9. Aug. 2016 Diesen Artikel finden Sie online unter http://www.welt.de/157508357 05.08.16 Telematik-Verträge Raser werden vom Versicherer künftig sofort bestraft Moderne Autos sammeln jede Menge Daten über unser Fahrverhalten. Doch wer hat Zugriff auf das Material, das bei einem Unfall entscheidend sein kann? Der Fahrer, die Versicherung oder die Polizei? Von Benedikt Fuest , Adrian Lobe Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto auf einem Parkplatz gegen eine Hauswand, da Sie das Gaspedal mit der Bremse verwechselt haben. Die Airbags werden ausgelöst, die Karosserie ist verbeult. Es entsteht ein Sachschaden von mehreren Tausend Euro. Hinterher könnten Sie versucht sein, den Unfallhergang bei der Versicherung so zu deklarieren, als hätte das Auto von selbst beschleunigt. Das funktioniert jedoch nicht, wenn das Auto vom Elektroautohersteller Tesla stammt. Tesla widersprach der Darstellung eines Kunden, der seinen Model X SUV gegen ein Gebäude setzte. Sein Fahrzeug habe "plötzlich und unerwartet" von selbst beschleunigt. Der Vorfall ging in der Aufregung um den fatalen Tesla-Crash (Link: http://www.welt.de/156727084) , bei dem ein Fahrer im Autopilotmodus auf einen Sattelschlepper krachte und tödlich verunglückte, beinahe unter. Die Daten zeigen laut dem Hersteller, dass das "Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen pro Stunde fuhr, als das Beschleunigungspedal zu 100 Prozent durchgetreten wurde". Der Fahrer war demaskiert. Daten lügen nicht. Die Technik wird zum Sachverständigen. Immer mehr Autobauer sammeln Daten über das Fahrverhalten. Das digitale Fahrtenbuch ist insbesondere für Hersteller, deren Fahrzeuge bereits teilautonomes Fahren beherrschen, essenziell wichtig – nur mittels der Daten können sie nach Unfällen Haftungsfragen klären. Kfz-Versicherungen können in sogenannten Telematiktarifen Rabatte geben, wenn Kunden in ihren Autos Geräte installieren, die ihren Fahrstil überwachen. Angenommen, Herr Müller fährt mit seinem Sportwagen auf einer Landstraße. Um seiner Freundin zu demonstrieren, welche Fahrkünste in ihm stecken, beschleunigt er, schneidet ein paar Kurven und überholt langsame Kleinwagen. Kurz darauf zeigt das Display auf seinem Bordcomputer an, dass die Prämie für die Kfz-Versicherung um 40 Prozent gestiegen ist. Was nach einem Science-Fiction-Szenario klingt, ist bereits Realität. Sogenannte Smart Contracts sorgen dafür, dass die Vertragsabwicklung – in diesem Fall die Anpassung der Versicherungsprämie – vollautomatisch abläuft. Daten erlauben Rückschlüsse auf den Fahrstil Die Allianz-Versicherung hat im Frühjahr einen eigenen Telematiktarif namens BonusDrive auf den Markt gebracht, bei dem eine Smartphone-App (Link: http://www.welt.de/themen/apps/) den Fahrer überwacht – wenn der langsam und vorsichtig fährt, sinkt die Versicherungsprämie um bis zu 40 Prozent. Wer die Kontrolle übers Gaspedal verliert, verliert auch den Bonus. Noch kommuniziert der Versicherer den Tarif vor allem als Sparmöglichkeit für Fahranfänger – doch was, wenn künftig Tarife teurer werden, wenn die Versicherungsnehmer die Telematiküberwachung verweigern? Und was passiert, wenn Hacker auf die Daten zugreifen – entweder um Bewegungsprofile der Nutzer abzugreifen oder um die Tarifdaten zu manipulieren? Dass sich die Daten an Bord des Fahrzeugs manipulieren lassen und etwa falsche Tachodaten abgespeichert werden können, bewiesen Hacker der Universität Saarbrücken bereits im vergangenen Jahr. Künftig könnten Technologien aus dem Digital-Finance-Bereich wie die Bitcoin-Transaktionsabsicherungstechnik Blockchain dazu eingesetzt werden, die Daten gegen Manipulation und Diebstahl abzusichern. Eine Untersuchung des ADAC (Link: http://www.welt.de/themen/adac/) zeigt anhand eines BMW 320d, welche Daten von modernen Fahrzeugen ermittelt und gespeichert werden. Unter Überwachung steht die maximal erreichte Drehzahl des Motors mit jeweiligem Kilometerstand, ebenso wie die Dauer der Fahrzeit in den verschiedenen Modi (Link: http://www.welt.de/themen/bmw/) des Automatikgetriebes (Dauer/Manuell/Sport), die Zahl der Verstellvorgänge des elektrischen Fahrersitzes und sogar wie oft der Gurt durch einen Elektromotor bei starken Bremsvorgängen straffer gespannt wurde. All diese Daten erlauben Rückschlüsse auf den Fahrstil und könnten als Beweismittel gegen den Fahrer verwendet werden: Der Carsharing-Anbieter Car2Go warnt bereits jetzt Nutzer, die zu schnell fahren, dass unangepasste Fahrweise zum Nutzungsausschluss führen könnte. Und in einem aktuellen Verkehrsstrafrechtsverfahren in Köln lieferte die BMW-Tochterfirma DriveNow Daten aus dem Carsharing-Fahrzeug, die dem Gericht Anhaltspunkte zur Fahrweise des angeklagten Fahrers sowie zu dessen