Akte zu, Fall vom Tisch

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Akte zu, Fall vom Tisch
Diebstahl, Sachbeschädigung, schwere Körperverletzung, sexueller Mißbrauch in
Dutzenden Fällen – und die Täter haben nicht viel zu befürchten: JF-Reportage über
den Umgang der deutschen Justiz mit Massendelikten, von denen die Öffentlichkeit
meist nichts erfährt
Hinrich Rohbohm
Dirk Evers will es wissen. Er will Klarheit über seinen Fall vom Dezember vorigen Jahres, als
er in Hannover Opfer einer körperlichen Attacke geworden war, durch die sowohl er als auch
sein Auto in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Inhaber einer Tischlerei sitzt hinter dem
Schreibtisch seines Büros und tippt die Nummer der Staatsanwaltschaft Hannover in sein
Mobiltelefon. Eine Frauenstimme meldet sich. Evers nennt die Geschäftsnummer, die ihm die
Behörde zugewiesen hat. NZS 7552 Js 23194/16 lautet die Chiffre für seinen Fall. Nein, die
zuständige Amtsanwältin sei nicht zu sprechen, wird ihm mitgeteilt. Sie arbeite nur halbtags,
er möge vormittags nochmal anrufen.
Sein Fall, das ist ein Ermittlungsverfahren gegen Jemshir M. Von M. war Dirk Evers am 2.
Dezember vorigen Jahres in Hannover-Langenhagen angegriffen worden. „Ich wollte gerade
mit meinem Kleinbus von einem Parkplatz fahren, als mir eine südländisch aussehende
Familie entgegenkam“, erinnert sich Evers. Der Mann habe eine orientalische Kopfbedeckung
getragen. Hinter ihm waren zwei Frauen, beide mit einer Burka verhüllt. Der Mann
gestikuliert wild, bedeutet dem Tischler, zur Seite zu fahren. Aber das sei nicht möglich
gewesen, sagt Evers. „Der Parkplatz war sehr voll und die Fahrgasse sehr eng.“ Er hält den
Wagen an. Schimpfend und unter lautem Geschrei habe sich die Familie an dem Kleinbus
vorbeigezwängt. Dann fährt Evers auf die Straße, ordnet sich in den Verkehr ein und hält vor
einer roten Ampel. Plötzlich hört er zweimal ein lautes Krachen. „Ich konnte das nicht deuten
und dachte, es sei jemand gegen unser Fahrzeug gefahren.“ Er steigt aus. Sofort packt ihn
jemand am Hals, zerreißt sein Hemd, reißt ihm Haare aus, greift ihm in die Nase.
Zur gleichen Zeit stehen zwei Handwerker auf einem Baugerüst neben der Fahrbahn. Sie
werden Zeuge des Vorfalls, sehen, wie der Mann mit der orientalischen Kopfbedeckung
hinter dem Kleinbus hergesprintet ist. Als dieser bei der Ampel zum Stehen kommt, tritt er
gegen das Wagenblech und schlägt gegen das Schiebetürfenster des Fahrzeugs. Dann geht er
auf den aussteigenden Fahrer los, schlägt auf ihn ein. Der Tischler setzt sich mit einem
Faustschlag zur Wehr. Seine Nase und sein Hals bluten. Später im Krankenhaus stellen die
Ärzte fest, daß sein Mittelhandknochen dreifach gebrochen ist. Als der Täter flüchten will,
kommen die beiden Handwerker zu Hilfe, halten den Mann fest. Die Polizei ist schnell vor
Ort. „Chef, ich habe nichts gemacht“, beschwört der Täter. Opfer und die beiden Handwerker
widersprechen, erzählen den Beamten, was sie mitbekommen haben. „Der hat mich
angeguckt, da hab ich mich provoziert gefühlt“, verteidigt sich der Südländer nun. Die Polizei
nimmt die Zeugenaussagen auf, macht Fotos von den beschädigten Stellen am Kleinbus und
von den Verletzungen des Opfers.
