DOSSIER: „Man muss ein Nein akzeptieren“ Wie verhalten sich Journalisten im Umgang mit traumatisierten Menschen nach einem Unglück richtig? Ein Gespräch mit der Psychologin Brigitte Dennemarck-Jäger O bwohl die Richtlinien des Presserats klar definieren, wo die Grenzen der Berichterstattung über trauernde Menschen sind, werden diese Grenzen im Kampf um Reichweite und die Aufmerksamkeit der Leser und Zuschauer regelmäßig überschritten. Die Psychologin und Journalistin Brigitte Dennemarck-Jäger beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Journalisten in einer Katastrophensituation verhalten sollten. Frau Dennemarck-Jäger, wenn Sie Bilder und Berichte über Opfer von Katastrophen wie nach der Loveparade in Duisburg sehen, was denken Sie dann? Ich bin betroffen und frage mich, wie es den Beteiligten geht. Allerdings nicht nur in Bezug auf das Ereignis, sondern auf die Berichterstattung über sie. Ich weiß, dass es zum Journalismus gehört, nah an die Menschen zu kommen. Aber nach einer Katastrophe werden die Betroffenen von Journalisten oft regelrecht überfallen und bekommen in einer Situation, die sie überfordert und die sie nicht unter Kontrolle haben, ein Mikrofon unter die Nase gehalten. Nach Erfurt und Winnenden folgte jeweils eine harsche Selbstkritik der Medien, viele gelobten Besserung. Trotzdem gingen nach der Massenpanik in Duisburg wieder über 200 Beschwerden beim Presserat unter anderem wegen Sensationsberichterstattung ein. Lernen die Medien nichts dazu? Das ist ein Prozess. Immerhin wird inzwischen unter Journalisten diskutiert, wie man über Katastrophen berichten kann. In den 80er-Jahren hatten wir eine ähnliche Situation in der Berichterstattung über sexuellen Missbrauch. Da gab es damals ebenfalls viel Sensationsgier. Doch die darauffolgende Diskussion hat inzwischen dazu geführt, dass das Thema tiefgründiger angegangen wird, die Berichte sind behutsamer. Ich hoffe, dass sich so ein Bewusstsein auch bezüglich der Berichterstattung über Katastrophen entwickelt. Die Medien haben einen Informationsauftrag. Wie können sie behutsam über schockierende Ereignisse wie einen Amoklauf, aber auch einen Unfall oder Brand und die damit verbundene Trauer berichten? 4 drehscheibe 12 I 2010 Journalisten haben die Pflicht und das Recht zu berichten und auch die Perspektive von Opfern wiederzugeben. Aber die meisten Journalisten sind für solche Situationen nicht geschult und sind selbst verunsichert und überfordert. Wenn nun ein Journalist den Auftrag bekommt, die Opferperspektive darzustellen beziehungsweise mit Angehörigen zu sprechen. Was raten Sie ihm? Zu allererst ist es wichtig, nicht aufdringlich zu sein, sich normal vorzustellen, den Namen der Zeitung zu nennen und zu erklären, worum es in dem Interview gehen soll. Wenn der Betroffenene dann ablehnt, ist es wichtig, ein Nein zu akzeptieren und niemanden zu bedrängen. Dann ist es sinnvoll, den Interviewpartner nach Möglichkeit in einen geschützten Raum zu bringen und somit raus aus dem direkten Bereich des Ereignisses. Wenn möglich, sollte der Interviewpartner entscheiden können, wo das Gespräch stattfindet. Schließlich hilft es, eine klare Struktur zu schaffen. Was meinen Sie damit? Man kann zum Beispiel vorher vereinbaren, das Interview bei einem Handzeichen abzubrechen, wenn es dem Betroffenen zu viel wird. Dann sollte man sich ständig im Klaren sein, dass sich der Mensch, mit dem man gerade spricht, in einer absoluten Ausnahmesituation befindet, dass das Hirn nicht normal arbeitet und mit Stresshormonen geflutet ist. Da rum sollte man auch keine Fragen stellen wie: „Wie haben Sie sich gefühlt...?“. Das versetzt den Betroffenen in die Situation zurück und führt ihm seine Ohnmacht erneut vor Augen. Besser sind eher unpersönliche Fragen wie „Was ist passiert?