Dharma Punx

Noah Levine
Dharma Punx
Weg ins Leben
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Dharma Punx: A Memoir
Copyright © by Noah Levine
Published by Arrangement with Noah Levine
All rights reserved.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Copyright der deutschen Ausgabe: AURUM
in J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld 2013
ISBN 978-3-89901-636-9
Übersetzung aus dem:
amerikanischen Englisch:
Gestaltung Innenteil +Umschlag:
Foto (Titel +Rückseite):
Lektorat:
Druck & Verarbeitung:
Frances Hoffmann
Kerstin Fiebig | ad department
Elisabeth Fall
Otmar Fischer
Westermann Druck Zwickau GmbH
www.weltinnenraum.de
1. überarbeitete Auflage 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Noah Levine
Dharma Punx
Weg ins Leben
Für
Toby Munyon,
Theresa Ferraro,
meine Eltern
und alle spirituellen Revolutionäre –
die von gestern, die von heute
und die von morgen.
Vorwort ......................................................... S.
7
Danksagungen ............................................... S. 11
Kapitel 11
Suicide Solution ............................................ S. 13
Kapitel 12
Kids of the Black Hole ................................. S. 17
Kapitel 13
It’s in my Blood ............................................ S. 26
Kapitel 14
Fuck Authority ............................................. S. 35
Kapitel 15
Teenage Wasteland ........................................ S. 44
Kapitel 16
No Remorse .................................................. S. 60
Kapitel 17
Live Fast, Die Young ................................... S. 70
Kapitel 18
Nailed to the X ............................................. S. 86
Kapitel 19
I Need Your Shelter ...................................... S. 99
Kapitel 10
Serve the Truth, Defy the Lie ...................... S. 109
Kapitel 11
My Friends Look Out for Me Like Family
Kapitel 12
No Spiritual Surrender .................................. S. 118
Kapitel 13
Who Killed Bambi? ..................................... S. 126
Kapitel 14
Love Sick ....................................................... S. 142
Kapitel 15
The Inner Revolution .................................. S. 154
Kapitel 16
Wanderlust .................................................... S. 159
Kapitel 17
Meditate and Destroy ................................... S. 203
Kapitel 18
Die, Die, My Darling .................................. S. 213
Kapitel 19
Reincarnation ................................................ S. 252
Kapitel 20
Inside Out ..................................................... S. 261
Kapitel 21
Being Here Now ........................................... S. 266
Kapitel 22
Death Is Not The End My Friend ................ S. 275
Kapitel 23
Stay free ......................................................... S. 283
S.
113
Epilog ............................................................ S. 287
Achtsamkeitsmeditation ............................... S. 288
Vorwort
D
harma Punx ist meine Geschichte, und es ist eine Geschichte über meine Generation: die Punks, die Kids, die in Zeiten Reagans, Thatchers und des Kalten Krieges mit der ständigen
Bedrohung nuklearer Vernichtung überall auf der Welt nach Sinn
und Freiheit suchten.
Ich suchte nach einem anderen Weg als dem meiner Eltern. Ich lehnte
Meditation und den ganzen spirituellen Scheiß, auf dem sie ihr Leben
aufbauten, total ab. Wenn wir uns die einst so idealistische HippieGeneration vor Augen hielten, die längst ihre Haare abgeschnitten, die
Kommune verlassen und sich dem System angepasst hatte, wurde uns
klar, dass Frieden und Liebe die Welt überhaupt nicht verändert hatten.
Aus unserer Verzweiflung darüber und dem Verlust jeder Hoffnung
entstand die Punkrock-Bewegung. Wir wollten gegen den Pazifismus
unserer Eltern und gegen das faschistische, auf Unterdrückung und
auf kapitalistischer Propaganda beruhende Gesellschaftssystem rebellieren und taten das auf unsere Weise, anders als die, die vor uns da
waren; wir wollten eine neue Revolution für eine neue Generation
auslösen. Wir waren uns der Korruption in unserer Regierung und der
Ungereimtheiten in den Machtverhältnissen im eigenen Zuhause
schmerzlich bewusst und rebellierten in einem einzigen lauten und
schnellen Aufschrei jugendlicher Angst gegen unsere Familien und die
7
Gesellschaft. Wir wollten uns nicht dem Diktat des Systems beugen
und rebellierten, wo wir nur konnten. Wir verlangten Freiheit und waren
bereit, dafür zu kämpfen.
