Die Schuldenbremse wird zur Wachstumsbremse Düsseldorf, 22. Juli 2016 Bert Rürup Für den Bund wurde sie zu Beginn des Jahres scharf gestellt, für die Länder wird sie ab 2020 voll greifen: die Schuldenbremse. Diese, seit 2009 im Grundgesetz und den Landesverfassungen verankerte Regel besagt, dass der Bund jährlich nur noch neue Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufnehmen darf, während für die Länder ein generelles Verschuldungsverbot gelten wird. Ausnahmen gelten nur zur Abwehr eines schweren konjunkturellen Einbruchs und bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notmaßnahmen, die die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. Kredite, die in einem Konjunkturabschwung aufgenommen wurden, müssen auf einem „Kontrollkonto“ aufgezeichnet und im Aufschwung „konjunkturgerecht“ getilgt werden. Schulden, die durch Naturkatastrophen verursacht wurden, sind „binnen eines angemessenen Zeitraums“ zu tilgen. Solide Staatsfnanzen sind wichtig. Denn hohe Schuldenstandquoten können über steigende Zinsverpfichtungen den fnanziellen Gestaltungsspielraum der Politik einschränken und auf unerwünschte Weise Lasten auf nachkommende Steuerzahlergenerationen verschieben. Volkswirtschaften mit soliden Staatsfnanzen sind außerdem widerstandsfähiger gegen externe Schocks und genau diese „Resilienz“ ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Element einer guten Wirtschaftspolitik geworden - oder sollte es zumindest werden. Denn eine Volkswirtschaft ist durch umso verwundbarer, je stärker sie in die internationale Arbeitsteilung eingebunden ist, je größer und verfochtener ihr Finanzsektor ist und je höher die öfentliche aber auch die private Verschuldung sind. Wenn die Schuldenstandquote niedrig ist, können in Finanzkrisen Kredite aufnehmen und damit - wenn erforderlich - systemrelevante Finanzinstitute gestützt oder falls es notwendig ist auch der Realwirtschaft Impulse gegeben werden. Deshalb sind klare Regeln für die staatliche Kreditaufnahme richtig. Die nunmehr scharf gestellte Schuldenbremse ist aber weder klug noch zeitgemäß. Sie ist nicht klug, weil – von den erwähnten Ausnahmen abgesehen – die Obergrenze des strukturellen jährlichen Defzits des Bundes bei 0,35 Prozent in Relation zum BIP und bei den Ländern bei null liegt. Selbst bei einem nur mäßigen nominalen Wachstum bewirkt diese Vorschrift einen kontinuierlichen Rückgang der Schuldenstandquote. Für diesen Rückgang gibt es aber keine Grenze – etwa die im Maastrichter-Vertrag vorgeschriebene Obergrenze von 60 Prozent in Höhe des BIP. Die Schuldenstandquote strebt also bei konsequenter Anwendung der Schuldenbremse asymptotisch gegen Null. Derartige Extremlösungen sind höchst selten efzient. Auch das Verschuldungsverbot der Länder ist nicht klug. Hierbei handelt es sich um die Übernahme der Regeln der Schweizer Schuldenbremse für Kantone. Diese haben allerdings ein gewisses Maß an Steuerautonomie, während in Deutschland der Bund praktisch im Alleingang über die gemäß Art. 105 Abs. 2 GG den Ländern zustehenden Steuern entscheiden kann. Der zentrale Einwand gegen die deutsche Schuldenbremse allerdings ist, dass sie blind gegenüber wachstumspolitischen Erfordernissen ist. Derzeit steht Deutschland ökonomisch glänzend dar, zumindest auf den ersten Blick. Der boomende Arbeitsmarkt und die üppig sprudelnden Steuerquellen können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Verkehrsinfrastruktur in die Jahre gekommen ist und die digitale Infrastruktur hinsichtlich Übertragungsraten sowie Zuverlässigkeit und Sicherheit defnitiv nicht den Standards entspricht, die erforderlich sind, damit Deutschland auch im Digitalisierungszeitalter einer der leistungs- und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsstandorte der Welt bleiben kann. Die Schuldenbremse droht hier, dringend nötige Zukunftsinvestitionen zu verhindern. Wer ein faktisches Verbot einer dauerhaften Staatsverschuldung für unverzichtbar hält, ignoriert ein Problem, mit dem Deutschland - wie die meisten etablierten Industriestaaten konfrontiert ist: ein sich seit Längerem deutlich abfachendes und inzwischen sehr geringes Produktivitätswachstum sowie nur noch bescheidene Zuwachsraten des BIP. Derzeit liegen die Anzahl der Erwerbstätigen auf einem Allzeithoch und die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Gleichzeitig liegt aber die aktuelle Produktion je Beschäftigten nur wenig über dem Niveau von 2007, und das reale BIP pro Kopf stagniert faktisch seit 2011. Es ist müßig darüber zu streiten, welches der diversen ökonomischen Erklärungsmuster für das schwache Produktivitätswachstum zutrift. Fakt ist: Wenn die deutsche Volkswirtschaft nicht bald auf einen höheren Wachstumspfad kommt, werden Gesellschaft und Politik vor massiven intergenerativen wie interpersonellen Verteilungsproblemen stehen. Diese