Predigt über Lukas 16, 19 - Rolf

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Rolf Schreiter
Predigt über Lukas 16, 19 – 31 am 7. August 2016
in der Felsengemeinde in Berlin-Reinickendorf
Was hat eigentlich der reiche Mann in unserer Geschichte verkehrt gemacht? Jesus wirft
ihm nicht in erster Linie seinen Reichtum vor, obwohl der Reichtum sicher ein großer Risikofaktor für ein erfülltes Leben ist. Jesus erzählt uns: „Er lebte alle Tage herrlich und in Freuden.“ Woher hatte der Reiche die Zeit? Hatte er denn keine Arbeit? In den Geboten heißt es:
„Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.“ Zum wirklichen Glück gehört ein
Rhythmus von Arbeit und Freizeit, sogar von schweren Zeiten und guten Zeiten.
So lassen Sie uns ein paar Leute fragen, die den reichen Mann kennen, was es bedeutet,
dass er alle Tage herrlich und in Freuden lebt. Die Nachbarn erzählen uns, dass sie von dem
reichen Mann überhaupt nichts wissen. Der Reiche hat ein weitläufiges Grundstück mit einem hohen Zaun drum herum. Das Tor ist verschlossen, und es gibt kein Namensschild.
Dann fragen wir doch die so genannten Geschäftsfreunde, die mit ihm zusammen gefeiert
haben. Aber die widersprechen: „Nein, das war doch keine Feier; wir hatten ein Arbeitsessen, und wir haben dabei hart verhandelt.“ Die Familie des Reichen können wir auch nicht
fragen. Er hat keinen Kontakt zu seinen Brüdern; er hatte nie Kinder, und seine extrem teure
Scheidung liegt auch schon Jahre zurück. Vielleicht kann uns ja sein Doktor mehr sagen.
Der besucht ihn regelmäßig. Er darf uns ja nichts erzählen, aber wir können uns gut vorstellen, was sein Doktor wohl denkt: Eigentlich ist der reiche Mann nicht richtig krank, aber er
leidet unter einer Menge unbedeutender Beschwerden. Dazu hat er Übergewicht und ist ein
bisschen kurzatmig, und seine Cholesterinwerte sind zu hoch. Aber sein wirkliches Gesundheitsproblem liegt darin, dass seinem Leben jede richtige Freude fehlt, wie man sie so leicht
aus körperlicher Betätigung beziehen kann oder aus der Erfahrung, dass uns unsere Arbeit
gelungen ist, oder aus der Begegnung mit Menschen, die man liebt. Ach ja – das fällt dann
dem Doktor noch ein – seine Leberwerte sind nicht in Ordnung. Und das ist ein sehr ernsthaftes Zeichen, dass der Mann falsch lebt. Tief in seinem Innern kennt der reiche Mann das
ganze Elend seiner Existenz, aber anstatt das Problem anzugehen und sein Leben zu ändern, bringt er die Stimme seines Gewissens dadurch zum Schweigen, dass er zu viel trinkt.
Vielleicht stimmt ja gar nicht alles, was ich bis jetzt über den reichen Mann gesagt habe, und
ich gebe zu: Ich habe mir das alles ausgedacht. Trotzdem haben wir – denke ich – einen
ziemlich genauen Eindruck davon bekommen, was der Satz: „Er lebte alles Tage herrlich
und in Freuden“, was dieser Satz tatsächlich bedeutet.
Direkt am Eingang vor dem Grundstück des reichen Mannes treffen wir auf eine ganz andere Art von Elend. Dieser arme Mensch arbeitet auch nicht. Mit seinen Geschwüren kann er
keine Arbeit finden, und weil er kein Geld hat, hat er auch keinen Zugang zu besserer medizinischer Versorgung oder zu einer vernünftigen Ausbildung. Er ist dort und wartet, dass von
dem Tisch des Reichen etwas zu essen für ihn abfällt. Obwohl es bis heute arme Menschen
gibt, die Brot aus den Mülltonnen der Reichen essen müssen, sogar in unserem reichen
Land, ist es trotzdem sehr schwer für uns, Armut unterhalb einer gewissen Grenze überhaupt noch zu verstehen. So möchte ich auch nicht missverstanden werden, wenn ich in
dem Elend dieses armen Mannes immer noch ein paar positive Aspekte finde.
