendet werden, wenn im Text selbst 'nicht explizit' ausgedruckte Zusammenha nge oder Bezuge durch den Leser/Ho rer 'konstruktiv' erga nzt, aufgrund bestimmter Annahmen bzw. aufgrund eines bestimmten 'Weltwissens' erschlossen werden mussen, um zu einem angemessenen Textversta ndnis zu gelangen." Biere 1989, 92. 79 Biere 1989, 101 vermutet deshalb auch, daü der Begriff "Inferenz" z.Zt. in der Psycholinguistik und bei ihren sprachwissenschaftlichen Anha ngern eine a hnliche Kompensationsfunktion erfullt, wie in den zuruckliegenden zwei Jahrzehnten eine bloü als Anha ngsel zugelassene, rein additiv miüverstandene "Pragmatik" in der Linguistik. Ä Dietrich Busse 1991 120 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 149 Beteiligten in bestimmten Kommunikationssituationen bzw. epistemischen Kontexten abha ngig sind, ist "Inferenz" selbst wieder eine interpretative Gro üe.80 Daü "Inferenz", d.h. Schluüfolgerungen, konstitutiv fur jegliches Sprachverstehen sind, kann nur ein Blick auf die Grundlagen der Zeichentheorie begrunden. Ein einzelnes sprachliches Zeichen darf nicht als quasi "substanzhaft" bedeutungstragend aufgefaüt werden; vielmehr bekommt ein Zeichen seine Bedeutung, wie schon Saussure gezeigt hat, erst daraus, daü es sich als konkretisierter Vorkommensfall ("token") eines bestimmten Typs immer differentiell, d.h. aus seiner Relation zum Zeichensystem als Ganzem (paradigmatisch) und zu den vorausgehenden und nachfolgenden Zeichen in der Zeichenkette (syntagmatisch) bestimmt.81 Daher impliziert das "Verstehen" mit der aus dem Zeichencharakter von Texten gegebenen Notwendigkeit der differentiellen Relationierung immer schon Vorga nge, die logisch als "Schluüfolgerungen", d.h. Denkvorga nge inferentiellen Charakters beschrieben werden ko nnen.82 Diese "Schluüfolgerungen" sind solche des In-Beziehung-Setzens von wahrgenommener Zeichenkette und Wissensbesta nden unterschiedlichster Art. Das "Inferenzkonzept" kann daher ohne ein Konzept der Wissensbasierung von kommunikativen Versta ndigungshandlungen nicht gedacht werden.83 Dies wirft wieder die grundsa tzliche Frage nach der Abgrenzbarkeit von unterschiedlichen Typen kommunikationsrelevanter Wissensbesta nde auf, zu der wegen des derzeitigen Forschungsstandes nur eins gesagt werden kann: "Eine definitive Grenze zwischen Sprachwissen und Welt- / wissen la üt sich offenbar nicht ziehen und es durfte vermutlich sinnvoller sein, unter je spezifischen Gesichtspunkten danach zu fragen, welche Art von Wissen fur das Verstehen eines problematischen Textes jeweils relevant ist, d.h. welche Art von Wissen erworben werden muüte, um einen Text sich versta ndlich machen zu ko nnen."84 Damit verla üt das Forschungsproblem der genaueren Analyse von konkreten Fa llen der Textrezeption und der sie 80 "Da naturlichsprachliche Inferenzen davon abha ngig sind, wie bestimmte sprachliche Zeichen bzw. Zeichenvorkommen von bestimmten Ho rern/Lesern in bestimmten Kommunikationssituationen verstanden werden, handelt es sich nicht um zwingende Schlusse. Die Inferenz, die die koha rente Interpretation eines Textes ermo glichen soll, ist also selbst eine interpretative Gro üe." Biere 1989, 92. 81 "Wenn sprachliche Zeichen in keinem Fall als solche 'gegeben' sind, sondern [...] als token eines bestimmten Typs differentiell, d.h. in Bezug auf ein Zeichensystem bzw. syntagmatisch in Bezug auf ein vorausgegangenes oder nachfolgendes Zeichen [...] verstanden bzw. interpretiert werden mussen, so ist kaum mehr zu begrunden, daü inferentielle Prozesse theoretisch als eine Art Sonderfall des Verstehens behandelt werden sollten, das ansonsten weiterhin nach einem konventionalistischen A quivalenzmodell vorzustellen sei." Biere 1989, 115. Die in diesem Zitat durchscheinende Kritik am "Konventionalismus" kann nur auf einem Miüversta ndnis des Konventionsbegriffs beruhen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Busse 1987, 176 ff.), hat ein richtig verstandener Begriff der Konvention selbst sein Fundament in Schluüfolgerungsprozessen, die sich auf vergangene Kommunikationserfahrungen beziehen. 82 "Wenn nun im Prinzip kein Modus des Verstehens mehr vorgestellt werden kann, der nicht den Charakter einer Schluüfolgerung ha tte, so ko nnen wir festhalten, daü die sprachtheoretische Offenlegung des inferentiellen Charakters jeglichen Verstehens eine theoretisch angemessene Perspektive fur die Explikation eines linguistischen Verstehensbegriffs darstellt." Biere 1989, 115. 83 "Wird 'Verstehen' [...] grundsa tzlich inferentiell konzipiert und erscheinen Inferenzen nur auf der Basis von Sprach- und Weltwissen mo glich, so ist das Konzept des Verstehens ebenso wie das der Inferenz mit dem Konzept des Wissens zu verknupfen." Biere 1989, 118. 84 Biere 1989, 123. Ä Dietrich Busse 1991 121 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 150 tragenden Bedingungen denjenigen Bereich, der noch von einer allgemeinen Theorie des Textverstehens erkla rt werden kann, und wird zum Problem einer Forschung, die die jeweils unterschiedlichen Bedingungen der Textrezeption und des Umgangs mit Texten in unterschiedlichen Feldern kommunikativer Praxis (wie beispielsweise der juristischen Interpretation von Gesetzestexten), oder, wie man mit Wittgenstein sagen ko nnte, in unterschiedlichen "Sprachspielen", je fallbezogen aufkla ren muü. 6.2 Zur Kritik an aktivistischen Verstehensmodellen An Konzepten des Sprachverstehens, die dieses, wie in der Psycholinguistik ublich, aktivistisch auffassen, d.h. als einen Prozeö, der aus einer Verkettung psychischer "Akte" wie "Hypothesen bilden", "Hypothesen revidieren", "Schemawissen anwenden", "Leerstellen auffullen", "Inferenzen ziehen" usw. besteht, d.h. an "konstruktivistischen" Ansa tzen, die als Ergebnis des Verstehensprozesses das Textversta ndnis als "kognitive Struktur", als "Textbasis" auffassen, die von den Verstehenden "konstruiert" wird, welche selbst die "Informationen schaffen", wird von Vertretern der "Praktischen Semantik" grundsa tzliche Kritik geubt. So wirft etwa Heringer Ho rmann und anderen Psychologen vor allem den irrefuhrenden Gebrauch handlungstheoretischen Vokabulars fur die Erkla rung von "Verstehen" vor: Sie "ignorieren einfach, daü Verstehen nicht ein gewolltes Handeln der Kommunizierenden ist. Verstehen erfullt nicht die Kriterien fur Handlungen, wie Handlungstheorien sie entwickelt haben. So kann ich etwa nicht uber mein Versta ndnis verfugen. Wenn ich die Sprache kann, stellt das Verstehen sich ein. Ich tue nichts dazu."85 Die Anwendung einiger Kriterien fur "Handlung" zeigt sofort, daü der Ausdruck "Verstehen" falsch gebraucht wird, wenn er wie ein Handeln beschrieben wird: "Ich kann auch nicht sinnvoll wollen, einen Text einmal so und dann so zu verstehen. Ich kann Verstehen nicht unterbrechen, nicht damit aufho ren. Es geschieht mir, ich tue es nicht."86 Mit dieser Kritik, welche die sprachkritischen Intentionen und Argumentationsweisen Wittgensteins aufnimmt, ist noch nicht geleugnet, daü es "innere Zusta nde" gebe und "innere Vorga nge", die zu ihnen fuhren. Fur beides wird normalerweise der Ausdruck "Verstehen" (und damit ambig) gebraucht; wenn von "inneren Vorga ngen" gesprochen wird, so bezieht sich diese Redeweise aber nicht auf eine Handlung.87 Vor allem die problematische Na he eines "kognitiven Konstruktivismus" bzw. eines aktivistischen Verstehenskonzepts zu dem 85 Heringer 1984, 58; vgl. schon Keller 1976, 4: "Verstehen [...] ist keine Handlung. Es ist im Sinne Wittgensteins ein 'Urpha nomen'." Vgl. zur Kritik an sprachpsychologischen Verstehenskonzepten auch Heringer 1979, 269. 86 Heringer 1984, 58. 87 "Mo glicherweise wird 'verstehen' ambig gebraucht, fur den Zustand, der sich einstellt, und fur die inneren Vorga nge, die zu dem Zustand fuhren. Aber keine dieser beiden Verwendungsweisen bezieht sich auf eine Handlung." Heringer 1984, 58 f. Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 151 gerade von Wittgenstein immer kritisierten Subjektivismus in Sprachfragen, welcher / das einzelne verstehende Individuum zum "Kommandozentrum des sprachlichen Lebens"88 stilisiert, kann nicht unwidersprochen bleiben. Vielmehr muü die unhintergehbare Individualita t aller psychischen Vorga nge gerade mit der unhintergehbaren Intersubjektivita t von Sprache und sprachlicher Versta ndigung sprachtheoretisch in einen Erkla rungszusammenhang gebracht werden. Auch die Anerkennung der Tatsache, daü "Verstehen" wie "Sprechen" immer vom Wissen der Beteiligten abha ngt und je nach Wissen und Erfahrung unterschiedlich verlaufen kann, darf nicht zu einem aktivistischen Miüversta ndnis des "Verstehens" verleiten.89 Im Anschluü an die durch Wittgenstein (welcher Verstehen als ein "Urpha nomen"90 ansah) angeregten begrifflichen Kla rungen Kellers kann Verstehen nicht selbst als ein Prozeü, sondern allenfalls als Folge eines Prozesses aufgefaüt werden.91 Verstehen ist damit fur Wittgenstein und seine Nachfolger im Gegensatz etwa zur psycholinguistischen Konzeption Ho rmanns nicht selbst ein intentionales Pha nomen, sondern allenfalls Resultat eines intentionalen Zustands.92 Wittgensteins U berlegungen zum Begriff "Verstehen" sollen im folgenden anhand der Originalquellen kurz skizziert werden. Psychologische Modelle des Verstehens, die dieses wie einen "Prozeü" auffassen, stehen, wie Biere gezeigt hat, in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff des (verstehensrelevanten) Wissens. Dieser Begriff, obgleich das Wissen offensichtlich als eine Kerntatsache kognitiver Vorga nge angesehen wird, bleibt aber unterbestimmt; vor allem ist der Status des sprachrelevanten Wissens, etwa der sog. "Schemata", "Rahmen", "Skripts" etc. unklar. Prozeümodelle des Verstehens, welche dieses als "Abgleichen" eingehender Sprachdaten gegen als Hintergrundswissen angesetzte "Schemata" konzipieren, setzen offenbar eine Art substantielle "Anwesenheit" des Schemawissens bei der "Hypothesenbildung" des Verstehensprozesses voraus. Bei sprachlichen Zeichen wird ein solches Schemawissen etwa als Wissen von dem "Bedeutungspotential" (der "lexikalischen Bedeutung") eines Zeichens konzipiert, welches als Typ-Wissen in Form einer solchen Wissenspra senz gedacht werden muüte. Wittgensteins bedeutungstheoretische Argumentation richtet sich jedoch gerade im Kern gegen solche Modelle der "Wortbedeutung" als irgend einer Form von "substantiell" gehabtem, wie in einem Topf "aufbewahrtem" Wissen. Vielmehr ist das Wissen von der 88 Heringer 1984, 59. 89 "Naturlich ist es richtig, daü je nach Wissen und Erkennen der Situation der Ho rer einen Text unterschiedlich versteht. Das ist ja gerade, was das hermeneutische Grundprinzip besagt. Aber daraus folgt keinesfalls, daü er dies alles aktiv oder gar bewuüt tue. Und daü wir als Ho rer jeweils das notwendige Glaubwissen an Information schaffen (Ho rmann 1980, S.27), ist fern jeder vernunftigen U berlegung." Heringer 1984, 59. 90 Keller 1976, 4. 91 Keller 1976, 4 u.o .; Keller 1977 passim. 92 So Harras 1980, 108: "Der ausdruck verstehen verweist auf das resultat eines intentionalen zustands, wobei das resultat nicht na her - also auch nicht als intentional oder nicht-intentional bestimmbar ist." Ä Dietrich Busse 1991 122 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 152 Bedeutung der Zeichen das Wissen von den Mo glichkeiten ihrer Verwendung.93 Im Gegensatz also zur Argumentation in der Psycholinguistik (etwa bei Ho rmann und Engelkamp) zeigen die U berlegungen Wittgensteins gerade, daü der Begriff des Verstehens nicht vom Begriff der Bedeutung freigehalten werden kann, sondern gerade innig damit verflochten ist. Bevor nicht gekla rt ist, was "Bedeutung" und das "Wissen um Bedeutungen" ist, kann auch nicht gekla rt werden, was "Verstehen" ist. Jeder heuristische Versuch, das Verstehen a-semantisch zu erkla ren (ob als Prozeü, ob unter Ansetzung von "Wissen") wird auf dem Umweg uber die hinter den heuristischen Thesen stehenden Annahmen wieder auf das Bedeutungsproblem zuruckfuhren. / Manche Bedeutungstheorien, die auch in der Psycholinguistik eine Rolle spielen, wie z.B. die Merkmalsemantik (die in den Netzwerkmodellen semantischen Wissens aufgegriffen wird), aber auch die Stereotypensemantik, modellieren "Wortbedeutung" a hnlich wie ein Cluster "definierenden Wissens". Wittgenstein weist jedoch gerade darauf hin, daü "Bedeutung" (und damit das "Verfugen uber Bedeutung" der Sprachteilhaber) nicht mit "Definition" gleichgesetzt werden darf; vielmehr ist "Definieren" eine Handlung, die erst auf Nachfrage erfolgt.94 Schon das in der kognitivistischen Psychologie ubliche Modellieren der Sprachkenntnis als ein substantieller "Zustand" ist also in den Augen Wittgensteins irrefuhrend.95 Man ko nnte als Anha nger von Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung versucht sein, "Bedeutung" nunmehr (a hnlich wie in der lexikalischen Semantik) etwa als "Summe aller Verwendungsweisen" zu definieren; jedoch ist auch eine solche Auffassung noch irrefuhrend, weil ich sinnvoll gar nicht annehmen kann, einem Sprachteilhaber schwebten beim Verstehen sozusagen alle Verwendungen eines Wortes vor.96 "Verstehen" wird auch falsch beschrieben, wenn es quasi introspektionistisch als die Form psychischer Erlebnisse aufgefaüt wird, die einem Individuum beim Verstehen unterlaufen; von diesen Erlebnissen kann ich gar nicht wissen, ob sie dem entsprechen, was wir intersubjektiv "Verstehen" nennen.97 (Hier schlieüen 93 "Kann mir denn die ganze Verwendung eines Wortes vorschweben, wenn ich es so verstehe?" Wittgenstein 1971, PU Ö 139. Vgl. auch PU Ö Ö 138 (zitiert unten in Anm. 120) und 146. - Fur Zitate aus den Werken Wittgensteins werden folgende Siglen benutzt: PU + Ö = Philosophische Untersuchungen; PG + Ö (+ Seite) = Philosophische Grammatik; BPP I + Ö = Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie, Teil I; BPP II + Ö = Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie, Teil II; LSPP + Ö = Letzte Schriften zur Philosophie der Psychologie; Z + Ö = Zettel. 94 Wittgenstein, PG Ö 13 (51): "Muü nun dem, der das Wort 'Schach' sinnvoll gebraucht, eine Definition vorschweben? Gewiü nicht. - Gefragt, was er unter 'Schach' versteht, wird er erst eine geben." Vgl. auch BPP I Ö 166. 95 "Das Versta ndnis der Sprache, quasi des Spiels, scheint wie ein Hintergrund, auf dem der einzelne Satz erst Bedeutung gewinnt. - Aber dieses Versta ndnis, die Kenntnis der Sprache, ist nicht ein Bewuütseinszustand, der die Sa tze der Sprache begleitet. Selbst wenn es einen solchen Zustand im Gefolge ha tte." Wittgenstein, PG Ö 11 (50). 96 Vgl. Wittgenstein, BPP I Ö 184: "Werden hier nicht alle Erlebnisse des Verstehens vom Gebrauch, von der Praxis des Sprachspiels zugedeckt? Und das heiüt nur: Solche Erlebnisse interessieren uns hier gar nicht?" 97 "Angenommen, du hast eine besondere Erfahrung beim Verstehen, wie kannst du wissen, daü es die ist, die wir 'Verstehen' nennen?" Wittgenstein, BPP I Ö 304. Ä Dietrich Busse 1991 123 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 153 sich Wittgensteins U berlegungen zum Verstehen an seine PrivatsprachenArgumentation an.) Die Argumentation gegen das Miüversta ndnis sprachlicher Pha nomene wie "Bedeutung", "Meinen" und eben "Verstehen" als "seelischer Vorga nge" bzw. Zusta nde zieht sich, als Kern von Wittgensteins sprachtheoretischen U berlegungen, durch die ganzen "Philosophischen Untersuchungen" und andere parallele Schriften. In diesem Punkt sagt Wittgenstein mit einer fur seinen Formulierungsstil erstaunlichen Klarheit: "In diesem Sinne, in welchem es fur das Verstehen charakteristische Vorga nge (auch selische Vorga nge) gibt, ist das Verstehen kein seelischer Vorgang".98 Dabei ist die zentrale Frage gar nicht, ob es so etwas wie "seelische Zusta nde", "Vorstellungen", "vorschwebende Bilder" und a hnliche individualpsychologische Pha nomene fur die einzelnen Sprachteilhaber gebe, sondern nur, daü diese fur das Verstehen laut Wittgenstein unwesentlich sind.99 Gerade die Komplexita t der Bedeutung eines Wortes, d.h. nach Wittgenstein dessen, wofur wir ein Wort sinnvoll, d.h. mit der gesellschaftlichen Sprachpraxis ubereinstimmend, gebrauchen ko nnen, verhindert, daü das Bedeutungswissen als ein "substantielles" vollsta ndig "abgespeichertes" Wissen aufgefaüt werden kann.100 In diesem Sinne ist "Verstehen" kein "Bewuütseinszustand", sondern eher als eine Art "Disposition"101, eine Fa higkeit aufzufassen. Die psychologische Deutung des Bedeutungsbegriffs (und damit auch des Verstehensbegriffs) lehnt Wittgenstein radikal ab: "Die Bedeutung ist nicht das Erlebnis beim Ho ren oder Aussprechen des Wortes, und der Sinn des Satzes nicht der Komplex dieser Erlebnisse."102 Zwar streitet Wittgenstein nicht ab, daü es diese Erlebnisse gebe, doch haben sie bei ihm keinerlei Relevanz fur das Verstehen; Verstehen ist mehr (oder anderes) als diese "Begleitvorga nge des / Verstehens".103 Die Notwendigkeit, Verstehen nicht aus individualpsychologischen Kategorien abzuleiten, hat fur Wittgenstein ihren Grund darin, daü es Kriterien dafur geben muü, wann ein Wort oder ein Satz verstanden worden ist. Solche Kriterien ko nnen aber niemals individualpsychologisch sein, sondern mussen uberindividuell sein, d.h. mussen gerade das intersubjektive 98 Wittgenstein, PU Ö 154; vgl. auch PU S. 96. 99 "Es ist so wenig fur das Versta ndnis eines Satzes wesentlich, daü man sich beim ihm etwas vorstelle, als daüman nach ihm eine Zeichnung entwerfe." Wittgenstein, PU Ö 396. 100 "Kann man das Verstehen einer Bedeutung festhalten wie ein Vorstellungsbild? Wenn mir also plo tzlich eine Bedeutung eines Wortes einfa llt, - kann sie mir auch vor der Seele stehen bleiben?" Wittgenstein, PU S. 280. 101 "Ich will sagen: Glauben, Verstehen, Wissen, Beabsichtigen, u.a. seien nicht Bewuütseinszusta nde. Wenn ich diese letzteren fur einen Augenblick 'Dispositionen' nenne, so ist ein wichtiger Unterschied zwischen Dispositionen und Bewuütseinszusta nden, daü eine Disposition durch eine Unterbrechung des Bewuütseins, oder eine Verschiebung der Aufmerksamkeit nicht unterbrochen wird." Wittgenstein, BPP II Ö 45. 102 Wittgenstein, PU S. 288. 103 "Aber sind denn diese Vorga nge, die ich da beschrieben habe, das Verstehen? [...] 'Er versteht' muümehr beinhalten als: ihm fa llt eine Formel ein. Und ebenso auch mehr, als irgendeiner jener, mehr oder weniger charakteristischen, Begleitvorga nge, oder A uüerungen, des Verstehens." Wittgenstein, PU Ö 152; vgl. auch PG Ö 11 (49) (s.o. Zitat in Anm. 95). Ä Dietrich Busse 1991 124 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 154 Moment der Sprache erfassen. Wenn wir also Bedeutung oder Verstehen als private "Erlebnisse" (oder andere psychische Entita ten von gleichem Status, wie "Textbasis" etc.) behandeln, so fehlen uns die Kriterien dafur, die Erlebnisse der einzelnen Individuen zu vergleichen104; wir haben dann keine Kriterien fur die Identita t der Bedeutungen oder der Verstehensakte und ko nnen so gar nicht wissen, wann jemand einen Satz verstanden hat und wann nicht. Kriterien fur "Bedeutung" oder fur "Verstehen" ko nnen nur auüerpsychische Gro üen sein; damit kann aber auch "verstehen" selbst nicht mehr als eine rein psychische Entita t behandelt werden. Man ko nnte sich nun Versuche vorstellen, diese sprachphilosophische Argumentation aus psycholinguistischer Sicht dadurch zu widerlegen, daü Wittgenstein zu sehr gegen eine uberholte Psychologie der vierziger Jahre argumentiert habe (und dies etwa an seiner Redeweise von "seelischen Erlebnissen" festzumachen versuchen), und einen "Erkenntnisfortschritt" der modernen kognitivistischen Psychologie behaupten. Damit wurde man aber der philosophischen Tiefe von Wittgensteins Argumentation nicht gerecht, die auch "moderneren", nur scheinbar verbesserten Formen des psychologistischen Miüversta ndnisses von "Verstehen" und "Bedeutung" den Boden entzieht. Und zwar richtet sich gerade Wittgensteins Kritik an einem Miüversta ndnis des "Verstehens" als einer Art "U bersetzungsvorgang" von der ausgedruckten Sprache in eine "innere Sprache" (oder "innere Zusta nde etc.) auch gegen die repra sentationistischen "modernen" kognitiven Verstehenstheorien: "Man sagt, das Verstehen ist ein 'psychischer Vorgang', und diese Bezeichnung ist in diesem, sowie in einer Unzahl anderer Fa lle irrefuhrend. Sie vergleicht das Verstehen einem bestimmten Prozeö - wie dem U bertragen aus einer Sprache in die andere; und sie legt dieselbe Auffassung furs Denken, Wissen, Glauben, Wunschen, Beabsichtigen u.a. nahe."105 Eine solche Auffassung fuhrt Wittgenstein gerade darauf zuruck - und dieser radikale philosophische Skeptizismus wurde sich geradezu gegen die gesamte moderne experimentelle kognitive Psychologie richten, jedenfalls gegen die scheinbare Sicherheit, mit der die Realita t der behaupteten psychischen (kognitiven, mentalen) Pha nomene angenommen wird - daü psychische Vorga nge unserer Erkenntnis prinzipiell unzuga nglich sind: "Andererseits deutet freilich das Wort 'geistiger Vorgang' an, daü es sich hier um unverstandene Vorga nge in einer uns nicht zuga nglichen Spha re handelt."106 Daü Wittgensteins Argumentation auch die Ebene der kognitiven Psycholinguistik trifft, sieht man daran, daü er sich etwa durchaus mit Problemen des "sukzessiven" Verstehens bescha ftigt, wie es in der 104 "Daü die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Ausdrucks mit dieser Beschreibung nicht gegeben ist, verleitet dann zu der Folgerung, das Verstehen sei eben ein spezifisches, undefinierbares Erlebnis. Man vergiüt aber, daü, was uns interessieren muü, die Frage ist: Wie vergleichen wir diese Erlebnisse; was legen wir fest als Kriterium der Identita t des Geschehnisses?" Wittgenstein, PU Ö 322. 