Expertise Prof. Pilz Jena 2016

Expertise zum Konzept der Aufteilung der Stehplatzbereiche in einem umgebauten „Ernst-AbbeSportfeld“ Jena
Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Umbaus des „Ernst-Abbe-Sportfeldes“ in Jena zum reinen
Fußballstadion bin ich um eine Einschätzung zur favorisierten Variante der Aufteilung der Stehplatzbereiche in Gäste- und Heimsektor gebeten worden.
Zunächst ist zu begrüßen, dass die mittlerweile doch sehr in die Jahre gekommene Anlage des Jenaer
Stadions nun in eine DFL-gerechte, moderne Fußballarena umgebaut werden soll. Es ist erfreulich,
dass der traditionsreiche FC Carl Zeiss Jena sowie auch Frauen-Bundesligist FF USV Jena eine heutigen Ansprüchen genügende Heimstätte erhalten sollen. Im Vergleich zum jetzigen Zustand mit teilweise wegen Unterhöhlung gesperrten Zuschauerblöcken, demontiertem Flutlicht und einer unmittelbaren Nachbarschaft von Heim- und Gästefanblock sollte sich aus Umbau und Modernisierung
eine deutliche Verbesserung der Stadionsicherheit ergeben.
Problematisch erscheint jedoch der konzeptionelle Ansatz, im neuen Stadion die künftige Südkurve
(bzw. Südtribüne) als Gästefanbereich vorzusehen, während man der heimischen Fanszene den
Stehplatzbereich auf der Nordseite des Stadions zudenkt. Selbstverständlich ist durchaus nachvollziehbar, dass der Süden des Stadions als Gästefanbereich auf den ersten Blick Vorteile bietet, welche
sich aus den Zuwegungsmöglichkeiten für Anhänger des Gastvereins ergeben. Dies lässt jedoch außer
Acht, welche Folgen sich hinsichtlich eines Verlustes der angestammten „Südkurve“ rund um die
aktive Fanszene des FC Carl Zeiss Jena ergeben können.
Seit dem Jahre 1980 ist die sogenannte „Südkurve“ des „Ernst-Abbe-Sportfeldes“ (mit Unterbrechungen) der traditionelle Gesellungsort der aktiven jugendlichen Fanszene des Vereins. Ein um die Jahrtausendwende praktiziertes Konzept mit einer Südkurve als reinem Gästefanbereich musste als gescheitert angesehen werden, und seit 2007 ist ein Teil der „Südkurve“ wieder der Stehplatzbereich
der aktiven Heimfanszene. Ich kann bestätigen, dass diese „Rückeroberung“ des eigenen Stehplatzbereiches wie auch dessen weitere Entwicklung in Sachen Fankultur der Jenaer Fanszene bundesweit
in den Fankurven höchste Anerkennung und großen Respekt eingetragen haben. Quer durch die Ligen und Fanszenen in Deutschland ist „DIE Jenaer Südkurve“ zu einem Qualitätsbegriff geworden,
nicht zuletzt auch aufgrund des Engagements der örtlichen Ultra-Szene gegen Rechtsextremismus
und Diskriminierung.
Dementsprechend hat die „Südkurve“ für die örtliche Fanszene als Gesellungsort und Sozialraum
einen außerordentlich hohen Stellenwert und stellt einen besonderen Identifikationsfaktor dar, wovon nicht nur entsprechend gestaltete Szenekleidung oder Tätowierungen zeugen. Demgegenüber
hat die Nordkurve des Stadions keine Tradition, sondern wurde vielmehr bis kurz vor die Jahrtausendwende als Gästebereich genutzt. Es ist daher davon auszugehen, dass die aktive Fanszene einen
Stehplatzbereich im Norden des neuen Stadions ablehnen wird. Seit dem Bekanntwerden angedachter entsprechender Konzepte hat sich der Slogan „Südkurve bleibt!“ etabliert, und schließlich hat die
Fanszene mit beeindruckendem medialem Widerhall und mittlerweile europa- und weltweiter Unterstützung die Kampagne „crowdFANding“ gestartet. Bemerkenswert ist diese Kampagne auch, weil
es sich hier nicht etwa lediglich um die Angelegenheit einer einzelnen Ultra-Gruppierung handelt,
sondern das Anliegen dem Anschein nach von der gesamten Fanszene und Anhängerschaft getragen
wird.