Bewegungsprofil gaben. Automobilindustrie verweigert Zugang zum Computerprogrammen In der ADAC-Studie heißt es: "Das Crash-Sicherheits-Modul speichert in der US-Ausführung einige Sekunden an Ereignissen wie Beschleunigung, Geschwindigkeit, Gas- und Bremspedalstellung, bevor es zur Auslösung eines Airbags kommt. Diese Daten können dann mit entsprechender Software von Gutachtern ausgelesen werden." Käufer von Fahrzeugen mit Telematikfunktionen wie BMW (Link: http://www.welt.de/themen/bmw/) s ConnectedDrive müssen bereits jetzt beim Kauf mit der Unterschrift unter einen Nutzungsvertrag der Datensammlung und Übermittlung zustimmen. Dürfen diese Daten in zivilrechtlichen Streitigkeiten gegen oder für eine Partei verwendet werden? Und wer hat Zugriff auf die Daten? Laut der Sicherheitsstudie "Deutschland sicher im Netz" (DsiN) sorgen sich zwei Drittel aller Deutschen vor dem Datenabfluss im Auto. Daniela Mielchen, Fachanwältin für Verkehrsrecht, schreibt in einem Gutachten: "Die Bordelektronik von Fahrzeugen, mit deren Hilfe die Fahrzeughersteller problemlos Geschwindigkeit, Lenkrichtung, Straßenlage und Bremsverhalten in den entscheidenden Sekunden vor einem Unfall auslesen können, ist sowohl für den Fahrzeughalter als auch für die Verfolgungsbehörden in der Regel nicht auslesbar." Die Daten würden verschlüsselt gespeichert und könnten nur mit entsprechender Software durch die Hersteller beziehungsweise Systemlieferanten ausgelesen werden. Die Automobilindustrie habe hier in der Vergangenheit "extrem gemauert" und selbst nach tödlichen Verkehrsunfällen den Zugang zu den Computerprogrammen verweigert, die eine Auswertung der Bordelektronik möglich machen würde. Das macht deutlich, dass es bei der Diskussion nicht nur um Datenschutz, sondern um jede Menge Macht und Geld geht. Die Frage, wem die Daten im Ernstfall tatsächlich zur Verfügung stehen und wem sie gehören, ist hoch umstritten und führt zu komplexen haftungsrechtlichen Problemen. Das illustriert folgender Fall, den Mielchen in ihrem Gutachten schildert: "A begibt sich in ihren am Straßenrand abgestellten Pkw mit Automatikgetriebe. Sie schiebt den Schalthebel in die Position D und löst langsam die Bremse. Der Pkw beschleunigt daraufhin mit erheblicher Geschwindigkeit und fährt gegen eine Hauswand, wobei eine Person zwischen Hauswand und Pkw eingequetscht wird. A beteuert, dass sie das Gaspedal nicht betätigt hat und für das Fahrverhalten des Pkw nicht verantwortlich ist." Hersteller rief das Pkw-Modell später zurück Nur weigerte sich der Hersteller, die essenziellen Daten herauszugeben, um den Unfall zu analysieren. Also beauftragte das Gericht einen Sachverständigen, um den Unfall zu untersuchen. Doch auch dieser konnte die Daten wegen der fehlenden Herstellersoftware nicht entschlüsseln. Da das Fahrzeug keine technischen Mängel aufwies, wurde die Verursacherin vor Gericht verurteilt. Zwei Jahre später rief der Hersteller das Pkw-Modell allerdings wegen "unmotivierten Hochdrehens des Motors" in die Werkstätten zurück. Der Fall zeigt die "Waffenungleichheit" zwischen den Parteien. Die Verursacherin hätte sich durch die Daten ihres Fahrzeugs entlasten können. Doch ohne Einwilligung des Herstellers bleibt dieser Weg nur Wunschdenken. Er sitzt am längeren Hebel und wollte sich womöglich mit seinem Handeln einem Produkthaftungsprozess entziehen. Die Datenverwertung in zivilrechtlichen Haftungsprozessen ist umstritten – anders ist das bereits jetzt in Strafrechtsverfahren. Hier kann das Gericht die Hersteller zur Herausgabe von allen vorhandenen Daten verpflichten, wie der DriveNow-Fall in Köln zeigt: "Ein Strafrichter darf alle Daten vor Gericht verwenden – unabhängig davon, ob etwa Dritte wie der Autohersteller einen Verstoß gegen Datenschutzgesetze begehen, indem sie die Daten erheben", erklärt der Düsseldorfer Verkehrs- und Strafrechtsexperte Udo Vetter. "Auch eine Versicherung, die einen Telematiktarif anbietet, könnte vom Gericht zur Herausgabe von Fahrerdaten verpflichtet werden. Jeder Staatsanwalt ist dankbar, wenn er nachweisen kann, dass der angeklagte Fahrer bereits in der halben Stunde vor dem Unfall extrem risikoreich gefahren ist." Verkehrsrechtsexpertin Mielchen fordert darüber hinaus, dass die erhobenen Daten auch dem Fahrzeugführer respektive -halter zugänglich gemacht werden müssen. "Anderenfalls ließen sich etwaige Konstruktions- oder Fabrikationsfehler nicht nachweisen." Mielchen warnt: "Es muss befürchtet werden, dass Sicherstellungen/Beschlagnahmen bei Unfällen zukünftig möglicherweise routinemäßig und flächendeckend durchgeführt werden." Quelle: Die Welt (http://www.welt.de/157508357) © WeltN24 GmbH 2016. Alle Rechte vorbehalten
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