“ Außerdem kann es helfen, den Interviewpartner aus der passiven Opferrolle zu holen und anzubieten, dass er mit entscheiden kann, ob die Antwort auf eine Frage in den Text kommt oder nicht. Beispiel Winnender Zeitung: In der Berichterstattung über den Amoklauf in Winnenden setzte sich die Winnender Zeitung von dem allgemeinen Sensationslauf ab und wurde für diese Entscheidung mit einem Sonderpreis des Deutschen Lokaljournalistenpreises der Konrad Adenauer Stiftung ausgezeichnet. Sofort nach dem Amoklauf legte Chefredakteur Frank Nipkau die redaktionelle Linie fest: „Wir müssen nicht alles wissen, wir müssen nicht alles schreiben und wir müssen nicht alles zeigen - und können DOSSIER: Tod und Trauer Sollte ein Journalist sein Mitgefühl zeigen? Sicher. Aber es sollten Floskeln vermieden werden. Sätze wie „Das wird schon wieder“ oder „Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen“ spiegeln eher eine eigene Ohnmacht wider, mit der Situation umzugehen. Eine Berührung etwa kann helfen. Aber nur, wenn es in der Situation passt, also wenn zum Beispiel ein Zeuge nach einem schrecklichen Unfall stark zittert, kann man ihm eventuell beruhigend die Hand auf die Schulter legen. Man muss sich ins Bewusstsein rufen, dass man als Mensch unterwegs ist und sich fragen, wie man selbst reagieren würde, was man selbst wollen würde. Was ist, wenn jemand weint? In so einem Fall nicht fragen, wie es ihm gerade geht. Möglich wäre etwa, ein Glas Wasser anzubieten. Man sollte immer daran denken, dass man auch Verantwortung trägt. Darum: anbieten, das Interview abzubrechen und eine Vertrauensperson zu rufen. Für Bilder ist wichtig, dass keine weinenden Menschen gezeigt werden. Es kann Traumasymptome reaktivieren, sich selbst am nächsten Tag in einem sehr intimen und schutzlosen Moment in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen. trotzdem eine gute Zeitung machen.“ Dafür stellte er drei Regeln auf: - Wir sprechen keine Opferfamilien an - Wir zeigen keine Opferfotos - Wir berichten nicht über Beerdigungen Stattdessen berichtete die Zeitung über das Waffenrecht, Killerspiele und politische Konsequenzen. „Es geht nicht nur darum zu zeigen, wie sich Menschen fühlen, sondern welche Konsequenzen aus den Ereignissen gezogen werden“, sagt Nipkau der drehscheibe (siehe www.drehscheibe.org/483/) Brigitte Dennemarck-Jäger ist DiplomPsychologin und arbeitet als TraumaTherapeutin am Deutschen Institut für Psychotraumatologie in Köln. Zuvor war Dennemarck rund 20 Jahre als Journalistin für den WDR tätig. Telefon: (02202) 9 89 10 10 E-MAIL: [email protected] Wie sollten Zeitungen das Geschehen wiedergeben? Für die Opfer ist es schlimm, wenn sie sich falsch dargestellt fühlen. Das passiert schnell, weil es unterschiedlich ist, was subjektiv als wichtig wahrgenommen wird. So gewichtet der Journalist das Erzählte trotz bester Absichten oft anders als Betroffene selbst – die sich in der Stresssituation zudem oft nicht klar und strukturiert äußern können. So kann es sinnvoll sein, den Text gegenlesen zu lassen oder die Interviewpartner wie schon erwähnt aktiv in den Entstehungsprozess des Textes einzubeziehen. Auf Opferfotos sollte ganz verzichtet werden. Interview: Katrin Matthes drehscheibe 12 I 2010 5 6 Forum Lokaljournalismus 2011 Die neue Architektur des Lokaljournalismus Acht Regeln für die Amok-Berichterstattung Von Frank Nipkau Wir brauchen Regeln für die Berichterstattung, die über die allgemeinen Grundsätze des Pressekodexes hinausgehen. Dies ist erstmals zum Jahrestag des Amoklaufes von Winnenden versucht worden. Jeder Journalist, der sich für die Berichterstattung akkreditiert hatte, erhielt im März 2010 eine „Stellungnahme der Psychologischen Nachsorge“. Die Psychologische Nachsorge betreut im Auftrag der Unfallkassen in Baden-Württemberg traumatisierte