Das Gedicht am Ende des Tunnels

WernfriedHübschmann
DASGEDICHTAMENDEDESTUNNELS
Galerieenpromenade,Fürth,am20.07.2016
MeineDamenundHerren,
ichfreuemichsehr,dassSieheuteAbendhiersind!
Prolog
IchhabedieseLesunginachtStationeneinteilenundSieauf
eineReisemitnehmen,derenZweckdarinbesteht,Ihnen
a) einigemeinerGedichtevorzutragen,
b) dieUmständedesEntstehenvorsichtigzuerläutern,und
c) Ihnen mein Verständnis von Dichtung und Literatur, also
meine Poetik - wenigstens einige Puzzle-Teile davon –
nahe-odernäherzubringen.
Folgen Sie mir also bitte vertrauensvoll mit offenen Ohren
und gerne mit zahlreichen Fragen. Zwischen WasserglasLesung und Wasserfall-Lesung muss es noch einen dritten
Weg geben, auf dem Autor, Text und Publikum sich
wohlwollendundmitfreundlicherNeugierbegegnen.
1
ErsteStation
GedichteundGeburten
DasTräume-BuchbeginntmitdemGedicht„Fontanelle“,das
einerealeGeburtundzugleicheineText-Geburtthematisiert:
Aus:TräumesindTürmeschmelzendenEises,2016,S.8
Fontanelle
Weichundverletzlich,eineArtDelta,
einMündungsortfürhöhereGewalt–
daistetwas,dasauchdieEltern
geschehenlassenmüssen,dieserSpalt,
durchdenderWeltraumeinfließt
inneuesLeben,wodieSchädelplatten
kontinentalverschiebbarsind,biegsam,
einKreuzungspunktfürdieseglatten,
nochleichtenKnochen,einStempel,
derbleibt,eineUnterschrift,fürWochen
dasArealnachobenoffen,eineStern-
warte,unddusiehstdasPochen
unterderHaut,bissichdieKuppel
schließt...dieGeburtistbeendet,
dieReisegehtvomIchzumDu
undwiederhin-undhergewendet
undalleskommtvorbeiandieserQuelle
imKopf,diepumptundpulst:Fontanelle.
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Ebenso passend wäre es, diesen parallel laufenden Essay –
Nietzsche paraphrasierend – „Die Geburt des Gedichts aus
demGeistderMusik“zunennen.
DasfolgendeGedichtisteinevillanella,alsoeineliterarische
Form, die ihre Ursprünge in der italienischen Barockzeit hat.
Ursprünglichisteinevillanella(frz.villanelle)einTanzlied,und
ichhoffe,dassdashörbarist:
(unveröffentlicht;2016)
DerWintergeht
DerWintergeht,imSchattenderKamine
bleibennurSchlacke,Kummer,grauerStaub,
schonsammeltsichderRollsplittzurLawine,
imkaltenWasserdonnertdieTurbine,
dieElsterstreicht,sieplantdennächstenRaub,
derWintergeht,dieSchattenderKamine
wandernvorüber,undausderKantine
wankenbluecollarworkersindasnasseLaub,
schonsammeltsichderRollsplittzurLawine,
dasLichterwachtaustötenderRoutine
undeinGedankeblitzt,andenichglaub:
derWintergehtimSchattenderKamine,
tiefimComputerzittertdiePlatine,
dasLauschenindenAbgrundmachtunstaub,
schonsammeltsichderRollsplittzurLawine,
dieWeltraumfahreröffnendieKabine
undriechenwiederfrischenBlütenstaub.
DerWintergehtimSchattenderKamine.
SchonsammeltsichderRollsplittzurLawine.
3
ZweiteStation
WasDichtungnichtistundist
DichtungistkeinLuxus.
Sie ist nicht dekorativ, sie ist nicht zufällig, sie ist nicht
überflüssig.
SiedarfnichtDingesagen,diejederschonweiß.
Sie wiederholt nicht das Bekannte, sondern sie holt das
Unbekannte.SiegehtandieGrenze,sieführtunsanGrenzen.
DieSprachedesGedichtsistnichtdieSprachedesAlltags.
Dichtung und Alltagssprache haben nur scheinbar etwas
miteinanderzutun.
Die Sprache des Gedichts geht nicht auf wie eine Gleichung.
