Brasilien in der Krise Ein Land mit großen Hoffnungen

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Absteiger
Brasilien
Ein Land mit großen Hoffnungen, wachsendem wirtschaftlichen Erfolg und dem Traum von Olympia –
das war Brasilien. ZDF-Südamerika-Korrespondent
Andreas Wunn hat den rasanten Fall des Olympialandes unmittelbar mitverfolgt. Ein Bericht
JULI
IM FOKUS: BRASILIEN
25 MO, 20.15
Wildes Brasilien
· NEU
Dokumentation (45 Min) · ARD/WDR
21.00
Brasilien – Land der tausend Farben
Dokumentation (44 Min) · ARD/SWR
22.25
Rio 50 Grad Celsius
Dokumentarfilm (90 Min) · D 2014 · ARD/WDR
Regie: Julien Temple
26 DI, 22.25
Zona Norte · NEU
Dokumentarfilm (90 Min) · D 2016 · 3sat
Regie: Monika Treut
27 MI, 21.00
Ausgetrocknet – Brasilien in Not · NEU
Dokumentation (44 Min) · 3sat
21.45
Absteiger Brasilien
· NEU
Reportage von Andreas Wunn (44 Min) · 3sat
22.30
Elite Squad – Im Sumpf der Korruption
Spielfilm (104 Min) · BRA 2010 · 3sat
Regie: José Padilha · Mit Wagner Moura u. a.
0.10
Birdwatchers – Das Land der roten
Menschen
Spielfilm (95 Min) · I/BRA 2008 · ARD
Regie: Marco Bechis · Mit Abrísio da Silva Pedro u. a.
Die Wirtschaftskrise und der Petrobras-Skandal haben Millionen von Brasilianern auf die Straße getrieben
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Foto: Paulo Fridman/Polaris/laif
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Kurz vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro durchlebt Brasilien die tiefste wirtschaftliche und politische Krise seiner jüngeren Geschichte
Die alten Bilder. Sie wirken wie aus einem anderen Land. Wie
aus einer anderen Zeit: Es ist der 2. Oktober 2009. Heißer
Frühling in Rio de Janeiro. Zehntausende sind am Strand von
Copacabana. Konfettiregen, Sambarhythmen, das ist getanztes
Glück. Die Menschen jubeln, springen, schwenken Fahnen.
Sie liegen sich in den Armen. Für Rio de Janeiro – für ganz
Brasilien – ist an diesem Tag ein Traum wahr geworden. Gerade ist die Entscheidung gefallen. Auf Großleinwänden wird
sie live bis an die Copacabana übertragen: Rio de Janeiro wird
die Olympischen Sommerspiele 2016 ausrichten. Brasilien,
so schien es, hatte in diesem Moment die ultimative Ziellinie
überquert und stand nun ganz oben auf dem Treppchen. Die
Zukunft hatte endlich begonnen. Und Gott war Brasilianer.
Kein Jahr später zog ich als neuer ZDF-Südamerika-Korrespondent nach Rio de Janeiro. Noch immer konnte ich die Aufbruchsstimmung spüren. Die Wirtschaft boomte und wuchs
um sieben Prozent im Jahr. Brasilien hatte den beliebtesten
Präsidenten der Welt, Lula da Silva, mit Zustimmungswerten
um die 80 Prozent. Und bald würde die ganze Welt auf das
Land blicken. Erst 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft – im
Land des Fußballs. Und dann die Olympischen Spiele in Rio
de Janeiro, der wohl schönsten Stadt der Welt. Damals, als
frischgebackener Korrespondent, ließ ich mich ein wenig anstecken vom schier grenzenlosen brasilianischen Optimismus.
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Ein Land in Feierlaune. Und damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dass der Titel meiner Reportage knapp sechs
Jahre später „Absteiger Brasilien“ lauten würde. Doch genau so
ist es gekommen. Kurz vor den Olympischen Spielen in Rio de
Janeiro durchlebt Brasilien die tiefste wirtschaftliche und politische Krise seiner jüngeren Geschichte. Was ist passiert?
