DOSSIER: „MAN MUSS EIN NEIN AKZEPTIEREN“

DOSSIER:
„Man muss ein Nein akzeptieren“
Wie verhalten sich Journalisten im Umgang mit traumatisierten Menschen nach einem
Unglück richtig? Ein Gespräch mit der Psychologin Brigitte Dennemarck-Jäger
O
bwohl die Richtlinien des Presserats klar
definieren, wo die Grenzen der Berichterstattung über trauernde Menschen sind, werden
diese Grenzen im Kampf um Reichweite und die
Aufmerksamkeit der Leser und Zuschauer regelmäßig überschritten. Die Psychologin und Journalistin Brigitte Dennemarck-Jäger beschäftigt
sich mit der Frage, wie sich Journalisten in einer
Katastrophensituation verhalten sollten.
Frau Dennemarck-Jäger, wenn Sie Bilder und
Berichte über Opfer von Katastrophen wie
nach der Loveparade in Duisburg sehen, was
denken Sie dann?
Ich bin betroffen und frage mich, wie es den
Beteiligten geht. Allerdings nicht nur in Bezug auf
das Ereignis, sondern auf die Berichterstattung
über sie. Ich weiß, dass es zum Journalismus
gehört, nah an die Menschen zu kommen. Aber
nach einer Katastrophe werden die Betroffenen
von Journalisten oft regelrecht überfallen und
bekommen in einer Situation, die sie überfordert
und die sie nicht unter Kontrolle haben, ein Mikrofon unter die Nase gehalten.
Nach Erfurt und Winnenden folgte jeweils eine
harsche Selbstkritik der Medien, viele gelobten Besserung. Trotzdem gingen nach der
Massenpanik in Duisburg wieder über 200 Beschwerden beim Presserat unter anderem
wegen Sensationsberichterstattung ein. Lernen die Medien nichts dazu?
Das ist ein Prozess. Immerhin wird inzwischen
unter Journalisten diskutiert, wie man über Katastrophen berichten kann. In den 80er-Jahren hatten
wir eine ähnliche Situation in der Berichterstattung
über sexuellen Missbrauch. Da gab es damals
ebenfalls viel Sensationsgier. Doch die darauffolgende Diskussion hat inzwischen dazu geführt,
dass das Thema tiefgründiger angegangen wird,
die Berichte sind behutsamer. Ich hoffe, dass sich
so ein Bewusstsein auch bezüglich der Berichterstattung über Katastrophen entwickelt.
Die Medien haben einen Informationsauftrag.
Wie können sie behutsam über schockierende Ereignisse wie einen Amoklauf, aber auch
einen Unfall oder Brand und die damit verbundene Trauer berichten?
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drehscheibe 12 I 2010
Journalisten haben die Pflicht
und das Recht zu berichten und
auch die Perspektive von Opfern
wiederzugeben. Aber die meisten
Journalisten sind für solche Situationen nicht geschult und sind
selbst verunsichert und überfordert.
Wenn nun ein Journalist den Auftrag bekommt, die Opferperspektive darzustellen beziehungsweise
mit Angehörigen zu sprechen. Was
raten Sie ihm?
Zu allererst ist es wichtig, nicht aufdringlich zu sein, sich normal vorzustellen, den Namen der Zeitung zu nennen und zu erklären, worum es in dem
Interview gehen soll. Wenn der Betroffenene dann ablehnt, ist es wichtig, ein
Nein zu akzeptieren und niemanden zu
bedrängen. Dann ist es sinnvoll, den Interviewpartner nach Möglichkeit in einen
geschützten Raum zu bringen und somit
raus aus dem direkten Bereich des Ereignisses. Wenn möglich, sollte der Interviewpartner entscheiden können, wo das Gespräch stattfindet. Schließlich hilft es, eine
klare Struktur zu schaffen.
Was meinen Sie damit?
Man kann zum Beispiel vorher vereinbaren, das Interview bei einem Handzeichen
abzubrechen, wenn es dem Betroffenen zu
viel wird. Dann sollte man sich ständig im Klaren sein, dass sich der Mensch, mit dem man
gerade spricht, in einer absoluten Ausnahmesituation befindet, dass das Hirn nicht normal arbeitet und mit Stresshormonen geflutet ist. Da­
rum sollte man auch keine Fragen stellen wie:
„Wie haben Sie sich gefühlt...?“. Das versetzt den
Betroffenen in die Situation zurück und führt ihm
seine Ohnmacht erneut vor Augen. Besser sind
eher unpersönliche Fragen wie „Was ist passiert?“ Außerdem kann es helfen, den Interviewpartner aus der passiven Opferrolle zu holen und
anzubieten, dass er mit entscheiden kann, ob
die Antwort auf eine Frage in den Text kommt
oder nicht.