Jesus nennt ihn Lazarus, und Lazarus ist die einzige Person in einem neutestamentlichen
Gleichnis, die einen Namen hat. Wenn ein Kind getauft wird, dann zitieren wir häufig ein Gotteswort: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Jeder Mensch ist Gott mit Namen bekannt. Bei einer meiner Urlaubsrei-
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sen nach Kreta habe ich dort einmal zwei Soldatenfriedhöfe besucht. Auf beiden gab es
auch namenlose Gräber. Bei dem deutschen Friedhof stand dann auf dem Grabstein: Unbekannter Soldat. Bei dem britischen Friedhof hieß es stattdessen – und das hat mich in seiner
Botschaft ganz stark angerührt: Known unto God – Gott kennt ihn. Und das gilt hier auch für
den Lazarus – Gott kennt ihn – und Jesus möchte, dass wir das merken.
Eine weitere Beobachtung: Lazarus ist an dieser Stelle nicht der einzige Bettler. Er muss
das, was von dem Müll noch essbar ist, mit den Hunden teilen. Lazarus und die Hunde bilden eine äußerst seltsame Art von Gemeinschaft. Wenn die Hunde seine Geschwüre lecken,
bedeutet das viel mehr, als dass sie mit ihm zusammen um die besten Stücke konkurrieren.
Wenn es überhaupt so etwas gibt wie Freundschaft zwischen Mensch und Tier, dann sind
Hunde sicher die besten Freunde. Und wenn uns diese sozialen Beziehungen des Lazarus
auch reichlich elend vorkommen, so sind sie doch tiefer und verlässlicher als die des reichen
Mannes. Wir sehen ja auch heute gelegentlich einen Bettler mit einem Hund und erkennen
darin das Beispiel einer ganz fremdartigen Solidarität.
Es ist übrigens interessant, dass der reiche Mann den Lazarus vor seinem Grundstück toleriert. Er ärgert sich noch nicht einmal über ihn. Könnten wir uns an einem Festessen freuen
mit Menschen wie Lazarus in unserem Blickfeld? Ich denke, die Versuchung wäre sehr groß,
solche Menschen wegzujagen oder unseren Urlaub in Gegenden zu buchen, wo die Polizei
die Hotels und Touristenstrände von Bettlern frei hält. Dem reichen Mann in dem Gleichnis
ist das alles völlig egal. Da er das Elend in seinem eigenen Leben nicht wahrnimmt, hat er
auch kein Gefühl für das Elend um ihn herum.
Beide Männer sterben nun, und der Reiche sieht den Lazarus in der Gemeinschaft mit Abraham. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe Lazarus das erstattet bekommen, was
ihm vor seinem Tod gefehlt hat. Aber ich denke, es geht eher um die Erfüllung der ganz wenigen positiven Aspekte im Leben des Lazarus und darum, dass die anderen Aspekte, die
die Harmonie gestört haben, dass die alle verschwunden sind. In einem gewissen Sinn kann
man sagen: Lazarus hatte die Hölle während seines ganzen Lebens, aber wo diese Hölle zu
Ende war, da wird eine Beziehung zum Himmel sichtbar, die es während seines ganzen Lebens schon gegeben haben muss.
Bei dem reichen Mann hingegen ist nichts übrig. Er hat ebenfalls die Hölle gehabt. Aber er
hat versucht, das Elend um sich herum zu vergessen und genauso das Elend in seiner eigenen Existenz. Nun ist ihm nichts weiter übrig geblieben als diese Hölle, die er sich vorher nie
bewusst gemacht hat. Ich denke, dass es wahrscheinlich die größte Sünde ist, die Menschen begehen können, dass sie ein Leben führen, ohne darüber nachzudenken, wofür sie
leben oder wer ihre Hilfe und Fürsorge braucht. Der reiche Mann in diesem Gleichnis hätte
diese Sünde vermieden, wenn er den Lazarus wirklich wahrgenommen hätte. Lazarus hätte
ihn lehren können, ein bewusstes Leben zu führen.
Nun sieht es so aus, als wäre es für den reichen Mann zu spät, um sein Leben zu ändern.
Aber ich glaube, es gibt Hinweise, dass Jesus nicht beabsichtigt, dass wir die Hoffnung für
diesen reichen Mann verlieren – und sicher sollen wir die Hoffnung nicht für uns verlieren,
die wir doch alle dem reichen Mann sehr viel ähnlicher sind als dem Lazarus.