Um die „Südkurve“ als Heimbereich erhalten zu können, haben Vertreter der Fanszene, wie mir berichtet wurde, erste Konzepte für eine sichere und gastfreundliche Unterbringung auswärtiger Anhänger auf der künftigen Nordtribüne entwickelt, und befinden sich seit geraumer Zeit in einem intensiven Dialog mit Verein, Stadtverwaltung und Polizei. Gerade in Zeiten, wo vielerorts beklagt wird,
dass sich Fanszenen dem Dialog verweigern und Kommunikation mit Behörden ablehnen würden,
sollte dieses Engagement der Jenaer Fanszene gewürdigt werden und in die bevorstehenden Ent-
scheidungsprozesse einfließen. Die aktuelle Konstellation bietet die einmalige Chance eines Aushandlungsprozesses zwischen Verein, Institutionen und Fanszene, in dessen Ergebnis eine langfristig tragfähige (Kompromiss)Lösung erzielt werden kann, die Fan- und Sicherheitsinteressen in Balance
bringt. Ein Erhalt der „Südkurve“ als Heim-Stehplatzbereich stärkt die besonnenen Kräfte und Selbstregulierungsmechanismen innerhalb der Fanszene, so dass von einer Verbesserung der Stadionsicherheit auszugehen wäre. Die Mitglieder der jugendlichen Subkultur wären motiviert, nicht durch
Delinquenz die angestrebte Variante zu gefährden. Die hohe Identifikation der Fanszene mit „ihrem“
Stehplatzbereich im Süden des Stadions und die Realisierung eines gastfreundlichen Stehplatzbereiches im Norden der Arena gewährleisten zudem den angestrebten größtmöglichen Abstand zwischen
aktiven Heim- und Gästeanhängern innerhalb der Anlage.
Bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollten auch die möglichen Folgen der Durchsetzung eines Gästesektors auf der Südtribüne. Die gewachsene Fanszene mit ihren funktionierenden
Strukturen wäre durch den Verlust des Identifikationsfaktors „Südkurve“ einem Erosionsprozess ausgesetzt, die Selbstregulierung würde geschwächt, und eine Neufindung und -strukturierung wäre der
angestrebten Verbesserung von Stadionsicherheit eher abträglich. Im Gegensatz zum o.g. größtmöglichen Abstand der Fanblöcke sollte in Erwägung gezogen werden, dass ein nicht unerheblicher Teil
der Szene sich anstelle der abgelehnten Nordkurve eher in Richtung der an einen südlichen Gästebereich angrenzenden Sektoren orientiert, und entsprechende Unruheherde entstehen können. Verschiedene Einzelpersonen und Gruppen könnten dem Stadiongeschehen gänzlich fernbleiben, und
für Fanprojekt wie Vereinsfanbetreuung wichtige Ansprechpartner und Multiplikatoren wegbrechen.
Erfahrungen verschiedener Standorte lehren zudem, dass Phasen der Verunsicherung bzw. Um- und
Neustrukturierung von Fanszenen oft ein Einfallstor für das (Wieder)Erstarken rechtsextremistischer
Tendenzen darstellen.
Ich wünsche den Verantwortlichen der Stadt Jena eine kluge Entscheidung auch und besonders im
Interesse des Erhalts einer lebendigen Fankultur und zufriedenen Fanszene des FC Carl Zeiss Jena.
Prof. h.c. Dr. Gunter A. Pilz