Textstellen zu alten Phaedrusfabeln

Institut für Altertumswissenschaften
Phaedrus, Fabeln
Patricia Picker
SS 2015
Rezeption von Phaedrus I,1 (Wolf und Lamm)
Gotthold Ephraim Lessing
Jean de La Fontaine 1,10
Des Stärkern Recht ist stets das beste Recht gewesen –
Ihr sollt's in dieser Fabel lesen.
Ein Lamm löscht einst an Baches Rand
Den Durst in dessen klarer Welle;
Ein Wolf, ganz nüchtern noch, kommt an dieselbe Stelle,
Des gier'ger Sinn nach guter Beute stand.
„Wie kannst du meinen Trank zu trüben dich erfrechen?“
Begann der Wüterich zu sprechen –
„Die Unverschämtheit sollst du büßen, und sogleich!“
„Eu'r Hoheit brauchte“, sagt das Lamm vor Schrecken bleich,
„Darum sich so nicht aufzuregen!
Wollt doch nur gütigst überlegen,
Dass an dem Platz, den ich erwählt,
Von Euch gezählt,
Ich zwanzig Schritt stromabwärts stehe;
Dass folglich Euren Trank – seht Euch den Ort nur an –
Ich ganz unmöglich trüben kann.“
„Du trübst ihn dennoch!“ spricht der Wilde. „Wie ich sehe,
Bist du's auch, der auf mich geschimpft im vor'gen Jahr!“
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Institut für Altertumswissenschaften
Phaedrus, Fabeln
„Wie? Ich, geschimpft, da ich noch nicht geboren war?
Noch säugt die Mutter mich, fragt nach im Stalle.“
„Dein Bruder war's in diesem Falle!“
„Den hab' ich nicht.“ „Dann war's dein Vetter! Und
Ihr hetzt mich und verfolgt mich alle,
Ihr, euer Hirt und euer Hund.
Ja, rächen muss ich mich, wie alle sagen!“
Er packt's, zum Walde schleppt er's drauf,
Und ohne nach dem Recht zu fragen,
Frisst er das arme Lämmlein auf.
Patricia Picker
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Martin Luther
Wolf und Lämmlein
Ein Wolf und ein Lämmlein trafen sich zufällig an einem Bach, um zu trinken. Der Wolf trank
oben am Bach, das Lämmlein aber weit entfernt unten. Als der Wolf das Lämmlein sah, lief er
zu ihm und sprach: „Warum trübst du mir das Wasser, dass ich nicht trinken kann?" Das
Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir das Wasser trüben? Du trinkst doch oberhalb und
könntest es mir eher trüben." Da sprach der Wolf: „Wie, beleidigst du mich auch noch?" Das
Lämmlein antwortete: „Ich beleidige dich nicht." Daraufhin sagte der Wolf: „Dein Vater hat das
vor sechs Monaten ebenfalls getan, und du willst dich als Vater zeigen." Das Lämmlein
antwortete: „Damals war ich noch nicht geboren. Warum soll ich für meinen Vater büßen? „Da
sprach der Wolf: „Du hast mir aber meine Wiesen und Äcker abgenagt und verdorben." Das
Lämmlein antwortete ihm: „Wie kann das möglich sein, da ich doch noch keine Zähne habe?" –
„Nun gut", sagte der Wolf, „auch wenn du gut begründen und reden kannst, werde ich doch
heute nicht ohne Fressen bleiben." Und er würgte das unschuldige Lämmlein und fraß es auf.
Lehre: So ist der Lauf der Welt. Wer fromm sein will, muss leiden, wenn einer Streit sucht. Denn
Gewalt steht über dem Recht. Wenn man dem Hund übel will, hat er das Leder gefressen. Wenn
der Wolf es so will, ist das Lamm im Unrecht.
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Institut für Altertumswissenschaften
Phaedrus, Fabeln
Patricia Picker
SS 2015
Rezeption von Phaedrus I,3
Gotthold Ephraim Lessing
Jean de La Fontaine 4,9
Die Elster mit den Pfauenfedern
Ein Pfau in der Mauser ließ Federn fallen.
Eine Elster nahm sie und legte sie an,
Stolzierte unter andre Pfauen dann
Und meinte, sie müsse allen
Als Schönste wohlgefallen.
Doch irgendeiner erkannte sie.
Man beschimpfte, verlachte, verspottete sie,
Man hielt sie zum besten, man pfiff sie aus
Und riß ihr die fremden Federn heraus.
Man hat sie zu ihrer Sippe gehetzt,
Dort wurde sie auch vor die Tür gesetzt.
's gibt viele Elstern wie die unsrer Fabel,
Doch mit einer Nase statt einem Schnabel,
Die schmücken sich unentwegt
Mit Sachen, die andere abgelegt.
Plagiatoren pflegt man sie zu nennen.
Doch halt! Ich will mir nicht den Mund verbrennen.
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Phaedrus, Fabeln
Patricia Picker
SS 2015
Rezeption von Phaedrus I,8 (Wolf und Kranich)
Gotthold Ephraim Lessing
Jean de La Fontaine 3,9
Es schlingt der Wolf mit Gier.
Als einst ein solches Tier
Gelage hielt, geschah's zu seinem Todesschrecken,
Dass ihm ein Knochen blieb in seiner Kehle stecken.
Er meinte schon, er müsse alsobald verrecken,
Da kommt zum Glück für unsern Mann,
Der nicht mehr schrein noch sprechen kann,
Ein Storch vorbei. Dem macht er Zeichen,
Und seiner stummen Sprache schenkt der Storch Gehör:
Er läßt sich mitleidvoll erweichen,
Zu dienen als Operateur.
Er packt den Knochen, zieht mit Kraft
Und hat ihn bald herausgeschafft.
Und nun verlangt er für sein Retterwerk den Lohn.
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Institut für Altertumswissenschaften
Phaedrus, Fabeln
„Was? Deinen Lohn?“ entgegnet ihm der Wolf voll Hohn;
„Mein Freund, du spaßest jedenfalls.
Ist das nicht schon genug, daß heil du deinen Hals
Aus meinem Maul herausgebracht?
O Undank! Lauf und nimm dich ja vor mir in acht!“
Patricia Picker
SS 2015
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Martin Luther
Vom Kranich und Wolfe
Da der Wolf einstmals ein Schaf geiziglich fraß, blieb ihm ein Bein im Halse überzwerch
stecken, davon er große Not und Angst hatte, und erbot sich, dem großen Lohn und Geschenk zu
geben, der ihm helfe. Da kam der Kranich und stieß seinen langen Kragen dem Wolf in den
Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber den verheißenen Lohn forderte, sprach der Wolf:
"Willst du noch Lohn haben? Du solltest mir etwas schenken, daß du lebendig aus meinem
Rachen gekommen bist."
Wer den Leuten in der Welt will wohltun, der muß sich erwägen, Undank zu verdienen: Die
Welt lohnet nicht anders denn mit Undank, wie man spricht: Wer einen vom Galgen erlöset, dem
hilft derselbige gern daran."
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