105 Wittgenstein, PG Ö 35 (74); vgl. auch PG Ö 42 (85): "Es geht mit dem psychischen Vorgang des Verstehens wie mit dem arithmetischen Gegenstand Drei. Das Wort 'Vorgang' hier und das Wort 'Gegenstand' dort geben uns eine falsche grammatische Einstellung zu dem Wort." 106 Wittgenstein, PG Ö 65 (106). Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 155 Psycholinguistik und der an ihr orientierten Textlinguistik als "kumulatives" Verstehen behandelt wird. In einer la ngeren Passage der "Philosophischen Grammatik" hebt er z.B. hervor, / daü "Verstehen" in einem la ngeren Prozeü des Sich-Bemuhens um das Versta ndnis eines Satzes nicht repra sentationistisch als irgendeine Form der "Pra senz" (Vorstellungen, Bilder etc.) von Bedeutungen aufgefaüt werden kann.107 Allein in der Erkenntnis, daü es sich um bekannte Wo rter oder um eine "wohlbekannte deutsche Wortverkettung" handelt, so Wittgenstein, ko nne das Versta ndnis noch nicht liegen. Auch ein dem Verstehenden vorschwebendes Vorstellungsbild fur ein einzelnes Wort sei nicht mit dem Verstehen gleichzusetzen. In der ihm eigenen philosophischen Argumentationstechnik gibt Wittgenstein allerdings nicht selbst eine Definition von "verstehen" sondern sagt stattdessen: "Sehen wir eben zu, wie wir das Wort 'verstehen' tatsa chlich gebrauchen."108 Er fa hrt dann damit fort, seine Ablehnung der Verwendung des irrefuhrenden Ausdrucks "Prozeü" fur das "Verstehen" damit zu begrunden, daü unter "Verstehen" eine Vielzahl von uns verborgenen Pha nomenen zusammengefaüt werden, die nicht unbedingt identisch oder auch nur weitgehend a hnlich sein mussen. Er verknupft also interessanterweise gerade an dieser Stelle die Argumentation uber den Begriff "Verstehen" mit seinem Konzept der "Familiena hnlichkeiten" bei Begriffen wie "Verstehen", "Bedeutung" etc. Aus unserer Verwendung solcher schillernder Begriffe fur eine Vielzahl vielgestaltiger Pha nomene durfen wir nicht, so Wittgenstein, auf die Identita t der Pha nomene schlieüen. Seine Argumentation ko nnte man gerade auch gegen das in der kognitiven Psychologie ubliche Vorgehen richten, von einem "einheitlichen" Prozeü des "Verstehens" zu sprechen, der bei so verschiedenen Pha nomenen wie "Wahrnehmen", "Erkennen" und "Sprachverstehen" identisch sei.109 Zu solchen Thesen sagt Wittgenstein: "Denn man sagt: Wenn ich in allen diesen Fa llen das Wort 'verstehen' gebrauche, so muü also in allen etwas Gleiches geschehen, welches eben das wesentliche des Verstehens [...] ist. Denn warum sollte ich sie sonst mit dem gleichen Wort benennen? Dieses Argument geht aus der Auffassung hervor, daües das Gemeinsame der Vorga nge, oder Gegensta nde etc. ist, welches ihre Charakterisierung durch ein gemeinsames Begriffswort rechtfertigen muü. Diese Auffassung ist, in gewissem Sinne, zu primitiv. Was das Begriffswort anzeigt, ist allerdings eine Verwandtschaft der Gegensta nde, aber diese Verwandtschaft muü keine Gemeinsamkeit einer Eigenschaft oder eines Bestandteils sein."110 Das Vorgehen Wittgensteins macht hier wieder seine philosophische Grundhaltung deutlich, daü man - gerade bei sog. psychischen 107 So Wittgenstein, PG Ö 34 (72 ff.) in einer la ngeren Passage. 108 Wittgenstein, PG Ö 34 (73). 109 Vgl. die Thesen von Ho rmann 1976, 273; Ho rmann 1980, 27; Engelkamp 1984a, 4. 110 Wittgenstein, PG Ö 35 (75); vgl. auch BPP I Ö 301: "Die Frage ist nur: Soll ich vom Verstehen sagen, es sei in mir vorgegangen? Dagegen wehrt sich etwas; und das kann nur bedeuten, daü wir durch diesen Ausdruck das Verstehen mit anderen Erscheinungen zusammenstellen und einen Unterschied verwischen, den wir betonen wollen." Ä Dietrich Busse 1991 125 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 156 Pha nomenen - aufkla ren muü, wie wir uber diese Pha nomene reden, anstatt vorschnell Entita ten, Vorga nge, Prozesse in einem Bereich zu hypostasieren, der unserer Beobachtung unzuga nglich ist; es ko nnte na mlich sein, so Wittgensteins Argwohn, daü die Annahme bestimmter "Gegensta nde" oder "Prozesse" im mentalen Bereich auf einem Miüversta ndnis beruht, zu dem uns unser schillernder und uneinheitlicher Gebrauch der Begriffe verleitet, mit denen wir uber diese Pha nomene zu reden pflegen. So liegt fur Wittgenstein das Wesentliche im Verstehen im Gebrauch des Begriffs "Verstehen" und nicht in dem, was einzelne uber ihre privaten psychischen Erfahrungen sagen ko nnen.111 Selbst wenn Wittgenstein / hier gegen das Verfahren der "Introspektion" einzelner Individuen als Mittel psychologischer Erkenntnis argumentiert, so kann man seine Kritik durchaus auch auf die experimentellen Verfahren der modernen kognitivistischen Psychologie ubertragen. Letztlich beruhen diese Verfahren auf dem Vorgehen, Annahmen des Forschers hinsichtlich psychischer Pha nomene, Abla ufe etc., die dieser bei der Auswertung seiner Versuchsreihen formuliert, mit den tatsa chlichen psychischen Vorga ngen gleichzusetzen. Auch die differenziertesten und ausgearbeitetsten theoretischen Modellierungen psychischer "Vorga nge" beim Verstehen ko nnen den Eindruck nicht verwischen, daü hier psychische "Prozesse", "Akte", "Konstruktionsaktivita ten", "Schemata", "Rahmen", "Skripts" etc. einfach deshalb angenommen werden, weil es sie, nach dem intuitiven Bedurfnis der Forscher zur Erkla rung des Pha nomens Verstehen "einfach geben muü".112 Wenn dieses "muü" auf der Intuition der Forscher beruht, dann ist es kein qualitativer Sprung mehr zu der Introspektion, die Wittgenstein als psychologische "Methode" kritisiert; denn wie anders als durch Introspektion soll der Forscher seine Auffassung gewonnen haben, daü es sich um "Vorga nge", "Akte" etc. handeln muü? Fur Introspektionen (gleich welcher deduktiv theoretischbegrifflich umma ntelten Stufe) gilt aber Wittgensteins Verdikt: "Introspektion kann nie zu einer Definition fuhren. Sie kann nur zu einer psychologischen Aussage uber den fuhren, der introspiziert."113 Wenn Wittgenstein also festha lt: "Es ist falsch, das Verstehen einen Vorgang zu nennen, der das Ho ren begleitet."114, dann hat er dem Problem, daü wir ha ufig geneigt sind, "Verstehen" (vor allem dann, wenn es sich um sukzessives, zeitlich verzo gertes Verstehen la ngerer Textstrecken handelt) als "Vorgang", als "Prozeü" aufzufassen, durchaus Rechnung getragen. Wieder konstruiert Wittgenstein ein Beispiel, um seine 111 So Wittgenstein, BPP I Ö 212 zum sog. "Erlebnis" beim Verstehen: "Und wenn beide das Wort 'verstehen' richtig gebrauchen, so liegt in diesem Gebrauch das Wesen des Verstehens, und nicht in dem, was sie uber ihre Erfahrungen sagen ko nnen." 112 "Ich sehe das Bild eines Pferdes: ich weiünicht nur, es sei ein Pferd, sondern auch, daüdas Pferd la uft. Ich kann also nicht nur das Bild ra umlich verstehen, sondern ich weiö auch, was das Pferd jetzt im Begriff ist zu tun. [...] Es handelt sich hier aber nicht um eine Erkla rung dieses Verstehens, etwa dadurch, daü man behauptet, der Betrachtende mache kleine Laufbewegungen, oder fuhle Laufinnervationen. Welchen Grund hat man zu Annahmen dieser Art, auüer den, es 'musse' so sein?" Wittgenstein, BPP I, Ö 873. 113 Wittgenstein, BPP I Ö 212. 114 Wittgenstein, BPP II Ö 467 ( = Z Ö 168). Ä Dietrich Busse 1991 126 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 157 Position klarzumachen: Jemand gibt einem Freund, der ihn gut kennt, eine Liste fur Besorgungen, die allerdings verschlusselt formuliert ist; er erwartet jedoch, daü der Freund diese Liste dennoch aufgrund der guten Kenntnis des Auftraggebers versteht, und dies ist auch tatsa chlich der Fall. Wie lief nun das "Verstehen" bei dem Freund ab, fragt Wittgenstein: "Was hatte er zu tun, um sich davon zu U berzeugen, daü er die Andeutungen verstanden hat? Ist es hier, als muüte er bei jedem Punkt eine Kopfrechnung machen?"115 Die Auseinandersetzung mit der hier mo glichen Annahme, das "Verstehen" ko nnte wie eine Art "Kopfrechnung" erfolgen, zeigt, daü Wittgenstein schon lange vor dem Entstehen einer "Kunstlichen-Intelligenz"-Forschung (bzw. einer an ihr orientierten kognitiven Psychologie und Textlinguistik) vorausgesehen hat, daü das Miüversta ndnis des Verstehens als einer Art Algorithmus naheliegt. Was Wittgenstein hier kritisiert, ist nicht die Annahme, daü es Versta ndigungsbemuhungen geben ko nnte, die eine solche "Kopfrechnung", d.h. einen "algoritmischen" Denkablauf voraussetzen; sondern nur, daü diese Auffassung einer bestimmten, in ganz spezifischen Lebenssituationen vorkommenden Form von Versta ndigungsprozessen mit dem Verstehen generell gleichgesetzt wird. D.h., daü angenommen wird, nur weil es uberhaupt zur Herstellung von Textversta ndnis Vorga nge geben ko nnte, in denen Denk- / prozesse ablaufen, die modellhaft mit Algorithmen verglichen werden ko nnten, musse es in jedem Verstehen algorithmisch zugehen.116 Die Erkla rung des eigenen Textverstehens durch Angabe der "U berlegungen", die einen zum Versta ndnis gefuhrt haben, ist ein Ausnahmefall: "Aber das ist im allgemeinen nicht no tig. Wir schreiben also nicht vor, was der Andere beim versta ndnisvollen Durchgehen der Liste zu tun hat; und ob er wirklich verstanden hat, ersehen wir aus dem, was er spa ter tut, oder aus der Erkla rung, die wir etwa von ihm verlangen."117 Wir ko nnen also, so Wittgenstein, ho chstens raten, wie das "Verstehen" beim Anderen zustandegekommen ist. Wir erinnern uns hier daran, daü Wittgenstein bei Konzeptionen des Verstehens als "seelischer Vorga nge" das Fehlen eines Kriteriums fur die Feststellung der "Identita t" einzelner seelischer Vorga nge bei verschiedenen Individuen (die durch den Beobachter zum einheitlichen "Verstehen" zusammengefaüt werden sollen) kritisiert. Ein solches Kriterium, so Wittgenstein nun, kann allenfalls das auf ein Verstehen folgende Handeln der Individuen sein; nur, was wir a uüerlich auch "sehen" ko nnen, kann ein Kriterium fur das erfolgreiche Verstehen sein. Es gibt allerdings, auüer der "Intuition" der Forscher, der Annahme, daü das Verstehen "einfach ein Vorgang sein muö", noch einen weiteren 115 Wittgenstein, BPP II Ö 209. 116 Als ein Beispiel, wo ein "Vorgang" eine Rolle spielt, nennt Wittgenstein die Situation, in der der Freund mit der Liste zur Rechenschaft (also einer neuen Handlung eigener Art, die uber das "Verstehen" selbst schon hinausgeht), aufgefordert wird: "Wa re das [die Kopfrechnung] no tig, so ko nnte er spa ter von der Rechnung Rechenschaft geben und man wurde sehen, ob er richtig gerechnet hat." Wittgenstein BPP II Ö 209. ("Rechnen" hier immer metaphorisch gebraucht im Sinne von "Vorgang" des Verstehens, d.h. eines Algorithmus.) 117 Wittgenstein, BPP II Ö 209. Ä Dietrich Busse 1991 127 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 158 Beweggrund dafur, warum in der Psycholinguistik algorithmische Modelle fur das Textverstehen favorisiert werden. Es handelt sich um das Bedurfnis der Computerwissenschaften, sprachliche Pha nomene auf dem Computer "nachzuspielen". Da Computer als Rechenmaschinen aber streng algorithmisch verfahren, besteht die Notwendigkeit, auch die "Textverarbeitung" als einen Algorithmus zu modellieren. Auch wenn la ngst nicht alle kognitivistisch orientierten Psychologen selbst an ComputerModellen der "Sprachverarbeitung" arbeiten, so kann doch unterstellt werden, daü das gesamte Paradigma der "Cognitive Science" an der algorithmischen Funktionsweise der digitalen Rechenmaschinen ausgerichtet ist. Sollte die Psycholinguistik ursprunglich nur Modelle liefern, welche das Sprachverstehen und Sprachproduzieren erkla ren, damit diese Modelle in einem zweiten Schritt algorithmisiert und auf dem Computer "nachgespielt" werden ko nnen, so hat sich in den letzten Jahren dieser Prozeü unmerklich umgekehrt dahin, daü nun nicht mehr die Computer nach psychologischen Modellen der Denkprozesse programmiert werden, sondern daü die Computer-Simulationen der "Textverarbeitung" die Modelle dafur abgeben, was dann in der Psychologie als "kognitive Prozesse" (z.B. "konstruktives Verstehen") behauptet wird. Gegen ein solches mechanistisches Miüversta ndnis menschlichen Denkens, also auch gegen ein mechanistisches Miüversta ndnis des Verstehens, hat Wittgenstein schon vor mehr als vier Jahrzehnten seine Skepsis angemeldet: "Es kann nie essentiell fur unsere Betrachtungen sein, daü ein symbolisches Pha nomen in der Seele sich abspielt und nicht auf dem Papier, fur Andere sichtbar. Immer wieder ist man in Versuchung, einen symbolischen Vorgang durch einen besonderen psychologischen Vorgang erkla ren zu wollen, als ob die Psyche 'in dieser Sache viel mehr tun ko nnte', als die Zeichen. Es miüleitet uns da die Idee eines Mechanismus, der mit besonderen Mitteln ar- / beitet, und daher besondere Bewegungen erkla ren kann."118 Nicht nur die fragwurdige U bertragung mechanistischer Modelle (und seien es Modelle der modernsten Maschine, des Computers) auf menschliche Denkprozesse wird hier kritisiert, sondern auch die unreflektierte Gleichsetzung von spezifisch symbolischen Pha nomenen mit psychischen Prozessen. Was Wittgenstein hier angreift, ist letztlich die in Fragen, welche die Sprache (als symbolisches Pha nomen) betreffen, ha ufig anzutreffende psychologische Deutung; d.h. es wird in den sich mit Sprache bescha ftigenden Wissenschaften nicht anerkannt, daü symbolische Pha nomene, also auch alle sprachlichen Pha nomene wie "Bedeutung", "Verstehen" etc., eines eigenen theoretischen Zugriffs, einer eigenen Begrifflichkeit, einer eigenen "Grammatik" bedurfen. Was hier in Frage gestellt wird, ist also die gerade heute wieder allzu ubliche Gleichsetzung von "Sprachwissenschaft" mit "Psychologie". Den spezifischen Aspekten, die daraus herruhren, daü sprachliche Versta ndigung auf dem Gebrauch von Zeichen beruht, und dem, was der eigensta ndige Charakter der Zeichen bewirkt, muü in einer sprachwissenschaftlichen Theorie des Verstehens Rechnung getragen 118 Wittgenstein, PG Ö 59 (99). Ä Dietrich Busse 1991 128 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 159 werden. Dieser Zeichencharakter wurde, so hat Biere (s.o.) gezeigt, in der neueren psycholinguistischen Verstehenstheorie nicht berucksichtigt; die Wurzeln fur diese Miüachtung des spezifisch Zeichenhaften an sprachlichen Vorga ngen hat, wie wir gesehen haben, schon lange vor Entstehen der "Cognitive Science" Wittgenstein kritisiert. Verstehen im Sinne Wittgensteins ist, wie vor allem Keller hervorgehoben hat, nicht selbst ein Prozeö, sondern allenfalls Ergebnis oder Folge von psychischen Vorga ngen, die sich unserer na heren Beschreibung entziehen.119 Damit ist "Verstehen" nicht etwas, das sich in der Zeit erstreckt, sondern ein augenblickshaftes, plo tzlich sich einstellendes Versta ndnis eines Textes: "Diese Fa higkeit, dieses Verstehen ist also etwas, was in einem Augenblick eintritt [...] (Eine solche Empfindung ist z.B. die eines leichten, schnellen Einziehens des Atems, a hnlich wie bei einem gelinden Schreck)."120 Fur Wittgenstein hat also "Verstehen" (als "Urpha nomen") mehr zu tun mit einem Erlebnis, der plo tzlichen Evidenz des Verstanden-Habens, als mit einem Vorgang oder Prozeü. Fragt man danach, was das "plo tzlich verstehen" heiüt im Sinne eines "Vorgangs", der dazu gefuhrt haben soll, so ist diese Frage laut Wittgenstein "schlecht gestellt"; statt dessen ko nnte sinnvoll gefragt werden: "Was sind die Anzeichen dafur, daü einer plo tzlich versteht?"121 Hier zeigt sich wieder, daü es ihm nicht um theoretische Modelle, um hypostasierte "Entita ten" oder "Prozesse" in einer Spha re geht, zu der wir prinzipiell keinen Zugang haben; vielmehr ko nnen wir uns dem Pha nomen "Verstehen" einzig auf dem Wege na hern, daü wir nach Kriterien dafur suchen, wann wir von einem anderen Menschen sagen ko nnen, er habe "verstanden". Solche Kriterien, als echte, wahrnehmbare, "a uüere" Kriterien ko nnen nur solche des kunftigen Verhaltens eines Individuums nach dem Verstanden-Haben sein; etwa die Art, wie es selbst ein bestimmtes Wort, einen Satz verwendet. "Das Verstehen ist ein Zustand, woraus die richtige Verwendung entspringt. [...] Die Anwendung bleibt ein Kriterium / unseres Versta ndnisses."122 Sprachliche Zeichen zu verstehen hat deshalb fur Wittgenstein mehr mit einer Fa higkeit (einer Disposition zu einem Handeln) zu tun, als mit einem inneren, psychischen Vorgang: "'Ein Wort verstehen' kann heiüen: Wissen, wie es gebraucht wird; es anwenden konnen."123 Damit hat Verstehen, wie in seiner Auseinandersetzung mit der 119 Keller 1976, 4 u.o .; vgl. auch Heringer 1984, 58. 120 Wittgenstein, PU Ö 151; vgl. auch PU Ö 138: "Nun verstehen wir aber die Bedeutung eines Wortes, wenn wir es ho ren, oder aussprechen; wir erfassen sie mit einem Schlage; und was wir so erfassen, ist doch etwas Anderes als der in der Zeit ausgedehnte 'Gebrauch'!" Vgl. auch PU Ö 139, wo Wittgenstein von einem "blitzartig verstehen" spricht. 121 Wittgenstein, PU Ö 321: "'Was geschieht, wenn ein Mensch plo tzlich versteht?' - Die Frage ist schlecht gestellt. Fragt sie nach der Bedeutung des Ausdrucks 'plo tzlich verstehen', so ist die Antwort nicht das Hinweisen auf einen Vorgang, den wir so nennen. - Die Frage ko nnte bedeuten: Was sind Anzeichen dafur, daüeiner plo tzlich versteht?" 122 Wittgenstein, PU Ö 146; vgl. auch PU Ö 288: "Er ko nnte diese Worterkla rung, wie jede andere, richtig, falsch oder gar nicht verstehen. Und welches er tut, wird er im Gebrauch des Wortes zeigen, wie es auch sonst geschieht." 