Sie sucht den Widerspruch, sie hat kein Interesse daran, die
ParadoxiendergedanklichenWeltaufzulösen.
DichtungistkeinKreuzworträtsel.
Fünfsenkrecht„HeiligerBergJapans“...vierBuchstaben,aha:
FUJI. Nein, ein Gedicht ist keine Schnitzeljagd. Und die
Kreuzwörter stehen alle schon in der Bibel, im Talmud oder
denUpanishaden.
Dichtung ist kein Zaubertrick ... was den Zauber und die
MagiederSpracheundderMusikerstermöglicht.
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DritteStation
WasDichtungist–undseinwill
Aus:TräumesindTürmeschmelzendenEises,2016,S.46
Poesie
DasGeheimnisnistetandenRändern,
indenFelsenhöhlenamMeerwiedieAlbatrosse,
inderKroneeinertotenPappel,
nahbeidenSümpfen.
EslagertaufaltenRegalen,
imSchuhkartonausdenachtzigerJahren,
untermTresenderkleinenKneipe,
woBerlinerKindlgetrunkenwird,
oderesstecktalsvergessenerZettel
indiesemausgebeultenJackett.
DieWörtersindgeduldig,
mancheverharrenimSchneidersitz,
sieatmen,kaumhörbar,undwarten,
dasswirsiefinden
undinsGegenlichthalten
wiediesenPflaumenkern,
derdieZungepelzigmacht,
jetzt,daeszuregnenbeginnt
undderWindaufNord-Ostdreht.
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DichtungistALLES.
Kann alles sein. Zu allem werden. Sich alles anverwandeln,
alles einschmelzen und umformen. Alles, was Nicht-Sprache
ist, in Sprache übersetzen, bei allen Reibungsverlusten
zwischenHirnundHand,MundundOhr,AugeundVerstand.
DichtungistdasExistenzielle,dasNotwendigeundBleibende,
das,wasmichnährt–auch,wennesmichnichternährt.
„Poesie ist die höchste Form menschlicher Rede“, sagt Josif
Brodskij einmal. Dem stimme ich zu. Mein Zutrauen in die
Möglichkeiten der Poesie ist ungebrochen groß. Möglichkeit
kommt von mögen. Bedeutung und Wirkung von Dichtung
und Kunst zu bestreiten, wäre ebenso absurd wie auf Atem
undNahrungzuverzichten.
IchhabedietröstendeKraftderDichtungseitderKindheitan
mir selbst erlebt, ihre heilende Kraft, ihre begeisternde
Wirkung, ihre reinigende Wirkung, ihre verstörende, ihre
umstürzende Wirkung. Ich habe erfahren, wie das Schreiben
unddasLesenvonLiteraturmirgeholfenhat,zulebenundzu
überleben.
Dichtung ist die älteste aller Sprachen. Sie ist universell und
ihremWesennachfriedfertig.InallenSprachenderWeltgibt
es Poesie. Sie ist ursprünglich Beschwörung und Anrufung,
GesangundGebet,LitaneiundKultus,SpielundExperiment.
Der Tanz ihrer musikalischen Substanz hat sich erhalten im
Kirchenlied und im Kinderlied, ist ausgewandert in Pop- und
Filmsongs und wird besetzt von der Werbung, die poetische
Mittel wie Reim und Assonanz, Metapher und Metonymie
hemmungslosplündert.
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Das einzelne Gedicht, Poesie als Kunst, vertieft, erweitert,
erhöhtundtranszendiertunsereExistenz.Ichsagenicht,dass
dadurch „von selbst“ etwas besser wird in der äußeren Welt.
Aberichbindavonüberzeugt,dassvielUnheilnichtgeschieht,
weilesKunstgibt.
Dichtung ist Anlass, Stoff und Prozess für Verwandlungen.
VoneinerWirklichkeitineineandere.