Beispiel Winnender Zeitung:
In der Berichterstattung über den Amoklauf
in Winnenden setzte sich die Winnender Zeitung
von dem allgemeinen Sensationslauf ab und
wurde für diese Entscheidung mit einem
Sonderpreis des Deutschen Lokaljournalistenpreises der Konrad Adenauer Stiftung
ausgezeichnet. Sofort nach dem Amoklauf
legte Chefredakteur Frank Nipkau die redaktionelle Linie fest: „Wir müssen nicht alles
wissen, wir müssen nicht alles schreiben und
wir müssen nicht alles zeigen - und können
DOSSIER: Tod und Trauer
Sollte ein Journalist sein Mitgefühl zeigen?
Sicher. Aber es sollten Floskeln
vermieden werden. Sätze wie „Das
wird schon wieder“ oder „Ich kann
mir vorstellen, wie Sie sich fühlen“
spiegeln eher eine eigene Ohnmacht
wider, mit der Situation umzugehen.
Eine Berührung etwa kann helfen.
Aber nur, wenn es in der Situation
passt, also wenn zum Beispiel ein
Zeuge nach einem schrecklichen Unfall stark zittert, kann man ihm eventuell beruhigend die Hand auf die
Schulter legen. Man muss sich ins
Bewusstsein rufen, dass man als
Mensch unterwegs ist und sich fragen, wie man selbst reagieren würde,
was man selbst wollen würde.
Was ist, wenn jemand weint?
In so einem Fall nicht fragen, wie es
ihm gerade geht. Möglich wäre etwa,
ein Glas Wasser anzubieten. Man sollte
immer daran denken, dass man auch
Verantwortung trägt. Darum: anbieten,
das Interview abzubrechen und eine
Vertrauensperson zu rufen. Für Bilder ist
wichtig, dass keine weinenden Menschen gezeigt werden. Es kann Traumasymptome
reaktivieren, sich selbst am nächsten Tag in einem
sehr intimen und schutzlosen Moment in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen.
trotzdem eine gute Zeitung machen.“ Dafür
stellte er drei Regeln auf:
- Wir sprechen keine Opferfamilien an
- Wir zeigen keine Opferfotos
- Wir berichten nicht über Beerdigungen
Stattdessen berichtete die Zeitung über das
Waffenrecht, Killerspiele und politische Konsequenzen. „Es geht nicht nur darum zu zeigen, wie sich Menschen fühlen, sondern
welche Konsequenzen aus den Ereignissen
gezogen werden“, sagt Nipkau der drehscheibe (siehe www.drehscheibe.org/483/)
Brigitte Dennemarck-Jäger ist DiplomPsychologin und arbeitet als TraumaTherapeutin am Deutschen Institut für
Psychotraumatologie in Köln. Zuvor war
Dennemarck rund 20 Jahre als Journalistin für den WDR tätig.
Telefon: (02202) 9 89 10 10
E-MAIL: [email protected]
Wie sollten Zeitungen das Geschehen wiedergeben?
Für die Opfer ist es schlimm, wenn sie sich
falsch dargestellt fühlen. Das passiert schnell,
weil es unterschiedlich ist, was subjektiv als wichtig wahrgenommen wird. So gewichtet der Journalist das Erzählte trotz bester Absichten oft
anders als Betroffene selbst – die sich in der
Stresssituation zudem oft nicht klar und strukturiert äußern können. So kann es sinnvoll sein,
den Text gegenlesen zu lassen oder die Interviewpartner wie schon erwähnt aktiv in den Entstehungsprozess des Textes einzubeziehen. Auf
Opferfotos sollte ganz verzichtet werden.