123 Wittgenstein, PG Ö 10 (47); vgl. auch PG Ö 11 (49), wo Wittgenstein die Ablehnung der Definition von "Versta ndnis" als "Bewuütseinszustand" so erla utert: "Vielmehr ist es von der gleichen Art wie das Ä Dietrich Busse 1991 129 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 160 psycholinguistischen Verstehenstheorie auch Biere herausgearbeitet hat, viel mit Wissen zu tun; nur darf dieses Wissen (im Sinne Wittgensteins) nicht als "gespeicherte Substanz", oder als "im Geda chtnis" repra sentiert (wie in der kognitiven Psychologie) gedacht werden, sondern als Fa higkeit.124 Kennen heiüt dann konnen.125 In diesem Sinne ist Wittgensteins beruhmte Bemerkung gemeint: "Einen Satz verstehen, heiüt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heiüt, eine Technik beherrschen."126 (Es ist, wenn man in dieser Weise "Verstehen" als ein "Ko nnen", eine Fa higkeit zu einer Handlung - und sei es auch nur der Handlung einer eigenen richtigen Verwendung eines Wortes, eines Satzes - begreift, wichtig, nicht wieder in ein Miüversta ndnis etwa der Art zu verfallen, daü das "Verstehen" quasi eine "bedingende Ursache" fur das Handeln ist127; vielmehr sind "verstehen" und "handeln ko nnen" intern also in Wittgensteins Verwendung dieses Terminus: grammatisch verknupft.) Wenn man, wie Wittgenstein in seinen hier skizzierten sprachphilosophischen U berlegungen, "Verstehen" als plo tzliche Evidenz charakterisiert, eine Evidenz, die die Verstehenden in die Lage versetzt, nach dem, was sie verstanden haben, zu handeln, selbst ta tig zu werden, wird dann nicht der Aspekt vernachla ssigt, daü sich ein solches Verstehen bzw. Versta ndnis oft erst nach einem la ngeren Prozeü des Zu-verstehenVersuchens einstellt? Wittgenstein leugnet nicht, daü es so etwas, also auch: U berlegungen der Verstehenden, gibt; doch liegen sie fur ihn eindeutig vor dem Verstehen: "Es konnten mir vor dem Verstehen mehrere Deutungen, d.h. mehrere Erkla rungen vorschweben, fur deren eine ich mich dann entschied."128 Wittgenstein unterscheidet hier also deutlich zwischen dem Verstehen als Ergebnis, und dem Deuten als (sich zeitlich erstreckenden) Prozeö. Damit weist er auf einen Punkt hin, den auch Biere in seiner Kritik der psycholinguistischen Verstehenskonzeptionen Verstehen, Beherrschen eines Kalkuls, also wie multiplizieren konnen." (= Fortsetzung des in Anm. 95 wiedergegebenen Zitates) 124 So Wittgenstein PG Ö 34 (71) zum Verstehen eines Wortes: "Wir sagen, wir verstehen seine Bedeutung, wenn wir seine Anwendung wissen, aber wir haben ja gesagt, daüdas Wort 'wissen' keinen Bewuütseinszustand bezeichnet." Vgl. auch BPP I, Ö 875: "Verstehen ist a hnlich einem Weiterwissen, also einem Ko nnen: aber 'Ich verstehe', so wie 'Ich weiü weiter', ist eine A uöerung, ein Signal."; LSPP Ö 383: "Daü wir einen Satz verstehen, zeigt uns, daü wir ihn unter Umsta nden verwenden ko nnten [...], aber es zeigt uns nicht was, und wieviel wir mit ihm anfangen ko nnen." 125 Der hier angesprochene enge Zusammenhang von "Wissen" und "Ko nnen" (statt der in der Psychologie ublichen Auffassung des "Wissens" als mentaler [Geda chtnis-]"Substanz" o.a .) ist anschlieübar an die oben, Kap. 5.2 bei der Ero rterung des sprachrelevanten Wissens zitierte Definition von "Wissen" als "Fa higkeit" (bei Gebauer und Weyhmann-Weyhe). 126 Wittgenstein PU Ö 199. 127 "Wenn 'einen Satz verstehen' heiüt: in irgendeiner Weise nach ihm handeln, dann kann das Versta ndnis nicht die Bedingung dafur sein, daü wir nach ihm handeln." Wittgenstein PG Ö 8 (46). Vgl. auch den Hinweis bei Heringer 1988, 61, dazu, daüals Kriterium eines richtigen Versta ndnisses oft gilt, wie man sich danach verha lt: "Darum sind methodische Exempel der Versta ndlichkeitsforschung sogenannte Anweisungstexte, bei denen das entsprechende Verhalten eben unmittelbar gefordert ist. Doch selbst hier ist dieser Zusammenhang bekanntlich nicht einstra ngig. Denn aus der Anweisung folgt nicht die Handlung. Dazwischen liegt das Verstehen, und auf Verstehen folgt nicht kausal das gewunschte Verhalten." 128 Wittgenstein, PG Ö 8 (46). Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 161 herausgearbeitet hat: Daü ha ufig "Verstehen" fa lschlich mit "Interpretieren" gleichgesetzt wird. Fur Wittgenstein gibt es zwischen Interpretieren und Verstehen einen deutlichen Unterschied: "Verstehen" ist etwas, das immer geschieht, das "einem passiert" - "Interpretieren" ist etwas Zusa tzliches, eine Handlung, die man manchmal, wenn es Versta ndnisprobleme gibt, vollzieht. "Eine Interpretation ist doch etwas, was im Zeichen gegeben wird. Es ist diese Interpretation im Gegensatz zu einer anderen. (Die anders lautet.) Wenn man also sagte: 'jeder Satz bedarf noch einer Interpretation', so hieüe das: kein Satz kann ohne einen Zusatz verstanden werden.' Es geschieht naturlich, daü ich Zeichen deute, Zeichen eine Deutung gebe; aber doch nicht immer, wenn ich ein Zeichen verstehe!"129 Was Wittgenstein hier in seiner Sprache formuliert, verweist auf die Kritik, die (auch von ihm selbst) an repra sentationistischen Modellen des Textverstehens geubt wurde. Wenn man, wie auch Heringer fordert, "die in der Psychologie / ubliche Vermengung von Verstehen und Interpretieren"130 vermeiden will, dann darf man "Verstehen" nicht, wie die an "Inferenzen" orientierten Modelle nahelegen wollen, wie einen "Zusatz zum Text" auffassen. Wa re jedes Textverstehen immer auch ein Interpretieren, dann wurde unsere allta gliche Versta ndigung schnell zusammenbrechen, jedenfalls erheblich erschwert werden. Fur die Handlung des "Interpretierens", "Deutens" ist es gerade charakteristisch, daü sie nur dann unternommen wird, wenn sich das Verstehen gerade nicht eingestellt hat131 oder wenn es, wie in der Jurisprudenz oder der Theologie, nicht mehr um pures individuelles "Versta ndnis" geht, sondern um die Anwendung eines Textes im Rahmen institutioneller Handlungsprozesse (wie z.B. das Fa llen richterlicher Entscheidungen oder das Begrunden eines Predigtinhalts). Viele der in der Psycholinguistik vorgenommenen Erkla rungsversuche treffen auf das Interpretieren, als aktive Handlung von Individuen, zu132, nicht jedoch auf das Verstehen selbst, das sich allenfalls als Ergebnis einer Interpretations-Handlung einstellen kann.133 Wittgensteins Argumente zum Begriff des "Verstehens" grunden auf einer die Fundamente unseres allta glichen und wissenschaftlichen Sprechens uber Sprache betreffenden, philosophisch radikalen Kritik, die vor allem in Bereichen des Redens uber psychische Pha nomene eine fundamentale Skepsis hinsichtlich unserer Mo glichkeit ausdruckt, uberhaupt uber Spha ren, die unserer Erkenntnis unzuga nglich sind, 129 Wittgenstein, PG Ö 9 (47). 130 Heringer 1979, 279. 131 "Naturlich kann es sein, [...] daü ich sozusagen hypothetisch verschiedene Versta ndnismo glichkeiten durchspiele. Aber das geschieht, [...] wenn ich zweifle, wenn ich unsicher bin, also gerade, wenn sich mir kein befriedigendes Versta ndnis einstellt. Dann interpretiere ich." Heringer 1984, 60. 132 "Vergessen sollte man also bei diesen aktivistischen Deskriptionen nicht, daü sie fallweise korrekt erscheinen, wenn man den Unterschied zwischen Verstehen und Interpretieren macht. Das Interpretieren ist na mlich eine Handlung, die gerade ausgefuhrt wird, wenn sich kein Versta ndnis einstellt oder kein befriedigendes." Heringer 1984, 60. 133 "Aber vergessen wir auch nicht: Ziel des Interpretierens ist ein Versta ndnis, und auch dieses Versta ndnis wird sich einstellen." Heringer 1984, 60. Ä Dietrich Busse 1991 130 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 162 vernunftige Aussagen zu machen (die uber alltagssprachliche Redeweisen hinausgehen). Einzelwissenschaftliche Forschung muü dagegen versuchen, dennoch Erkla rungshypothesen auch uber solche Pha nomene wie das "Verstehen" zu formulieren, sollte sich jedoch durchaus immer wieder auch an der fundamentalen Hinterfragung der eigenen Grundbegriffe und Zugangsweisen zum Gegenstandsbereich uberprufen lassen (und selbstkritisch uberprufen). Wittgensteins U berlegungen zum "Verstehen" haben, wenn man Schluüfolgerungen fur einen linguistischen Begriff der Textrezeption daraus ziehen will, ergeben, daü es sinnvoll und notwendig ist, zwischen "Verstehen" und "Interpretieren" streng zu unterscheiden. Daruber hinaus haben sie einen gerade fur die Sprachwissenschaft wichtigen Aspekt deutlich gemacht, der in den psychologischen Verstehenstheorien stra flich vernachla ssigt wird: daüeine Theorie des Sprachverstehens den Eigencharakter der "Sprache" als eines semiologischen Pha nomens - also die Zeichenhaftigkeit jeder sprachlicher Versta ndigung zu ihrer Grundlage machen muü. Eine "Verstehenstheorie", die auf eine Kla rung des Zeichenbegriffs verzichtet, oder gar, wie viele psycholinguistische Modelle, explizit meint, auf den Begriff der "Bedeutung" (im Sinne einer Kla rung des semantischen Aspekts semiologischer Prozesse) ganz verzichten zu ko nnen, kann aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine Grundlage einer Theorie des Sprachverstehens sein. Trotz des geschilderten Erkenntnisgewinns blieben in Wittgensteins skeptischer Behandlung zwei Aspekte des Sprachverstehens unbefriedigend gelo st: Dies ist einmal die Frage, wie (auch in einem in Wittgensteins Sinne philosophisch gela uterten Verstehensmodell) der von Biere herausgestellten Tatsache Rechnung getragen werden kann, daü / "Inferenzen", d.h. "Schluüfolgerungen" verschiedenster Art, Fundament jeden Sprachverstehens sind. Hier muü Wittgensteins Warnung berucksichtigt werden, daü "Verstehen" nicht so erkla rt werden darf, als gebe es einen (individuellen) "Zusatz" zum Zeichen; es geht also um die Frage, wie die Leistung der Sprachzeichen selbst schon theoretisch so konzipiert wird, daü "Inferenzen" zum wesentlichen Bestandteil des Zeichenbegriffs werden, so daü sie nicht mehr als "Zusa tze" erscheinen. Zum anderen ist dies die Frage, wie der in der psycholinguistischen Diskussion hervorgehobene Aspekt zu behandeln ist, daü "Verstehen" kein objektivistisch miüverstandenes, reduktionistisch verkurztes "Decodieren", also eine bloüe "Aufnahme" fertig vorliegender "Information" ist, sondern der Subjektivita t der Textrezipienten ausgesetzt ist. Wenn "Schluüfolgerungen" Bestandteil des Zeichenbegriffs schlechthin sind, muü gekla rt werden, in welchem Verha ltnis bei der zeichengebundenen Kommunikation die prinzipielle Subjektivita t (Individualita t) des Textverstehens und die unhintergehbare Intersubjektivita t der kommunikativen Versta ndigung (und "der Sprache") stehen. D.h. es ist die Frage zu beantworten, wie trotz der begrundeten Ablehnung eines verstehenstheoretischen Aktivismus der "Subjektivita t" des Textverstehens Rechnung getragen werden kann. Es ist deutlich, daü es sich hierbei um fundamentale Fragen der Sprachtheorie handelt, die auch in dieser Arbeit nicht befriedigend beantwortet werden ko nnen. Die Ä Dietrich Busse 1991 131 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 163 U berlegungen zu einer linguistischen Theorie des Textverstehens im na chsten Abschnitt ko nnen daher nicht mehr als erste tastende Versuche in diese Richtung sein. 6.3 U berlegungen zu einem linguistischen Modell des Textverstehens Die Auseinandersetzung mit den Hypothesen wie Aporien der sprachpsychologischen Verstehenstheorie einerseits und Wittgensteins philosophisch begrundeter Skeptizismus andererseits haben gezeigt, daü eine linguistisch begrundete Verstehenstheorie, welche die Fehler anderer Ansa tze vermeidet, ein schwer zu bestellendes Feld ist. Es ist daher kein Wunder, wenn sich Linguisten heutzutage, nachdem sie das Textverstehen endlich als Thema der Sprachwissenschaft entdeckt haben, vornehmlich der Anleihen bei Psychologen bedienen. Von der Existenz einer spezifisch sprachwissenschaftlichen Theorie des Textverstehens bzw. der Textrezeption kann daher z.Zt. keine Rede sein. Es kann daher im folgenden nicht darum gehen, ad hoc einen weiteres ausdifferenziertes Modell einer linguistisch begrundeten Verstehenstheorie vorzulegen, sondern allenfalls darum, Voruberlegungen in Richtung auf eine solche, noch zu erstellende Theorie anzustellen und Probleme zu formulieren, um deren Lo sung sich eine solche Theorie bemuhen muüte. Beim gegenwa rtigen Stand der Forschung ist vor allem die Integration der genuin sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse (zur Phonologie, Morphologie, Syntax) in ein Verstehensmodell das noch kaum gelo ste Hauptproblem. Dies gilt vor allem dann, wenn man nicht, wie manche / Sprachpsychologen, von "Hypothesen" und ihrer Verifikation schon auf der Ebene des Phonem-Erkennens reden will. Deshalb soll es im folgenden zuna chst darum gehen, die allgemeinen Voraussetzungen einer Erkla rung des Textverstehens und der Textinterpretation zu kla ren. Voraussetzung fur jedes Modell des Textverstehens ist es, zuna chst die Faktoren na her zu bestimmen und zu differenzieren, welche eine sprachliche Kommunikation charakterisieren, wobei v.a. auch auf die Unterschiede zwischen mundlicher und schriftlicher Kommunikation eingegangen werden muü. Dabei mo chte ich vorausschicken, daü nach meiner Auffassung jede solche Ausdifferenzierung verstehensrelevanter Faktoren nur heuristisch geschehen kann; dies gilt besonders fur die Differenzierung der epistemischen Faktoren des Textverstehens, uber die prinzipiell nur plausibilita tsgestutzte Hypothesen mo glich sind. Versucht man, die Faktoren, welche die Textverstehens- bzw. TextkommunikationsSituation bilden, na her zu bestimmen, dann muü man zuna chst grundsa tzlich zwei mo gliche Perspektiven unterscheiden: (1) die Perspektive des (auüenstehenden) wissenschaftlichen Analytikers und (2) die Perspektive der unmittelbar an der Kommunikation Beteiligten, na mlich (a) des Textproduzenten und Ä Dietrich Busse 1991 132 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 164 (b) des Textrezipienten. Lange Zeit war Sprach- und Kommunikationstheorie nahezu ausschlieülich aus entweder der Perspektive des Analytikers formuliert (dies gilt fur die gesamte Systemlinguistik einschlieülich fast der gesamten Semantik, aber auch etwa fur manche Aspekte in Searles Sprechakttheorie, z.B. die "Aufrichtigkeitsbedingung"), oder aus der des Textproduzenten (ebenfalls in der Sprechakttheorie, aber auch manche linguistische Kommunikationsmodelle). Da es uns hier um ein Modell des Textverstehens geht, werde ich das Schwergewicht auf die Perspektive des Textrezipienten legen. Die verschiedenen Perspektiven bedingen na mlich u.U. unterschiedliche Erkla rungen und Modellbildungen. Jede vollsta ndige wissenschaftliche Analyse sprachlicher Kommunikation muüte Aussagen zu allen drei Perspektiven enthalten; insofern sind die im folgenden angestellten U berlegungen unvollsta ndig. Jede Kommunikationssituation (ich verwende diesen Ausdruck auch fur schriftliche Kommunikationen, d.h. auch fur die Textrezeption!) besteht aus mehreren Komponenten/Faktoren, die aufgefuhrt, definiert und sorgfa ltig unterschieden werden mussen. Dabei sind zuna chst zwei grundsa tzlich verschiedene Typen von Komponenten zu unterscheiden: (1) "a uöere" bzw. "materielle" Komponenten: Textproduzent, Textrezipient, Textformular (also die phonetisch oder graphematisch realisierte Zeichenkette), weitere anwesende Personen, weitere materielle Bestandteile und Umsta nde der Kommunikationsituation; (2) "innere" bzw. "nicht-materielle" Komponenten: Wissensdaten und situative Wahrnehmungsdaten. Die materiellen Komponenten definieren das, was ich die "a uöere Kommunikationssituation" nennen mo chte, die anderen Komponenten definieren entspre- / chend die "innere Kommunikationssituation". Diese Typen von Komponenten ko nnten auch Aspekte genannt werden, da sie intern miteinander verknupft sind: Eine "materielle" Komponente der "a uüeren" Kommunikationssituation ist das, was sie fur das Funktionieren des Kommunikationsprozesses ist, nur vermo ge einer Relation zu den ihnen jeweils zugeordneten "nicht-materiellen" Komponenten der "inneren" (also epistemisch gegebenen) Kommunikationssituation. So hat ein Textformular (eine Zeichenausdruckskette) seine Funktion ausschlieülich vermo ge seiner Relationierbarkeit zu bestimmten einzelnen Wissenselementen im Wissen der beteiligten Kommunikationspartner (es handelt sich hierbei um die Komponenten des Grundmodells sprachlicher Zeichen bei Saussure). Ein Textproduzent kann sinnvolle Zeichen nur produzieren vermo ge seines Wissens, bestehend aus dem "Weltwissen" selbst und Wissen uber die Relationierbarkeit von Zeichen bzw. Zeichenketten zu Wissenselementen. (Geht man von der Sprachlichkeitsthese des Denkens aus, dann ist auch Weltwissen ein Wissen uber die Relationierbarkeit von Wahrnehmungs- oder Wissensdaten zu Zeichen oder Zeichenketten.) Auch ein Textrezipient kann Zeichen nur als sinnvoll verstehen vermo ge seines zu den Zeichen assoziierten Wissens. Und schlieülich wirken auch die weiteren materiellen Ä Dietrich Busse 1991 133 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 165 Komponenten der a uüeren Kommunikationssituation ebenfalls nur in der Weise in den Kommunikationsvorgang hinein, daü sie als Wissen uber unmittelbare Wahrnehmungen pra sent gehalten werden ko nnen. (Wegen der notwendigen Fokussierung der Aufmerksamkeitssteuerung sind Sinneswahrnehmungsdaten der a uüeren Kommunikationssituation nur selten ko-pra sent mit der aktuellen Zeichen-Wahrnehmung, sondern werden wohl als aktuell verfugbares Hintergrundwissen pra sent gehalten.) Es wird damit deutlich, daü das Schwergewicht bei jedem Kommunikations- bzw. Textverstehens-Modell bei der Differenzierung der Aspekte der inneren, epistemisch gegebenen Kommunikationssituation der Beteiligten liegen muü. Dies bereitet naturlich der Theorie besondere Probleme, da uber mentale Daten prinzipiell nur Spekulationen mo glich sind. Eine linguistische Verstehenstheorie kann also nur das Ziel haben, solche (heuristischen) Spekulationen mo glichst plausibel zu gestalten; andere U berprufungsmo glichkeiten gibt es nicht. (Auch die Ergebnisse der empirischen Versuche der Psychologen sind ja in hohem Grade theorieund deutungsabha ngig und daher alles andere als "objektiv" - ganz im Gegensatz zum gerne gepflegten Selbstbild dieser Disziplin.) 6.3.1 Die au ere Kommunikationssituation Hinsichtlich der Vollsta ndigkeit der Komponenten mussen zwei grundsa tzlich verschiedene Typen der Kommunikationssituation auseinandergehalten werden: (a) die mu ndliche Kommunikation und (b) die schriftliche Kommunikation. / Um sie unterscheiden zu ko nnen, reicht es nicht, die Analytikerperspektive einzunehmen, sondern man muü die Perspektive der an der Kommunikation Beteiligten einnehmen: Aus der Perspektive z.B. des Textrezipienten ist der Textproduzent in erster Linie epistemisch pra sent. D.h., um das Funktionieren von Textverstehen erkla ren zu ko nnen, genugt es vorauszusetzen, daü der Textrezipient uber Wissen bezuglich des Textproduzenten verfugt (sei es eine ungeordnete Wissensagglomeration, sei es ein strukturiertes "Modell" oder "Konzept"). Dieses Wissen kann grundsa tzlich auch den Modus der Annahme bzw. Unterstellung annehmen (s.u.). Es ist fur das Gelingen der Kommunikation nicht entscheidend, ob das Wissen des Textrezipienten uber den Textproduzenten Erinnerungswissen oder Antizipationswissen ist, auch nicht, ob es schon vor la ngerer Zeit oder erst unmittelbar vor Beginn des gegenwa rtigen Kommunikationsausschnittes erworben wurde, und schlieülich ist es auch nicht entscheidend, ob dieses Wissen durch aktuelle Wahrnehmung des Textproduzenten seitens des Rezipienten gestutzt ist oder nicht. Insofern unterscheidet sich die mundliche Kommunikationssituation in ihren fur das Gelingen der Kommunikation unabdingbar notwendigen Kernelementen nicht von der schriftlichen Kommunikationssituation. Aus der Perspektive Ä Dietrich Busse 1991 134 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 166 des Rezipienten entha lt eine vollsta ndige Kommunikationssituation daher mindestens folgende Elemente: Rezipient, Textformular und (noch zu spezifizierende) Wissenskomponenten (unter denen das Wissen bzw. die Antizipationen uber den Textproduzenten einen besonderen Status haben). Zu diesen Kernelementen der Kommunikationssituation ko nnen dann folgende Komponenten hinzutreten: Kopra senz des Textproduzenten und Kopra senz weiterer materieller Situationselemente (Menschen, Gegensta nde, O rtlichkeiten) als unmittelbar gegenwa rtige Objekte der Sinneswahrnehmung. (Selbstversta ndlich sind Wahrnehmungsdaten uber materielle Situationskomponenten nur als Resultate von Deutungsprozessen der Kommunikationsteilnehmer pra sent. Dies gilt schon fur die lokale Situation, die nur in ihrer Sinnstruktur als Voraussetzung der Kommunikation eine verstehensrelevante Rolle spielt; dies gilt aber umso mehr fur die soziale Situation, die stets nur durch wissensgestutzte Deutung - als Situation eines bestimmten bekannten Typs sozialer Situationen - kommunikationsrelevant ist.) Auf der Grundlage dieses grundsa tzlich identischen Aufbaus des Kerns der Kommunikationssituation kann man dann die Unterschiede herausarbeiten, die zwischen mundlicher und schriftlicher Kommunikation bestehen. 