HierzueinGedicht,entstandenimApril2016:
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VerwandlungenI
Ihavebeenoneacquaintedwiththenight
RobertFrost
WiediePappelnsichinNachtverwandeln,
mitnichtszuvergleichenalsmitsichselbst,
dieSchwärzeverschwimmtinmetallischesBlau,
demeineSteinfigurentsteigt,einObelisk,
derdiesenParküberragt,indemeinPaar
nebeneinanderaufdenanderenwartet–
dochesereignetsichnichts,beideatmen,
stehenauf,teilendieDämmerunginzweiTeile,
Schattenbezirke,Fährten,sichkreuzendeSpuren,
sodassArealeentstehen,FelderfürFarben
undwiederumKlängeundVogelgespräche,
ausWolkengefallen,aufgefangenimOhr:
alleOrganesindOhr,dieSchwingungderLuft
pflanztsichfortindenAdern,denAugen,
diezudemwerden,wassiesehenundsind,
zuBüschelnvonGras,zuGarben,zumTurm
amäußerenEndederStadt,amEndedesTags,
woderAbendsichauflöstinPappeln.
(2016;unveröffentlicht)
DiePappeln...dieNacht–derPark–dasPaar–dieFelder–
dasOhr–dieOrgane–dasGras–derTurm–dieStadt–der
Tag–derAbend...diePappeln
(s.Ovid,Metamorphosen)/Bildfolge/Klangfolge
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VierteStation
WieDichtungentsteht–LobderDunkelheit
Wenn ich schreibe, ist es oft dunkel. Entweder ist ohnehin
Nacht und ich sehe die Hand vor meinen Augen nicht. Oder
ich halte meine Augen absichtlich geschlossen, um besser
sehen zu können. Viele meiner Texte entstehen nachts, ich
schreibeaufZettel,dievorbereitetaufdemTischchenliegen.
Der Computer kommt erst später ins Spiel. Und quäle mich
amnächstenMorgenmitdemEntzifferndesGekritzels.
VerstehenSiemichnichtfalsch–ichliebedieDunkelheit!Es
ist herrlich, nachts durch die schwarzen Wälder zu streifen.
Der Schwarzwald heißt ja so, weil seine Wirkung früher von
den dunklen, dichten Tannen geprägt war. Aber die
„stockfinstre“Nachtgibteskaumnoch,weilkünstlichesLicht
der Dunkelheit den Garaus macht, sodass Vögel, Tiere und
Menschen ganz aus dem Takt und aus dem Rhythmus
kommen. Sie ändern ihre Ess- und Schlafgewohnheiten,
wechseln die Quartiere, sind desorientiert, begeben sich in
sinnlose Gefahren, werden krank. Nein, das Dunkel sei
gepriesen! Es lebe die Nacht! Aus ihr wird der Tag geboren.
Dieser Logik folgt auch die Schöpfungsgeschichte: Und die
Erdewarwüstundleer,undeswarfinsteraufderTiefe;undder
GeistGottesschwebteaufdemWasser(1.BuchMose,I,2).
Schreiben ist der Versuch, etwas Licht in die Finsternis zu
bringen.ManmussdieSpiegelaufstell’n,woesdunkelist.
DasGedichtistdasLichtamEndedesTunnels.
DasGedichtamEndedesTunnels.
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Aus:DunkleFleckenaufblauemGrund,2014,S.25
Melatonin
rememberRembrandt!
VerlustderNacht:wegenErleuchtunggeschlossen,
alsoAbschiedvomtiefenSchwarz,dasUrsprungist
vonKlarheitundKlang,Tag-undNacht-Gleichnis
imGehirn,ElegieausdemWortinnenraum–
Schwefeldämpfe,torkelndeSchwärmevonKrähen,
LichtglockenwiegelberNebel,undschlafloseStädte,
Mondlicht,dasinseineEingeweidezerfällt,aber
imTraumhatesAugengehagelt...
ZugvögelredenwirruntermBlinkenderSatelliten,
weilwirdieNachtnichtertragen,Wolkenschwimmen
ahnungslosdavon,dastreuesteHimmelsgesinde.
DervollkommeneSpiegelistder,denmannichtsieht.
(für’nHellhof,wo’ssoschönfinsterist)
Melatonin ist ein Hormon, das in der Zirbeldrüse (Epiphyse; Zwischenhirn)
produziert wird und den Tag-Nacht-Rhythmus des menschlichen Körpers steuert.
Die Bildung von Melatonin wir durch Licht gehemmt, s. Lichtverschmutzung, daher
„Verlust der Nacht“).