Die Beweislage ist eindeutig. Dirk Evers stellt einen Strafantrag. Fast fünf Monate sollten
vergehen, bis er Post von der Staatsanwaltschaft Hannover bekommt. Der Inhalt sorgt für
Frust bei dem Tischler. „Nach eingehender Prüfung des Sachverhaltes habe ich das
Ermittlungsverfahren mit Zustimmung des Amtsgerichts Hannover im Hinblick auf nicht
vorliegende einschlägige Vorstrafen, eine nicht zu widerlegende Ausnahmesituation und die
hinreichende Warnung, die von diesem Verfahren ausgehen dürfte, nach Paragraph 153
Absatz 1 StPO eingestellt, weil die Schuld als gering anzusehen ist und ein öffentliches
Interesse an der Strafverfolgung nicht besteht“, teilt ihm die Staatsanwaltschaft mit.
„Staatsanwälte und Verfahren kosten Geld“
Dirk Evers kann es nicht glauben, wendet sich an seinen Rechtsanwalt. Der kann den Unmut
seines Mandanten gut nachvollziehen. „Im umgekehrten Fall hätten Sie hier mit Sicherheit
mit der Durchführung eines Strafverfahrens rechnen müssen. Es ist erschreckend und stützt
auch nicht gerade das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn offenbar systematisch bei Straftaten
von Ausländern immer wieder die Justiz ‘ein Auge zudrückt’“, schreibt ihm der Jurist.
Die Staatsanwaltschaft könne Verfahren nach Paragraph 153 der Strafprozeßordnung (StPO)
einstellen, wenn es sich nicht um schwerwiegende Taten handele, erklärt ihm sein Anwalt,
fragt sich aber selbst, warum eine vorsätzliche Sachbeschädigung und erhebliche
Körperverletzung von der Behörde nicht dazugezählt werden. Noch frustrierender für Evers:
Gegen diese Form der Verfahrenseinstellung gibt es keinen förmlichen Rechtsbehelf. Zwar
könne er Dienstaufsichtsbeschwerde einlegen. Deren Erfolgsaussichten seien jedoch „äußerst
gering“.
„Und jetzt stellen Sie sich mal vor, ich würde einen Schwarzafrikaner aus dem Auto ziehen,
was glauben Sie, was da los wäre“, kritisiert Dirk Evers. Der Schaden an seinem Auto hat ihn
1.380 Euro gekostet. Seinen für zwei Wochen später geplanten Urlaub auf Gran Canaria
mußte er mit einer Schiene am Arm antreten. „Und da haben Sie mir dann auch noch mein
Handy geklaut“, gibt sich Evers restlos bedient von jenem Monat. Am schlimmsten war für
ihn jedoch, daß sein einjähriger Sohn den Vorfall mit dem Angreifer mit ansehen mußte.
„Meine Frau saß zusammen mit ihm auf dem Rücksitz und hatte um Hilfe geschrien“,
schildert Evers den dramatischen Moment gegenüber der JF.
Taten, die in Deutschland zum Alltag gehören. In den Medien werden sie nur selten
thematisiert, weil sie nicht spektakulär genug sind. Und weil Ermittlungsverfahren wie im
Fall von Dirk Evers zumeist eingestellt werden. Keine Anklage, kein Prozeß. Kein Prozeß,
keine Öffentlichkeit. Begebenheiten, die längst zur Normalität geworden sind. Und die auch
an den beteiligten Juristen keinesfalls spurlos vorbeiziehen.
In der Cafeteria des Hamburger Landgerichts finden sich zur Mittagspause viele von ihnen
ein. Strafverteidiger, Richter, Staatsanwälte. Hier, zwischen Geschirrgeklapper, Essensdampf
und Kartoffelklößen redet sich so mancher Verfahrensbeteiligter seinen Frust von der Seele.
Da ist der Rechtsanwalt, der für seinen Mandanten einen Freispruch erwirkt, obwohl er weiß,
daß dieser eigentlich hinter schwedische Gardinen gehöre. Seine Gewissensbisse darüber
ertränkt er in Alkohol. Und da ist der Staatsanwalt B., der gegenüber der JF sein Leid von der
chronischen Unterbesetzung seiner Behörde klagt. „Wenn wir jedem Fall akribisch
nachgingen, würden wir in den Aktenbergen ersticken“, sagt der Jurist, der anonym bleiben
möchte. Ist ein Verfahren hingegen eingestellt, sei der Fall vom Tisch und die Akte
geschlossen. Für so manchen Kollegen eine verlockende wie notwendige Maßnahme. Und für
die Politik ein Fall weniger, der sich ungünstig auf die Kriminalitätsstatistik auswirken
könnte.