Noch verschlimmert wurde die Lage durch die persönliche Verzweiflung,
die ich und so viele andere Menschen meiner Generation verspürten:
kaputte Familien, süchtige Eltern, nutzlose Lehrer und ein völliger Mangel
an Älteren, die uns als Vorbild hätten dienen können. Den meisten unserer Eltern fehlte die Zeit, sich mit uns zu beschäftigen: Sie mussten mit
den Nachwehen der Sechzigerjahre klarkommen oder sich in den Siebzigern und Achtzigern im Wettbewerb um Wohlstand behaupten.
Meine eigene Mutter kämpfte gegen die Sucht, litt unter zwei zerbrochenen Ehen und gab dennoch ihr Bestes, um ihre vier Kinder großzuziehen. Mein Vater hatte sich seiner spirituellen Praxis so sehr
verschrieben, dass er es manchmal nicht schaffte, sich so um mich
zu kümmern, wie ich es wohl gebraucht hätte.
Also geriet ich wie viele andere auf die Straße, angetrieben von der
Musik der Revolution, von Zorn, Angst, Furcht, Verzweiflung, Hass und
der totalen Unzufriedenheit mit den Verhältnissen. Wir färbten unsere
Haare oder rasierten uns den Kopf, legten eine neue Uniform an, die
uns von der geistlosen Masse der Er wachsenen und den hirntoten
Herden von Kids unterscheiden sollte, die sich weiter belügen ließen,
an die große amerikanische Illusion glaubten, Sport trieben, zur Schule
gingen und sich die furchtbare Popmusik der Achtziger mit ihren
sinnfreien Texten reinzogen, die nur ein weiteres Symptom der Apathie
und des Materialismus war, an denen unsere Gesellschaft krankt.
Der einzige gangbare Ausweg aus dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit
und der Verzweiflung schienen Drogen und Alkohol. Viele von uns griffen
schon als Teenager zu Betäubungsmitteln. Wir aßen LSD wie Schokolade und soffen billigen Wodka um die Wette, rauchten ganze Wagenladungen Gras, schütteten literweise billiges Bier in uns hinein, und
alles nur in dem vergeblichen Versuch, uns zu betäuben und betäubt
zu bleiben. Unsere Lebensanschauung war nihilistisch. Am Rande der
Mainstream-Gesellschaft waren wir ein beständiges Ziel von Gewalt und
Hohn. In unserem Kampf ums Überleben, im Kampf für unsere Ansichten und das Recht, anders zu sein, waren wir ständig in irgendwelche
Schlägereien verwickelt, wenn wir uns nicht mit der Polizei schlugen,
8
Vorwort
dann mit den Jocks oder Hicks 1) oder eben miteinander. Dieses von
Drogen und Gewalt bestimmte Leben brachte vielen den frühen Tod:
durch eine Überdosis, durch Mord, durch einen Autounfall und unzählige
Male durch Suizid. Tod und Trauer waren immer gegenwärtig im Leben
all jener Kids, die der frühen Punkrock-Szene angehörten. Unsere Vorbilder waren Sid Vicious und Darby Crash, unser Ziel war es, schnell zu
leben, jede Menge Drogen zu nehmen und auf das System zu scheißen,
indem wir jung starben. Die Hälfte der Kids aus den Punk-Banden, mit
denen ich in den Achtzigern rumhing, ist inzwischen tot.
Dieses Buch handelt von diejenigen von uns, die nicht jung gestorben
sind und immer noch leben, aber nicht von denen, die überall erzählen,
der Punk sei nur eine „Phase“ unserer Teenager-Zeit gewesen. In
Dharma Punx geht es um diejenigen von uns, die sich, motiviert von
derselben Unzufriedenheit mit dem Leben, die uns einst zur PunkrockSzene stoßen ließ, inzwischen eine spirituelle Praxis als gewaltlosen
Weg der Revolution gewählt haben. Es ist eine wahre Geschichte darüber, wie ich durch Meditation und den Dienst an der Gemeinschaft endlich genau jene Freiheit fand, nach der ich mich als junger, idealistischer
Punkrocker so gesehnt hatte. Nachdem wir eingesehen hatten, wie nutzlos Drogen und Gewalt sind, fanden ich und andere von uns positive
Wege, gegen die Lügen der Gesellschaft aufzubegehren. Immer noch
treibt uns der Zorn über die Ungerechtigkeit und das Leiden an, aber
heute nutzen wir diese Energie, um unsere eigene natürliche Weisheit
und unser Mitgefühl zu erwecken, anstatt uns selbst zu zerstören.