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FünfteStation
DerDichteralsFremdling
BeimWiederlesendereigenenGedichtefälltmirauf,dassdie
Texte „fremdeln“, dass sie den Autor etwas verblüfft
anstarren,wennerdieSeiteaufschlägt,alswolltensiesagen:
WasmachstDudennhier?
DerAutoristvorseinemGedichtauchnureinLeserundmuss
sich den Zugang zu Arbeiten früherer Jahre und Tage erst
wieder erschließen. Das gelingt unterschiedlich gut. Es gibt
Texte von mir, von denen ich schwören könnte, sie nicht
verfasstzuhaben.
Andere Wörter aus der eigenen Werkstatt wiederum bleiben
im Kopf wie ein Ohrwurm: Mäandertal, Begegnungsmelder,
Gedankenkraut ... Auswendig kann ich keines der eigenen
Gedichte. Es ist gut, sich von ihnen zu lösen wie von größer
werdenden Kindern. Sie werden ihren Weg schon machen.
Reisendesollmannichtaufhalten.
Tatsache ist, dass es dem Text hilft, wenn man ihn
aufschreibt. Die Latenz-Phase im Kopf, die Inkubationen in
NotizenundVorstufenkönnenzurLastwerden.AuchBilder,
KlängeundWörterhabeneinVerfallsdatum.
Undnochetwas:DasSchreibenvonGedichtenhatnichtsmit
Stimmungen und nur im Einzelfall etwas mit konkreten
Ereignissenzutun.Also:forgetsunset!
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SelbstporträtmitAtemnot
fürGeorgeSteiner
EinLuftmenschbinich,spürealleleichten
Erschütterungen,diederWindhauchbringt,
mitWirbeln,Strömungenundunerreichten
Kadenzen,wennernachtsimHausflursingt,
imWinterandenFensterlädenrüttelt,
dortaufdemBelchenmeinenHuterfasst
oderimHerbstdiePflaumenbäumeschüttelt,
unddirigiertmiteinemdürrenAst.
IchbindemAtemnah,dermichbereist,
undkenneihnalsZephir,Pneuma,Seele,
ichgrolleihm,wennermeinHerzvereist
undfolgeihmimTaktseinerBefehle.
Oftkannichfliegen,wennermitmirspricht.
DochunterWasseratmenkannichnicht.
(2016;unveröffentlicht)
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SechsteStation
Traumkabinette–DichtenheißtTräumen
Wenn Träume zur Sprache kommen, ist das Bedürfnis nach
Traumdeutung, etwa im Sinne C.G. Jungs, nicht fern. Das ist
einenormesspannendesThema,aberesistnichtdasThema
desDichters.
MichinteressiertnichtdieVerkürzungaufeineInterpretation,
sondernvielmehrdieErweiterungderMöglichkeiten.Wasdas
einzelne Bild als Symbol „bedeutet“, mag die Analytiker und
Therapeuten beschäftigen. Für mich ist der Traum kreatives
Potenzial,undesgibtunendlichvieleunerschlosseneFormen,
Aggregatzustände und Stufen des Träumens. Träume sind
Felder, Klänge und Räume mit vertikal steigender Tendenz
auf der nach oben offenen Lichterskala. Träume
vergegenwärtigen etwas, das uns auf keine andere Weise
zugänglichist,nurüberdenTraum–indiesemPunktfolgeich
C.G.Junggerne.
Traum-FormationensindTransformationen.
Wer weiß schon, ob wir es sind, die träumen, oder ob wir
geträumt werden von einem schlafenden Gott, der sich
unruhigwälztzwischenzerwühltenLaken.
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Aus:TräumesindTürmeschmelzendenEises,2016,S.22
Traumkabinett
WassindunsereTaten
alseinmitherberAngstdurchausvermischterTraum.
AndreasGryphius
Träume,dieunsbesetzenwieFeindesland.
Träume,diesprachlossindauchamRand.
Träume,geschriebenmiteinerHand.
Träume,diewiederkommenamTage.
Träume,schwerwieVerratandenBäumen.
Träume,geborenausanderenTräumen.
TräumevollAngst,irgendwaszuversäumen.
TräumewieeinelängstgestorbeneFrage.
Träume,VersammlungsortefürLeises.
Träume,freivondenLasteneinesBeweises.
TräumesindTürmeschmelzendenEises.
Träumesindalles,wasichnichtsage.