6.3.1.1 Mu ndliche Kommunikationssituation Die den Kommunikationsteilnehmern perzeptuell gegebene Ko-Pra senz der Elemente der a uüeren Kommunikationssituation (Anwesenheit des Textproduzenten, weiterer Menschen, von Gegensta nden, der O rtlichkeit, Pra senz einer Zeitfixierung uber die Ich-Hier-Jetzt-Perspektive des Textproduzenten und des Textrezipienten) unterstutzt die Relationierung von Elementen des Textfor- / mulars (Zeichenausdruck) zu Wissenselementen. Sie ersetzt diese aber nicht, da auch die Gegebenheitsweise von Rezeptionsdaten in verstehens- bzw. kommunikationstheoretischer Hinsicht grundsa tzlich als "Wissen" klassifiziert werden muü (zur Unterscheidung von Wissenstypen s.u.). Allerdings schafft die zeitlich uber die Dauer des unmittelbaren Verstehensereignisses andauernde Ko-Pra senz der a uüeren Situation die Mo glichkeit einer Ruckvergewisserung bzw. Prufung von seiten des Textrezipienten erfolgten Zuordnungen von Zeichen zu Wissenselementen (etwa im Wege der perzeptionsgestutzten Verifikation einer Zuordnungshypothese von Wissenselementen zu Zeichenausdrucken, was v.a. bei deiktischen Zeichen wichtig wird). Gerade bei der Verwendung von Zeichen der Personen-, Raum-, Zeit- und Situationsdeixis bekommen die a uüeren Komponenten der Kommunikationssituation eine zentrale kommunikations- bzw. verstehensstutzende oder -steuernde Funktion. Hier ist das den einzelnen (deiktischen) Zeichen zugeordnete Wissen zuna chst nur ein formales Wissen. Dieses formale Wissen funktioniert in der Weise, daü es konkretisierende (d.h. relationierungssteuernde) Eingangsdaten liefert fur eine weitere, abgeleitete Wissenszuordnung: na mlich die Ä Dietrich Busse 1991 135 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 167 Zuordnung eines Perzeptionsausschnitts zu dem jeweiligen Zeichen. Erst diese weitere Zuordnung von Wissen (d.h. Elementen des perzeptionsgestutzten Wissensausschnitts) zu den zu verstehenden Zeichen fuhrt zu einer Bedeutungserfu llung des Textformulars. Das Spezifische der mundlichen Kommunikationssituation (gegenuber der schriftlichen) erweist sich also als Hinzufugung perzeptionsgestutzter Wissensdaten. Diese perzeptuelle Stutzung kann (muüaber nicht) zu einer gro üeren Sicherheit in der Rezeption von Textformularen durch Rezipienten beitragen (d.h. einer gro üeren Sicherheit in der Zuordnung von Wissenselementen zu den Zeichenausdrucken). Zu den wichtigen verstehenssichernden Elementen der mundlichen Kommunikation geho rt z.B. die Mo glichkeit zur Wahrnehmung von subsprachlichen Kommunikationssignalen, etwa von Besta tigungssignalen, die der Textproduzent hervorbringt (Gestik, Mimik, andere subsprachliche Zeichen). Einen zentralen Unterschied zur schriftlichen Kommunikation macht hier die gro üere semiotische Reichhaltigkeit von mundlicher Sprache aus (etwa auch in der Intonation und Prosodie); d.h es besteht eine gro üere Ebenenvielfalt sprachlicher oder sprachunterstutzender Zeichen in der mundlichen Sprache. Die Unterstutzungsfunktion, welche bei mundlicher Kommunikation die Kopra senz von Rezeptionsdaten der a uüeren Kommunikationssituation sowie zusa tzlicher subsprachlicher Zeichenebenen fur die Bedeutungserfullung - d.h. die zufriedenstellende Zuordnung von Wissenselementen zu Elementen des Textformulars seitens des Rezipienten - haben, wird allerdings (aus Grunden der Sprachbzw. Kommunikationso konomie) negativ ausgeglichen durch eine reichhaltigere Verwendung von textverkurzenden Sprachzeichen, welche die kopra sente Wahrnehmungssituation zu ihrer Bedeutungserfullung notwendig voraussetzen (etwa Deiktika etc.). Man kann daher mo glicherweise von einem "Prinzip der epistemischen O konomie" sprechen; d.h. es findet seitens des Textproduzenten meist eine Optimierung der Wahl des Textformulars und seiner / Elemente hinsichtlich weiterer kopra senter Faktoren der a uüeren Kommunikationssituation statt: Einem Mehr an drittseitig gegebenen bzw. als Wissen realisierbaren Elementen der Kommunikationssituation steht ein Weniger an Textelementen gegenuber und umgekehrt. Man ko nnte es daher auch ein "Prinzip der Bedeutungserfullung" nennen: Es werden stets nur so viele und nur solche Textelemente produziert, daü die intendierte Sinnerfullung mo glichst sicher zustande kommen kann. (Allerdings gibt es hier wohl sozial bedingte Unterschiede in den Kommunikationsstilen: gro üere Explizitheit - d.h. wissenso konomisch gesehen: gro üere Redundanz - kann als Zeichen eines "ho heren" sozialen Status gelten; vgl. auch die Tatsache, daü "Hochsprache" ha ufig mit "Schriftsprache" gleichgesetzt wird als eines ursprunglich nur in der Schriftlichkeit funktionalen Sprachstils, der dann aber z.T. auch mundlich produziert wird.) Die volle perzeptuelle Kopra senz des Textproduzenten in der mundlichen Kommunikationssituation hat epistemisch gesehen grundsa tzlich auch nur kommunikationsunterstu tzende Funktion (etwa Ä Dietrich Busse 1991 136 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 168 durch Ruckmeldesignale), nicht so sehr kommunikationsermoglichende Funktion. Es ist vor allem die Mo glichkeit (und Wahrscheinlichkeit) einer in zeitlich nahem Abstand zum aktuellen Kommunikationsereignis perzipierten und epistemisch im Vordergrundwissen pra sent gehaltenen Vorgeschichte, welche Zuordnungen von Textelementen zu Wissenselementen erleichtert und daher das Textverstehen unterstutzt. (Eine solche Vorgeschichte gibt es - immer aus Sicht des Rezipienten naturlich nicht nur hinsichtlich des Textproduzenten, sondern fur die gesamte a uüere und innere Kommunikationssituation.) Die epistemische (d.h. Textverstehen unterstutzende) Funktion der Kopra senz des Textproduzenten bzw. der epistemischen Pra senz einer unmittelbaren Vorgeschichte des Kommunikationsereignisses, in der der Textproduzent eine zentrale Rolle spielt, liegt in der Pra zisierung und Spezifizierung mo glicher Zuordnungen von Wissenselementen zu Textelementen. Die wichtigste solcher Pra zisierungen muü in der Singularisierung bzw. personalen Individualisierung (und damit Identifizierung) der Figur des Textproduzenten (als Element der a uüeren Kommunikationssituation) durch den Textrezipienten gesehen werden. Grundsa tzlich gesehen wird Kommunikation dadurch mo glich, daü Textrezipienten einen generalisierten Textproduzenten134 lediglich antizipieren, d.h. unterstellen.135 D.h. sie ordnen der abstrakten Position des Textproduzenten Eigenschaften (d.h. Wissenselemente) idealtypisch zu. Vor allem handelt es sich dabei um Annahmen daruber, uber welches Wissen der Textproduzent seinerseits verfugen mag. Dieses typisierte Wissen ist (a) ontogenetisch hervorgegangen aus der Menge aller in bisherigen Kommunikationsereignissen als erfolgreich besta tigten Zuordnungen von Wissenselementen zu Textelementen (es stellt also eine Extrapolation seitens der Textrezipienten aus der Menge aller ihrer Kommunikationserfahrungen dar). (b) Die konkrete Anwendung dieses verallgemeinerten und typisierten Wissens besteht in der Anwendung des sozialpsychologischen Prinzips der "Vertauschbarkeit der Standpunkte" (Schutz136): In konkreto ist der generalisierte Text- / produzent aus der Perspektive des Textrezipienten eine U bertragung (Antizipation, Unterstellung) all derjenigen Wissenselemente, uber die der Textrezipient selbst verfugt, auf das kommunikative Gegenuber. Dieselbe Antizipation findet entsprechend umgekehrt seitens eines Textproduzenten statt, wenn er den Textrezipienten und dessen Wissen unter Ansetzung seiner eigenen Kommunikationserfahrungen idealisierend typisiert. Gegenuber der grundsa tzlichen kommunikationsbedingenden Mo glichkeit eines idealtypisch generalisierten Textproduzenten hat nun die personale Identifizierung und Individualisierung des Textproduzenten durch den Textrezipienten den groüen Vorteil, daü dadurch das zuna chst nur 134 Der Sozialpsychologe Mead (1934, 152 ff.) bezeichnete ihn als "generalized other". 135 Ich gehe davon aus, daü (fur Zwecke der Kommunikationstheorie) Antizipationen nicht etwas grundsa tzlich anderes sind als Wissen, sondern nur ein spezifischer Modus des Wissens (s.u. Abschnitt 6.3.2.3). 136 Schutz 1953, 13 f. Ä Dietrich Busse 1991 137 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 169 vage und allgemein gehaltene Wissen des Textrezipienten uber den Textproduzenten (und dessen Wissen) eingegrenzt und damit pra zisiert werden kann. So kann z.B. das durch eine la ngere gemeinsame Kommunikationsgeschichte erworbene Wissen des Textrezipienten uber den Wissensumfang bzw. epistemische Fokussierungen, Vorlieben usw. des Textproduzenten eine wichtige unterstutzende Funktion hinsichtlich der Bedeutungserfullung von Textelementen haben. (Und zwar als Wissen, das fur den Textrezipienten in einer konkreten Kommunikationssituation entweder die Zuordnung von Textelementen zu Wissenselementen unterstutzt, oder als solches, das eine Zuordnung uberhaupt erst erlaubt, die ohne dieses Wissen nicht oder nur unzureichend mo glich gewesen wa re.) Die epistemische, d.h. Textverstehen ermo glichende, Funktion der personalen Individualisierung des Textproduzenten durch den Textrezipienten (oder umgekehrt) kann nicht hoch genug eingescha tzt werden. Da diese Individualisierung grundsa tzlich auch in schriftlicher Kommunikation (z.B. Briefkommunikation) stattfinden kann, veranlaüt sie uns, neben der prinzipiellen Unterscheidung von zwei Kommunikationstypen, na mlich mu ndlicher und schriftlicher Kommunikation, zwei weitere Typen zu unterscheiden: (a) personliche Kommunikation und (b) unpersonliche Kommunikation. Diese Unterscheidung, die quer zu der ersten liegt, betrifft eigentlich die innere Kommunikationssituation, insofern sie Spezifizierungen des verstehensrelevanten bzw. -ermo glichenden Wissens der Kommunikationsbeteiligten ermo glicht. 6.3.1.2 Schriftliche Kommunikationssituation Schriftliche Kommunikation ist (im Gegensatz zur mundlichen) meistens grundsa tzlich beschra nkt auf die Grundelemente der Kommunikationssituation. Man kann also von einer reduzierten Kommunikationssituation sprechen, da in schriftlicher Kommunikation mo gliche epistemische oder zuordnungsstutzende Elemente nicht realisiert werden ko nnen, die in mundlicher Situation gegeben sind. Dies betrifft einmal die semiotische Ebenenreduzierung des Textformulars durch Wegfall von Intonation und Prosodie, die durch die Zeichensetzung nur unvollkommen ersetzt werden, und zum anderen den Wegfall der kopra - / senten Elemente der a uüeren Kommunikationssituation der mundlichen Kommunikation. (Es gibt aber - in der modernen medienbestimmten Alltagswelt zunehmend - auch in schriftlicher Kommunikation grundsa tzlich die Mo glichkeit kopra senter a uüerer Situationselemente: Dies gilt etwa fur die Zuganzeige auf einem Bahnsteig, die Beschriftung einer Warenpackung, das Verha ltnis von Text und Bildern oder Symbolen auf Plakaten und in Werbeanzeigen, die Zuordnung von Text und Bildern in Illustrierten, Buchern, Lexika; daneben ist auch in schriftlicher Ä Dietrich Busse 1991 138 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 170 Kommunikation - etwa durch Layout, Textanordnung und graphische Textauszeichnung - die Mo glichkeit subsprachlicher Zeichenebenen und damit einer gewissen semiotischen Ebenenvielfalt gegeben. Die Funktion und das Wirken solcher Kommunikationselemente sind noch viel zu wenig erforscht.) In schriftlicher Kommunikation wird der (in mundlicher Kommunikation gegebene oder zumindest mo gliche) konkrete, d.h. singularisierte und individualisierte Textproduzent weitgehend ersetzt durch einen generalisierten Textproduzenten (Ausnahme: perso nliche Schriftkommunikation durch Briefe). Durch diesen in den meisten schriftlichen Komunikationssituationen anzusetzenden Wegfall (bzw. Reduzierung) von Elementen der a uüeren Kommunikationssituation (d.h. Generalisierung des Textproduzenten, Wegfall von perzeptueller Stutzung der Personen-, Raum- und Zeitdeixis) findet bei schriftlicher Kommunikation eine semantische Gewichtsverlagerung hin zum Textformular statt. Wissenselemente, die (oder deren Anschlieübarkeit) in mundlicher und perso nlicher Kommunikation durch die anderen Elemente der Kommunikationssituation beigesteuert sind, fallen in schriftlicher und unperso nlicher Kommunikation weg und mussen durch zusa tzliche Textelemente ersetzt werden. (Traditionell nennt man dies die "gro üere Explizitheit" von Schrifttexten.) Deshalb bekommt bei der schriftlichen Kommunikation die Analyse und Differenzierung der verschiedenen Wissenstypen und -schichten eine noch zentralere Bedeutung als bei der mundlichen Kommunikation. (Man darf jedoch nicht ubersehen, daü auch perzeptionsgestutzte verstehensrelevante Daten der Kommunikationssituation den Beteiligten stets nur epistemisch vermittelt pra sent sind.) Die a uöeren Elemente der Kommunikationssituation sind in schriftlicher Kommunikation in der Regel reduziert auf das Textformular und den Textrezipienten (bzw. -produzenten). Man kann daher den Kern des Verstehens von Schrifttexten reduzieren auf die Zuordnung von Elementen des verfugbaren Wissens zu Elementen des Textformulars. (Diese Zuordnung muü nicht notwendig als eine prozessuale Zuordnung einzelner Wissenselemente zu einzelnen Textelementen - vulgo: Bedeutungen zu Wo rtern bzw. Zeichen - gesehen werden.) Diese auf zwei Kernelemente reduzierte Kommunikationsform ist phylogenetisch und ontogenetisch sekunda r; sie erfordert ein ausdifferenziertes Instrumentarium an Textelementen (Zeichen) und ist daher Kennzeichen einer ho heren Entwicklungsstufe. Schriftliche Kommunikation reduziert die epistemischen Anschluümo glichkeiten auf ein einziges kognitives Medium: das verfugbare Wissen der Textrezipienten (die nicht-textuelle Perzeption fa llt fort). Die / Reduktion der Wissenszuordnung zu Textelementen auf nicht perzeptuell gestutzte Elemente des verstehensrelevanten Wissens bedeutet einen Verlust an epistemischen (und daher kommunikationssemantischen) Pra zisierungs- und Spezifizierungsmoglichkeiten auüerhalb des Textformulars. Damit wird dem Textformular ein Mehr an Pra zisierungsnotwendigkeit aufgeladen (gro üere Explizitheit), ohne daü diese immer oder in ausreichendem Maüe auch tatsa chlich erfolgt. (Von Ä Dietrich Busse 1991 139 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 171 speziellen Textsorten, deren Funktion gerade aus der mangelnden epistemischen Pra zisierung - d.h. dem ero ffneten Deutungspotential - lebt, wie z.B. der Lyrik, hier einmal abgesehen.) Man kann daher generell feststellen: Die Zuordnung von Wissenselementen zu Textelementen bedarf bei schriftlicher Kommunikation umfangreicherer epistemischer Leistungen als bei den meisten Fa llen der mundlichen Kommunikation; da zusa tzliche semantisch-epistemische Pra zisierungsmo glichkeiten durch weitere perzeptionsgestutzte Elemente der a uüeren Kommunikationssituation wegfallen, ist die Mo glichkeit der Wissenszuordnung zu Textelementen aber auch weniger stark gesteuert und weniger eingeschra nkt. Anders und traditioneller formuliert: Schrifttexte haben eine sta rkere Interpretationsbedu rftigkeit als mundliche Texte, sie bieten aber auch eine gro üere Interpretationsfa higkeit. Durch die sprachliche Ebenenvielfalt und Komplexita t des Textformulars ist die Mo glichkeit gegeben, daü Textproduzenten das Textverstehen (die Wissenszuordnung seitens der Rezipienten) sta rker oder weniger stark steuern bzw. eingrenzen. Sie ko nnen Wissenszuordnungen tendenziell offen lassen und somit die (epistemisch-semantische) Eigenproduktivita t der Textrezipienten anregen (so etwa bei poetischen Texten, wie gerade in der Lyrik), oder das Potential epistemischer Anschlieübarkeiten durch zusa tzliche Textelemente oder -mengen eingrenzen und damit die Eigenproduktivita t der Textrezipienten einzuschra nken versuchen. Diese Mo glichkeit der Beeinflussung des Rezeptionsresultats durch die Textproduzenten ist jedoch nur relativ zu sehen; absolut, d.h. prinzipiell gesehen kann die Wissenszuordnung zu Textelementen durch Textproduzenten nicht vollsta ndig gesteuert werden. 6.3.2 Die innere Kommunikationssituation: Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens In die innere mentale bzw. kognitive Organisation des Textverstehens haben wir prinzipiell keinen Einblick. Auch psycholinguistische Experimente ko nnen daher nicht zu einer objektiven Erkenntnis von Verstehensprozessen fuhren, da Ergebnisse von Experimenten stets nur unter der Vorgabe theoretischer Modelle auszuwerten und daher mit dem erkenntnistheoretischen Status von Hypothesen mit mehr oder weniger groüer Plausibilita t belastet sind. Aussagen uber die Struktur der "inneren Kommunikationssituation", d.h. Aussagen uber die Struktur, Organisation und Funktion von Wissen im Vorgang des Textverstehens, ko nnen daher stets nur hypothetisch und modellhaft sein. Zu einem sol- / chen wissenschaftlichen Modell des verstehensrelevanten Wissens hat man prinzipiell zwei verschiedene Zugangsmo glichkeiten: Man kann versuchen, ausgehend von einem ubergeordneten theoretischen Modell ho heren Abstraktionsniveaus ein Wissensmodell deduktiv abzuleiten (wie es etwa in der systemtheoretischen Sparte der Kommunikationstheorie gemacht wird), oder man kann heuristisch aufgrund von Plausibilita tsannahmen ein Ä Dietrich Busse 1991 140 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 172 Wissensmodell entwickeln, das dann in andere Theoriebestandteile (etwa zu Aspekten der Kommunikation, die empirisch besser, d.h. objektiver erforscht werden ko nnen) eingepaüt werden muü. (Ich scheue mich, dieses Vorgehen "induktiv" zu nennen.) Da ich aus grundsa tzlichen wissenschaftstheoretischen Erwa gungen davon ausgehe, daü auch deduktiv operierende Modellbildungen auf unterem, pha nomen-na herem Niveau (wie es die Analyse des Wissens darstellt), in ihren einzelnen konkreten Elementen letztlich auf heuristischen Entscheidungen und Plausibilita tsannahmen beruhen, verzichte ich auf den Umweg uber ein abstraktes Modell und mache meine Vorschla ge zur Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens heuristisch und allein plausibilita tsgestutzt. Daü es sich in den einzelnen Aussagen dabei nicht um grundlegend neue Erkenntnisse handelt, kann auch als Beleg fur die Plausibilita t der vorgeschlagenen Beschreibungen gewertet werden. Wir haben gesehen, daü die Kernelemente der sprachlichen Kommunikation (a uüere Kommunikationssituation) aus der Perspektive des Textrezipienten einmal der Rezipient selbst und andererseits das Textformular sind. Dabei fungiert der Textrezipient als Wissenstra ger und das Textformular als Wissensauslo ser. Im Unterschied zu anderen Elementen, welche die Funktionen eines Wissensauslo sers haben ko nnen, d.h. den Anzeichen, sind sprachliche Zeichen stets strukturiert. Bei Anzeichen hat jedes einzelne perzipierte (sinnlich wahrgenommene) Element wissensauslo sende Funktion in vollem Sinne, also bis zur Bedeutungserfullung. (Der Rauch kann anzeigen, daü ein Feuer da ist; die Bewegungsrichtung des Rauches, woher der Wind weht; der Ort des Rauches, wo etwa das Feuer ist etc.) Bei sprachlichen Zeichen kann man dies nicht ohne weiteres sagen. So ist etwa die epistemische Funktion der Differenz zwischen den zwei Elementen eines minimal-oppositiven Paares phonematischer Merkmalsbundel keine vollsta ndige Wissensaktivierung im Sinne der Bedeutungserfullung.137 Der Eigenanteil, den einzelne Elemente des in Ebenen organisierten und in sich strukturierten komplexen sprachlichen Zeichens am Verstehen eines vollsta ndigen Textformulars haben (vollsta ndig im Sinne eines eigensta ndigen kommunikativen Ereignisses oder Aktes), ist bis heute - trotz vieler Fortschritte in der Linguistik kaum aufgekla rt. (Gegenwa rtig stehen sich komponentialistische und holistische Ansa tze in ziemlich starren Fronten gegenuber.) Dies fuhrt dazu, daü beim Versuch der Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens (d.h. der "inneren Kommunikationssituation") das "Wissen uber die Regeln der Verwendung und Strukturierung von Textformularen" (vulgo "Sprachwissen") zuna chst nur als "black box" eingefuhrt werden kann, deren interne Aufkla rung auf einen spa teren Zeitpunkt verschoben werden muü. Bevor / ich dennoch den Versuch mache, wenigstens einige Kriterien der Beschreibung der inneren Struktur des Sprachwissens