Interview: Katrin Matthes
drehscheibe 12 I 2010
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Forum Lokaljournalismus 2011
Die neue Architektur des Lokaljournalismus
Acht Regeln für die
Amok-Berichterstattung
Von Frank Nipkau
Wir brauchen Regeln für die Berichterstattung, die über die allgemeinen
Grundsätze des Pressekodexes hinausgehen. Dies ist erstmals zum Jahrestag des Amoklaufes von Winnenden
versucht worden. Jeder Journalist, der
sich für die Berichterstattung akkreditiert hatte, erhielt im März 2010
eine „Stellungnahme der Psychologischen Nachsorge“. Die Psychologische Nachsorge betreut im Auftrag der
Unfallkassen in Baden-Württemberg
traumatisierte Schüler, Eltern und
Helfer. „Fotos, Berichte und Informationen zu Ereignissen wecken bei
allen Menschen Erinnerungen an die
Vergangenheit, an belastende und
schmerzliche Erfahrungen“, heißt es
in dem Papier. „Unser Ziel ist es, den
Betroffenen und ihren Angehörigen
den Schutzraum zu gewähren, den sie
benötigen, um den Genesungsprozess
fortsetzen zu können. Der Respekt vor
der Würde des Menschen erfordert,
die Betroffenen nicht durch Bedrängnis von außen mit der belastenden Situation zu konfrontieren. Wir möchten, dass die Menschen in Winnenden
in Ruhe trauern können.“
Dann folgen acht Regeln für die Berichterstattung – in der Form von
Bitten:
1 Halten Sie bitte Abstand zu
Menschen, die trauern.
2 Zeigen Sie bitte Respekt und
bedrängen Sie die trauernden Menschen nicht.
3 Akzeptieren Sie bitte ein
„Nein“; akzeptieren Sie Ruhe- und
Rückzugsbedürfnisse.
4 Achten Sie bitte die Privatsphäre
der Betroffenen und der Anwohner.
Belagern Sie keine Häuser und Schulen.
5 Bitte rufen Sie nicht ohne Erlaubnis Betroffene einfach zu Hause an.
6 Fotografieren und filmen Sie bit4 te nicht die Gesichter von Menschen,
die weinen.
7 Befragen Sie bitte keine Minderjährigen.
8 Fragen Sie bitte nicht nach dem
persönlichen Erleben vor einem Jahr,
weil dadurch die traumatischen Erfahrungen wiederbelebt werden.
Außerdem kann dadurch der therapeutische Prozess bei den Betroffenen
wieder zurückgeworfen werden.
Diese Regeln sind bei der Berichterstattung über den ersten Jahrestag
weitgehend beachtet worden und haben der Qualität von Filmbeiträgen
oder Artikeln nicht geschadet.
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach Gisela Mayer
Frank Nipkau
Lutz Tillmanns
Prof. Dr. Christian Schicha
Richte keinen Schaden an,
ganz einfach
Der Amoklauf in Winnenden und die Ethik im Journalismus – eine Podiumsdiskussion
Welche Lehren müssen die Medien aus
der Berichterstattung über den Amoklauf
von Winnenden ziehen? Was lief falsch,
was richtig? Wie können Zeitungen ihrer
ethischen Verantwortung gerecht werden?
Von Peter Schwarz
Es ist ganz einfach, im Grunde sind
sich darüber alle auf dem Podium einig. Wie ein Berichterstatter sich im
Angesicht einer schrecklichen Katastrophe zu verhalten hat, lässt sich in
einem einzigen Satz zusammenfassen, und um ihn zu begreifen, reicht
der gesunde Menschenverstand:
„First do no harm“, sagt Bruce Shapiro vom Dart Center for Journalism
and Trauma – keinen weiteren Schaden anzurichten bei den Betroffenen,
das sei die erste Leitlinie.
Wer über Entsetzliches wie einen
Amoklauf, eine Naturkatastrophe,
einen Verkehrsunfall berichtet,
muss sich in jedem Augenblick
der Verantwortung gegenüber
den Opfern und ihren Angehörigen bewusst sein. Sie sehen sich
vollkommen unvorbereitet in eine
Situation hineingeworfen, aus der
es keinen Ausweg gibt – in solch
einer Lage „ruht eine erhöhte Verantwortung auf den Schultern des
Journalisten“, sagt Gisela Mayer,
deren Tochter Nina am 11. März
erschossen wurde.
Alles Weitere ergibt sich daraus
– die psychologische Nachsorge
hat in Winnenden in einer viel beachteten Handreichung für Journalisten die naheliegenden Regeln
durchdekliniert: Trauernde nicht
bedrängen; keine Minderjährigen
befragen; Schulen und Wohnhäuser nicht belagern. Oder mit den
Worten von Frank Nipkau, Redaktionsleiter beim Zeitungsverlag
Waiblingen: die „Jagd auf Opfer-
Fotos und Opfer-Geschichten“
nicht mitmachen, nicht zwei Stunden nach der Tat bei den schockstarren Eltern klingeln: Haben Sie
Bilder von Ihrer Tochter? Hatte sie
einen Freund?