Probleme erwachsen zum einen aus einem neuerlichen massiven Alterungsschub, der Ende dieses Jahrzehnts einsetzen und über 40 Jahre anhalten wird. Zum anderen entstehen sie aus der schleppenden Integration der zahlreichen Zuwanderer und Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt, deren Qualifkationsprofle sich zu selten mit den Anforderungen des aufziehenden Digitalzeitalters decken. Es ist gut belegt, dass in wachstumsschwachen Gesellschaften die Ungleichheit steigt und die gesellschaftliche Durchlässigkeit abnimmt. Und dies wird mit Sicherheit das gesellschaftliche Klima im alternden und ethnisch vielfältiger werdenden Deutschland weiter eintrüben. Denn der traditionelle Wachstumsmotor der deutschen Wirtschaft, die Exporte, läuft nicht mehr rund. Das moderate Wirtschaftswachstum der letzten Zeit wird vor allem von dem dynamischen privaten und öfentlichen Konsum getragen. Und blickt man auf die Lage der Weltwirtschaft, wird deutlich, dass der Exportmotor so bald nicht wieder auf Touren kommen wird. Der industrielle Sektor Deutschlands ist mit seinen vielen mittelständischen Hidden Champions der leistungsfähigste der Welt. Dies war der entscheidende Grund dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft der vermutlich größte Globalisierungsgewinner der vergangenen Jahre war. Allerdings befndet sich die Welt seit einiger Zeit in einer „Globalisierungspause“: Das globale Wachstum hat sich verlangsamt und der Welthandel, der lange Zeit doppelt so schnell wie die globale Produktion wuchs , hat deutlich an Dynamik verloren und stagniert sogar seit Kurzem. Die deutsche Politik steht nun vor der Wahl: Sie kann entweder darauf warten, dass die Weltkonjunktur anspringt, der Welthandel wieder kräftig wächst und die deutsche Wirtschaft davon proftiert. Oder sie kann jetzt versuchen, die binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte zu steigern. Die deutsche Volkswirtschaft leidet nicht unter einer akuten Unterauslastung der Produktionsmöglichkeiten, die man – wie 2008/2009 – durch kreditfnanzierte Konjunkturprogramme beseitigen könnte. Deutschlands ökonomisches Problem ist die geringe Wachstumsdynamik, die letztendlich nur durch höhere private Investitionen gesteigert werden kann. Zu den sogenannten Angebotsbedingungen, die für die private Investitionstätigkeit mitverantwortlich sind, zählen neben einem wachstumsfreundlichen Abgabesystem, einem fexiblen Arbeitsmarkt und einem leistungsfähigen Bildungs- und Forschungssystem auch eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur. Und an letzterer hapert es in Deutschland – wie zahlreiche Analysen belegen. Wenn man an der Schuldenbremse festhält, wird es nicht gelingen, die in die Jahre gekommene Verkehrsinfrastruktur zu modernisieren. Und es wird auch nicht möglich sein, eine digitale Infrastruktur zu einzurichten, mit der die hier angesiedelten Unternehmen zu den Gewinnern des aktuellen Technologieschubs zählen können. Denn es ist nicht zu erwarten, dass die Politik die Kraft zu einer qualitativen Budgetkonsolidierung fndet, sprich zur Rückführung konsumtiver Staatsausgaben zugunsten einer höheren Investitionsquote. Mitte November 2006 wurde der Sachverständigenrat gebeten, für das Bundeswirtschaftsministerium ein Konzept zur Begrenzung der öfentlichen Verschuldung zu entwickeln. Auf der ersten Seite dieser Anfang März 2007 vorgelegten Expertise „Staatsverschuldung wirksam begrenzen“ kann man lesen: „… die Forderung eines generellen Verschuldungsverbots … wäre ökonomisch ähnlich unsinnig, wie Privatleuten oder Unternehmen die Kreditaufnahme zu verbieten. Ein solches Verbot ginge mit Wohlfahrtsverlusten einher.“ Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte der Rat ein Konzept für eine langfristige objektbezogene Verschuldungsbegrenzung. Im Gegensatz zu der 2009 eingeführten Schuldenbremse schlug der Sachverständigenrat vor, eine jährliche Kreditaufnahme bis zur Höhe der Nettoinvestitionen zu erlauben. Als Nettoinvestitionen defnierte er die „Summe der Investitionsausgaben abzüglich der Ersatzinvestitionen in Höhe der Abschreibungen, abzüglich der Einnahmen aus Desinvestition und Privatisierungserlösen“. Da das Reinvermögen der öfentlichen Hand durch die so defnierten Ausgaben für Nettoinvestitionen – zum Beispiel ein modernes fächendeckendes Glasfasernetz - erhöht wird, spricht auch aus intergenerativen Gründen nichts dagegen, solche Investitionen über Kredite zu fnanzieren. Leider ist die Politik nicht den Empfehlungen des Rates gefolgt. Und das starre Einhalten der Schuldenbremse – die andere EU-Staaten auch noch übernehmen mussten - wird die Wachstumschancen des alternden Deutschlands eher verschlechtern als verbessern und deshalb keinen Beitrag zur ökonomischen und sozialen Zukunftssicherung des Landes leisten.
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