Verweisauf:
Antonio Tabucchi: Träume von Träumen, Hanser dtv, München 2010
sowie
Georges Perec, Träume von Räumen, diaphanes, Zürich/Berlin
1990/2008
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Aus:TräumesindTürmeschmelzendenEises,2016,S.30
Nocturne
MancheBäumeredendemWind
nachdemMund,anderestehenwieraben-
schwarzeGestalten,festgezurrtimFrost,
undwennEisregenniedergeht,
brichtdasBildzusammen
unterderLastdesWassers.
Undichträume,
denKopfaufdieTrommelgebettet.
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SiebenteStation
DichtenheißtWandern(Räume)
Die Wirkung von Räumen auf uns Menschen wird generell
unterschätzt.Wirsindgewohnt,unsinderDimensionZeitzu
bewegen, können ungefähr fünf Minuten oder eine Stunde
einschätzen, wir können uns langweilen oder kurz halten.
Aber schon bei der Unterscheidung zwischen Vergangenheit
undZukunftkommenwirgehörigdurcheinander.Istnichtdas
Gewesene jederzeit präsent und abrufbar im Modus des
Erinnerns? Können wir uns Zukunft, das was auf uns zukommt, nicht etwa imaginieren, vor-stellen und so in die
Gegenwartholen?
Umso mehr verwirren uns Räume und der Wechsel zwischen
Wohnung/Haus, Straße/Weg und Landschaft/Natur. Und
welche Räume kennen wir nicht? Geistige Räume,
gedankliche Räume, Labyrinthe des Fühlens, Architekturen
des Ahnens. Unser Körper ist Raum, ein kompliziertes
Gebilde, jederzeit einsturzbedroht. Was muten wir ihm zu?
WelcheWirkungenaufunshatdieTatsache,dassdieLuft,die
wir atmen, schon besetzt ist von elektromagnetischen
Strahlen.
Wie soll ich durch Staub und Schmutz durchdringen zu
höherenWelten?
Wasalsoschmerztmehr–WelleoderTeilchen?
Wie auch immer: ohne die Kunst des Vergessens wären wir
verloren!
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Aus:DunkleFleckenaufblauemGrund,2014,S.43
DieArchivedesVergessens
IchliebedieArchivedesVergessens,
woallesruht,wasicheinmalgewusst,
geahnt,bedacht,gefühltinmeinerBrust,
dasWannundWosindFragendesErmessens.
DieBibliothekistunvorstellbargroß,
verwinkelt,dunkel,stillundlabyrinthisch,
dieFlureweit,mitSäulen,meistkorinthisch,
siezuerkunden,wünschteicheinFloß,
dasesnichtgibt.IchwälzedieFolianten,
estürmensichdieKarten,Bücher,Skizzen,
ichforschenachdemAlten,Abgebrannten
undfindenurdieAschevondenBlitzen
derGeistgewitter,ruhigliegtdasMeer.
DerStaubglimmtauf,dieBlätter:alleleer.
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Aus:TräumesindTürmeschmelzendenEises,2016,S.18
DieSprachedesHauses
DasHausistversunkeninsSelbstgespräch,
beschäftigtmitseinenFundamenten,aber
esschläftimmerwiederein,dieMauern
sindmüde,dannatmendieBalkeneinund
aus,dukannsteshören,undLuftpferdchen
sindalsKuriereunterwegsvonobennach
unten,derDachfirsthebtundsenktsich
ganzsanftwiederBrustkorbdesKindes.
WerhatdasHausgeschrieben,undwann?
WelcheTürenwurdengedachtundverworfen?
WaswurdegesagtüberdieJahre,Jahrzehnte?
WelcheDialektehabensichabgelagert?
DieSprachedesHauseszuentziffern,
istschwer,dennesistauchverschwiegen
undahmtdasKnirschenderSchrittenach,
umdichganzzuverwirren,undderGeruch
faulerÄpfelverzaubertdeineGewohnheit.
EsisteineHöhle,einDachsbau,einblinderFleck
mitfließendenRändern,morschemGedächtnis,
dieFensterdehnensichvorSehnsucht,und,
wennesnurkönnte,dassprechendeHaus,
eswürdewandern,durchmeinenGarten
unddanndieStraßeentlang,insGebirge,
mitfrierendenGauben,unddann–wohin?