Schüler, Eltern und Helfer. „Fotos, Berichte und Informationen zu Ereignissen wecken bei allen Menschen Erinnerungen an die Vergangenheit, an belastende und schmerzliche Erfahrungen“, heißt es in dem Papier. „Unser Ziel ist es, den Betroffenen und ihren Angehörigen den Schutzraum zu gewähren, den sie benötigen, um den Genesungsprozess fortsetzen zu können. Der Respekt vor der Würde des Menschen erfordert, die Betroffenen nicht durch Bedrängnis von außen mit der belastenden Situation zu konfrontieren. Wir möchten, dass die Menschen in Winnenden in Ruhe trauern können.“ Dann folgen acht Regeln für die Berichterstattung – in der Form von Bitten: 1 Halten Sie bitte Abstand zu Menschen, die trauern. 2 Zeigen Sie bitte Respekt und bedrängen Sie die trauernden Menschen nicht. 3 Akzeptieren Sie bitte ein „Nein“; akzeptieren Sie Ruhe- und Rückzugsbedürfnisse. 4 Achten Sie bitte die Privatsphäre der Betroffenen und der Anwohner. Belagern Sie keine Häuser und Schulen. 5 Bitte rufen Sie nicht ohne Erlaubnis Betroffene einfach zu Hause an. 6 Fotografieren und filmen Sie bit4 te nicht die Gesichter von Menschen, die weinen. 7 Befragen Sie bitte keine Minderjährigen. 8 Fragen Sie bitte nicht nach dem persönlichen Erleben vor einem Jahr, weil dadurch die traumatischen Erfahrungen wiederbelebt werden. Außerdem kann dadurch der therapeutische Prozess bei den Betroffenen wieder zurückgeworfen werden. Diese Regeln sind bei der Berichterstattung über den ersten Jahrestag weitgehend beachtet worden und haben der Qualität von Filmbeiträgen oder Artikeln nicht geschadet. Prof. Dr. Wolfgang Donsbach Gisela Mayer Frank Nipkau Lutz Tillmanns Prof. Dr. Christian Schicha Richte keinen Schaden an, ganz einfach Der Amoklauf in Winnenden und die Ethik im Journalismus – eine Podiumsdiskussion Welche Lehren müssen die Medien aus der Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden ziehen? Was lief falsch, was richtig? Wie können Zeitungen ihrer ethischen Verantwortung gerecht werden? Von Peter Schwarz Es ist ganz einfach, im Grunde sind sich darüber alle auf dem Podium einig. Wie ein Berichterstatter sich im Angesicht einer schrecklichen Katastrophe zu verhalten hat, lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen, und um ihn zu begreifen, reicht der gesunde Menschenverstand: „First do no harm“, sagt Bruce Shapiro vom Dart Center for Journalism and Trauma – keinen weiteren Schaden anzurichten bei den Betroffenen, das sei die erste Leitlinie. Wer über Entsetzliches wie einen Amoklauf, eine Naturkatastrophe, einen Verkehrsunfall berichtet, muss sich in jedem Augenblick der Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen bewusst sein. Sie sehen sich vollkommen unvorbereitet in eine Situation hineingeworfen, aus der es keinen Ausweg gibt – in solch einer Lage „ruht eine erhöhte Verantwortung auf den Schultern des Journalisten“, sagt Gisela Mayer, deren Tochter Nina am 11. März erschossen wurde. Alles Weitere ergibt sich daraus – die psychologische Nachsorge hat in Winnenden in einer viel beachteten Handreichung für Journalisten die naheliegenden Regeln durchdekliniert: Trauernde nicht bedrängen; keine Minderjährigen befragen; Schulen und Wohnhäuser nicht belagern. Oder mit den Worten von Frank Nipkau, Redaktionsleiter beim Zeitungsverlag Waiblingen: die „Jagd auf Opfer- Fotos und Opfer-Geschichten“ nicht mitmachen, nicht zwei Stunden nach der Tat bei den schockstarren Eltern klingeln: Haben Sie Bilder von Ihrer Tochter? Hatte sie einen Freund? Der Zeitungsverlag Waiblingen hat auf blutige Einzelheiten der Tat verzichtet – und „es gab keinen Leser, der gesagt hat, da hat uns was gefehlt“. Man kann sich der Hatz nach den grellsten Details also entziehen – und nimmt gerade dadurch keinen Schaden: Lokaljournalisten sind keine routinierten