Gewalt und Kriminalität steigen in weiten Teilen Brasiliens wieder an, auch in der Olympiastadt am Zuckerhut
Sinkendes wirtschaftliches Wachstum, Skandale und Korruption schockieren das Land. Man könnte es einen „perfekten
Sturm“ nennen, eine widrige Kombination aus unterschiedlichen, schwerwiegenden Faktoren, die Brasilien ins Trudeln
gebracht und Dilma Rousseff, Präsidentin seit 2011, vorerst
aus dem Amt gefegt hat. Die sinkende Nachfrage aus China
nach Rohstoffen, der niedrige Ölpreis und das Versäumnis der
seit 2003 regierenden Arbeiterpartei, die Wirtschaft zu modernisieren: Dies sind nur drei von vielen Gründen für die brasilianische Misere. Zwar haben da Silva und seine Nachfolgerin
Rousseff mit milliardenschweren Sozialprogrammen rund 30
Millionen Brasilianer aus bitterer Armut befreit. Doch fehlende Reformen in der Bürokratie, in der Infrastruktur und
dem Rentensystem holen Brasilien heute ein: ein Minuswachstum von 3,8 Prozent im vergangenen Jahr, die Inflationsrate
liegt bei über 10 Prozent, Millionen Brasilianer haben ihren
Job verloren. Gleichzeitig schockierte der Korruptionsskandal
um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras das Land. Die
Ermittlungen deckten in den vergangenen Monaten schmerzhafte Wahrheiten auf. Petrobras war jahrelang ein Selbstbedienungsladen für Abgeordnete zahlreicher Parteien, auch der
regierenden Arbeiterpartei, weshalb sich mehr als 50 hochrangige Politiker einem Verfahren stellen müssen. Sie sollen
Schmiergeldzahlungen in Milliardenhöhe bei der Vergabe von
Aufträgen von Petrobras an Bauunternehmen kassiert haben.
Korruption – die Krake, die alles durchdringt. Eine Zahl, die
für mich immer wieder unglaublich klingt, sagt viel aus über
die brasilianische Realität: In der Hauptstadt Brasília wird oder
wurde gegen mehr als die Hälfte aller Kongressabgeordneten
jeglicher politischer Couleur wegen Korruption, Geldwäsche
und anderer Vergehen ermittelt. Brasilien, die korrupte Nation. Die Wirtschaftskrise und der Petrobras-Skandal haben
in den vergangenen Monaten Millionen von Brasilianern auf
die Straße getrieben. Immer wieder demonstrierten sie gegen
die Regierung. Die konservative Opposition nutzte die Gunst
der Stunde, organisierte Mehrheiten im Kongress und leitete
ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff ein.
Sie soll im Staatshaushalt getrickst haben, Korruption wird ihr
nicht nachgesagt. In normalen Zeiten hätte dieser Vorwurf
wohl kaum für eine Amtsenthebung ausgereicht. Regierungsanhänger, die in den vergangenen Monaten ebenfalls immer
Foto: ZDF
Foto: photocase
Ursachen der brasilianischen Misere
wieder auf die Straße gingen, sprachen erbost von einem
politischen Putsch. Doch sowohl das Abgeordnetenhaus als
auch der Senat stimmten im Mai dafür: Dilma Rousseff muss
vorerst ihr Amt niederlegen, während das Verfahren gegen
sie weiterläuft. Vize-Präsident Michel Temer, nun ihr Intimfeind, übernimmt. Damit wird er die Olympischen Spiele am
5. August in Rio de Janeiro eröffnen. Ob Rousseff endgültig
abgesetzt wird, entscheidet sich wohl erst nach den Spielen.
Politintrigen à la „House of Cards“
Machtpoker, Intrigen, brasilianisches „House of Cards“:
Das Land lag seit Anfang 2016 monatelang im politischen
Wachkoma. Die Wirtschaft stand kurz vor dem Infarkt. Interimspräsident Temer, ein konservativer Strippenzieher mit
jahrzehntelanger Erfahrung in der Hauptstadt Brasília, soll es
nun richten. Doch er präsentierte ein Kabinett, das ausschließlich aus weißen Männern besteht. Keine Frauen, keine Schwarzen. Es ist die alte, konservative Elite, die im 200 Millionen
Einwohner zählenden Schmelztiegel Brasilien wieder nach der
Macht gegriffen hat. Ein harter Sparkurs und schmerzhafte
Reformen stehen an. Doch viele Brasilianer glauben inzwischen, dass es Temer und seinen Unterstützern auch darum
ging, die Korruptionsermittlungen gegen sie stärker zu kontrollieren. Dabei könnte Brasilien einen Reformschub gut
gebrauchen. Das Gesundheitssystem liegt am Boden. In staat-
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lichen Krankenhäusern fehlt es an Geräten und Kapazitäten.