18
AchteStation
DichtenheißtSprechen
DieWeltistnichtvor-handen.
Sie wird erst zur Wirklichkeit, wenn wir den Dingen, den
EreignisseninderNaturundzwischendenMenschenSprache
gebenundsieaussprechen.Diesisteinuralterpoetologischer
tópos. Und es ist zugleich die Aufgabe des Dichters als
Sprecher, diese Übersetzungsarbeit zu leisten. Für ihn selbst
ist sie lebensnotwendig. Für alle anderen kann sie hilfreich
sein,erhellendvielleicht,manchmalbeglückend.
Vergessenwirnicht:DerTextweißstetsmehralsseinAutor.
19
Aus:DunkleFleckenaufblauemGrund,2014,S.47
DieRückkehrderZeit
fürBarbaraOsterkamp
InwirrenNetzengebunden,
schlafendimDortundHier,
ZeitalsTeilchengefunden,
IchalsträumendesTier.
Räumewachsennachinnen,
dorterwachtdieIdee,
dassmeineStundenverrinnen
seinurGedankenschnee,
derschmelzendwieKristalle,
inSonnenlichtgetunkt,
leuchtet,umdannfüralle
Zeitenzufließen.Punkt.
20
Aus:NachrichtenausdemInnerenderStimme,2013,S.18
AuchderKehlkopfistnureinKopf,HerrüberSchilde,Sehnenund
Pfeile,eineDunkelkammerfürTöne,dennEntwicklunggehtimmer–
einLuftschloss,einElfenbeintor,einSchwingungsbarometer.Ich
denkemitderStimme,ichdenkemirdeineStimme:eshuban,es
begabsich,begann...soentstehtZeit,reineErzählzeit,ichhöre
deinDenken(einSummen,wersichdemBienenstocknähert).
DeineStimmeweißmehrüberdichalsduselbst,sieweiß,dassdie
Apfelbäumesichhäuten,dassauchdiefeinstenRegistereineSoll-
Bruchstellehaben,siespendetTrost(manchmalaufVorrat),sie
kenntauchdenMaiberg,denderSturmwindhingeblätterthat.
SowerdichallesiebenJahreein-undausgeatmet.Sohebtund
senktsichdieWelt.Soblüheichheimlichundvergehe,dirvoran.
21
Epilog
DasGlühenimHolunder
Sieerinnernsich:DasGedichtamEndedesTunnels.
Es wird Ihnen vielleicht am Ende unserer kleinen Reise
einleuchten, wenn ich sage, dass es vielleicht gar nicht
erstrebenswert ist, den Tunnel zu verlassen. Das grelle
Tageslicht würde uns blenden. Also bohrt der Dichter weiter
im Bergwerk der Sprache, schlägt einen Stollen nach dem
anderen, ist dreckig und staubbedeckt und schon dankbar,
wenn das einzelne Wort als Grubenlampe schwachen Schein
gibt.
Und wenn er dann – Platons Höhlengleichnis lässt grüßen –
herausklettert,Feierabendmachtund„vorseinerHütteruhig
im Schatten sitzt“ als Pflüger (Hölderlin, Abendphantasie),
dann oder dann und wann ... nein, kein „weißer Elefant“
(Rilke,DasKarussell)–sonderneinschwacherSchimmer,ein
FlackernwievonKerzenschein,einGlühen,einGlimmen,ein
Verglimmen:dasGedicht.
Zum Abschluss ein kleiner Text, der uns zurückführt zu den
VerwandlungenundzugleichineinekonkreteLandschaft,die
vorunserenFüßenliegt:
22
Aus:NachrichtenausdemInnerenderStimme,2013,S.34
HolunderglühtdenBahndamm
entlang,Blütenteller,essbarwie
ObstimhöhergelegenenSommer;
Einmallagichdarunterundschlief,
einmallasichdemHerbstausderHand,
einandermaltrankichdenbittren,
ausDoldengewonnenenSaft,aber
dahingschondasLandindenSchnee.
...
MeineDamenundHerren,ichdankeIhnen!
23
©2016
AlleRechtevorbehalten
WernfriedHübschmann
Hebelstraße33
79688HausenimWiesental
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www.wernfried-huebschmann.de
24