Am Ende des Gleichnisses sehen wir, dass der reiche Mann einige sehr vernünftige Ideen
hat. Er hat Durst, sicher nicht nur nach Wasser, und er erkennt plötzlich, dass Lazarus ihm
helfen könnte. Ja, er kennt Lazarus, er kennt ihn sogar mit Namen, und jetzt wird ihm klar,
dass Lazarus das Wasser des Lebens gefunden hat, eine Tatsache, die er nie bemerkt hatte, weil sie unter einer dicken Schicht Elend verborgen gewesen war. Hätte der reiche Mann
es doch nur früher gemerkt! Er hätte dem armen Mann helfen können, und gleichzeitig hätte
der Arme ihn gelehrt, den geheimen Wert der eigenen Existenz zu finden. Nun wird dem reichen Mann gesagt, dass er seine Chance endgültig verpasst hat. Solange wir in dieser Welt
leben, können wir jeden Tag entscheiden, ob wir in der Hölle leben wollen oder nicht. Wenn
wir diese Entscheidung nicht bewusst treffen am heutigen Tag und an jedem neuen Tag,
dann befinden wir uns höchstwahrscheinlich schon in einer selbstgemachten Hölle, ohne es
zu merken. Aber für den reichen Mann in dem Gleichnis scheint jetzt alles zu spät.
Nun erinnert sich der reiche Mann an seine Brüder. Er denkt nicht mehr in erster Linie an
sich, sondern an andere Menschen. Er möchte ihnen helfen, und wir merken, dass er sehr
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viel mehr innere Qualitäten hat, als wir ihm zugetraut hätten. Aber er ist nicht in der Lage,
den Brüdern eine Botschaft zu schicken. Ihm misslingt jede Aktion, die er sich vornimmt, und
er scheint in absoluter Verzweiflung zu versinken.
Es mag Sie überraschen, aber ich sehe gerade in dieser Situation für den reichen Mann eine
große Hoffnung. Was Jesus von dem reichen Mann erzählt, das kennen wir nämlich alle. Wir
erinnern uns doch an Situationen, wo wir wichtige Dinge zu tun hatten, uns ist aber nichts
gelungen. Wir sind an der falschen Stelle gewesen oder hatten den Zug verpasst, das Auto
ist nicht angesprungen oder wir waren nicht passend angezogen, wir hatten das Manuskript
für unsere Rede vergessen oder das Werkzeug für unsere Arbeit. Sie erinnern sich? Klar, ich
spreche über das letzte Mal, wo wir einen Alptraum hatten.
Was wäre, wenn der reiche Mann plötzlich erschrocken und schweißgebadet aufwachen
würde? Die erste Reaktion wäre sicher eine große Erleichterung. Gott sei Dank, es war nur
ein Traum! Aber trotzdem ist es mehr als ein Traum, es ist eine Botschaft Gottes, und der
reiche Mann weiß das. Er wird es auch nicht wieder vergessen. Zum ersten Mal wird er anfangen, sich bewusst zu machen, wie er sich sein Leben organisiert. Er wird erkennen, wie
verzweifelt nötig er die Hilfe von anderen Menschen hat, sogar die Hilfe von Lazarus. Und
gleichzeitig wird er wissen, dass er seine Hilfe anderen Menschen schuldet und dass Gottes
Segen wächst, indem wir ihn teilen. Wenn wir nicht zu einer solchen Haltung finden, dann
bleibt uns nur unsere selbstgeschaffene Hölle.
Für uns sollten wir auf alle Fälle dieses Gleichnis als einen Alptraum ansehen. Dann enthält
es für uns eine ganz wichtige Botschaft, die Botschaft, die ich einmal so zusammengefasst
gefunden habe: „Es gibt viele Gründe, alles beim Alten zu lassen, und nur einen, etwas zu
ändern: Du hältst es einfach nicht mehr aus.“ Noch einmal: „Es gibt viele Gründe, alles beim
Alten zu lassen, und nur einen, etwas zu ändern: Du hältst es einfach nicht mehr aus.“
Dass diese Botschaft bei uns ankommt, dazu segne uns Gott jeden neuen Tag. Amen.