zu formulieren, soll zuna chst eine generelle Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens 137 Vgl. dazu die alte Diskussion in der strukturalistischen Linguistik daruber, ob Phoneme eine "Bedeutung" haben. Ä Dietrich Busse 1991 141 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 173 vorgeschlagen werden. Zum Zwecke der inneren Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens mussen zuna chst drei Koordinaten unterschieden werden: (1) Ebenen des Wissens hinsichtlich des Verstehensprozesses (formale bzw. funktionale Differenzierung) (2) Typen von Wissen, die innerhalb der Ebenen unterschieden werden ko nnen (materiale bzw. inhaltliche Differenzierung) (3) Modi des Wissens, die den epistemischen Status einzelner Wissenselemente bestimmen (modale Differenzierung) Diese Koordinaten sind ihrerseits intern differenziert, wie im folgenden wenigstens andeutungsweise ausgefuhrt werden soll. 6.3.2.1 Ebenen des verstehensrelevanten Wissens Die Notwendigkeit der Differenzierung von Ebenen des verstehensrelevanten Wissens ergibt sich aus der Perspektivik, die die aktuelle, konkrete, situations- und zeitgebundene Verstehenssituation fur den Textrezipienten hat. Dabei sind grundsa tzlich zwei verschiedene Kriterien der Ebenenbildung anzusetzen, die zu zwei verschiedenen Typen von Ebenenschichtungen des verstehensrelevanten Wissens fuhren: (A) die Zeitachse und (B) die Aufmerksamkeitsverteilung (Fokussierung). Auf der Zeitachse kann man - entsprechend dem zeitlichen Verlauf komplexerer sprachlicher Kommunikationsprozesse (gerade bei der Rezeption la ngerer Textstucke) - folgende Ebenen des Wissens unterscheiden: (1) Vorgeschichte (2) Jetztzeitpunkt des Verstehensmomentes (3) prospektive Nachgeschichte. Man kann daruber streiten, inwiefern die prospektive Nachgeschichte noch zu einem Textverstehensmodell geho rt; dies muü sich u.U. durch empirische Analysen erweisen. Von den genannten Ebenen tra gt unter wissensanalytischen Gesichtspunkten die Vorgeschichte das Hauptgewicht. Auf der Aufmerksamkeits- bzw. Interessenachse kann man je nach Aufmerksamkeitssteuerung beim Textrezipienten folgende Ebenen unterscheiden: (1) Kernfokus (Aufmerksamkeitskern bzw. Interessenkern); (2) Fur die Bedeutungserfullung des Kernfokus unmittelbar notwendiges und pra sent zu haltendes Fokusumfeld (vom Fokus und von Interessen des Rezipienten gesteuert); Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 174 (3) Relevanzbereich (d.h. notwendig zu aktivierender Ausschnitt des Weltwissens); / (4) Diskurswissen, inkl. des als selbstversta ndlich unterstellten, aber nicht explizierten paradigmatischen Wissens (d.h. regelma üig aktivierter oder aktivierbarer Ausschnitt des Weltwissens); (5) (restliches) Weltwissen (d.h. potentiell aktivierbarer Ausschnitt des Weltwissens) Ich halte diese (oder eine a hnliche) Unterscheidung von Fokus- und/oder Interessensebenen des verstehensrelevanten Wissens fur notwendig und der groberen traditionellen Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund uberlegen; diese ist bei der Erkla rung des Textverstehens weniger hilfreich, da sie zu wenig ausdifferenziert ist und u.a. eine eindeutige Definition beider Begriffe und ein Kriterium fehlt, das beides voneinander zu unterscheiden erlaubt. Wenn man sich die genannten Koordinaten der Ebenendifferenzierung des verstehensrelevanten Wissens in einem graphischen Modell vorstellen mo chte, dann kann man die Zeitebenen auf einer linearen Achse anordnen; die Fokusebenen kann man sich dann als konzentrische Kreise mit sich je nach Zeitpunkt des (zumindest zeitlich) linear ablaufenden Verstehensprozesses verschiebender inhaltlicher Ausfullung denken. Man kann sich das Verha ltnis beider Ebenentypen dann so vorstellen, daü sich die konzentrische epistemische Aufmerksamkeitsstruktur entlang der Zeitachse dem linearen Einlauf der Zeichenkette beim Textrezipienten folgend verschiebt. Eine Beziehung zwischen beiden Koordinatensystemen besteht insoweit, daü Wissenselemente der Vorgeschichte, je weiter der Jetztzeitpunkt des Verstehensereignisses von ihnen entfernt ist, auch desto mehr in die Randbereiche der Fokusachse des verstehensrelevanten Wissens rucken. Es kann jedoch durch ein neu perzipiertes Textelement ein Wissenselement, das schon in die Auüenbezirke der Aufmerksamkeitsstruktur gerutscht ist, schlagartig wieder in die zentraleren Bereiche (etwa Relevanzbereich, Fokusumfeld oder sogar Kernfokus) aufsteigen. Dieses Auf- und Absteigen entlang der Aufmerksamkeitsachse gaschieht dynamisch und zeitlich in schneller Folge. Die psychologischen Termini "Kurzzeitgeda chtnis" und "Langzeitgeda chtnis" verfehlen daher m.E. diese Dynamik; zudem haben sie den Mangel, daü sie die Wissenssteuerung nur auf der Zeitachse berucksichtigen. M.E. ist aber die inhaltlich gesteuerte Aufmerksamkeits- bzw. Fokussierungsachse wichtiger zur Erkla rung von Prozessen des Textverstehens. Daher ist wichtig, daü die Wissensfokussierung im wesentlichen durch zwei Arten von Faktoren gesteuert wird: zum einen die perzeptiv einlaufenden Elemente des Textformulars und mo gliche weitere Perzeptionsdaten der a uüeren Kommunikationssituation, und zum anderen das Interesse des Textrezipienten. Ä Dietrich Busse 1991 142 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 175 A. Die Zeitachse 1. Vorgeschichte Die "Vorgeschichte" entha lt alle Wissenselemente, die in unmittelbarer zeitlicher Na he zum Jetztzeitpunkt des Verstehensereignisses vorangegangen (d.h. aktiviert worden) sind. Als Wissensausschnitt wird die Vorgeschichte strukturiert / durch die Zeitachse (je la nger der Aktivierungsoder Einfuhrungszeitpunkt eines Wissenselementes zuruckliegt, desto mehr "verblaüt" es) und die Aufmerksamkeitsstruktur; wobei die interessengesteuerte Fokussierung in ihrer Auswirkung auf die inhaltliche Ausfullung des verstehensrelevanten Wissenssegmentes "Vorgeschichte" sta rker sein durfte als die Zeitachse. Bei schriftlicher Kommunikation entha lt die Vorgeschichte als Wissenssegment ausschlieülich solche Wissenselemente, die durch die auf der Zeitachse einlaufenden und aufeinanderfolgenden Textelemente aktiviert sind, und zwar in einer durch die Aufmerksamkeits- oder Interessenstruktur gepra gten Anordnung. (Man hat dies in der bisherigen Linguistik meist als "sprachlicher Kontext" oder "Kotext" bezeichnet.) Bei mu ndlicher Kommunikation treten solche Wissenselemente hinzu, die durch die Perzeption des unmittelbaren Vorlaufs der a uüeren Kommunikationssituation (in ihren verschiedenen sich wandelnden Stationen bzw. Ausgestaltungen) beigesteuert wurden. Dies ko nnen sein: materielle Umgebung, d.h. Ort, Gegensta nde am Ort, Geschehens- bzw. Bewegungsabla ufe am Ort usw.; personale Umgebung, d.h. vorausgehende (nichtsprachliche) Handlungen des Textproduzenten, Handlungen bzw. Bewegungen anderer Personen (einschlieülich Mimik und Gestik); von Dritten vorher gea uüerter Text; Handlungen oder Bewegungen des Textrezipienten usw. (Man kann die textuelle Vorgeschichte - gleich ob es sich um vom momentanen Textproduzenten oder um von anderen Anwesenden gea uüerten Text handelt - einmal unter textlicher und dann unter sozialer Perspektive strukturieren. Textlich gesehen kann es gleichgultig sein, wer den Text gea uüert hat; sozial gesehen ist dies aber wichtig. Wahrscheinlich spielen beide Aspekte bei der Wissenstrukturierung und -steuerung zusammen.) All diese genannten Wissensdaten der epistemischen Vorgeschichte eines Textverstehensereignisses sind naturlich selbst wiederum gedeutete Daten, d.h. Ergebnisse von Verstehens- und Interpretationsprozessen, die selbst auch wissensgesteuert sind. (Das ist z.B. wichtig fur die Deutung und epistemische Verankerung sozialer Handlungen.) Man ko nnte uberlegen, ob zur epistemischen Vorgeschichte nicht letztlich im weitesten Sinne sa mtliches sog. "Weltwissen" za hlt, das ein Textproduzent bis zum Jetztzeitpunkt des Kommunikationsereignisses erworben hat. Eine solche Auffassung wurde aber verkennen, daü die Zeitachse eine andere Dimension der Wissensbeschreibung darstellt als etwa die Aufmerksamkeitsachse, auf der wir den Begriff "Weltwissen" verortet haben. Erst beide Koordinaten zusammen ergeben ein Beschreibungsmodell, das verschiedene Wissensebenen im Hinblick auf das Textverstehen funktional zu differenzieren und zu erkla ren erlaubt. Die Unterscheidung Ä Dietrich Busse 1991 143 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 176 von Wissenstypen und von Wissensmodi, die noch erfolgen muü, bildet eine dritte und vierte Koordinate des dann vierdimensionalen Modells der Wissensbeschreibung. Ich ziehe es deshalb vor, zur epistemischen Vorgeschichte eines Kommunikationsereignisses im engeren Sinne nur den fur das Verstehen eines Textformulars oder -elementes unmittelbar notwendigen und zu aktivierenden Ausschnitt des Weltwissens zu za hlen. / 2. Jetztzeitpunkt Die Probleme, die mit der inneren Differenzierung der verstehenstheoretischen Restklasse "Weltwissen" zusammenha ngen, entstehen letztlich deshalb, weil dieser Begriff nur eine Metapher fur Wissen schlechthin darstellt, der Begriff Wissen also in den verschiedensten Zurichtungen und logisch-wissenschaftlichen Schichtungen verwendet wird, die wohl nie endgultig sauber differenziert werden ko nnen. So ist etwa schon die heuristische Unterscheidung von epistemischer "Vorgeschichte" und "Jetztzeitpunkt" des Verstehensereignisses ein relatives weil perspektivengebundenes Konstrukt. Das ha ngt mit dem logischen Problem zusammen, daü ein "Punkt" eigentlich streng genommen nicht quantifiziert und damit nicht abgegrenzt werden kann. Wie man aus der Geometrie weiü, gibt es zu jedem denkbaren Punkt noch einen (errechenbar) noch kleineren Punkt. Die Verwendung eines Begriffes wie Jetztzeitpunkt im Rahmen eines solchen Modells wie dem hier vorgeschlagenen ist also nur metaphorisch zu verstehen: relativ zu bestimmten Wissenselementen, die von einem Beschreiberstandpunkt als "jetztzeitig" oder "pra sent" oder "aktualisiert" im Moment des Verstehensereignisses eingestuft werden, ist alles andere Wissen Vorgeschichte. Streng genommen ist daher beim Verstehen eines Satzes aufgrund der zeitlich linearen Perzeption der einzelnen Zeichen einer la ngeren Zeichenkette beim Ho ren oder Lesen etwa des funften Wortes das durch das erste bis vierte Wort aktivierte Wissen schon als "Vorgeschichte" einzustufen. Von einer solchen Auffassung gehen offenbar jene Verstehenstheoretiker aus, die ich als "Prozessural-Kompositionisten" bezeichnen wurde. Satzverstehen wa re dann eine sukzessive Akkumulation einzelner Verstehensereignisse bezuglich kleinerer Satzelemente, Wort fur Wort oder sogar Morphem fur Morphem, bis die ganze Zeichenkette durchlaufen ist. Ich gestehe, daü ich mit einer solchen Auffassung gewisse Probleme habe, ohne schon ein Gegenmodell vorschlagen zu ko nnen. Man wird die na here Kla rung dieses Problems auf die Analyse des "Sprachwissens" im engeren Sinn verschieben mussen. Ich gehe jedoch von einem Textverstehensmodell aus, nach dem die semantische Grundeinheit des Sprachverstehens das vollsta ndige Kommunikationsereignis bzw. die selbsta ndige kommunikative Handlung ist; erst auf dieser Ebene kann von einer "kommunikativen Bedeutungserfullung" geredet werden. Das schlieüt naturlich nicht aus, daü nicht schon unterhalb dieser Ebene auch von einem "Textverstehen" bzw. "Verstehen in anderem Sinne" geredet werden ko nnte; anders wa re auch etwa das Verstehen von Ellipsen gar nicht zu erkla ren. In diesem Ä Dietrich Busse 1991 144 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 177 Sinne za hle ich zum "Jetztzeitpunkt des Textverstehensmomentes" all die vorangehend aktivierten epistemischen Momente, die zum "Verstehen im Sinne eines eigensta ndigen kommunikativen Aktes bzw. Teilaktes" zu rechnen sind. Relativ zu diesem Begriff von "epistemischer Jetztzeitpunkt" sind alle anderen unmittelbar verstehensrelevanten Wissenselemente zur "Vorgeschichte" zu za hlen. / 3. prospektive Nachgeschichte Zur epistemischen Differenzierungsebene der "Nachgeschichte" sind wohl vor allem epistemische Elemente im Modus der Erwartungen bzw. Unterstellungen (also hypothesenartige Elemente) zu rechnen, die uber den mo glichen und zu erwartenden Fortgang des Kommunikationsereignisses beim Textrezipienten vorliegen. Diese Erwartungen ko nnen sich einmal auf kommende, aufgrund des bisherigen Textverlaufs erwartbare Textelemente richten: Das ist etwa bei konventionalisierten Argumentationsmustern ("wenn ... dann", "sowohl ... als auch" usw.) und letztlich bei allen Konjunktionen innerhalb von Satzgrenzen oder uber diese hinaus der Fall. Das gilt aber auch fur komplexere Textmuster, die ebenfalls bis zu einem gewissen Grad konventionalisiert und daher erwartbar bzw. sogar vorhersagbar sind. Daneben hat die "Nachgeschichte" aber auch einen systematischen verstehenstheoretischen Stellenwert: Beim Verstehen der kommunikativen Grundeinheit, na mlich des eigensta ndigen kommunikativen Aktes, kann eine Sinnerwartung bezuglich der fortlaufend rezipierten Kette von Textelementen das Verstehen einzelner Teilelemente (etwa auf Morphemund Wortebene) pra gen, bevor diese Kette zeitlich abgeschlossen bzw. vollsta ndig vom Rezipienten wahrgenommen worden ist. (Das ist der Sinn von Ho rmanns Begriff der "Sinnkonstanz".138) Schlieülich gibt es eine verstehensrelevante "prospektive Nachgeschichte" auch hinsichtlich der auüertextlichen Elemente der a uüeren Kommunikationssituation: Das bezieht sich etwa auf durch den bisherigen Geschehensverlauf gestutzte bzw. nahegelegte Erwartungen hinsichtlich des weiteren Geschehensablaufs, sei es materieller Art, sei es personaler Art (etwa erwartbare Handlungen beteiligter Personen, soziale Interaktionsverla ufe usw.). Auch solche Erwartungen bzw. Unterstellungen ko nnen verstehensrelevant sein. In einem weiteren Sinne ko nnte man als "Nachgeschichte" eines aktuellen Verstehensereignisses auch den schriftlichen "Kotext" im Sinne des auf ein Wort oder einen Satz nachfolgenden Textes bezeichnen; dieser Aspekt wa re dann allerdings (wenn er sich auf mehr und anderes bezieht als die schon erwa hnten Argumentations- und Textmuster) nicht mehr Teil eines sprachpsychologischen Verstehensmodells, sondern wurde Sinn nur im Rahmen z.B. eines literaturwissenschaftlichen (z.B. hermeneutischen) Interpretationsmodells machen. 138 Vgl. Ho rmann 1976, 196 u.o . Ä Dietrich Busse 1991 145 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 178 B. Die Fokussierung auf der Aufmerksamkeits- bzw. Interessenachse Die Fokussierung des verstehensrelevanten Wissens auf ein bestimmtes aktuelles Verstehensereignis hin geho rt zu den wichtigsten Aspekten des Textverstehens. (Das kann man u.a. daran sehen, daü neuerdings die "Relevanz" zu einem Fundierungsbegriff sprachlicher Kommunikation schlechthin erkla rt worden ist.139) Da es sich bei der Differenzierung des Wissens auf der Fokusachse (wie schon bei der Zeitachse) um funktionale Beschreibungskategorien handelt, darf man auch hier nicht den Fehler begehen, sie mit den anderen Ebenen zu vermischen (wie es m.E. in der Psychologie mit dem Gebrauch von Begriffen wie / "Kurzzeitgeda chtnis" und "Langzeitgeda chtnis" geschieht). Wie schon bei der Abgrenzung der einzelnen Bereiche der Zeitachse handelt es sich auch hier bei der Abgrenzung von Wissensebenen auf der Aufmerksamkeits- oder Interessenachse nur um relative Grenzziehungen (und damit Bestimmungen der einzelnen Ebenen, die u.a. vom Beobachterstandpunkt beeinfluüt sein ko nnen). 1. Kernfokus Im Aufmerksamkeitsfokus steht das im Jetztzeitpunkt eines Verstehensereignisses aktuell perzipierte Textelement; der dadurch gebildete Aufmerksamkeitskern des verstehensrelevanten Wissens muü nicht notwendig auch ein Interessenkern sein. Die Aufmerksamkeitsfokussierung wird auf dieser Ebene der Fokusachse allein von der Notwendigkeit der Perzeption und semantischen Verarbeitung des aktuell einlaufenden Textelementes bestimmt. 2. Fokusumfeld Das fur die Bedeutungserfullung eines aktuell perzipierten Textelementes unmittelbar notwendige Fokusumfeld, welches im Verstehensmoment epistemisch pra sent sein (bzw. aktualisiert werden) muü, bestimmt sich in Relation zum jeweiligen Kernfokus. Der Aufmerksamkeitsfokus im ublichen psychologischen Sinne besteht daher aus beiden (hier nur zum Zwecke der theoretischen Veranschaulichung unterschiedenen) Ebenen zusammengenommen: Kernfokus und Fokusumfeld. Welcher (inhaltlich bestimmte) Wissenstyp das Fokusumfeld ausfullt, kann von der Art des jeweiligen, aktuell perzipierten Textelementes, aber auch vom Typ der Kommunikationssituation abha ngen. (Dasselbe gilt fur die weiteren Aufmerksamkeitsebenen.) Bei mundlicher Kommunikation kann die Perspektivierung des Ich-hier-jetzt-Koordinatenpunktes des Textrezipienten zusammen mit Elementen aus der Perzeption der a uüeren Kommunikationssituation das unmittelbare Fokusumfeld steuern. Was im jeweiligen Verstehensmoment zum engeren Fokusumfeld geho rt, wird durch das jeweilig aktuell perzipierte Textelement gesteuert. Besonders 139 Vgl. Sperber/Wilson 1986 Ä Dietrich Busse 1991 146 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 179 anschaulich ist dies z.B. bei Ausdrucken der Orts-, Personen- und Zeitdeixis. Selbstversta ndlich wirkt das "sprachliche Regelwissen" v.a. hier im Fokusbereich, da nur so das einzelne Sprachelement seine den Wissensfokus steuernde Funktion haben kann. Der Begriff Fokusumfeld ist ein funktionaler Terminus; daher za hlen naturlich nicht nur Elemente der unmittelbaren situativen Wahrnehmung zum Fokusumfeld, sondern auch thematische Wissensausschnitte, wenn es um diskursive Texte geht ("diskursiv" im Sinne des franzo sischen Diskursbegriffs, etwa bei Foucault u.a.140), oder Ausschnitte aus zuvor konstituierten Textwelten, wenn es etwa um fiktionale oder erza hlende Texte geht. Schon auf der Ebene des engsten Fokusumfeldes tritt zu der Aufmerksamkeitssteuerung des verstehensrelevanten Wissens die Steuerung durch Interessen des Textrezipienten hinzu. Man kann dies auch so formulieren, daü die epistemische Fokussierung stets auch unter einer Interessenperspektive des Textrezipienten erfolgen kann. Eine solche InteressenPerspektivierung ist mo glicherweise bei einem Fokusumfeld, das aus / Wahrnehmungsdaten einer a uüerlich gegebenen Situation besteht, weniger einschla gig als dort, wo es aus diskursivem bzw. thematischabstraktem Wissen zusammengesetzt ist. 3. Relevanzbereich A hnliches gilt fur den - etwas weiter als das unmittelbare Fokusumfeld gefaüten - Relevanzbereich, worunter ich denjenigen fur ein jeweiliges Verstehensereignis notwendig zu aktivierenden Ausschnitt aus dem Weltwissen des Textrezipienten verstehe, der nicht schon durch das unmittelbare Fokusumfeld aktiviert ist. Mo glicherweise ist es sinnvoll, den Unterschied zwischen den Fokusebenen des Relevanzvbereichs und des unmittelbaren Fokusumfeldes durch die Zuordnung zu verschiedenen Komplexita tsniveaus des Textverstehens zu erkla ren. Das unmittelbare Fokusumfeld wa re dann zuna chst auf der Ebene des Morphem- und Wortverstehens relevant, wa hrend der Relevanzbereich eher auf der Ebene des Verstehens eines abgeschlossenen vollsta ndigen Kommunikationsaktes anzusiedeln wa re. Kernfokus, Fokusumfeld und Relevanzbereich haben gemeinsam, daü sie zu den unabdingbar notwendigen epistemischen Voraussetzungen eines Textverstehens geho ren; es handelt sich bei ihnen um diejenigen epistemischen Elemente, die beim Textrezipienten unmittelbar pra sent sein bzw. aktualisiert werden mussen. Diese drei Ebenen bilden daher auch das, was in traditioneller Terminologie oft als das "Sprachverstehen" im engeren Sinne bezeichnet wurde. Zum Relevanzbereich als Ebene der Aufmerksamkeitsschichtung des verstehensrelevanten Wissens sind v.a. Elemente aus der unmittelbaren textuellen oder situativen Vorgeschichte des jeweiligen Verstehensereignisses zu rechnen (also der "Kontext" bzw. "Kotext" im herko mmlichen Sinn). Dabei ist es gleichgultig, ob diese Wissenselemente noch unmittelbar pra sent sind oder durch das jeweilige Textstuck oder 140 Vgl. dazu Busse 1987, 222 ff. und die dort angegebene Literatur. Ä Dietrich Busse 1991 147 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 180 element aktualisiert werden; wichtig ist, daü sie aktiviert werden mussen, um zu einer Bedeutungserfullung des jeweiligen Textformulars zu kommen. (Die Fullung der einzelnen Wissensebenen der Aufmerksamkeits- bzw. Fokusachse mit Wissensmaterial einzelner Wissenstypen kann nur nach eingehenden empirischen Untersuchungen einzelner Kommunikationsund/oder Texttypen, -bereiche und -formen beschrieben werden, da sie weitgehend von diesen abha ngt.) 4. Diskurswissen Mit dem (nicht sehr gegluckten) Ausdruck Diskurswissen bezeichne ich jene Wissensschichten, die in einer gegebenen Kommunikationsgemeinschaft durch einen bestimmten Textausschnitt regelma üig aktiviert werden oder regelma üig und ohne gro üere epistemische Anstrengungen aktivierbar sind. Entsprechend den Hinweisen aus der (ursprunglich aus Frankreich kommenden) Diskursanalyse (etwa bei Foucault), za hle ich dazu auch als selbstversta ndlich unterstelltes bzw. paradigmatisches oder stillschweigend vorausgesetztes Wissen. Dieser Wissensbereich ist in der linguistischen und psychologischen Verstehensanalyse bisher so gut wie gar nicht berucksichtigt worden. Da er in be- / stimmten Situationen des Textverstehens aber unmittelbar verstehensrelevante Funktion haben kann, sollte er bei der Differenzierung der verstehensrelevanten Ebenenschichtung des Wissens nicht ubergangen werden. (Zumindest ein Teil dessen, was man zu Beginn der sprachpragmatischen Forschungen, und in der Textlinguistik z.T. bis heute noch, "Pra suppositionen" genannt hat, geho rt hierher.) 