Dies ist eine Geschichte über diejenigen von uns, die nicht länger auf
der Straße leben und kämpfen. Heute führen wir den inneren Kampf
gegen Verblendung und Ignoranz; doch nach außen hin drücken wir uns
1) Im Original jocks and hicks. Die Jocks und Hicks bilden in der amerikanischen
Highschoolszene den Gegenpol zu den von ihnen so bezeichneten „Freaks“ oder „Spinnern“ (u. a. Punks, Skinheads, Goths usw.). Die Jocks [von jockstrap: Sportsuspensorium] entsprechen dabei den systemkonformen, sportlich aktiven, aus (weißen)
Mittelklassefamilien stammenden (Highschool-)Sportlern. Die Hicks dagegen sind die
eher minderbemittelten, kleinkarierten „Normalos“ oder „Spießer“.
9
weiter auf unsere ganz eigene Punkrock-Weise aus. Dem Alkohol und
den Drogen haben wir entsagt, Gewalt und Hass losgelassen, viel zu
viele Freunde an den Tod oder das Gefängnis verloren; doch wir haben
die höchste spirituelle Wahrheit entdeckt, den Dharma. Den spirituellen
Pfad, den Buddha als ein Leben „gegen den Strom“, gegen all die
selbstsüchtigen Begierden und die Unwissenheit beschrieb. Dies passt
genau zur Punkrock-Ethik. Unsere äußere Rebellion haben wir in eine
innere Revolution verwandelt.
Spirituelle Wahrheit findet sich in vielerlei Gestalt und in vielen
verschiedenen spirituellen Traditionen. Ich selbst bin zu einem praktizierenden Buddhisten geworden, während andere Dharma Punx sich
dem Sufismus der islamischen Mystik, einer persönlichen Beziehung
zu Christus oder dem hinduistischen Weg der Hingabe und des Dienens
verschrieben haben. Wenn ich das Wort „Dharma“ verwende, meine
ich damit die Wahrheit schlechthin, und wie mein Vater mir oft in Erinnerung ruft: „Was wahr ist, findest du in allen spirituellen und religiösen
Traditionen.“ Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet.
Dieses Buch nimmt dich mit auf eine spannende Reise von der Straße
ins Jugendgefängnis und vom Jugendgefängnis in den Meditationsraum.
Es beschreibt das Leben eines verwirrten Teenagers und seine Suche
nach Klarheit. Es ist die Geschichte des Lebens nicht eines Einzelnen,
sondern mehrerer Menschen, die nun unsere Gruppe bilden: die
Dharma Punx. Eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich einer spirituellen Praxis und dem engagierten Dienst an der Welt verschrieben
haben. Sie sind die neuen Gesichter der Punkrock-Szene, Menschen,
die hingebungsvoll den Dharma praktizieren, die du auch heute noch in
der örtlichen Musikkneipe treffen kannst, wo sie mit ihren Lieblingsbands mitsingen und auch hin und wieder einen Stage-Dive 2) riskieren.
2) Von Englisch stage = Bühne und diving = tauchen. Gemeint ist der Sprung von
der Bühne ins Publikum, von dem der Springende dann (im günstigsten Falle) aufgefangen wird.
10
Danksagungen
Das hier ist keine er fundene Geschichte von romantischem Leid,
auch keine Hollywood-Liebesgeschichte. Hier geht es um echte Menschen, echten Verlust und echtes spirituelles Wachstum. Es ist eine
Geschichte über Transformation, die Transformation eines Teils einer
Generation, die oft Generation X genannt wird, die inzwischen ihren Sinn
und ihre Er füllung in der spirituellen Praxis und im Dienen gefunden
hat. Hier schließt sich ein Kreis: vom Aufenthalt in Erziehungsheimen
zum Unterrichten der Meditationspraxis in solchen Heimen, von Raub
und Diebstahl zum Geben und Vergeben.