Katastrophenprofis, die von irgendwoher anreisen, eine Geschichte raushauen und wieder verschwinden; Lokaljournalisten sind auch keine „Bild“-Reporter, von denen man nun mal weiß, dass Behutsamkeit, Zurückhaltung, Respekt nicht Teil des Geschäftsmodells sind; Lokaljournalisten müssen auch am Tag, in der Woche, im Jahr nach dem Geschehnis den Menschen in ihrer Heimat in die Augen schauen können. Wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden, gewinnen sie den Respekt der Leser. Das ist eine „ermutigende Botschaft“ für jede Lokalredaktion, sagt Nipkau. So weit ist den Podiumsbeiträgen nicht im Geringsten zu widersprechen. Am spannendsten sind aber womöglich zwei Beiträge, die über diesen Common Sense hinaus Problemhorizonte aufreißen . . . „Gründlichkeit statt Schnelligkeit“ Bei der Berichterstattung über ein derart existenziell erschütterndes Drama, sagt Prof. Christian Schicha von der Mediadesign-Hochschule Düsseldorf, muss die Maxime lauten: „Gründlichkeit statt Schnelligkeit“. Aber sich dem Diktat der Schnelligkeit zu entziehen – das wird künftig nicht leichter. In einer ganzen Serie von Referaten kreist dieses Lokaljournalistenforum um die Frage, wie der Journalismus sich in der digitalen Zukunft behaupten wird. Es wird, sagen viele, darum gehen, minutenaktuell Nachrichten in die multimedialen Kanäle einzuspeisen und so gegen die ebenfalls im Hecheltempo operierende Konkurrenz zu bestehen. Schnelligkeit aber steht strukturell in einem Widerspruch zu Genauigkeit, Reflektiertheit, Behutsamkeit. Wie sichern wir uns in diesem Hamsterrad der Beschleunigung Denkpausen? Prof. Wolfgang Donsbach von der Technischen Universität Dresden fordert „mehr Schutz der Journalisten, die sich dem Weiterdrehen der Schraube verweigern, Schutz für die, die sich in der Tageshektik dem Druck entziehen“. Wenn ein Journalist aus einem Gefühl professioneller Verantwortung heraus eine eigenständige Entscheidung trifft, müsse er auf einen kollegialen „Schutzwall“ bauen können, müsse er auf seinem Gewissen beharren dürfen – selbst wenn von dieser Entscheidung ökonomische Verlagsinteressen berührt sind. Und das, sagt Donsbach, gilt nicht erst bei einem Amoklauf. Es beginnt bei viel alltäglicheren „ethischen Problemen“; bereits dort, wo ein Journalist „über einen Inserenten nicht schlecht schreiben“ darf, weil der sonst womöglich keine Anzeigen mehr schaltet. Wer gewohnt ist, Einmischungen als Unausweichlichkeiten zu akzeptieren, Vorgaben zu gehorchen und sich das freie Denken abnehmen zu lassen, wird im Zweifelsfall in einer dramatischen Ausnahmesituation nicht über die Erfahrung und das Selbstbewusstsein verfügen, auf seinen inneren Kompass zu vertrauen. Forum Lokaljournalismus 2011 Die neue Architektur des Lokaljournalismus Die Arbeit mit dem Langzeit-Trauma Wie können Lokaljournalisten mit einem Amoklauf umgehen? Interview mit Bruce Shapiro Mit welcher Motivation haben Sie das Dart Center für Journalismus und Trauma gegründet? Shapiro: Als Lokaljournalist kam ich mit sehr viel Gewalt und schlimmen Schicksalsschlägen in Berührung. Als ich 19 Jahre alt war, musste ich über eine Frau schreiben, die nach einem Giftgasunfall gestorben war. Das war meine erste Geschichte. Ein schlimmes Ereignis im Sommer 1994 veränderte meine Perspektive. Ich und sechs weitere Menschen wurden in einem Café von einem Mann niedergestochen. Im Sommerloch wurde die Geschichte großgefahren und kam auf die Titelseiten der New York Times und des Time Magazines. Urplötzlich war ich nicht nur Journalist, sondern auch Opfer. Als ich meine Erfahrungen in verschiedenen Artikeln beschrieb, wurde mir bewusst, dass ich den Prozess, den ein Opfer nach einer Gewalttat erlebt, bislang überhaupt nicht verstanden hatte. Ich reagierte äußerst emotional auf die Berichterstattung und die