Der Zeitungsverlag Waiblingen
hat auf blutige Einzelheiten der Tat
verzichtet – und „es gab keinen Leser, der gesagt hat, da hat uns was
gefehlt“. Man kann sich der Hatz
nach den grellsten Details also entziehen – und nimmt gerade dadurch
keinen Schaden: Lokaljournalisten
sind keine routinierten Katastrophenprofis, die von irgendwoher
anreisen, eine Geschichte raushauen und wieder verschwinden;
Lokaljournalisten sind auch keine
„Bild“-Reporter, von denen man
nun mal weiß, dass Behutsamkeit,
Zurückhaltung, Respekt nicht Teil
des Geschäftsmodells sind; Lokaljournalisten müssen auch am Tag,
in der Woche, im Jahr nach dem
Geschehnis den Menschen in ihrer Heimat in die Augen schauen
können. Wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden, gewinnen sie
den Respekt der Leser. Das ist eine
„ermutigende Botschaft“ für jede
Lokalredaktion, sagt Nipkau.
So weit ist den Podiumsbeiträgen
nicht im Geringsten zu widersprechen. Am spannendsten sind aber
womöglich zwei Beiträge, die über
diesen Common Sense hinaus Problemhorizonte aufreißen . . .
„Gründlichkeit statt
Schnelligkeit“
Bei der Berichterstattung über ein
derart existenziell erschütterndes
Drama, sagt Prof. Christian Schicha
von der Mediadesign-Hochschule
Düsseldorf, muss die Maxime lauten: „Gründlichkeit statt Schnelligkeit“. Aber sich dem Diktat der
Schnelligkeit zu entziehen – das
wird künftig nicht leichter. In einer
ganzen Serie von Referaten kreist
dieses Lokaljournalistenforum um
die Frage, wie der Journalismus sich
in der digitalen Zukunft behaupten
wird. Es wird, sagen viele, darum
gehen, minutenaktuell Nachrichten
in die multimedialen Kanäle einzuspeisen und so gegen die ebenfalls
im Hecheltempo operierende Konkurrenz zu bestehen. Schnelligkeit
aber steht strukturell in einem Widerspruch zu Genauigkeit, Reflektiertheit, Behutsamkeit. Wie sichern
wir uns in diesem Hamsterrad der
Beschleunigung Denkpausen?
Prof. Wolfgang Donsbach von der
Technischen Universität Dresden
fordert „mehr Schutz der Journalisten, die sich dem Weiterdrehen
der Schraube verweigern, Schutz
für die, die sich in der Tageshektik
dem Druck entziehen“. Wenn ein
Journalist aus einem Gefühl professioneller Verantwortung heraus
eine eigenständige Entscheidung
trifft, müsse er auf einen kollegialen
„Schutzwall“ bauen können, müsse
er auf seinem Gewissen beharren
dürfen – selbst wenn von dieser Entscheidung ökonomische Verlagsinteressen berührt sind.
Und das, sagt Donsbach, gilt nicht
erst bei einem Amoklauf. Es beginnt
bei viel alltäglicheren „ethischen
Problemen“; bereits dort, wo ein
Journalist „über einen Inserenten
nicht schlecht schreiben“ darf, weil
der sonst womöglich keine Anzeigen mehr schaltet.
Wer gewohnt ist, Einmischungen
als Unausweichlichkeiten zu akzeptieren, Vorgaben zu gehorchen und
sich das freie Denken abnehmen zu
lassen, wird im Zweifelsfall in einer
dramatischen Ausnahmesituation
nicht über die Erfahrung und das
Selbstbewusstsein verfügen, auf seinen inneren Kompass zu vertrauen.
Forum Lokaljournalismus 2011
Die neue Architektur des Lokaljournalismus
Die Arbeit mit
dem Langzeit-Trauma
Wie können Lokaljournalisten mit einem Amoklauf umgehen?
Interview
mit Bruce Shapiro
Mit welcher Motivation haben Sie
das Dart Center für Journalismus
und Trauma gegründet?
Shapiro: Als Lokaljournalist
kam ich mit sehr viel Gewalt und
schlimmen Schicksalsschlägen in
Berührung. Als ich 19 Jahre alt war,
musste ich über eine Frau schreiben, die nach einem Giftgasunfall
gestorben war. Das war meine erste
Geschichte.
Ein schlimmes Ereignis im Sommer 1994 veränderte meine Perspektive. Ich und sechs weitere
Menschen wurden in einem Café
von einem Mann niedergestochen.
Im Sommerloch wurde die Geschichte großgefahren und kam auf
die Titelseiten der New York Times
und des Time Magazines. Urplötzlich war ich nicht nur Journalist,
sondern auch Opfer. Als ich meine Erfahrungen in verschiedenen
Artikeln beschrieb, wurde mir bewusst, dass ich den Prozess, den ein
Opfer nach einer Gewalttat erlebt,
bislang überhaupt nicht verstanden
hatte. Ich reagierte äußerst emotional auf die Berichterstattung und
die Fernsehkameras, die mich und
meine Familie belagerten. Seither
beschäftigt mich das Verhältnis von
Gewalt und Medien.