Diese Geschichte handelt davon, wie wir die Freiheit gefunden und
dann den Rest unseres Lebens damit zugebracht haben, sie wieder loszulassen.
Danksagungen
A
uch wenn einige Namen und die Reihenfolge der Ereignisse verändert wurden (um die Schuldigen zu schützen), ist dies eine
wahre Geschichte, die Geschichte meines Lebens, soweit ich sie aus
meiner unvollständigen Erinnerung und meiner ichbezogenen Wahrnehmung heraus rekonstruieren konnte.
Zuallererst gilt mein Dank meinen Eltern: Patricia Washko, die mich
zur Welt gebracht und sich um mich gekümmert hat, als ich mich noch
nicht um mich selbst kümmern konnte, ich hab dich lieb, Mom, und
Stephen Levine und meiner zweiten Mutter, Ondra Levine, die mir das
größte Geschenk überhaupt gemacht haben – Leben, Liebe und
Dharma, ihr habt mir das Leben gerettet.
Von Herzen grüße ich meine Geschwister Tara Levine, Luke Valentine,
Rebecca Silberman und Aaron Silberman.
Ein Riesendank an meine Freunde, die mich über all die Jahre hinweg
unterstützt haben: Toby Munyon, Vinny Ferraro, Micah Anderson, Joe
Clements, Scott Sylvia, Jimmy Clarke, Mike Haber, Noelle Watkins, Russ
11
Rankin, Jennifer Clark, Lars Fredericksen, Drew Phillips, Baron Dupont,
Jason Freeland, Jason Oliver, Jason Murphy, Margie Way, Ian Clark,
Mike Murnane, Gary Kosmala, Anna Sophie Lowenburg, Dave Davis,
Michele Fischer, Lolly Holloway, Giovanna Windrose, Keri Richard, Brant
Dobson, Darden Thompson, David Carberry, Eric Rodriquez, Vanessa
Giano, Rebecca Tupper, Diana Winston, Mark Coleman, Kevin Griffin,
Lisa McCool, Loch McHale, Mathew Gould, Monique Duncan, Claudine
Gossett, Bubbles, Stinky, Shooter, Mark, Darren, Dave, Chris, Claudia,
Gary, Adrienne, Steve, Don, Stuart und alle anderen Kumpel, die ich zu
erwähnen vergessen habe.
Einen herzlichen Dank meiner Agentin, Loretta Barrett, und meiner
Lektorin, Liz Perle, ohne euch zwei wäre dieses Buch echt scheiße geworden.
Mit erhobener Faust grüße ich all die Punkrock- und Hardcore-Bands,
die mich über die Jahre inspiriert und motiviert haben. Da es viel zu
viele sind, um sie alle zu erwähnen, nenne ich nur die wichtigsten: The
Ramones, The Clash, The Sex Pistols, Minor Threat, Black Flag, Bad
Brains, Bl`ast, GBH, Agnostic Front, Judge, Shelter, 108 und ein dicker
Stinkefinger an meine Freunde bei Good Riddance und Rancid.
Ich verneige mich tief vor meinen Lehrern, die mir den Weg zur
Befreiung gewiesen haben: Jack Kornfield, Mar y Orr, Ajahn Amaro,
Howard Cohn, Eugene Cash, Bo Lozoff, Steven Goodman, Seiner
Heiligkeit dem Dalai-Lama, Ram Dass, Thich Nhat Hanh, Suzuki Roshi,
Ramana Maharshi, Hazrat Inayat Khan, Maharaji, Robert Thurman,
Mark Epstein, Joseph Goldstein, Sharon Salzberg, Stephen und Ondrea
Levine und allen anderen Lehrern und Praktizierenden auf dem Weg bis
hin zu Siddharta Gotama, dem Buddha, selbst.
12
Kapitel 1 .