Fernsehkameras, die mich und meine Familie belagerten. Seither beschäftigt mich das Verhältnis von Gewalt und Medien. Ich war nicht der einzige. Wir fanden uns in einer Gruppe aus Psychologen, Betroffenen und Kollegen zusammen, um uns auszutauschen und zu lernen. Das war der Beginn der Dart Foundation, aus der Jahre später das Dart Center hervorging. Was waren die wichtigsten Themen, die Journalisten, die viel mit Gewalt zu tun haben, beschäftigten? Shapiro: Zwei Jahre später stießen wir auf ein Thema, das bis dahin noch nie öffentlich diskutiert worden war. Ein befreundeter Psychiater hielt einen Vortrag über die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei der Seattle Times. Daraufhin meldete sich ein älterer Redakteur und sagte: „Das trifft ziemlich genau auf mich zu." Wir gaben Umfragen und Untersuchungen in Auftrag, um herauszufinden, wie groß die traumatische Belastung für Journalisten ist, die über Gewalt und Kriminalität berichten. 86 % aller Lokaljournalisten haben mit solchen Themen zu tun, unsere Ergebnisse ergaben, dass etwa sechs bis 13 Prozent Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigten, bei den Auslandskorrespondenten sind es sogar 28 Prozent. Unsere Untersuchungen ergaben aber auch, dass Journalisten statistisch gesehen relativ gute seelische Widerstandskräfte gegenüber PTBS aufweisen. Welche Risikofaktoren gelten für Journalisten? Shapiro: Bei Traumata gibt es keine kausalen Zusammenhänge. Aber wir fanden heraus, dass ein wiederholtes Miterleben von Gewalt und Kriminalität das Risiko erhöht. Als ich jung war, dachte ich immer, je mehr Berufserfahrung ich haben würde, desto weniger würde mich das Erlebte mitnehmen. Diese Annahme ist offensichtlich falsch. Auch eine hohe Identifikation mit dem Ereignis wirkt sich negativ aus. Das bedeutet, je mehr ich mir vorstelle, das Ganze könnte auch mir selbst passieren. Klassisch sind dabei Autounfälle, über die jemand berichtet, der anschließend in sein eigenes Auto einsteigen muss. Auch Mütter und Väter, die miterleben müssen, wie ein Kind stirbt, können dies schwerer verkraften. Auf der anderen Seite gibt es Faktoren, die die seelischen Widerstandskräfte stärken können. Dazu gehören vor allem ein gutes Teamgefühl und Zusammenhalt in der Redaktion, aber auch ein Basiswissen über die Symptome eines Traumas. Wie bewerten Sie die Aufgaben eines Journalisten in einer Situation nach einer Tragödie? Wie kann man die Qualität seiner Arbeit beurteilen? Shapiro: Die Aufgabe, nach einem Unglück oder etwa einem Amoklauf zu berichten, ist besonders für Lokaljournalisten eine große Herausforderung. Anders als die anderen Medien können sie eine große Geschichte nicht fahren und danach wieder verschwinden. Meistens leben sie in der Gemeinde und sind auf irgendeine Weise betroffen. Gerade wegen dieser fehlenden Distanz wird häufig das Thema Objektivität diskutiert. Dabei gibt es aus meiner Sicht gar keine journalistische Objektivität. Jeder Reporter hat seine eigene Geschichte, seine eigene Sichtweise. Diese muss und darf ein guter Journalist nicht verleugnen. Seine wichtigste Aufgabe ist es, fair zu berichten. Was ist aus Ihrer Sicht die Aufgabe von (Lokal-)Journalisten nach einem Amoklauf wie in Winnenden? Shapiro: So ein Ereignis pas- siert nicht und kann dann für die Vergangenheit abgehakt werden. Die ganze Gemeinde erleidet ein Langzeittrauma, dass sich auf ganz unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Graden der Betroffenheit offenbart. Manchmal ist die lokale Presse die einzige vertrauenswürdige Informationsquelle. Das ist eine große Verantwortung. Journalisten können helfen und beeinflussen, wie die Menschen das Trauma und die eigenen Heilungsperspektiven wahrnehmen. Zunächst müssen Journalisten akzeptieren, dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess und kein einmaliges Ereignis handelt. Sie müssen ein sensibles Gespür für diesen Prozess entwickeln Es ist normal, wenn sich besonders unmittelbar Betroffene isoliert fühlen, wenn sie traurig sind und oft eben auch sehr wütend. Wenn das eigene Kind in der Schule erschossen wird, verlieren viele Eltern das Vertrauen in die Gesellschaft. In jenen sozialen Vertrag, der uns eigentlich garantieren soll, dass wir in einem sicheren Land leben und dass Schulen sichere Orte sind. Wenn dieser Vertrag durch einen Amoklauf gebrochen wird, bricht nicht nur das Familienleben, sondern auch das gesellschaftliche Vertrauen zusammen. Aber auch die Angehörigen, die ihr Kind verloren haben, gehen trotz dieses nicht zu kompensierenden Verlustes durch einen Prozess der seelischen Heilung. Journalisten können diesen Prozess positiv begleiten, indem sie diesen Menschen eine Stimme geben. Indem sie helfen, zu vermitteln, zwischen jenen, die sich schwer tun, weiterzuleben, und jenen, die Bruce Shapiro, Direktor des Dart Centers für Journalismus und Trauma mit Hauptsitz an der Columbia Universität in New York City. Foto: privat schon längst nichts mehr von dem Schulmassaker wissen wollen. Wenn einige Zeit verstrichen ist, beispielsweise am ersten Jahrestag, können Journalisten erinnern. Nicht, indem sie die Vergangenheit zurückholen, sondern indem sie aufzeigen, wie sich die Situation entwickelt hat und was momentan für den Heilungsprozess von Einzelnen oder der gesamten Gemeinde wichtig ist. Dabei kann es aber nie eine pauschale Herangehensweise geben, denn jeder Betroffene hat seine ganz eigene Art und Zeit, mit dem Erlebten umzugehen. Es geht immer um die Frage, welche Geschichte wann und wie erzählt werden kann. Dabei müssen Journalisten immer wieder ihr Gewissen befragen und auch über die eigenen Gefühle reflektieren. Interview: Anne-Katrin-Schneider Dart-Center ■ Das Dart Center für Journalismus und Trauma ist ein Netzwerk, das sich als Forum und als Ressource versteht, um die sensible und sachkundige Berichterstattung über Tragödien und Gewalt zu fördern. Es unterstützt die Aus- und Weiterbildung von Journalisten und bietet hilfreiche Anleitungen über Journalismus und Trauma. Termine, Materialien und weiteres unter: www.dartcenter.org/german 7 Kriminalität Dossier „Traumatisierte sind keine Quellen“ 12. bis zum 31. März 2009 – 138 Zeitungsseiten zum Thema veröffentlicht. Die Winnender Zeitung setzte im März 2009 einen Kontrapunkt zu der Art, wie zahlreiche überregionale Medien über den Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden berichteten. Die Redakteure vor Ort arbeiteten nach ethischen Regeln, die den Interessen aller Betroffenen Rechnung tragen sollten. Die drehscheibe sprach mit Frank Nipkau, dem Redaktionsleiter des Zeitungsverlages Waiblingen, der in dieser Funktion auch für die Winnender Zeitung verantwortlich ist. Herr Nipkau, wie ist es Ihnen gelugen, für die Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden moralische Grundsätze zu entwickeln? Vor allem angesichts dessen, dass man auf das Geschehen schnell reagieren musste. Wenn man am Tag, an dem eine Katastrophe passiert, anfängt, Diskussionen zu führen, ist man verloren. Da muss man nur noch funktionieren. Wie ein Pilot, der eine Notlandung hunderte Male trainiert hat, damit er im entscheidenden Moment automatisiert handeln kann. Wir hatten Erfahrungen mit so einer Situation – etwa wegen einer Geiselnahme in einer Waiblinger Schule, wo im Jahr 2002 ein ehemaliger Schüler mit der Pistole eine Klasse und die Lehrerin über mehrere Stunden hinweg festgehalten hat. Es ist gottseidank unblutig ausgegangen. Da haben wir auch zum ersten Mal Erfahrungen gemacht mit der Medienlawine inklusive aller Fehler, die dann auch in Winnenden wiederholt wurden. Welche zum