Ich war nicht der einzige. Wir
fanden uns in einer Gruppe aus
Psychologen, Betroffenen und
Kollegen zusammen, um uns auszutauschen und zu lernen. Das war
der Beginn der Dart Foundation,
aus der Jahre später das Dart Center hervorging.
Was waren die wichtigsten Themen,
die Journalisten, die viel mit Gewalt
zu tun haben, beschäftigten?
Shapiro: Zwei Jahre später stießen
wir auf ein Thema, das bis dahin
noch nie öffentlich diskutiert worden war. Ein befreundeter Psychiater hielt einen Vortrag über
die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
bei der Seattle Times. Daraufhin
meldete sich ein älterer Redakteur
und sagte: „Das trifft ziemlich genau auf mich zu."
Wir gaben Umfragen und Untersuchungen in Auftrag, um herauszufinden, wie groß die traumatische
Belastung für Journalisten ist, die
über Gewalt und Kriminalität berichten. 86 % aller Lokaljournalisten haben mit solchen Themen zu
tun, unsere Ergebnisse ergaben, dass
etwa sechs bis 13 Prozent Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigten, bei den
Auslandskorrespondenten sind es
sogar 28 Prozent. Unsere Untersuchungen ergaben aber auch, dass
Journalisten statistisch gesehen
relativ gute seelische Widerstandskräfte gegenüber PTBS aufweisen.
Welche Risikofaktoren gelten für
Journalisten?
Shapiro: Bei Traumata gibt es keine
kausalen Zusammenhänge. Aber
wir fanden heraus, dass ein wiederholtes Miterleben von Gewalt
und Kriminalität das Risiko erhöht.
Als ich jung war, dachte ich immer,
je mehr Berufserfahrung ich haben
würde, desto weniger würde mich
das Erlebte mitnehmen. Diese
Annahme ist offensichtlich falsch.
Auch eine hohe Identifikation mit
dem Ereignis wirkt sich negativ
aus. Das bedeutet, je mehr ich mir
vorstelle, das Ganze könnte auch
mir selbst passieren. Klassisch sind
dabei Autounfälle, über die jemand
berichtet, der anschließend in sein
eigenes Auto einsteigen muss.
Auch Mütter und Väter, die miterleben müssen, wie ein Kind stirbt,
können dies schwerer verkraften. Auf der anderen Seite gibt es
Faktoren, die die seelischen Widerstandskräfte stärken können.
Dazu gehören vor allem ein gutes
Teamgefühl und Zusammenhalt in
der Redaktion, aber auch ein Basiswissen über die Symptome eines
Traumas.
Wie bewerten Sie die Aufgaben
eines Journalisten in einer Situation nach einer Tragödie? Wie kann
man die Qualität seiner Arbeit beurteilen?
Shapiro: Die Aufgabe, nach einem
Unglück oder etwa einem Amoklauf zu berichten, ist besonders für
Lokaljournalisten eine große Herausforderung. Anders als die anderen Medien können sie eine große
Geschichte nicht fahren und danach
wieder verschwinden. Meistens leben sie in der Gemeinde und sind
auf irgendeine Weise betroffen.
Gerade wegen dieser fehlenden
Distanz wird häufig das Thema
Objektivität diskutiert. Dabei gibt
es aus meiner Sicht gar keine journalistische Objektivität. Jeder Reporter hat seine eigene Geschichte, seine eigene Sichtweise. Diese
muss und darf ein guter Journalist
nicht verleugnen. Seine wichtigste
Aufgabe ist es, fair zu berichten.
Was ist aus Ihrer Sicht die Aufgabe
von (Lokal-)Journalisten nach einem Amoklauf wie in Winnenden?
Shapiro: So ein Ereignis pas-
siert nicht und kann dann für die
Vergangenheit abgehakt werden.
Die ganze Gemeinde erleidet ein
Langzeittrauma, dass sich auf ganz
unterschiedliche Weise und mit
verschiedenen Graden der Betroffenheit offenbart. Manchmal ist die
lokale Presse die einzige vertrauenswürdige Informationsquelle.
Das ist eine große Verantwortung.
Journalisten können helfen und
beeinflussen, wie die Menschen
das Trauma und die eigenen Heilungsperspektiven wahrnehmen.