Suicide Solution
3)
I
ch erwache in einer Gummizelle, mein Kopf ist blutig und voller
blauer Flecken, und ich schreie wie von Sinnen einen unsichtbaren Angreifer an. Meine Handgelenke sind noch ganz wund und empfindlich von meinem Selbstmordversuch gestern Nacht. Die gepolsterten Wände und der gummierte Boden sperren mich mit meinem
schlimmsten Feind überhaupt ein, mit mir selbst. Der Tod scheint der
einzige Ausweg; ich muss den töten, der so lange schon so viel Leid
verursacht hat. Den Körper zerstören, der nichts vollbracht hat, als nach
immer mehr von dem Zeug zu verlangen, das mich jeden einzelnen
Augenblick meines Dasein lügen, stehlen und kämpfen lässt. Es gibt
keinen Schutz, keine Zuflucht, keine Hoffnung auf Erlösung. Alles,
was mir jetzt noch bevorsteht, ist dasselbe Spiel wie zuvor, und es
wird immer schlimmer. Ich habe keine Kraft, diesen Kampf weiterzuführen, und auch keinen Lebenswillen mehr. Ich muss diesen bösartigen Geist und diesen wertlosen Körper auslöschen, will ich jemals
Frieden finden.
3) Wörtlich: Selbstmordlösung. In der Szene bekannter Songtitel von Ozzy Osbourne
von dem Album „Blizzard of Ozz“ aus dem Jahr 1980.
13
Die Jahre der Gewalt und des Lebens auf der Straße haben mich
schließlich eingeholt. Ich kann mich nirgends mehr verstecken vor diesem Leben in der Sucht und den Verbrechen, die ich begangen habe.
Ich bin als Mensch gescheitert. Ich bin sogar darin gescheitert, mir das
Leben zu nehmen. Man hat mich in einen Käfig gesperrt, um die Welt
vor meinen schrecklichen Taten zu schützen, die Wände sind mit Hartgummi ausgekleidet, damit ich mich nicht selbst bestrafen kann. Das
trübe Neonlicht lässt nicht ahnen, ob es gerade Tag oder Nacht ist. Ich
habe mich im Bardo 4) verirrt, zwischen den Welten, unfähig zu sterben
und doch nicht mehr am Leben.
Es ist so weit. Das ist der Tiefpunkt, der endgültige Sturz eines
halbwüchsigen Drogenabhängigen in die Bodenlosigkeit. Ich habe jeglichen Bezug zur Realität, zur Liebe, selbst zum Hass verloren, der einst
der Treibstoff für meine Punkrock-Rebellion war. Ich habe nichts mehr,
für das es sich zu leben lohnt. Früher hatte ich den Zorn meiner antiautoritären, gegen das Establishment, ja gegen alles gerichteten Moral –
die Punks gegen die Welt –, der durch meine Adern strömte. Aber all
das habe ich verloren durch das Dope, das Crack und den billigen
Alkohol, die mich aufgefressen haben, die irgendwann mein einziger
verbliebener Freund waren und zugleich mein verräterischer Feind.
Ich habe meinen Irokesenhaarschnitt, meine Doc Martens und meine
Lederjacke für eine verdammte Crack-Pfeife verkauft. Ich habe meinen
Glauben an die Anarchie und die Revolution für eine Fahrt auf dem Night
Train Express 5) verkauft, für einen Rausch nach dem anderen, für stetes
Stoned-Sein, ohne Ziel, ohne irgendetwas zu tun oder irgendjemand
4) Begriff aus dem tibetischen Buddhismus, der für gewöhnlich die Phase zwischen
dem einen Leben und dem nächsten meint, also die Zeitspanne zwischen Tod und
Wiedergeburt. Die eigentliche Bedeutung des Wortes lautet jedoch „Zwischenzustand/das, was dazwischenliegt“ und geht damit weit über die allgemeine Bedeutung
hinaus.
5) Der Night Train Express ist ein billiger Süßwein mit einem Alkoholanteil von
17,5%. Im Englischen wird er auch als typischer „Bum-Wine“ – wörtlich „PennerWein“ – bezeichnet.
14
Kapitel 1 . Suicide Solution
zu sein. Alles, was ich kenne, sind der Schmerz und der flüchtige
Rausch oder die tröstende Taubheit, die die ewige Monotonie des
Leidens unterbrechen.