Beispiel? Der haarsträubendste Fehler: Man erfährt einen Täternamen und googelt den dann. Der Täter im Jahr 2002 hieß Marcel K., und es gab einen gleichnamigen Handballer aus Waiblingen. Nummer 10, 1. September 2013 So ging zuerst ein falsches Täterprofil durch die Medien. Ähnliches ist 2009 passiert, als ein Auszubildender aus Bremen kurzzeitig als Täter galt. Daher und aufgrund der Auseinandersetzung mit anderen Kriminalfällen – etwa dem sogenannten Betonmord im Remstal, wo Jugendliche die Leichenteile eines anderen Jugendlichen in Beton im Neckar versenkt hatten – hatten wir ein Regelwerk, das uns geholfen hat, am 11. März 2009 adäquat zu reagieren. Wie sehen die Regeln aus? Dreierlei: Wir sprechen von uns aus keine Familien von Opfern an, wir veröffentlichen keine Fotos von Opfern, und wir berichten nicht über Beerdigungen. Das haben wir auch vom zweiten Tag an den Lesers so kommuniziert. Am dritten oder vierten Tag haben wir auch die Bildsprache verändert: Wir haben Menschen dann nur noch von hinten oder von der Seite gezeigt, aber keine trauernden Gesichter mehr, die wir noch in den ersten zwei oder drei Tagen im Blatt hatten. Man kann sehr gut darauf verzichten. Dem Umfang der Berichterstattung hat es auch nicht geschadet. Wir haben in den ersten drei Wochen nach dem Amoklauf – vom Wie verhielten sich andere Medien? Oft wurden Augenzeugen bedrängt. Schwer traumatisierte Menschen gehören in solchen Situationen aber nicht vor eine Kamera – erst recht nicht schwer traumatisierte Jugendliche. Neben dem ethischen Aspekt, dass es gefährlich ist für die G e su nd h e i t trau m atisierter Menschen, diese zu bedrängen, gibt es ja noch einen zweiten Aspekt: Traumatisierte sind keine verlässlichen Quellen. Im Prozess der Traumatisierung verengt sich die Wahrnehmung, man bekommt als Beteiligter des Geschehens einen Tunnelblick, gerichtet auf das eigene Überleben. Das harmloseste Beispiel: Einige Augenzeugen haben erzählt, der Attentäter habe einen Kampfanzug getragen. Das hat sich aber als Nonsens erwiesen. Andere Kollegen etwa haben sich Fotos aus trüben Quellen besorgt. Eine davon war Frank Nipkau ist der Schulfotograf der Redaktionsleiter Albertville-Realschu- des Zeitungsverlale. Er hat die Fotos ges Waiblingen. der Opfer über einen Rechtsanwalt verkauft. Die sind etwa im Stern erschienen, ohne dass die Eltern ihre Zustimmung gegeben hatten. Name Frank Nipkau E-Mail [email protected] Interviews: René Martens 5 Dossier Kriminalität Das Unbegreifliche darstellen In Winnenden und Erfurt haben vor einigen Jahren Amokschützen zahlreiche Menschen getötet. Die drehscheibe wollte wissen, wie die dortigen Redaktionen damit umgegangen sind. „Journalisten haben sich dumm verhalten“ Die Thüringer Allgemeine hat im Jahr 2012 in einer Serie den Amoklauf aufgearbeitet, bei dem im Jahr 2002 am Erfurter GutenbergGymnasium 16 Menschen getötet wurden. Über mehrere Wochen hinweg wartete die Zeitung mit Hintergrundartikeln, Interviews mit Augenzeugen und Experten auf. Am Jahrestag veröffentlichte sie eine Ausgabe mit 15 weiteren Beiträgen, unter anderem von Philosophen und Historikern. Aus der Serie entstand das Buch „Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken”. Die drehscheibe sprach mit Redakteur Hanno Müller, einem der Herausgeber des Buchs. Herr Müller, wie sind die Kontakte zu Ihren Gesprächspartnern zustande gekommen? Wir haben beispielsweise mit vielen Helfern und Psychologen und einer Pfarrerin, die als Seelsorgerin direkt nach der Tat Betroffene an der Schule betreut hat, seit zehn Jahren mehr oder weniger zu jedem Jahrestag zusammengearbeitet. Da wussten wir, dass eine gewisse Bereitschaft da sein wird. Die Schülerinnen und Schüler, die man damals kannte, leben größtenteils nicht mehr in Thüringen. Die Kontaktdaten konnte man