Zunächst müssen Journalisten
akzeptieren, dass es sich um einen
kontinuierlichen Prozess und kein
einmaliges Ereignis handelt. Sie
müssen ein sensibles Gespür für
diesen Prozess entwickeln Es ist
normal, wenn sich besonders unmittelbar Betroffene isoliert fühlen, wenn sie traurig sind und oft
eben auch sehr wütend. Wenn das
eigene Kind in der Schule erschossen wird, verlieren viele Eltern
das Vertrauen in die Gesellschaft.
In jenen sozialen Vertrag, der uns
eigentlich garantieren soll, dass
wir in einem sicheren Land leben
und dass Schulen sichere Orte sind.
Wenn dieser Vertrag durch einen
Amoklauf gebrochen wird, bricht
nicht nur das Familienleben, sondern auch das gesellschaftliche
Vertrauen zusammen.
Aber auch die Angehörigen, die
ihr Kind verloren haben, gehen
trotz dieses nicht zu kompensierenden Verlustes durch einen Prozess der seelischen Heilung. Journalisten können diesen Prozess
positiv begleiten, indem sie diesen
Menschen eine Stimme geben.
Indem sie helfen, zu vermitteln,
zwischen jenen, die sich schwer
tun, weiterzuleben, und jenen, die
Bruce Shapiro, Direktor des Dart Centers für Journalismus und Trauma mit Hauptsitz an der Columbia Universität in New York City.
Foto: privat
schon längst nichts mehr von dem
Schulmassaker wissen wollen.
Wenn einige Zeit verstrichen ist,
beispielsweise am ersten Jahrestag, können Journalisten erinnern.
Nicht, indem sie die Vergangenheit
zurückholen, sondern indem sie
aufzeigen, wie sich die Situation
entwickelt hat und was momentan
für den Heilungsprozess von Einzelnen oder der gesamten Gemeinde wichtig ist. Dabei kann es aber
nie eine pauschale Herangehensweise geben, denn jeder Betroffene
hat seine ganz eigene Art und Zeit,
mit dem Erlebten umzugehen. Es
geht immer um die Frage, welche
Geschichte wann und wie erzählt
werden kann. Dabei müssen Journalisten immer wieder ihr Gewissen befragen und auch über die
eigenen Gefühle reflektieren.
Interview: Anne-Katrin-Schneider
Dart-Center
■ Das Dart Center für Journalismus und Trauma ist ein Netzwerk, das sich als Forum und
als Ressource versteht, um die
sensible und sachkundige Berichterstattung über Tragödien und
Gewalt zu fördern. Es unterstützt
die Aus- und Weiterbildung von
Journalisten und bietet hilfreiche
Anleitungen über Journalismus
und Trauma. Termine,
Materialien und weiteres unter:
www.dartcenter.org/german
7
Kriminalität Dossier
„Traumatisierte sind
keine Quellen“
12. bis zum 31. März 2009
– 138 Zeitungsseiten zum
Thema veröffentlicht.
Die Winnender Zeitung
setzte im März 2009 einen
Kontrapunkt zu der Art, wie
zahlreiche überregionale
Medien über den Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden berichteten. Die Redakteure
vor Ort arbeiteten nach
ethischen Regeln, die den
Interessen aller Betroffenen
Rechnung tragen sollten.
Die drehscheibe sprach
mit Frank Nipkau, dem Redaktionsleiter des Zeitungsverlages Waiblingen, der in
dieser Funktion auch für die
Winnender Zeitung verantwortlich ist.
Herr Nipkau, wie ist es
Ihnen gelugen, für die
Berichterstattung über
den Amoklauf von Winnenden moralische
Grundsätze zu entwickeln? Vor allem angesichts dessen, dass man auf das Geschehen schnell reagieren musste.
Wenn man am Tag, an dem eine Katastrophe
passiert, anfängt, Diskussionen zu führen, ist
man verloren. Da muss man nur noch funktionieren. Wie ein Pilot, der eine Notlandung
hunderte Male trainiert hat, damit er im entscheidenden Moment automatisiert handeln
kann. Wir hatten Erfahrungen mit so einer Situation – etwa wegen einer Geiselnahme in
einer Waiblinger Schule, wo im Jahr 2002 ein
ehemaliger Schüler mit der Pistole eine Klasse
und die Lehrerin über mehrere Stunden hinweg festgehalten hat. Es ist gottseidank unblutig ausgegangen. Da haben wir auch zum
ersten Mal Erfahrungen gemacht mit der Medienlawine inklusive aller Fehler, die dann auch
in Winnenden wiederholt wurden.
Welche zum Beispiel?