Hier liege ich nun, gefoltert von meinen Erinnerungen an ein Leben,
das ich nur halb gelebt habe und das fast schon vorbei ist. Siebzehn
Jahre alt und dem Tode geweiht. Eingesperrt, gefangen in einer Gummizelle, heule und schreie ich. Geblendet vom kalten Entzug, während
jede Zelle meines Seins das Gift ausstößt. Immer wieder verliere ich
das Bewusstsein, während die Wände durch meine gebrochene Seele
atmen. Ich bin zu müde zum Atmen, zu kaputt, um weiterzumachen, zu
schwach zum Kämpfen.
Ich rolle mich wie ein Fötus zusammen, halte dieses einst so unschuldige Kind fest, das vor all den Jahren geboren wurde, nach wie vor bereit, mit allem wieder von vorn zu beginnen. Lasst mich einfach sterben.
Im Schlaf bin ich dem Tod am nächsten, aber die Träume, die von den
Drogen kommen, sind noch schlimmer als die Zelle. Die giftigen Schrecken foltern mich im Schlaf, es gibt keine Ruhe für den Bösen, kein
Entrinnen vor den hungrigen Gespenstern und dämonischen Wächtern
der Unterwelt in meinen Träumen.
Tim, der Wachposten, den ich nur allzu gut kenne, weckt mich auf
und sagt mir, mein Vater sei am Telefon. Sein Blick ist voller Argwohn
und Sorge, er sagt mir, ich dürfe den Anruf entgegennehmen, aber er
müsse bei mir bleiben.
Mein Vater hört sich mein Gezeter und meine Hilfeschreie eine Weile
an und erzählt mir dann von seiner eigenen kriminellen Jugend und seiner Zeit im Gefängnis. Er spricht über seine eigene Sinnsuche und
erklärt mir ein paar einfache Meditationsübungen, das Einzige, was ihm
je geholfen habe. Ich höre ihm zu, so gut ich kann, und danke ihm, dass
er mich nicht aufgibt.
Tim sagt, ich könne in eine normale Zelle umziehen, wenn ich wolle.
Was für ein bescheuerter Deal: von einem Käfig in den nächsten. In meiner Zelle denke ich dann darüber nach, was mein Vater mir über Meditation erzählt hat. Wie soll denn dieser Hippie-Scheiß mir hier drin helfen?
Nach wie vor scheint Selbstmord die einzige Lösung. Ich muss meinen
Kopf zum Schweigen bringen; ich halte diese Folter nicht mehr aus.
15
Weil mir aber die Mittel zur Selbstzerstörung fehlen, liege ich nur auf
meinem harten Plastikbett und starre die von Graffiti übersäte Wand
an. Weil ich nichts anderes zu tun habe, versuche ich, meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem zu richten.
Ungefähr eine Woche später kommen ein paar junge Kerle in den
Knast und bieten an, mit uns darüber zu reden, wie man von den Drogen und vom Alkohol wegkommt. Früher habe ich mit einem von denen
Crack geraucht, darum beschließe ich, mal reinzuschauen, denn ich
weiß, dass ich aufhören muss, dass ich aufhören will, aber ich weiß
nicht wie. Einer von ihnen erzählt meine eigene Lebensgeschichte: ein
hoffnungsloser Junkie, der auch mal Punk gewesen ist; heute ist er
clean und trocken und erzählt, dass er einfach nur sterben wollte, bis
ihm klar wurde, dass in Wirklichkeit seine Sucht ihn umbringen wollte.
Inzwischen sei sein Leben eigentlich ganz gut. Jetzt will er nicht mehr
sterben, jetzt will er auf jeden Fall leben und versucht sein Leben dazu
zu nutzen, auch uns zum Leben zurückzuführen. Sie haben mir so eine
Art Entziehungsbibel gegeben. Ich habe ihnen gesagt, ich sei nicht interessiert an irgendwelchem religiösen Scheiß, habe das Buch aber
doch mitgenommen.