teilweise über das Netzwerk Xing recherchieren. Woher rührt diese Haltung? Zahlreiche Journalisten, die im Jahr 2002 in Erfurt ausschwärmten, haben sich dumm und unsensibel verhalten. Man hörte damals von Fangprämien: Kellnern wurden 100 Euro versprochen, wenn sie Interviewpartner heranschaffen. Fotografen sind in einen Baum geklettert und haben versucht, einen Lehrer abzulichten, der sich abgeschottet hatte. Aus diesem Verhalten hat sich eine Stimmung gegen die Medien entwickelt. Sie hat aber in der Regel nicht die Journalisten vor Ort getroffen. Im Rahmen der Jahrestags-Serie hat man uns bestätigt, dass wir sensibel gearbeitet haben. Wie groß war die Gesprächsbereitschaft bei den Angehörigen der Opfer? Es ist in Erfurt bekannt, dass sich zwei bis drei von ihnen äußern - alle anderen lehnen es definitiv ab. Ich habe einige Angehörige, die ich über persönliche Kontakte kenne, anlässlich der geplanten Serie noch einmal angesprochen. Vergebens. ringer Allgemeinen. Wie lief die Zusammenarbeit mit den Gesprächspartnern? Viele haben uns zu unserer Serie noch einmal ermuntert. Wir haben allen zugesichert, dass sie den fertigen Text zu sehen bekommen und das letzte Wort haben. Man weiß ja nicht, was so ein Interview bei traumatisierten Menschen bewirkt. So ein Gespräch kann ja auch kippen. Wir sind keine Psychologen, wir sind Journalisten. Viele Betroffene sind etwas weiter noch als vor zehn Jahren, für andere ist es noch ganz real und nah. Wie viele Absagen haben Sie erhalten? Ich hatte einen Fall, wo alte Ressentiments, die es vor zehn Jahren gegen die Medien gab, wieder aufkamen. Tenor: Wie könnt ihr es wagen, bei uns alles noch einmal aufzuwühlen? Das hat der Vater einer ehemaligen Schülerin gesagt. Es handelte sich um eine heute 28-jäh- In einem Artikel, in dem Sie in Ihrer Zeitung auf das Buch zur Serie hinweisen, erwähnen Sie, dass sich die Redaktion im Rahmen des Gedenkens für einen Tag zu einer Selbstverständigungsklausur getroffen hat. Was hat es damit auf sich? Wir haben uns einige Tage vor dem eigentlichen Jahrestag zusammengesetzt. Unterstützt von einer Vertreterin des New Yorker Dart Center for Journalism and Trauma, das auch in Deutschland einen Sitz hat, haben wir Hanno Müller ist Über welchen Zeitraum erstreckte sich das Projekt? Der Jahrestag war im April, aber bereits im Februar haben wir mit unseren ganzseitigen Beitragsfolgen begonnen. Redakteur der Thü- 4 rige, die damals bei der Trauerfeier gesprochen hat. Auch sie hat uns geschrieben und Sensationslüsternheit vorgeworfen. uns gefragt: Wie gehen wir mit Opfern und Betroffenen um? Diese Diskussionen flossen mit in die Serie ein. Sie hatten Einfluss beispielsweise auf die Entscheidung, welche Fotos von damals wir noch einmal veröffentlichen und welche nicht. Wir haben auch darüber gesprochen, was mit uns selbst passiert: Wenn ein Fotograf durch die Schule geht und überall die Einschusslöcher fotografiert und im Kopf hat, was da vorgegangen ist - das verändert ihn ja auch. Haben Sie aus dieser Tagung auch etwas mitgenommen für die Berichterstattung in anderen Zusammenhängen? Es ging generell darum, wie wir uns in heiklen Situationen verhalten, etwa bei einem Unfall, bei dem es einen Toten gegeben hat. Wenn man sieht, dass man stört, andererseits aber auch seinen Job machen will. Geht man jetzt hin zu der Frau, die neben dem Opfer sitzt, und fragt, wie sie sich fühlt? Wie erzählt man als Journalist solche Geschichten? Name Hanno Müller E-Mail [email protected] Linktipp Das Dart Center for Journalism and Trauma, eine Projekt der Columbia University Graduate School of Journalism, befasst sich mit der Frage, wie über Gewalt und Konflikte angemessen berichtet werden kann. Hier geht es zur deutschsprachigen Seite: www.dartcenter.org/ german drehscheibe
© Copyright 2024 ExpyDoc