„Der Punkt ist doch, daß es überall an Personal fehlt. Staatsanwälte kosten Geld,
Gerichtsverfahren kosten Geld, und Gefängnisse müssen auch finanziell unterhalten werden.
Und weil der Staat chronisch pleite ist, wird eben hier gespart, anstatt an sozialen Wohltaten,
wo alle möglichen Interessengruppen auf die Barrikaden gehen würden“, erklärt der
Staatsanwalt. Leidtragende seien die Opfer, die sich vom Staat zunehmend im Stich gelassen
fühlten und deren Vertrauen in den Rechtsstaat schwinde.
Bei einem Schaden unter 50 Euro passiert gar nichts
So wie im Fall des Supermarktangestellten Dennis O., der ebenfalls anonym bleiben möchte,
weil sein Arbeitgeber die Belegschaft angewiesen hat, nicht mit der Presse über die
tagtäglichen Ladendiebstähle zu sprechen, die sich vor den Augen der Mitarbeiter abspielen.
Es ist der 11. Juni dieses Jahres, als O. auf seinem Video-Bildschirm im Büro zwei Männer
erblickt, die einen Einkaufswagen randvoll mit Bohnenkaffee vor sich herschieben. Aus
Erfahrung weiß er: Hier soll ein Diebstahl erfolgen. Über das Marktmikrofon ruft der
stellvertretende Abteilungsleiter um Hilfe. Dann läuft er aus seinem Büro Richtung Ausgang,
um die vermuteten Täter dort mit der Ware abfangen zu können. Auf dem Weg verständigt er
über sein Mobiltelefon die Berliner Polizei, fordert einen Einsatz mit Sonderrecht. „Den kann
man verlangen, wenn Gefahr im Verzug ist“, erklärt er der JF. „Mache ich das nicht, kann es
schon mal eine Stunde dauern, bis die Polizei erscheint.“ So seien innerhalb weniger Minuten
drei Streifenwagen vor Ort gewesen.
Doch zunächst laufen die Täter mit der unbezahlten Ware an der Kasse vorbei. O. stellt sich
den beiden entgegen. Der Größere von beiden sei sofort aggressiv geworden. „Nee, den läßt
du jetzt laufen“, sagt sich der 21jährige und konzentriert sich auf den Schmächtigeren. Der
wird ebenfalls aggressiv, es kommt zur Rangelei, die der Angestellte für sich entscheidet.
Aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit Ladendieben hat O. Selbstverteidigungskurse
belegt, schaut sich zudem Kampfvideos an. „Der Sicherheitsdienst ist nur sporadisch
vorhanden, etwa einmal die Woche.“ Aus Kostengründen.
Als die Polizei eintrifft, bringt er den Ladendieb zusammen mit den Beamten und weiteren
Kollegen ins Lager, um ihn dort zur Rede zu stellen. Der Täter leistet erbitterten Widerstand.
Immer wieder rempelt er die Polizisten an, versucht zu fliehen. Die Beamten müssen ihm
Handschellen anlegen. O. kennt dieses Verhalten, hat es auch schon bei anderen Dieben
gesehen. „Der hat Tilidin genommen“, ist er sich sicher. Eine Droge, durch die man kaum
noch Schmerzen spüre, seinen Körper aber voll unter Kontrolle habe.
O. füllt die Anzeige gegen den Täter aus, einen 26 Jahre alten mehrfach und einschlägig
vorbestraften Polen, wie die polizeilichen Ermittlungen ergeben. Der Diebstahl hat einen
Warenwert von 310 Euro. „Unter 50 Euro passiert gar nichts, da wird der Täter einfach
wieder laufengelassen.“ Darüber hingegen werde es strafrelevant. Und so sollte der Täter
eigentlich dem Haftrichter vorgeführt werden. Weil der Pole jedoch noch schwerwiegendere
Taten begangen habe, würde der Diebstahl nicht mehr ins Gewicht fallen, und sie müßten ihn
wieder laufen lassen, sagen die Beamten zu O. „Sie haben ihm die Handschellen
abgenommen und gehen lassen“, schildert der Angestellte. „Nun wird er nächste Woche den
nächsten Laden ausrauben“, beklagt er sich bei den Beamten.