5. Restliches Weltwissen Zum (restlichen) Weltwissen za hle ich all die Wissenselemente, die durch die anderen Schichten noch nicht erfaüt sind, die aber in spezifischen - oft gerade in interpretativen - Textverstehenssituationen potentiell aktivierbar sind. Dasjenige, was man in traditionellen Interpretationstheorien als "Hermeneutik" oder "Textinterpretation" im engeren Sinne bezeichnet hat, spielt sich weitgehend auf diesen Ebenen des diskursiven und Weltwissens ab. Als groüe Restklasse des potentiell verstehensrelevanten Wisens kann das Weltwissen im weiteren Sinne nur noch durch Anwendung der Klassifizierung von (inhaltlich bestimmten) Wissenstypen weiter differenziert werden. 6.3.2.2 Typen des verstehensrelevanten Wissens Wenn im folgenden der heuristische Versuch unternommen wird, in gewisser Weise "inhaltlich" bestimmte Typen verstehensrelevanten Wissens zu differenzieren, dann kann es sich dabei nur um solche Ä Dietrich Busse 1991 148 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 181 Unterscheidungen und Beschreibungen gehen, die in einer allgemeinen Theorie des Textverstehens und der Textinterpretation vorgenommen werden ko nnen; konkrete Spezifizierungen, die uber die hier unterbreiteten Vorschla ge hinausgehen, sind dann eine Sache von speziellen, auf Kommunikationsbereiche und Texttypen eingegrenzten empirischen Textbzw. Textverstehensforschungen. Aufgrund meiner Bescha ftigung mit hochspezialisierten Bereichen der Textinterpretation (etwa der institutionellen Textrezeption, z.B. in der Institution Recht), bin ich der festen U berzeugung, daü eine vollsta ndige Erkla rung und Beschreibung des Textverstehens und vor allem der Textinterpretation nur getrennt und spezifiziert nach solchen Kommunikationsbereichen und Texttypen erfolgen kann. Eine allgemeine Verstehens- und Interpretationstheorie findet da ihre naturlichen Grenzen, will sie nicht Behauptungen aufstellen, die dann doch jederzeit und schnell durch speziellere Kommunikationsforschungen - z.B. allein schon durch Heranziehung weiterer Texttypen - widerlegt werden ko nnen. Ich halte auch nicht viel davon, eine solche als allgemeingultig behauptete Texttheorie etwa damit zu rechtfertigen, daü sie sich auf einen "Grundtypus" bzw. eine "Normalform" sprachlicher Kommunikation beziehe, da ich nicht glaube, daü die Funktionsvielfalt sprachlicher Kommunikation und des Gebrauchs von Texten auf eine wie auch immer bestimmte "Normalform" reduziert werden kann. - Die folgende Differenzierung von Typen des verstehensrelevanten Wissens erfolgt (im / Unterschied zu der zuvor behandelten Differenzierung von Ebenen bzw. Schichten des Wissens, die rein funktional bestimmt ist) in gewisser Weise in "inhaltlicher" bzw. "materialer" Hinsicht. Es handelt sich also um eine weitere konkretisierende Differenzierung desjenigen Wissens, das die zuvor beschriebenen (hinsichtlich der Erkla rung des Funktionierens von Textverstehen formal-funktional differenzierten) Ebenen des Wissens ausfullt. Die Wissenstypen und die Wissensebenen stehen in einem gewissen Wechselverha ltnis derart, daü (a) nicht alle Wissenstypen auch in allen Koordinatenfeldern der mehrdimensional geschichteten Wissensebenen auftauchen, und (b) bestimmte Wissenstypen an bestimmte Koordinatenfelder fest gebunden sein ko nnen. Gleichwohl macht es m.E. Sinn, die rein funktionale Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens von einer eher inhaltlich bestimmten zu unterscheiden. Heuristisch unterscheide ich zuna chst in einer Grobgliederung folgende Typen des verstehensrelevanten Wissens, wobei die Liste nicht als abgeschlossene Aufza hlung, sondern als erga nzungsfa hig verstanden werden sollte: (1) epistemische Pra senz der Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten (mit Raum- und Zeitkoordinaten); (2) perzeptuell gestutztes Wissen uber die nicht-textuellen Bestandteile der a uüeren Kommunikationssituation, differenziert nach (a) lokaler und (b) sozialer Situation; (3) Wissen uber die Verwendungs- und Strukturierungsregeln der Textelemente ("Sprachwissen" im engeren Sinne); Ä Dietrich Busse 1991 149 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 182 (4) Wissen uber die im bisherigen Text- bzw. Kommunikationsverlauf konstituierte Textwelt bzw. Themenspezifizierung; (5) Wissen uber gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen, die kommunikativ relevant sind (z.B. uber Sprechakt-Typen, Grundtypen der Kommunikation, Kommunikationsmaximen und prinzipien etc.); (6) Wissen uber mehr oder weniger ausgepra gte und konventionalisierte Formen der Textgliederung und -strukturierung (Textmuster, Textsorten, Argumentationsmuster usw.); (7) Erfahrungswissen uber den konkreten Textproduzenten (bei perso nlicher Kommunikation) oder typisiertes Wissen uber den Typ, dem der Textproduzent (z.B. nach Status, Rolle usw.) evtl. angeho rt (Wissen dieses Typs kann auch den Status von Unterstellungen, Vermutungen, Vorurteilen haben); (8) Wissen uber alltagspraktische (nichtsprachliche) Handlungs- und Lebensformen (Lebenswelt-Wissen), einschlieülich Wissen uber Regeln des sozialen Verkehrs, das nicht schon in (5) erfaüt ist; (9) Wissen uber die sinnlich erfahrene, a uüere (materielle, d.h. nichtsoziale) Welt; (10) Diskursiv-abstraktes Wissen (etwa in und aus Philosophie, Theorie, Ideologie, Weltbildern usw.); (11) Pra senz von "Emotionalem"; / (12) Wissen uber (eigene oder gesellschaftliche) Bewertungen, Einstellungen usw.; (13) Pra senz von eigenen Absichten, Zielen, Motiven (nur beim Textproduzenten?, d.h. nicht als Faktor beim Textverstehen, sondern nur als Faktor eines vollsta ndigen Textbzw. Kommunikationsmodells?). Im folgenden gebe ich einige (notwendig a uüerst knappe) Erla uterungen zu diesen verstehens- bzw. kommunikationsrelevanten Wissenstypen. 1. Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten Die epistemische Pra senz der Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten za hlt zu den Grundvoraussetzungen sozialer Interaktion und damit auch der Kommunikation uberhaupt, da sie das Zentrum setzt, von dem aus die Koordinaten der Personal-, Temporal- und Raumdeixis bestimmt werden. Sie ist unmittelbare Verstehensvoraussetzung fur alle deiktischen Ausdrucke, die ihre aktuelle Bedeutung stets nur in Relation zu dieser Perspektive haben (ich, du, er, sie, wir, ihr, die da; jetzt, vorhin, gestern, morgen, letztes Jahr, vor einer Stunde, in einer Woche, gerade; da links/rechts, vorne/hinten, oben/unten, u ber, unter, neben usw.). Die Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten als Element der inneren (epistemischen) Kommunikationssituation muü nicht notwendig die perso nliche und aktuelle Perspektive des Rezipienten im Moment des Textverstehensereignisses sein. Das ist zwar im Grundtyp der Ä Dietrich Busse 1991 150 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 183 Kommunikation, dem mundlichen Dialog, der Fall. Bei der Rezeption fiktionaler Texte (Romane, Erza hlungen, Berichte), die eine eigene Textwelt aufbauen, welche lebensweltlichen Charakter hat, kann die Ich-hier-jetzt-Perspektive vom Textrezipienten auf eine Figur dieser Textwelt ubertragen sein (z.B. die angesprochene Person in einem fiktiven Dialog, die handelnde Person in einer Handlungserza hlung usw.). Es handelt sich also um einen Wissenstyp, der stets relativ zu einer Textwelt zu sehen ist; diese Textwelt kann, aber muü nicht, die aktuell pra sente Lebenswelt des Textrezipienten sein. Im Falle der U bernahme einer fiktionalen Perspektive tritt der Rezipient "geistig" (epistemisch) an die Stelle der erza hlten Figur, was man in der Literaturwissenschaft auch als das "Sich-Hineinversetzen in eine handelnde Person" bezeichnet. 2. Wissen u ber die a uöere Kommunikationssituation Zur Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten (ob fiktiv oder real) tritt das Wissen um die materiellen Elemente der a uüeren Kommunikationssituation hinzu (Ort, Gegensta nde am Ort, anwesende Personen, gerade ablaufende Ereignisse, Handlungen, Geschehensabla ufe usw.). Dieses Wissen ist in der mundlich-dialogischen Grundform der Kommunikation perzeptuell erworbenes Wissen. Bei der Rezeption fiktionaler Texte muü diese Situation als Textwelt textuell konstituiert werden; das geschieht nicht notwendig vor dem aktuell zu verstehenden Textausschnitt, es kann auch in oder durch das aktuelle Textstuck erfolgen. Fur solche Akte der epistemischen Einfuhrung bzw. Konstitution von Elementen fiktionaler Textwelten wurde auch der Begriff "Referenzfixierungs- / akte"141 gepra gt; zu deren Realisierung gibt es besondere sprachliche Mo glichkeiten und Mittel (z.B. Gebrauch unbestimmter statt bestimmter Artikel u.a .). 3. "Sprachwissen" im engeren Sinne Sicherlich am schwierigsten zu erkla ren und zu beschreiben (weil in sich a uüerst komplex und ausdifferenziert) ist das "Sprachwissen im engeren Sinne", d.h. das Wissen um die Verwendungsregeln und Strukturierungsregeln der sprachlichen Textelemente. Ich bin mir bewuüt, daü diese Wissenskategorie bis auf weiteres eine "black box" darstellt, in die etwa all das geho rt, was die Systemlinguistik bisher erforscht hat (soweit es aufrechterhalten werden kann). Allerdings haben bisherige Ansa tze etwa zur linguistischen Grammatik zu wenig die kommunikativen Funktionen berucksichtigt, die die einzelnen sprachlichen Elemente eines Textes haben (dies beginnt sich zum Gluck allma hlich zu a ndern). Man kann daruber streiten, ob es uberhaupt sinnvoll ist, das "sprachliche" Wissen als eigene epistemische Kategorie in ein Textverstehensmodell einzufuhren; d.h also daruber, ob eine solche Annahme nicht einen Ruckfall in (von mir oben) zuvor kritisierte Aufteilungen in hie 141 Wimmer 1979, 109 ff. Ä Dietrich Busse 1991 151 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 184 "Sprachwissen" und dort "Weltwissen" darstellt, und ob diese Annahme nicht gerade in einem Textverstehensmodell, d.h. einem Modell der Bedeutungskonstitution, zirkula r ist, da die Konstitution von Bedeutung, und damit die Konstitution von "sprachlicher Versta ndigung" schlechthin, ja gerade durch dieses Modell erkla rt werden soll. Ich glaube, daü eine solche Kritik insofern nicht ganz den Punkt trifft, als ha ufig bei der Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens allein semantisch argumentiert wird. Es ist jedoch m.E., eine feststehende Tatsache, daü es Elemente des Sprachwissens gibt, die (jedenfalls im landla ufigen Versta ndnis dieses Wortes) nicht auf "semantisches Wissen" im engeren Sinne reduziert werden ko nnen; dies gilt z.B. fur phonematisches Wissen. Zwar ist alles Sprachwissen semantisch relevant, jedoch sollte die Mo glichkeit bestehen bleiben, solche epistemischen Momente, welche den Kern von "Semantik" ("Textbedeutung") betreffen, also im weitesten Sinne referenzielles und pra dikatives Wissen, von solchem Wissen zu unterscheiden, das etwa die Strukturierung (aber auch Modi) von Textelementen betrifft. Naturlich haben auch diese Elemente "Bedeutung" im weiteren Sinne, nur verwenden wir dann den Terminus "Bedeutung" in vo llig anderem Sinne. Ich pla diere also dafur, die Grenze zwischen "Sprachwissen im engeren Sinne" und dem anderen Wissen anders zu ziehen, als dies bislang der Fall war; weder stehen sich zwei monolithische Wissensblo cke diametral gegenuber, na mlich "Sprachwissen" und "Weltwissen" als zwei grundsa tzlich verschiedene Bereiche der Episteme; noch la üt sich uberhaupt in jedem Einzelfall eine scharfe Grenze ziehen. Viele Elemente, die bislang strikt zum "Sprach-" oder "Code-Wissen" geza hlt wurden, werde ich also anderen Wissenstypen zuordnen. Es bleibt jedoch ein Kern von auf sprachliche Zeichen und ihre Strukturierung bezogenem Wissen, welches sich nicht einem der restlichen zwo lf von mir unterschiedenen Typen von Wissen zuordnen la üt, dieses (und nur dieses) Wissen nenne ich "Sprachwissen im engeren Sinne", auch wenn ich mir daruber / bewuüt bin, daü letztlich in einem weiteren Versta ndnis viele andere Formen auch als "Sprachwissen" bzw. verstehensrelevantes Wissen bezeichnet werden ko nnen. Mein Versuch einer Differenzierung von Wissensebenen, -typen und Modi dient nicht zuletzt dem Ziel, die bisherigen Sprach- und Kommunikationstheorien anhaftende Unterstellung, als seien Sprachwissen und Weltwissen zwei reinlich scheidbare Bezirke, zu uberwinden, um zu zeigen, daü Wissen in reichhaltigster Form sprachund kommunikationsrelevant sein kann, das in traditionellen linguistischen Theorien gerne aus dieser Wissenschaft herauszuhalten versucht wurde. Zum sprachlichen Wissen im engeren Sinne za hlt vor allem: - phonetisches Wissen - phonologisches Wissen - graphematisches Wissen - morphologisches Wissen - Wortarten-Wissen - syntaktisches Wissen Ä Dietrich Busse 1991 152 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 185 - referenzielles Wissen Es handelt sich dabei naturlich nicht um streng abgegrenzte Bereiche, sondern um Aspekte des Wissens, die miteinander verflochten sind. So ist z.B. das Wortarten-Wissen eng mit dem syntaktischen Wissen verflochten, da es Typen sprachlicher Zeichen gibt, die bei identischer Lautgestalt je nach syntaktischer Position verschiedenen Wortarten angeho ren ko nnen (z.B. den Partikeln oder den Konjunktionen). Dennoch macht es Sinn, so etwas wie Wortarten-Wissen anzunehmen, da fur einige Wortarten eindeutige Strukturmerkmale gegeben sind (Flexionsparadigmen), die das Erkennen der jeweiligen Wortart auslo sen oder zumindest stutzen. Es fa llt vielleicht auf, daü in der obigen Liste weder ein "semantisches Wissen" noch ein "pragmatisches Wissen" auftaucht. Ich rede im Zusammenhang mit dem "Sprachwissen im engeren Sinne" bewuüt nicht von "semantischem" Wissen als einem eigensta ndigen Wissenssegment, da Semantik, d.h. die Konstitution von Bedeutung, ja dasjenige ist, dem sa mtliche sprachlichen und kommunikativen Mittel dienen; in einem Textmodell oder Textverstehensmodell ist Semantik, d.h. das Zustandekommen von Textverstehen, zudem dasjenige, was das ganze Modell erkla ren soll. Letztlich sind alle hier beschriebenen textuellen und epistemische Funktionen der Semantik untergeordnet. (Daher ist auch die in der traditionellen Linguistik ubliche Einreihung der Semantik und Pragmatik neben die Phonologie, Morphologie und Syntax so unsinnig.) Vieles von dem, was traditionell als semantisches oder BedeutungsWissen bezeichnet wird, ist in dem von mir verwendeten Begriff des referenziellen Wissens enthalten. Referenzielles Wissen, d.h. Wissen uber die Beziehbarkeit von sprachlichen Zeichen auf Objekte und Ereignisse (sei es der realen Welt oder einer Textwelt) ist ein wichtiger Teil des verstehensrelevanten Wissens, der zur Konstitution von Textbedeutung beitra gt, aber er fullt das semantische Wissen eben nicht aus. Dies kann man an bestimmten Wortarten, wie etwa den Konjunktionen sehen; diese haben Bedeutung, aber keine referenzielle, sondern / eine syntaktische Bedeutung. Daher kann man Bedeutung nicht auf Referenz reduzieren. Im weitesten Sinne ist unter semantischem Wissen das gesamte verstehensrelevante Wissen zu verstehen, da es keinen Sinn macht, die Funktion, die sprachliche Ausdrucksseiten im Rahmen epistemischer Prozesse (wie sie das Textverstehen darstellt) ausfullen, als abgegrenzten Teilbereich neben die anderen Aspekte des Kommunikationsvorganges zu stellen. Wa hrend man beim phonetischen, phonologischen und graphematischen Wissen noch daruber streiten kann, ob man hier von "Bedeutung" reden soll, ist dies beim morphologischen Wissen unstreitig. So haben z.B. die Morpheme der Verbalflexion personendeiktische Bedeutung (auch wenn sie diese meist nicht alleine, sondern in Kongruenz mit anderen Wortarten ausdrucken); aus Pra positionen abgeleitete Pra und Infixe haben ha ufig noch raum- oder zeitdeiktische Bedeutung. Ebenfalls entha lt das Wissen uber die Wortarten semantisches Wissen (so etwa der Unterschied zwischen Adjektiv und Partikel bei "schon", "ruhig" etc. in Sa tzen wie "Du bist ja schon blod" vs. "Das Bild ist schon" oder "Das Ä Dietrich Busse 1991 153 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 186 kannst du mir ruhig sagen" vs. "Es war gestern ganz ruhig" usw.). Daüdas syntaktische Wissen immer auch semantisches Wissen ist, braucht wohl nicht eigens begrundet zu werden. Das referenzielle Wissen entha lt, wie gesagt, den Groüteil dessen, was traditionell als semantisches Wissen bezeichnet wurde. Innerhalb der Beschreibung der im engeren Sinne "sprachlichen" Wissenstypen hat die Rede vom referenziellen Wissen vor allem den Sinn, eine Funktion einzelner Sprachelemente zu benennen. Alle Sprachelemente, die nicht allein syntaktische Bedeutung haben, haben auch (d.h. zu einer syntaktischen Bedeutung hinzutretend) referenzielle Bedeutung. Der Begriff der Referenz ist naturlich ein Relationsbegriff. Prototypisch fur die referenzielle Funktion sind zuna chst alle Substantive bzw. Nomen, meist werden Adjektive und (echte) Adverbien dazugerechnet (also alle traditionell als "Autosemantika" bezeichneten Wortarten, im Gegensatz zu den "Synsemantika" mit allein syntaktischer Bedeutung); sie haben die Funktion, auf jeweils bestimmte Wissenselemente aus dem restlichen vestehensrelevanten Wissen zu verweisen. Die Bedeutung solcher Ausdrucke besteht in der Relation zwischen der sprachlichen Ausdrucksseite (Lautfolge, Schriftzeichenfolge) und einem Wissensausschnitt. Referenziell verwiesen werden kann auf so gut wie alle Wissenselemente, die es in der Wissenswelt eines Individuums geben kann: Personen, Gegensta nde, Sachverhalte, Ereignisse, Eigenschaften, Handlungen, Typen, Ideen, Theorien, Wissenskomplexe etc. (Es macht wenig Sinn, hier eine abschlieüende Aufza hlung und Differenzierung vornehmen zu wollen, da dies dem aussichslosen Versuch einer Klassifizierung der gesamten Welt gleichka me.) Eine referenzielle Funktion im weiteren Sinne haben aber z.B. auch bestimmte Partikel, die auf einzelne Wissensmodi und epistemische Einstellungen des Textproduzenten verweisen. Ich habe die semantische Funktion aller sprachlichen Zeichen als das Herstellen einer epistemischen Relation zwischen Zeichenausdruck und einzelnen Elementen des verstehensrelevanten Wissens der Kommunikationspartner / bezeichnet. Wie kann die hier beschriebene Referenzfunktion bestimmter Zeichentypen von der Relationsfunktion aller Zeichen (die ja schon Saussure in seinem zweiseitigen Zeichenmodell zugrundegelegt hat) abgegrenzt werden? Eine Antwort auf diese Frage kann wohl nur unter Heranziehung erkenntnistheoretischer Aspekte gegeben werden. An