Der haarsträubendste Fehler: Man erfährt einen
Täternamen und googelt den dann. Der Täter
im Jahr 2002 hieß Marcel K., und es gab einen gleichnamigen Handballer aus Waiblingen.
Nummer 10, 1. September 2013
So ging zuerst ein falsches Täterprofil durch
die Medien. Ähnliches ist 2009 passiert, als
ein Auszubildender aus Bremen kurzzeitig als
Täter galt. Daher und aufgrund der Auseinandersetzung mit anderen Kriminalfällen – etwa
dem sogenannten Betonmord im Remstal, wo
Jugendliche die Leichenteile eines anderen Jugendlichen in Beton im Neckar versenkt hatten
– hatten wir ein Regelwerk, das uns geholfen
hat, am 11. März 2009 adäquat zu reagieren.
Wie sehen die Regeln aus?
Dreierlei: Wir sprechen von uns aus keine Familien von Opfern an, wir veröffentlichen keine
Fotos von Opfern, und wir berichten nicht über
Beerdigungen. Das haben wir auch vom zweiten Tag an den Lesers so kommuniziert. Am
dritten oder vierten Tag haben wir auch die
Bildsprache verändert: Wir haben Menschen
dann nur noch von hinten oder von der Seite
gezeigt, aber keine trauernden Gesichter mehr,
die wir noch in den ersten zwei oder drei Tagen im Blatt hatten. Man kann sehr gut darauf
verzichten. Dem Umfang der Berichterstattung
hat es auch nicht geschadet. Wir haben in den
ersten drei Wochen nach dem Amoklauf – vom
Wie verhielten sich andere Medien?
Oft wurden Augenzeugen bedrängt. Schwer
traumatisierte Menschen
gehören in solchen Situationen aber nicht vor eine
Kamera – erst recht nicht
schwer traumatisierte Jugendliche. Neben dem
ethischen Aspekt, dass
es gefährlich ist für die
G e su nd h e i t trau m atisierter Menschen, diese
zu bedrängen, gibt es ja
noch einen zweiten Aspekt: Traumatisierte sind
keine verlässlichen Quellen. Im Prozess der Traumatisierung verengt sich
die Wahrnehmung, man
bekommt als Beteiligter
des Geschehens einen Tunnelblick, gerichtet auf das eigene Überleben. Das harmloseste Beispiel: Einige
Augenzeugen haben
erzählt, der Attentäter
habe einen Kampfanzug getragen. Das hat
sich aber als Nonsens
erwiesen.
Andere Kollegen
etwa haben sich Fotos
aus trüben Quellen besorgt. Eine davon war Frank Nipkau ist
der Schulfotograf der Redaktionsleiter
Albertville-Realschu- des Zeitungsverlale. Er hat die Fotos ges Waiblingen.
der Opfer über einen
Rechtsanwalt verkauft. Die sind etwa im
Stern erschienen, ohne dass die Eltern ihre
Zustimmung gegeben hatten.
Name Frank Nipkau
E-Mail [email protected]
Interviews: René Martens
5
Dossier Kriminalität
Das Unbegreifliche darstellen
In Winnenden und Erfurt haben vor einigen Jahren Amokschützen zahlreiche Menschen getötet.
Die drehscheibe wollte wissen, wie die dortigen Redaktionen damit umgegangen sind.
„Journalisten haben sich dumm
verhalten“
Die Thüringer Allgemeine hat im Jahr 2012 in
einer Serie den Amoklauf aufgearbeitet, bei
dem im Jahr 2002 am Erfurter GutenbergGymnasium 16 Menschen getötet wurden.
Über mehrere Wochen hinweg wartete die
Zeitung mit Hintergrundartikeln, Interviews mit
Augenzeugen und Experten auf. Am Jahrestag
veröffentlichte sie eine Ausgabe mit 15 weiteren
Beiträgen, unter anderem von Philosophen und
Historikern. Aus der Serie entstand das Buch
„Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern
und Gedenken”. Die drehscheibe sprach mit
Redakteur Hanno Müller, einem der Herausgeber des Buchs.
Herr Müller, wie sind die Kontakte zu
Ihren Gesprächspartnern zustande gekommen?
Wir haben beispielsweise mit vielen Helfern
und Psychologen und einer Pfarrerin, die als
Seelsorgerin direkt nach der Tat Betroffene
an der Schule betreut hat, seit zehn Jahren
mehr oder weniger zu jedem Jahrestag zusammengearbeitet. Da wussten wir, dass eine
gewisse Bereitschaft da
sein wird. Die Schülerinnen und Schüler, die
man damals kannte,
leben größtenteils nicht
mehr in Thüringen. Die
Kontaktdaten konnte
man teilweise über das
Netzwerk Xing recherchieren.