Das Zika-Virus hat Brasilien kalt erwischt. Nicht besser sieht
es bei der Bildung aus. Ein Lehrer an einer staatlichen Schule
verdient umgerechnet keine 600 Euro im Monat. In den Gebäuden bröckelt der Putz, und die Dächer sind undicht. In vielen Schulen in Rio de Janeiro findet seit März kein Unterricht
statt, weil die Lehrer streiken. Schüler besetzen ihre Schulen,
um für bessere Lernbedingungen zu demonstrieren. Nur die
Reichen sind davon nicht betroffen, denn die schicken ihre
Kinder auf teure Privatschulen.
Gewalt und Kriminalität steigen wieder an
Es ist eine komplizierte Gemengelage, in die wir in unserer
3sat-Reportage „Absteiger Brasilien“ eintauchen wollen. Wir
sprechen mit den Betroffenen: auf den Massendemonstrationen für und gegen die Regierung in São Paulo; in der Staatsanwaltschaft in Curitiba, die die Korruptionsermittlungen in
Sachen Petrobras leitet. In Brasília haben wir das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff begleitet.
In der Nähe von Rio de Janeiro drehten wir mit einer brasilianischen Taekwondo-Kämpferin, die für Olympia trainiert
und uns vom wirtschaftlichen Niedergang ihrer Heimatstadt
erzählt. Wir haben Lehrer, Schüler und Patienten interviewt.
Und Favela-Bewohner in Rio de Janeiro, die um ihre Sicherheit fürchten. Realität kurz ausgeknipst. Den Moment genießen, darin sind
die Brasilianer nun wirklich immer noch die unangefochtenen
Weltmeister.
Die Sportstätten sind fast fertig. Auch die U-Bahn-Linie
Richtung Olympischer Park soll ein paar Tage vor Beginn der
Spiele eröffnet werden. Rio de Janeiro will sich zwei Wochen
lang von seiner besten Seite präsentieren. Die großen Probleme Brasiliens gab es davor und wird es auch danach geben.
Aber während Olympia wird sich Rio de Janeiro dem Traum
hingeben, den es damals geträumt hat. Damals, am 2. Oktober
2009, am Strand von Copacabana. Es ist der Traum von wundervollen Spielen vor atemberaubender Kulisse. Von einem
aufstrebendem Land voller Lebensfreude und Zuversicht. Von
einem neuen, sympathischen Global Player, der sich der Welt
präsentiert. Heute ist Brasilien weiter von diesem Traum entfernt als 2009.
Doch vielleicht wird er trotzdem zu spüren sein während der
Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro. Wenn auch nur
als Phantomschmerz.
Andreas Wunn ist ZDF-Südamerika-Korrespondent in
Rio de Janeiro und Autor mehrerer Bücher.
Kader Attias Skulptur „J’ Accuse“ (2016)
Kader Attia: „Es gibt keine Freiheit,
ohne dafür zu zahlen“
3sat-Moderator Markus Brock empfiehlt die Ausstellung des algerisch-französischen
Künstlers im MMK – Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main
Die Schönheit seiner Kunsträume ist manchmal geradezu
erschreckend. Am zarten, in die Tiefe gestaffelten Eisengeäst
baumeln Steinschleudern. „Für mich ist dieses Werkzeug ein
ganz starkes Symbol für den Willen, Nein zu sagen ... Ich
möchte nicht beherrscht werden. Ich will ein würdiges Leben
führen“, sagt der algerisch-französische Künstler Kader Attia.
Das MMK in Frankfurt am Main widmet ihm jetzt eine umfassende Einzelausstellung.