Dennis O. arbeitet seit eineinhalb Jahren in dem Supermarkt. „Etwa 100 bis 120“
Ladendiebstähle habe er in der Zeit miterlebt. „Festgenommen wurde von denen nur einer“,
erzählt er. Es ist eine fatale Botschaft, die Tätern übermittelt wird: Sie können Waren stehlen,
ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Erst recht bei einem Wert unter 50 Euro. Die
Supermarktketten würden das stillschweigend in Kauf nehmen, meint O. Und: „Die
entstandenen Verluste werden durch Preiserhöhungen an die Kunden weitergegeben.“ Einer
der Gründe dafür, weshalb die Konzernleitung es nicht gern sieht, wenn Mitarbeiter mit
Außenstehenden über diese Vorfälle sprechen.
Der Vergewaltiger kommt mit Bewährung davon
Daß selbst sexueller Mißbrauch in 54 Fällen nicht ausreichen kann, um hinter Schloß und
Riegel zu kommen, konnte im vergangenen Monat der 40 Jahre alte Nicola M. erfahren, der
sich deswegen vor dem Landgericht Saarbrücken zu verantworten hatte. Zwei Jahre lang hatte
er sich an dem zu Beginn 15 Jahre alten Sohn ehemaliger Freunde vergangen. Seine Anwältin
hatte mit Richter und Staatsanwaltschaft einen „Deal“ ausgehandelt: Bei einem Geständnis
des Angeklagten würde dieser maximal zwei Jahre auf Bewährung erhalten und eine
Sexualtherapie auferlegt bekommen. Der Beschuldigte sagte aus und blieb ein freier Mann,
obwohl er schon einmal wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer zweijährigen
Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Die aber liege bereits 15 Jahre zurück.
Blicke in die Verhandlungssäle von Amtsgerichten in Deutschlands Großstädten jenseits der
von Pressestellen angekündigten Fälle machen deutlich, wie weitreichend Straftaten verübt
werden können, ohne dafür befürchten zu müssen, hinter Gitter zu gelangen.
Da ist etwa der Fall eines 27 Jahre alten Tunesiers, der sich vorigen Monat wegen
Vergewaltigung einer 23jährigen Deutschen vor dem Bremer Amtsgericht zu verantworten
hatte. Keine Gesten der Entschuldigung, keine Zeichen der Reue in Richtung des Opfers, dem
die Aussage sichtlich schwerfiel. Der Täter ist vorbestraft, wenn auch nicht einschlägig. Sein
Opfer hatte er stundenlang in seiner Wohnung festgehalten. Trotzdem sollte er erneut mit
einer Bewährungsstrafe und mahnenden Worten der Richterin davonkommen.
Und bei einem 45 Jahre alten Türken mit deutscher Staatsangehörigkeit, der einem
Familienvater in einer Hannoveraner Gaststätte eine Kopfnuß verpaßt hatte, wurde das
Verfahren während der Hauptverhandlung in Hannover gleich ganz eingestellt. Wegen
Schuldunfähigkeit. Alkohol sei im Spiel gewesen. Der Täter hat Blickkontakt zu seinem
Opfer, zeigt ihm ein kurzes hämisches Grinsen nach Verkündung der Einstellung. Der
Geschädigte reagiert mit einem Kopfschütteln. „Ich habe mein Vertrauen in den Rechtsstaat
verloren“, sagt er der JF. Er sei kein Freund von Gewalt. „Aber von jetzt an werde ich mir
auch Pfefferspray zulegen“, sagt er trotzig und verläßt sichtlich verärgert den
Amtsgerichtssaal.
Paragraph 153 StPO: Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit
1) Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit
Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der
Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein
öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Der Zustimmung des Gerichtes bedarf es
nicht bei einem Vergehen, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und
bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind.
(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens unter den
Voraussetzungen des Absatzes 1 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des
Angeschuldigten das Verfahren einstellen. Der Zustimmung des Angeschuldigten bedarf es
nicht, wenn die Hauptverhandlung aus den in § 205 angeführten Gründen nicht durchgeführt
werden kann oder in den Fällen des § 231 Abs. 2 und der §§ 232 und 233 in seiner
Abwesenheit durchgeführt wird. Die Entscheidung ergeht durch Beschluß. Der Beschluß ist
nicht anfechtbar.