Woher rührt diese Haltung?
Zahlreiche Journalisten, die im Jahr 2002 in
Erfurt ausschwärmten, haben sich dumm
und unsensibel verhalten. Man hörte damals
von Fangprämien: Kellnern wurden 100 Euro
versprochen, wenn sie Interviewpartner heranschaffen. Fotografen sind in einen Baum
geklettert und haben versucht, einen Lehrer
abzulichten, der sich abgeschottet hatte. Aus
diesem Verhalten hat sich eine Stimmung gegen die Medien entwickelt. Sie hat aber in der
Regel nicht die Journalisten vor Ort getroffen.
Im Rahmen der Jahrestags-Serie hat man uns
bestätigt, dass wir sensibel gearbeitet haben.
Wie groß war die Gesprächsbereitschaft
bei den Angehörigen der Opfer?
Es ist in Erfurt bekannt, dass sich zwei bis drei
von ihnen äußern - alle anderen lehnen es definitiv ab. Ich habe einige Angehörige, die ich
über persönliche Kontakte kenne, anlässlich
der geplanten Serie noch einmal angesprochen. Vergebens.
ringer Allgemeinen.
Wie lief die Zusammenarbeit mit den Gesprächspartnern?
Viele haben uns zu unserer Serie noch einmal
ermuntert. Wir haben allen zugesichert, dass
sie den fertigen Text zu sehen bekommen und
das letzte Wort haben. Man weiß ja nicht, was
so ein Interview bei traumatisierten Menschen
bewirkt. So ein Gespräch kann ja auch kippen.
Wir sind keine Psychologen, wir sind Journalisten. Viele Betroffene sind etwas weiter noch
als vor zehn Jahren, für andere ist es noch ganz
real und nah.
Wie viele Absagen haben Sie erhalten?
Ich hatte einen Fall, wo alte Ressentiments,
die es vor zehn Jahren gegen die Medien gab,
wieder aufkamen. Tenor: Wie könnt ihr es wagen, bei uns alles noch einmal aufzuwühlen?
Das hat der Vater einer ehemaligen Schülerin
gesagt. Es handelte sich um eine heute 28-jäh-
In einem Artikel, in dem Sie in Ihrer Zeitung auf das Buch zur Serie hinweisen,
erwähnen Sie, dass sich die Redaktion
im Rahmen des Gedenkens für einen Tag
zu einer Selbstverständigungsklausur
getroffen hat. Was hat es damit auf sich?
Wir haben uns einige Tage vor dem eigentlichen Jahrestag zusammengesetzt. Unterstützt von einer Vertreterin des New Yorker
Dart Center for Journalism and Trauma, das
auch in Deutschland einen Sitz hat, haben wir
Hanno Müller ist
Über welchen Zeitraum erstreckte sich
das Projekt?
Der Jahrestag war im April, aber bereits im
Februar haben wir mit unseren ganzseitigen
Beitragsfolgen begonnen.
Redakteur der Thü-
4
rige, die damals bei der Trauerfeier gesprochen
hat. Auch sie hat uns geschrieben und Sensationslüsternheit vorgeworfen.
uns gefragt: Wie gehen wir mit Opfern und Betroffenen um? Diese Diskussionen flossen mit
in die Serie ein. Sie hatten Einfluss beispielsweise auf die Entscheidung, welche Fotos von
damals wir noch einmal veröffentlichen und
welche nicht. Wir haben auch darüber gesprochen, was mit uns selbst passiert: Wenn
ein Fotograf durch die Schule geht und überall
die Einschusslöcher fotografiert und im Kopf
hat, was da vorgegangen ist - das verändert
ihn ja auch.
Haben Sie aus dieser Tagung auch etwas
mitgenommen für die Berichterstattung
in anderen Zusammenhängen?
Es ging generell darum, wie wir uns in heiklen
Situationen verhalten, etwa bei einem Unfall,
bei dem es einen Toten gegeben hat. Wenn
man sieht, dass man stört, andererseits aber
auch seinen Job machen will. Geht man jetzt
hin zu der Frau, die neben dem Opfer sitzt,
und fragt, wie sie sich fühlt? Wie erzählt man
als Journalist solche Geschichten?
Name Hanno Müller
E-Mail [email protected]
Linktipp
Das Dart Center for Journalism and
Trauma, eine Projekt der Columbia University Graduate School of Journalism,
befasst sich mit der Frage, wie über Gewalt und Konflikte angemessen berichtet
werden kann. Hier geht es zur deutschsprachigen Seite: www.dartcenter.org/
german
drehscheibe