Attia befasst sich in seinen Arbeiten mit dem Konzept der
„Reparatur“, das er seit vielen Jahren erforscht und 2012 auf
der dOCUMENTA (13) erstmals in einer großen Installation
bildhaft gemacht hat. „The Repair from Occident to ExtraOccidental Cultures“ wurde zu einem Publikumsmagneten.
Auch in der aktuellen Ausstellung in Frankfurt geht es um Reparaturen, um Verletzungen, Risse: Hier bezieht sich Attia auf
Denn Gewalt und Kriminalität steigen in weiten Teilen Brasiliens wieder an, auch in der Olympiastadt am Zuckerhut.
Mehr Überfälle, mehr Morde. Die sogenannte Befriedung von
rund 40 Favelas vor der Fußball-WM 2014, mit der die Drogengangs vertrieben und eine feste Polizeipräsenz installiert
werden sollte, hat nicht den erhofften Durchbruch gebracht.
In vielen dieser Armenviertel gehen Gewalt und Drogenhandel weiter. Der Sicherheitssekretär von Rio de Janeiro bestätigte uns im Interview, dass der Anstieg der Kriminalitätsstatistik auch mit der Wirtschaftskrise zusammenhänge. Dem
Bundesstaat Rio de Janeiro stehen weniger Finanzmittel zur
Verfügung, insgesamt sind weniger Polizisten als bisher auf der
Straße. Der Traum von wundervollen Spielen
Ich kann es nicht anders sagen: Es ist ein tristes Bild, das
das Olympialand in diesen Tagen abgibt. Die brasilianischen
Klischees – Strand, Sonne, Samba, Fußball, Caipirinha – sie
wirken plötzlich matt und aufgesetzt. Immer wieder werde
ich zurzeit gefragt, ob schon Vorfreude in Rio zu spüren sei:
Nein, von Vorfreude bisher keine Spur. Wir haben andere
Probleme, sagen viele Brasilianer, wenn man sie auf die Spiele anspricht. Und doch: Wahrscheinlich wird es trotz allem
ein großartiges Sportfest werden. Denn Brasilien ist ein Land
mit kurzem Gedächtnis. Mit einem Volk, das im Jetzt lebt,
mit einer großen Liebe zum Augenblick. Wie beim Karneval
werden für ein paar Tage alle Probleme beiseitegeschoben, die
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Ausstellungstipp
den gescheiterten Arabischen Frühling und auf den NahostKonflikt. „Das sind für mich alles große Wunden, die einander
gleichen. Es gibt keine Freiheit, ohne dafür zu zahlen.“ Und doch
weckt der von ihm angelegte Parcours Hoffnung, dass etwas, das
zerbrochen ist, sich auch wieder zusammenfügen lässt – sinnbildlich dargestellt in einer Kugel aus unzähligen Spiegelscherben, die von Metallklammern zusammengehalten werden. „In
unserer zerstörerischen Epoche möchte ich trotz allem daran
glauben, dass die Freiheit der Kunst die beste Antwort ist, die
einzig mögliche Waffe, die uns bleibt“, sagt Kader Attia, der zu
den wichtigsten Künstlern der Gegenwart zählt. Seine Ausstellung „Sacrifice and Harmony“ ist noch bis zum 14.8. zu sehen.
Das MMK 2 im Frankfurter TaunusTurm derweil präsentiert
„Das imaginäre Museum“. Das Centre Pompidou in Paris, die
Tate in London und das MMK führen bedeutende Werke aus
ihren Sammlungen zu einem europäischen Museum auf Zeit
zusammen, unter anderem mit Marcel Duchamp, Isa Genzken, Sigmar Polke, Andy Warhol und vielen mehr (bis 4.9.).
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Andreas Wunn
Brasilien für Insider.
Nahaufnahme eines
Sehnsuchtslandes
224 Seiten, Heyne Verlag
3 SO, 18.30
Museums-Check mit Markus Brock und
seinem Gast Gundula Gause · NEU
Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/Main
Reportage (30 Min) . ARD/SWR/3sat
Museum für Moderne Kunst MMK2
Foto: ZDF
Fotos: Axel Schneider, Frankfurt am Main (2)
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