dieser Stelle kann ich dazu nur soviel ausfuhren: Mit dem in unseren Sprachen vorgegebenen Kategoriensystem (dessen Universalita t oder Relativita t hier nicht diskutiert werden kann) gliedern wir die Welt in Gegensta nde, Eigenschaften, Ereignisse usw., d.h. in einzelne Entita ten, welche sozusagen die Knotenpunkte unseres Weltwissens bilden. In traditionalistischer Redeweise werden diese Entita ten - hinsichtlich ihrer sprachlichen bzw. kommunikativen Funktion - meist als "Begriffe" bzw. "Konzepte" bezeichnet (so noch in der neuesten Psycholinguistik und KI-Forschung). Der Status von "Begriffen" ist jedoch theoretisch ho chst ungekla rt und wirft - gerade auch in Abgrenzung zu den "Dingen der realen Ä Dietrich Busse 1991 154 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 187 Welt", den "auüersprachlichen Gegensta nden" etc. - komplizierte erkenntnistheoretische Fragen auf. Fest steht aber, daü wir auf solche Elemente unseres Wissens (gleich ob sie wahrnehmungsgestutzt sind oder rein textintern oder fiktional, als Elemente einer Textwelt eingefuhrt sind) mittels sprachlicher A uüerungen explizit oder implizit verweisen ko nnen; wir fuhren dann (wie von Polenz hervorgehoben hat142) die sprachlichkommunikative Teilhandlung des "Bezugnehmens/Referierens" aus. Diese sprachliche Teilhandlung des kommunikativen Herstellens einer Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrucksmitteln und Elementen des verstehensrelevanten Weltwissens ruht nun auf der bei jedem sprachlichen Zeichen anzusetzenden Relation zwischen Zeichenausdrucksseiten und Wissenssegmenten auf. Als "nicht-referenziell" (im Sinne einer vollsta ndigen kommunikativen Referenzhandlung) kann die fundamentale Zeichenrelation dann bezeichnet werden, wenn sie der Aktualisierung von eher sprachfunktionalem Wissen dient (etwa syntaktisches StrukturierungsWissen, Wortarten-Wissen u.a .). Aber auch Relationen, die zwischen den Ausdrucksseiten etwa von Nomen oder Adjektiven und zugeho rigen Wissenssegmenten als Grundlage des Textverstehens hergestellt werden mussen, sind noch keine "Referenzhandlungen" im vollen Sinne, da sie nur typisiertes Wissen aktualisieren, das dann durch Verstehen der vollsta ndigen kommunikativen Handlung konkretisiert und spezifiziert werden muü. Erst auf der Ebene einer vollsta ndigen kommunikativen Handlung kann man daher von "Referenz" im Sinne einer Handlung der kommunikativen Bezugnahme auf Elemente einer Textwelt (oder auüersprachlichen Welt) sprechen. Das Wissen uber die Relationierbarkeit von Zeichenausdrucksseiten zu epistemischen Elementen ist dann die Voraussetzung dafur, eine konkrete Textwelt konstituieren zu ko nnen und dann auf ihre Elemente (mittels der Handlung des Bezugnehmens) zu verweisen. Der Unterschied zwischen der fundamentalen Zeichenrelation und der Referenz in vollem Sinne liegt also darin, daü man Bezugnehmen als (kommunikative) Handlung rekonstruieren kann, wa hrend das zugrundeliegende Wissen uber die Relation zwischen Zei- / chenausdrucken und Wissenselementen die Basis und Voraussetzung dafur bildet, uberhaupt solche Referenzhandlungen ausfuhren zu ko nnen. Das Funktionieren von sprachlichem Relationierungswissen (d.h. uber Relationen von Zeichenausdrucken zu epistemischen Elementen) kann nicht als Handlung konzipiert werden; hier lag der Fehler der aktivistischen Verstehenskonzepte in der Psycholinguistik. Zeichenwissen stellt sich (weitgehend "automatisch") ein, kann aber nicht aktiv hergestellt werden (auüer in Situationen des Sprachlehrens). Wissen uber die (konventionalisierten) Relationen zwischen Zeichenausdrucken und epistemischen Momenten muü bei allen Typen von Sprachzeichen gegeben sein; referenzielles Wissen im engeren Sinne (einer kommunikativen Handlung des Bezugnehmens) wird nur bei bestimmten Zeichentypen verstehensrelevant, d.h. bei solchen Zeichentypen, die auf 142 von Polenz 1985, 116 ff. Ä Dietrich Busse 1991 155 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 188 Elemente unserer "Welt" verweisen, die wir (in unserem jeweiligen - die Grundlage unserer Welterkenntnis und -Konstitution bildenden Kategoriensystem) als eigensta ndige Objekte, Dinge, Eigenschaften usw. unseres Weltbildes zugelassen haben. Andere Wissenselemente, die nicht diesen erkenntnistheoretischen Status (der "Begriffe", "Konzepte" oder wie auch immer) haben, bilden die Voraussetzung dafur, solche Referenzhandlungen im vollen Sinne uberhaupt ausfuhren zu ko nnen. Nur in dieser Hinsicht ist es sinnvoll, fur bestimmte sprachliche Zeichentypen so etwas wie ein "rein innersprachliches Wissen" anzunehmen (etwa fur Synsemantika, aber auch dort nicht fur alle Wortarten, die traditionell unter diesem Begriff gefaüt wurden). Innerhalb der Referenzfunktion kann man zwei Typen von Referenz unterscheiden: Eine textinterne Referenz (Textphorik), die fur die Herstellung von Textkoha renz von groüer Bedeutung ist; und die textexterne Referenz, d.h. die Bezugnahme auf textexterne Wissenselemente. Was jeweils das konkrete Referenzobjekt eines Textelementes ist (also welcher Wissensausschnitt, bzw. traditionell: welche "Bedeutung"), ha ngt von der gesamten epistemischen Konstellation einer Textverstehenssituation ab. (Sei sie selbst textkonstituiert, wie es bei fiktionalen und berichtenden Texten der Fall ist, oder sei sie textextern, also sinnlich wahrnehmbar, gegeben.) Es wa re daher falsch, die Semantik von Textelementen allein auf die hier auf das Sprachwissen reduzierte Referenzfunktion zu reduzieren. Die Rede vom referenziellen Wissen eines Textrezipienten als Teil seines Wissens von den Verwendungsregeln der Sprachzeichen im engeren Sinne besagt dann etwa folgendes: Ein Textrezipient weiü in einer a uüeren und inneren Kommunikationssituation x, auf welche Wissenselemente ein Ausdruck y des Textformulars in dieser (und nur in dieser) epistemischen Konstellation aktuell verweist. Generelles Typwissen uber die Verwendungsmo glichkeiten der einzelnen sprachlichen Zeichen wird also durch die aktuelle epistemische Situierung des Textformulars "disambiguiert" bzw. konkretisiert und singularisiert. Mit diesen wenigen Bemerkungen zum "sprachlichen Wissen im engeren Sinne" muüich es an dieser Stelle bewenden lassen. / 4. Wissen u ber die Textwelt und Themenspezifizierung Zum Wissen uber die im bisherigen Text- bzw. Kommunikationsverlauf konstituierte Textwelt bzw. die Themenspezifizierung za hlt sowohl das, was in der Linguistik gelegentlich als Kotext (d.h. der ein Textelement umgebende Text) oder allgemeiner als Kontext (ideeller, epistemischer Art) bezeichnet wird. Ich unterscheide Textwelt und Themenspezifizierung, da ich zur Welt im engeren Sinne nur Geschehens- und Handlungsabla ufe rechnen mo chte, seien sie nun rein textintern (z.B. fiktional) konstituiert, seien sie textextern gegeben (also perzeptuell konstituiert). Alle anderen textkonstituierten Wissensansammlungen, z.B. philosophische, wissenschaftliche, ideologische, ideelle, d.h. alle abstrakten Textinhalte nenne ich (in Relation zum Textverstehensereignis) Themenbereich bzw. Themenspezifizierung. Es handelt sich bei diesem Wissenstyp also um die Ä Dietrich Busse 1991 156 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 189 gesamten im bisherigen Text- bzw. Kommunikationsverlauf aktualisierten Textbedeutungen. 5. Wissen u ber soziale Handlungs- und Interaktionsformen Zum kommunikationsrelevanten Wissen uber gesellschaftliche Handlungsund Interaktionsformen za hle ich z.B. die Sprechakt-Typen im engeren Sinne (Illokutionstypen), aber auch Grundtypen von Kommunikationssituationen, wie sie etwa in der Gespra chsanalyse untersucht werden ("Begru öung", "Anordnung", "Belehrung" usw.). Schlieülich geho ren dazu alle Grundprinzipien der Kommunikation, wie etwa die Grice'schen Konversationsmaximen, da sie unmittelbare verstehensrelevante und bedeutungskonstitutive Funktion haben ko nnen (wie die Diskussion uber alle Formen "ubertragener Bedeutung", wie indirekte Sprechakte, Ironie, Metaphern usw. zeigt). Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 190 6. Wissen u ber Vertextungsmuster Das Wissen uber gesellschaftlich konventionalisierte Formen der Textgliederung und -strukturierung (Vertextungsmuster) ist bisher in der Linguistik noch kaum untersucht; so existiert keine auch nur einigermaüen umfassende Textsortentypologie, und auch eine zureichende Stilformendifferenzierung ist erst in Ansa tzen erkennbar. Auch Argumentationsmuster za hlen zu diesem Wissenstyp. Es scheint mir jedoch festzustehen, daü das intuitive (gesellschaftsspezifische, z.B. nach Kommunikationsbereichen differenzierte) Wissen um solche Textmuster und Stilsorten erhebliche verstehensrelevante Funktion haben kann. Gerade auch in interpretationstheoretischer Hinsicht ko nnen solche Vertextungsmuster eine wichtige interpretationsstutzende Funktion haben. 7. (Erfahrungs-)Wissen u ber den Textproduzenten Ein wichtiger verstehensrelevanter Wissenstyp ist das perso nlich erworbene Erfahrungswissen, das ein Textrezipient von einem Textproduzenten haben kann. Dazu geho rt zuna chst als wichtigstes kommunikationssicherndes Element (v.a. bei mundlicher Kommunikation, aber auch bei fiktionalen oder berichteten Dialogen) das Wissen um die konkrete Ich-hier-jetzt-Perspektive des Text- / produzenten (bzw. bei fiktionalen Dialogen: der "sprechenden" Figur). Dies ist wichtig, da gerade in der Alltagskommunikation Textproduzenten ha ufig vergessen, ihre A uüerungen sprachlich an die Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten anzupassen (das gilt v.a. fur die lokale Perspektive). Das Wissen uber den Textproduzenten bezieht sich daruber hinaus auf bisherige Verhaltens- und Handlungsweisen des Textproduzenten, betrifft aber auch sa mtlichen bisher von diesem Textproduzenten gegenuber dem Textrezipienten gea uüerten Text. Durch die gemeinsame Lebens-, Handlungs- oder Kommunikationsgeschichte erwirbt der Textrezipient ein u.U. umfangreiches und ausdifferenziertes Wissen uber die Episteme des Textproduzenten, d.h. uber dessen Weltwissen, Orientierungen, Themeninteressen, Bewertungen, Einstellungen, Erfahrungen usw. Dieses Wissen des Textrezipienten uber den Textproduzenten hat ganz erhebliche verstehensermo glichende Bedeutung - zumindest in der perso nlichen Kommunikation. Dem perso nlich erworbenen Erfahrungswissen des Textrezipienten uber einen konkreten einzelnen (singularisierten) Textproduzenten funktional gleichgestellt ist das typisierte Wissen, das ein Textrezipient uber einen bestimmten Typ hat, dem der Textproduzent angeho rt (z.B. Angeho riger einer gesellschaftlichen Gruppe, Schicht, Berufs- oder Funktionsklasse, Rollentyp usw.). Typisiertes Wissen uber Textproduzenten ist ha ufig im Modus der Unterstellung/Antizipation gegeben, oder gar als Vermutungen, Vorurteile etc., soweit es nicht eine aktuell perzipierbare gesellschaftliche Rolle des Textproduzenten betrifft. Wo noch nicht einmal solche Typisierungen anzusetzen sind, ist das "Wissen uber den Textproduzenten" lediglich eine uber das Grundprinzip der "Vertauschbarkeit der Standpunkte" gegebene Unterstellung des Ä Dietrich Busse 1991 157 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) Textrezipienten, der dem Textproduzenten all das Einstellungen etc. unterstellt, uber das er selbst verfugt. an 191 Wissen, 8. Wissen u ber alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen Zum Wissen uber die alltagspraktischen Handlungs- und Lebenformen in einer Gesellschaft, einschlieülich des Wissens uber solche Regeln der sozialen Interaktion, die nicht schon als Teil des kommunikativen Handlungswissens (5) erfaüt sind, rechne ich das gesamte Wissen uber die sog. "Lebenswelt", soweit es soziale Verha ltnisse betrifft. Dazu geho ren die sog. "scenes", "schemes", "skripts" und "frames" (Handlungsrahmen, Wissensrahmen), wie sie in der Textlinguistik beschrieben wurden (z.B. "Bahnfahren", "Restaurantbesuch", "Party" usw.). Karl Buhler hatte sie als "sympraktische Umfelder" des Sprechens bezeichnet143; bei Wittgenstein figurierten sie (bzw. ihr auüersprachlicher Teil) als "Sprachspiele".144 9. Wissen u ber die sinnlich erfahrbare a uöere Welt Zu diesem Wissenstyp geho rt das gesamte Wissen uber die nicht-soziale Lebenswelt, also sa mtliches aufgrund perso nlicher perzeptueller Erfahrung erworbene Wissen uber die physische Dingwelt. / 10. Diskursiv-abstraktes Wissen Von den beiden letzten Wissenstypen (8 und 9) mo chte ich schlieülich das "diskursiv-abstrakte" Wissen unterscheiden. Dazu za hle ich alles rein ideelle, philosophische, wissenschaftliche, theologische, ideologische, weltbildbezogene usw. Wissen, das nicht auf unmittelbarer eigener sozialer oder perzeptueller Erfahrung des Textrezipienten beruht, sondern rein diskursiv, d.h. uber textuelle sprachliche Kommunikation konstituiert und erworben wurde. Im weitesten Sinne za hlt zu diesem Wissenstyp alles, was als nicht-erfahrungsweltliches "Thema" einer Kommunikation bzw. eines Textes fungieren kann. 11. Pra senz von Emotionalem Schlieülich ist die Pra senz von eigenen Emotionen und das Wissen uber Emotionen anderer (einschlieülich des Textproduzenten) zu den wichtigen verstehensrelevanten Voraussetzungen der inneren Kommunikationssituation zu za hlen, auch wenn es aus Grunden der traditionellen Terminologie uber "innere Zusta nde" schwerfa llt, diesen Faktorentyp "Wissen" im engeren Sinne zu nennen. ("Wissen" und "Fu hlen" wurden - bis in die heutige Psychologie hinein - meist als Gegensatz behandelt.) 143 Buhler 1934, 154 ff. 144 Wittgenstein 1971, Ö 7 u.o . Ä Dietrich Busse 1991 158 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 192 12. Wissen u ber Bewertungen und Einstellungen In diesem Kontext muü auch die Pra senz von eigenen oder das Wissen uber gesellschaftliche oder beim Textproduzenten unterstellte Bewertungen Einstellungen, epistemische Modi usw. als wichtiger Typ verstehensrelevanter Faktoren der inneren Kommunikationssituation genannt werden. (In der Linguistik wurden diese oft als "Konnotationen", "Nebensinn" oder "Gefuhlswert" der Wo rter bezeichnet.) 13. Pra senz von Absichten, Zielen, Motiven Die Pra senz von eigenen Absichten, Zielen und Motiven geho rt wohl eher auf der Seite des Textproduzenten zu den Bedingungsfaktoren der Kommunikation. Auch ist fraglich, ob man sie als "epistemische" Faktoren im engeren Sinne bezeichnen kann. Auf Seiten des Textrezipienten sind sie mo glicherweise eher als Ergebnis von Textverstehen relevant, insofern dieser erst danach uber Absichten etc. des Textproduzenten informiert ist (bzw. ihm solche unterstellt). Gelegentlich kann aber die Unterstellung bestimmter Absichten, Motive, Ziele des Textproduzenten durch den Textrezipienten in den Verstehensvorgang schon vor Abschluü des Verstehens einer vollsta ndigen kommunikativen Handlung intervenieren. Motiv-Verstehen ist schlieülich wichtig fur viele Formen der als "pragmatisch" bezeichneten Bedeutungsbestandteile kommunikativer A uüerungen (also "Sprechakte" bzw. "Illokutionen" wie "versprechen", "befehlen" etc.). / 6.3.2.3 Modi des verstehensrelevanten Wissens Als dritte Form der analytischen Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens ist schlieülich noch die Unterscheidung verschiedener Modi des Wissens zu behandeln. Man kann daruber streiten, ob deren Differenzierung noch zu einem Textverstehensmodell im engeren Sinne geho rt oder ob es sich eher um philosophische Unterscheidungen handelt. Da es aber einen Typ von sprachlichen Zeichen gibt, deren semantische Funktion nicht ohne Bezug auf solche Wissensmodi erkla rt werden kann (na mlich die sogenannten "Modalwo rter", "Einstellungspartikel" oder "einstellungsregulierende Partikel"145), glaube ich, daües sinnvoll ist, diese auch in einem Textmodell zu unterscheiden. (Auch die Unterscheidung von Wissensmodi kann nur heuristisch erfolgen. Gerade die philosophische Debatte uber die Frage, was "Gewiüheit" und "Wissen" eigentlich ist146, hat gezeigt, daü Grade der Gewiüheit eine Frage der Sprachspiele sein ko nnen, in denen wir uber unser Wissen reden.) Ich mo chte folgende Modi des verstehensrelevanten Wissens unterscheiden: 145 Vgl. Bublitz 1978 146 Vgl. Wittgenstein 1970 Ä Dietrich Busse 1991 159 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 193 (1) Aufgrund eigener sinnlicher Anschauung und lebenspraktischer Erfahrung Gewuütes. (2) Aufgrund diskursiv vermittelter, aber vom Individuum als eigene akzeptierte, von anderen ubernommene Erfahrung, die als wahr akzeptiert wird. (3) Im geltenden, vom Individuum akzeptierten bzw. den Rahmen seines epistemischen Daseins abgebenden Paradigma (Weltbild, Diskurs) als selbstversta ndlich unterstelltes, stillschweigend vorausgesetztes, meist unexpliziertes, aber prinzipiell explizierbares Wissen. (4) Unterstellungen bzw. Antizipationen bezuglich der Interaktions- und Kommunikationspartner. (5) Vermutetes, fur wahrscheinlich Gehaltenes. (6) Fur mo glich Gehaltenes. (7) Fur unwahrscheinlich Gehaltenes. (8) Fur unmo glich, falsch, nicht-gegeben Gehaltenes. Die Modi (1) bis (3) bilden die Modi der Gewiüheit (sowohl subjektiver, als auch diskursiv-paradigmatisch vermittelter Gewiüheit). Ich werde diese Modi des verstehensrelevanten Wissens, uber diesen ersten Versuch einer Unterscheidung hinaus, nicht weiter erla utern. Die Haltbarkeit der vorgeschlagenen Klassifikation ha ngt auch davon ab, ob in der Analyse von Textmaterial Anhaltspunkte gefunden werden ko nnen, die sie rechtfertigen. 6.3.3 Linguistische Aspekte des Textverstehens Im folgenden werde ich einige Bemerkungen und Erla uterungen zu dem vorangehenden Modell der Situation der Textkommunikation bzw. des Textverstehens geben und einige Schluüfolgerungen daraus fur ein linguistisches Modell / des Textverstehens und der Textinterpretation ziehen. Grundsa tzlich ist ein linguistisches Modell des Textverstehens mit der Nennung und Differenzierung aller relevanten Elemente und Aspekte der Textrezeptionssituation nahezu vollsta ndig. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man (wie ich im Rahmen dieses Buches zu den linguistischen Grundlagen der Textinterpretation) nicht die Absicht hat, Textverstehen auf datenverarbeitenden Maschinen modellhaft nachzuspielen. In diesem Sinne ist das Modell als Versuch einer Beschra nkung auf linguistisch relevante Aspekte des Textverstehens aufzufassen. Einige Erla uterungen sollen den Charakter des vorgestellten Entwurfs und seiner Elemente pra zisieren: (1) Zu den prozeduralen Modellen des Textverstehens (von denen sich der vorgeschlagene Ansatz unterscheidet) sind u.a. alle Ansa tze zu za hlen, die Verstehen konstruktivistisch oder aktivistisch als eine Art zeitlich Ä Dietrich Busse 1991 160 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 194 ablaufenden, Textbedeutung sukzessive akkumulierenden Prozeüoder gar eine Art Handlung (Aktivita t) der Textrezipienten sehen wollen. Gegenuber solchen (aus anderen Forschungs- oder Anwendungsinteressen motivierten) Ansa tzen verstehe ich meine vorangegangenen U berlegungen zu einem linguistischen Modell des Textverstehens als nicht-aktivistisch, nicht-konstruktivistisch und nicht-prozedural, sondern als analytischaspektuell. Vergleichbar mit Ansa tzen der analytischen Sprachtheorie geht es mir darum, eine mo glichst vollsta ndige Beschreibung der Bedingungen und Voraussetzungen zu geben, die fur ein Kommunikationsereignis (bzw. ein Textverstehen) gegeben sein mussen, und die daher in einer Theorie des Textverstehens zu berucksichtigen sind. (2) Ich verwende bei der Beschreibung des Modells den Ausdruck "perzeptuell" technisch, d.h. fur alle beim Textrezipienten einlaufenden Perzeptionsdaten, die nicht Teil der Perzeption des Textformulars im engeren Sinne (also der Laut- oder Graphemkette) sind; selbstversta ndlich mussen auch die Sprachzeichen selbst erst perzipiert, d.h. sinnlich (auditiv oder optisch) wahrgenommen werden, damit sie ihre kommunikative Funktion erfullen ko nnen. Perzeption von Zeichenausdrucksseiten und Textverstehen stehen dabei insofern in einem gewissen Wechselverha ltnis, als vom Textrezipienten aufgebaute Sinnerwartungen gegenuber dem Fortlauf des linearen Textes die Perzeption der Zeichenausdrucke steuern bzw. korrigieren kann (was bei fehlerhaften oder unvollsta ndig wahrgenommenen Laut- oder Schriftzeichenketten wichtig werden kann). (3) Mein Ansatz der Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens ist nicht-konstruktivistisch und nicht-repra sentationistisch. Er entscheidet nicht, in welchem Verha ltnis das verstehensrelevante Wissen eines Textrezipienten zu seiner Umwelt steht, da dies eine Frage der Erkenntnistheorie ist, die fur Zwecke eines Textverstehensmodells nicht endgultig gelo st werden muü. Es gibt jedoch gute Grunde fur die Annahme, daü im Textverstehen und in der Wissensorganisation konstruktivistische und repra sentationistische Momente zusammenkommen, so daü Wissen/Erkennen nie nur subjektivistisch konstruiert und nie nur unaufbereitete Repra sentation von auüerhalb des Textrezipienten in ihrer inneren Gestalt schon vorgegebenen Perzeptionsdaten ist. Auch die / Rezeption von Elementen der a uüeren Kommunikationssituation (Ereignisse, Gegensta nde, Personen, Handlungen, soziale Beziehungen usw.) ist "gefiltert" durch ein Verstehen. D.h. etwas wird als etwas (aufgrund eigenen Wissens) gedeutet. Dies wirkt sich u.a. bei Handlungen und sozialen Interaktionen aus, die zur Perzeption und epistemischen Verankerung einer verstehenden Deutung bedurfen. Insofern gilt alles, was hier hinsichtlich der epistemischen Situierung des Textverstehens ausgefuhrt wurde, in a hnlicher Weise auch fur das Handlungs- und Umwelt-Verstehen. (4) Ich vermeide bewuüt, eine Unterscheidung in "sprachlichen" und "auüersprachlichen" Kontext/Situation vorzunehmen. Eine solche Unterscheidung wurde die Mo glichkeit einer pra zisen Definition und Grenzziehung der Verwendung des Begriffs "Sprache" voraussetzen, was Ä Dietrich Busse 1991 161 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 195 aber m.E. gerade im semantischen/epistemischen Bereich unmo glich sein durfte. Die von mir vorgenommene Unterscheidung von Textperzeption und Perzeption auüertextlicher Situationsdaten vermeidet die Unwa gbarkeiten einer Sprachdefinition und ist abstrakter, als es etwa Unterscheidungen zwischen (sprachlichem) "Kotext" und (auüersprachlicher) "Szene" sind. Textelemente mit unmittelbar auf die a uüere Perzeptionssituation bezogener deiktischer Funktion etwa sind weder nur sprachlich, noch nur nicht-sprachlich erkla rbar; ihre Funktion ergibt sich gerade erst aus dem Zusammenwirken beider Faktoren. Werden solche Zeichen-Perzeptionsdaten-Zuordnungen als "Vorgeschichte" weiterer Textverstehensereignisse im Wissen gespeichert, so kann man dieses Wissen nicht auf den "sprachlichen Kontext" reduzieren, da die "nichtsprachliche" Perzeption der "Szene" mindestens ebenso stark auf das Entstehen dieses Wissenselementes eingewirkt hat. (5) Das Modell hat einige Scho nheitsfehler. So taucht etwa das Wort "Diskurs" oder "diskursiv" an mehreren, systematisch unterschiedenen Stellen des Modells gleichzeitig auf (so etwa in der Aufmerksamkeitsachse der Wissensebenen, bei den Wissenstypen und bei den Wissensmodi). Das liegt wohl daran, daü der Begriff "Diskurs" (im Sinne der franzo sisch inspirierten Diskursanalyse etwa von Foucault, Pecheux u.a.) sehr umfassend ist und fur mehrere Aspekte sprachlicher bzw. textueller Kommunikation verwendet wird, die bislang noch kaum linguistisch pra zisiert sind. Die Verwendbarkeit des Diskursbegriffs fur eine linguistische Text- und Interpretationstheorie ist bislang innerhalb des Faches noch kaum diskutiert worden.147 Da die Diskursanalyse gerade Foucaults wohl am ehesten als Teil einer umfassenden Epistemologie verstanden werden kann, ist es vielleicht kein Zufall, daü einiger ihrer Aspekte in unserem Modell des verstehensrelevanten Wissens auf verschiedenen Ebenen wiederkehren. (6) Verschiedene gesellschaftliche Kommunikationsformen erfullen die Merkmale des hier als Grundmodell formulierten Beschreibungsansatzes des Textverstehens in unterschiedlicher Weise und Vollsta ndigkeit; sie mussen daher jeweils nicht notwendig uber alle Elemente des Modells verfugen. Die Differenz verschiedener Textgebrauchsformen kann z.T. wohl sogar durch die un- / terschiedliche Ausfullung mit Elementen der a uüeren und inneren Kommunikationssituation charakterisiert sein. Dies gilt in naheliegender Weise naturlich vor allem fur die Ausfullung mit den verschiedenen Ebenen, Typen und Modi des verstehensrelevanten Wissens, d.h. die je unterschiedliche Form der epistemischen Situierung eines Textformulars bzw. eines Textverstehensereignisses. So ist etwa die epistemische "Vorgeschichte" eines Verstehensereignisses bei einem fortlaufenden Text (Roman, Erza hlung, Abhandlung) in direkter Weise durch den kontinuierlichen Vorlauf des gegebenen Textformulars bestimmt. Dagegen ist etwa in der juristischen Gesetzesinterpretation der Vor-Text oder Ko-Text eines zu verstehenden bzw. zu interpretierenden 147 Vgl. dazu Busse 1987, 222 ff. Ä Dietrich Busse 1991 162 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 196 Textformulars fur das Interpretationsereignis unmittelbar nicht unbedingt relevant (wa hrend andere, weit entfernte Texte sehr relevant sein ko nnen); der "Kontext" der juristischen Gesetzesinterpretation ist daher diskontinuierlich und fachspezifisch gepra gt. Aufgabe einer sta rker auf die Multifunktionalia t sprachlicher bzw. textlicher Kommunikation achtender Sprach- bzw. Textforschung wa re es, anhand des abstrakten Modells der verstehensrelevanten Bedingungen der Kommunikation na her herauszuarbeiten und zu beschreiben, in welcher Weise verschiedene gesellschaftliche Formen des Textgebrauchs unterschiedliche Aspekte des Grundmodells verwirklichen.148 (7) Ich habe im Kapitel zur Textbedeutung den Begriff "Wissensrahmen" verwendet (in Anlehnung an die Begriffe "scenes", "skripts", "schemes", "frames" etc. in der Textlinguistik); dieser Begriff muü zu der vorangegangenen Differenzierung der epistemischen Voraussetzungen des Textverstehens in Beziehung gesetzt werden. Ich verstehe unter den verstehensrelevanten Wissensrahmen konkrete (d.h. themenspezifische) Agglomerationen von Wissenselementen, welche die verschiedenen Aspekte des formalen Modells der Wissensdifferenzierung in unterschiedlicher Weise verwirklichen. Die vorgenommene Differenzierung von Wissensebenen, Wissenstypen und Wissensmodi sollte als formale Klassifizierung aufgefaüt werden. Dagegen ko nnen Wissensrahmen konkret-inhaltlich in a hnlicher Weise beschrieben werden, wie etwa Textbedeutungen. Da wir das Textverstehen als die Fa higkeit des In-Beziehung-Setzens von Ausdruckselementen zu Wissenselementen bezeichnet haben, ist die Beschreibung der verstehensrelevanten, bzw. genauer: Verstehen bzw. Textbedeutung uberhaupt ausmachender, Wissenselemente, und damit die Beschreibung ihrer themenspezifischen Komplexierungen in Wissensrahmen, Teil der semantischen oder interpretativen Ta tigkeit selbst. Wie weit ein Wissensrahmen in der konkreten Textanalyse oder -interpretation gezogen wird, ist dann eine Frage der Begrenzung oder Ausweitung des analytisch/interpretativen Zugriffs. Jede Aufza hlung und Beschreibung verstehensrelevanten Wissens (also auch die Beschreibung und Begrenzung der verstehensrelevanten Wissensrahmen) ist das Herstellen eines analytischen bzw. interpretativen Konstrukts, und daher mit allen Unwa gbarkeiten und Unsicherheiten behaftet, wie jede interpretative Ta tigkeit. Die Bezugnahme auf Wissensrahmen kann Funktion des vollsta ndigen Textformulars, aber auch einzelner Textelemente sein. (So verweist etwa in / einem juristischen Text wie dem Diebstahlsparagraphen 242 des Strafgesetzbuches ein Ausdruck wie "fremde Sache" auf den aus einem anderen Text, anderen Rechtsgebiet und damit anderen Wissensgebiet stammenden Wissensrahmen "Eigentum im Sinne des BGB".) Wissensrahmen sind ha ufig komplex und in sich (oft nach externen, z.B. funktionalen, Gesichtspunkten) strukturiert. 148 Vgl. fur die Analyse juristischer Texte Busse 1992a. Ä Dietrich Busse 1991 163 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 197 (8) Man kann nun das Textverstehen analytisch-abstrakt als die Verknupfung von Ausdruckselementen des vom Textrezipienten linear durchlaufenen Textformulars mit Elementen der epistemischen Situation beschreiben, die (im Hinblick auf das jeweilige Verstehensereignis bzw. den Verstehenspunkt) in sich nach Ebenen, Typen und Modi des Wissens formal bzw. funktional differenziert sind. Das klassische zeichentheoretische Modell, wonach das Zeichen aus der Beziehung von Ausdruck und Inhalt besteht, bzw. der Ausdruck auf die Bedeutung verweist, ist also im Kern nicht falsch; nur war es hinsichtlich dessen, worauf ein Zeichenausdruck jeweils verweist, ungeheuer vereinfachend und undifferenziert. Man kann aber die Verweisfunktion als Grundfunktion sprachlicher Zeichen beibehalten, wenn man sie auf eine abstraktere Ebene hebt: Sprachliche Zeichen verweisen auf Elemente des verstehensrelevanten Wissens. Dieses Wissen ist in sich im Hinblick auf das Verstehensereignis funktional strukturiert und inhaltlich gegliedert. Sprachliche Zeichen verweisen ublicherweise auf das den einzelnen epistemischen Ebenen und Typen zugeordnete Wissensmaterial, z.B. auf Elemente der Textwelt oder der Wahrnehmungsumwelt des Textrezipienten. Es gibt jedoch auch einen Typ sprachlicher Zeichen, der auf Wissensmodi verweist (z.B. Einstellungspartikeln), oder einen Typ, der bestimmte Relationen (Verknupfungen) zwischen einzelnen zuvor aktivierten oder noch zu aktivierenden Wissenselementen oder -bereichen ausdruckt (Konjunktionen). Das Differenzierungsmodell des verstehensrelevanten Wissens hat also vor allem die Funktion, das na her zu beschreiben und zu analysieren, was in der Linguistik bislang als die "Zeichenbedeutung" bzw. der "Textinhalt" vo llig undifferenziert geblieben ist. (9) Wissen ist weniger eine Substanz, als vielmehr eine Fa higkeit; z.B. die Fa higkeit eines Textrezipienten, aufgrund einer wahrgenommenen Zeichenkette zu einer Deutung, dem Verstehen einer Textbedeutung zu gelangen. Dafur ist die Aktualisierung unterschiedlichster Sorten von Wissen eine unabdingbare Voraussetzung. Es wa re jedoch irrefuhrend, ein Modell des Textverstehens auf einem Kommunikationsbegriff aufzubauen, wonach Textverstehen immer eine gelungene Versta ndigung derart sein muü, daü ein Texrezipient genau dieselben epistemischen Momente aktualisiert, die der Textproduzent bei der Produktion seiner A uüerung bzw. Zeichenkette im Kopf gehabt hat. Um feststellen zu ko nnen, ob eine solche Versta ndigung im vollen Sinne vorliegt, muüte ein sekunda rer Reflexionsprozeü uber des Textverstehen zwischen Textrezipient und produzent auf einer Meta-Ebene stattfinden; dieser Reflexionsprozeü wurde aber wiederum notwendig aus sprachlichen Zeichen (Text) bestehen und wa re selber wiederum mit interpretativen Unsicherheiten belastet (deutungsabha ngig). Zudem findet eine Reflexion uber gelingendes oder miü- / lingendes Textverstehen im kommunikativen Alltag (gleich ob beim Verstehen von mundlichen Texten oder dem von Schrifttexten) so gut wie gar nicht statt. Es wa re daher verfehlt, Textverstehen immer mit "Versta ndigung" bzw. einer vollsta ndigen "Bedeutungserfullung" Ä Dietrich Busse 1991 164 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 198 gleichzusetzen. Allzu ha ufig realisieren Textrezipient und Textproduzent bezuglich eines gegebenen Textelementes oder -abschnitts mehr oder weniger stark abweichendes Wissen. Man sollte daher bei der Analyse des Textverstehens zwischen der epistemischen Realisierung einer abstrakten Bedeutungshypothese des Textrezipienten, die sich allein auf die abstrakte lexikalische Bedeutung eines Wortes bezieht, und einer Bedeutungserfullung im Sinne des Verstehens des vom Sprecher Gemeinten unterscheiden. Gerade bei abstrakten wissenschaftlichen Texten ist es z.B. der Fall, daüman bei der Verwendung eines neuen (oder vom Autor in neuer Bedeutung verwendeten) Terminus oft uber viele Seiten des Textlesens nicht zu einer vollsta ndigen "Bedeutungserfullung" gelangt; dennoch geht man von einem rudimenta ren Verstehen aus, das einen solange befriedigt (jedenfalls zum weiterlesen no tigt) bis man diese Bedeutungserfullung (als ein Zustand der "semantischen Zufriedenheit") erlangt. Im Alltag macht man sich allerdings meistens nicht allzuviele Gedanken daruber, ob und wann man eine "Bedeutungserfullung" im Sinne der Aktualisierung derselben Wissensagglomeration, wie sie der Textproduzent zur Verfugung hatte, erreicht oder nicht. (10) Ich habe bisher wenig uber die Rolle der sog. "Inferenzen" in meinem Textmodell ausgefuhrt. Wenn man davon ausgeht, daü jeder Form von Textverstehen (und sei sie auch noch so unmittelbar, automatisch und unreflektiert) die Relationierung von Zeichenausdrucken zu Wissenssegmenten (nicht als Handlung, sondern als grundlegende zeichenfunktionale Relation) zugrundeliegt, dann sind inferenzielle Aspekte streng genommen Grundlage jeden Zeichenverstehens uberhaupt. Der ga ngige Inferenz-Begriff, als epistemische Schluüfolgerungen, die auf dem Sprach- bzw. Code-Erkennen aufbauen, macht dann keinen Sinn mehr. Hingegen lohnt es sich, noch etwas mehr uber Deutungsprozesse nachzudenken, die beim Textverstehen ha ufig eine Rolle spielen, auch ohne daü sie immer explizit und bewuüt ablaufen. Jedes Verstehen sog. "indirekter Sprechakte" und "ubertragener Bedeutungen" (Ironie, Metaphern, aber auch bei Ellipsen) setzt inferenzielle Prozesse voraus, die mo glicherweise uber mehr Stufen des zu aktualisierenden verstehensrelevanten Wissens laufen als das Verstehen der sog. "wo rtlichen Bedeutung". Es sollte aber klar sein, daü der Unterschied dann nur ein gradueller ist. Es macht keinen Sinn, "wo rtliche Bedeutung" oder "lexikalische Bedeutung" grundsa tzlich, also typologisch oder funktional, von einer "ubertragenen Bedeutung" abzugrenzen; grundsa tzliche, d.h. kategoriale Unterschiede im Verstehen solcher Textformen gibt es nicht.149 (11) Ich habe bislang auch wenig ausgefuhrt zu den sog. "pragmatischen" Elementen des Textverstehens (also dem Verstehen von "Sprechhandlungen", Illokutionen im engeren Sinne). Es sollte daher zum bisherigen Modell ein entscheidender Aspekt hinzugefugt werden: Sprachliche Texte (A uüerungen) werden grundsa tzlich als kommunikative Akte verstanden. Texte sind kommunika- / tive Akte in verschiedenen 149 Vgl. dazu Busse 1991a, 55 ff. Ä Dietrich Busse 1991 165 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 199 Hinsichten bzw. Aspekten: Sie enthalten Referenzhandlungen (Handlungen der Bezugnahme auf Elemente der Textwelt oder Wissenswelt); sie enthalten Pra dikationshandlungen (Aussagen uber Referenzgegensta nde machen); sie setzen Quantifizierungshandlungen voraus (Identifizierung bzw. Spezifizierung von Bezugsobjekten); und sie enthalten schlieülich illokutive Handlungen (d.h. sie haben eine bestimmte Bedeutung im sozialen Verkehr). Man ko nnte, wenn man wollte, auch noch "Texthandlungen" im weitesten Sinne dazuza hlen (etwa Handlungen der Themaspezifizierung, -verknupfung, -strukturierung, Argumentationshandlungen etc.). All diese Hinweise sollen nur deutlich machen, daü Textverstehen und Textbedeutung auüerordentlich reichhaltiger sind, als das, was in der traditionellen Linguistik als (meist nur auf Einzelwo rter reduzierte) lexikalische bzw. sprachliche Bedeutung bezeichnet wurde. Ich nenne die erwa hnten Momente daher Aspekte der Textbedeutung und unterscheide sie also bewuüt nicht kategorial von dieser. Damit wird die vorherrschende kategoriale Unterscheidung von "semantischen" und "pragmatischen" Gehalten von Texten hinfa llig: Pragmatik ist nur ein (freilich fruher ha ufig ubersehener) Teil einer umfassenden Textsemantik. (12) Ich habe bisher Grundelemente eines Modells des Textverstehens skizziert; dies darf jedoch nicht vorschnell mit einem Modell der Textinterpretation gleichgesetzt werden. Damit Textverstehen zur Textinterpretation wird, mussen noch einige Momente hinzutreten. Textinterpretation kann (wie im folgenden Kapitel noch ausgefuhrt wird) als spezifische Form der Arbeit bzw. des Umgangs mit Texten gedeutet werden; als solche unterscheidet sie sich grundsa tzlich von der Situation des unmittelbaren, unintentionalen und ungesteuerten Textverstehens. Textverstehen und Textinterpretation stehen in einem spezifischen Verha ltnis, das nicht als Enthaltenseins-Relation aufgefaüt werden kann. Einerseits ist ein unmittelbares, spontanes Textverstehen Voraussetzung dafur, daü Textinterpretation uberhaupt beginnen kann; Textinterpretation entha lt dann immer auch das Moment des "besser Verstehens" oder "versta ndlich Machens" (vgl. Biere). Andererseits sind in der philologischen Tradition mit dem Ausdruck "Textinterpretation" Aspekte des Umgangs mit Texten beschrieben worden, die zugleich auch Aspekte jeden Textverstehens sein ko nnen. Begreift man "Interpretation" als eine systematische und durch konkrete Vorgaben geregelte Arbeit der Aufschlusselung und ausfuhrlichen Beschreibung der epistemischen Voraussetzungssituation eines Textes, dann macht sie nur das explizit, was implizit und spontan Kern jedes unmittelbaren Textverstehens ist: die Relationierung von Textelementen (Sprachzeichen und Zeichenketten) zu Wissenselementen. In diesem Sinne steckt "Interpretieren" dann in jedem Textverstehen. Was Textinterpretation als Arbeit mit Texten von dem unmittelbaren und spontanen Textverstehen unterscheidet, ist die Mo glichkeit, daü der Textrezipient nach dem epistemisch-verstehenden Durchlaufen eines Textformulars zum Beginn des Textes oder Textausschnittes zuruckkehren kann, um diesen erneut "durchzugehen". (Typischerweise ist fur Textinterpretation in diesem Sinne die Schriftlichkeit Ä Dietrich Busse 1991 Dietrich Busse: Textinterpretation Kapitel 6 (S. 107 © 166) 200 eines Textes Voraussetzung, jedoch nicht zwingend / notwendig; wer uber ein gutes Geda chtnis verfugt, kann auch einen mundlich vernommenen Text "im Kopf" wiederholt durchgehen.) Mit Bezug auf unser Textverstehensmodell kann der Vorgang der Textinterpretation daher folgendermaüen beschrieben werden: beim wiederholten Durchgehen des Textformulars werden die durch das unmittelbare und spontane erste Verstehen aktivierten Wissenselemente zur epistemischen "Vorgeschichte" des zweiten Durchlaufs (traditionell wurde dies als der "hermeneutische Zirkel" bezeichnet). Kennzeichnend fur den Unterschied der Textinterpretation zum Textverstehen ist dann die Mo glichkeit, daü der Fortlauf des Textes nach dem zu interpretierenden Textausschnitt, der beim spontanen erstmaligen Textverstehen als "prospektive Nachgeschichte" nur in Form von Vermutungen und Unterstellungen auftaucht und deshalb dort nur wenig zum Textverstehen beitragen kann, bei der Textinterpretation als verla üliches Wissen schon vorliegt. Textinterpretation ermo glicht es daher, in einem la ngeren Textformular (etwa einem Roman) zu "springen" und Teilelemente des Textes zu einem dichten Wissensnetz zu verknupfen, die beim unmittelbaren spontanen Erstverstehen epistemisch noch nicht oder nicht mehr pra sent sind. (Man ko nnte daher auch sagen: In der Textinterpretation wird die "prospektive Nachgeschichte" zur "Vorgeschichte" des Verstehensereignisses gemacht.) Textinterpretation ist, so ko nnte man zusammenfassen, Explizierung des verstehensrelevanten Wissens bezuglich eines Textelementes, -abschnittes oder Textganzen. Das Charakteristische der Interpretation als zeitungebundener und aus der unmittelbaren Kommunikations- bzw. Verstehenssituation herausgehobener Arbeit mit Texten ist es, daü diese Explizierung der epistemischen Voraussetzungssituation eines Textes, d.h. seiner weitestgehenden Bedeutungs(er)fu llung, u.U. weit uber dasjenige hinausgehen kann, was ein Textproduzent selbst zum Zeitpunkt der Hervorbringung seines Textes pra sent hatte. Nur so ist es mo glich, daü auch ein Textproduzent, etwa nach einer Diskussion mit anderen uber seinen Text oder seine A uüerung, d.h. nach mehrmaligem "Durchgehen" durch das eigene Textformular, sagen kann: "ich verstehe mich jetzt besser". / Ä Dietrich Busse 1991 166
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