An diesem Abend lese ich in meiner Zelle ihr blödes Buch und mache
die dämlichen Atem-Meditationen meines Vaters. Wenn ich, um wieder
ein Mensch zu werden, diesen ganzen verdammten Schwachsinn machen
muss, dann kann ich eigentlich auch gleich sterben. Doch ich bin eingesperrt und habe nichts Besseres zu tun, also scheiß drauf, probiere ich
eben diesen Mist mal aus. Bisher hat nichts, was ich versucht habe,
gewirkt, und einen anderen Ausweg sehe ich auch nicht, also sollte ich
es mal damit versuchen. Die Meditationen scheinen ein bisschen zu helfen, zumindest ab und zu mal ein paar Sekunden lang; wenn es mir
gelingt, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, fühle ich mich besser
und vergesse, dass ich eingesperrt bin. Das Buch dagegen verwirrt mich,
es geht um diesen ganzen Scheiß mit Gott, aber irgendwie gefallen mir
die Geschichten auch. Da gibt es Typen, die wie ich völlig unkontrolliert
saufen und Drogen nehmen. Eine Stelle gefällt mir besonders, es ist da
die Rede von „erbärmlicher und unbegreiflicher Demoralisierung“. Ich
weiß zwar nicht, was das sein soll, aber es klingt ganz so, wie ich mich
fühle, wann immer ich Drogen nehme, saufe, stehle oder mich prügle.
16
Kids of the Black Hole
6)
Kapitel 2 .
I
ch saß auf der Eingangstreppe und hörte das Weinen meiner neugeborenen kleinen Geschwister und wie meine Mom und mein
neuer Stiefvater wieder mal miteinander stritten. Sie waren sich vor gut
einem Jahr während eines Meditationsretreats begegnet. Er zog bei uns
ein, und dann wurde alles anders.
Ich sah mich um, ob ich auch wirklich allein war, dann kroch ich unter
die Veranda und zu der Stelle, an der ich das Steakmesser versteckt
hatte, das ich aus der Küche gestohlen hatte. Das Sonnenlicht drang
durch die Lücken der Redwood-Bohlen und warf horizontale Linien auf
die Erde, so viel Licht spendeten, dass ich einigermaßen sehen konnte.
Ich machte mich auf den Weg zu meinem Geheimversteck, mein Herz
schlug schnell, und ich hatte Angst, entdeckt zu werden.
Das Messer hatte ich unter der Treppe versteckt, einem Ort, zu dem
nur ich Zugang hatte. Ich hatte es vor ein paar Tagen dort im Dreck
verbuddelt. Zuerst fand ich es nicht und fürchtete schon, irgendwer,
vielleicht meine große Schwester Tara, könne es entdeckt haben.
6) Wörtlich: Kinder vom schwarzen Loch. In der Szene bekannter Songtitel vom
Debütalbum der Band The Adolescents aus dem Jahr 1981.
17
Ich scharrte verzweifelt im Dreck, und schließlich fand ich es. Der
schwere Metallgriff fühlte sich kühl und seltsam tröstlich an in meiner
Hand. Ich streifte den Dreck ab und wischte die Klinge sorgsam an meinen Hang-Ten-Shorts ab. Ein paar Augenblicke lang saß ich einfach nur
da und betrachtete mein Messer. Es war eines meiner Lieblingsmesser;
Mom hatte vier davon. Ich glaube, früher hatten sie Großmutter gehört.
Die Klingen glänzten und waren äußerst schar f. Wir benutzten sie
immer nur, wenn es Fleisch zu essen gab, für gewöhnlich Leber mit
Zwiebeln oder etwas Ähnliches. Die Griffe waren aus Metall, waren aber
so gearbeitet, dass sie wie eine Art Stein oder vielleicht auch Holz aussahen. Ich hatte diese Messer immer sehr gemocht, darum hatte ich
auch eines von ihnen in mein Versteck gebracht.
Die Klinge reflektierte die Sonnenstrahlen und warf einen Lichtschein
auf den Boden vor mir. Ich spielte mit dem Licht, erstaunt darüber, dass
ich mit meinem Messer Licht ins Dunkel bringen konnte. Als ich plötzlich weitere Schreie vom Hausinneren her hörte, als meine Mom ihren
neuen Mann anbrüllte und die Zwillinge weinten, fiel mir wieder ein,
warum ich es überhaupt gestohlen hatte. Ich richtete die Klinge auf
meinen Bauch, umschloss dabei den Griff mit beiden Händen und saß
zitternd und von tiefer Verzweiflung erfüllt da. Mit bebenden Händen
erwog ich, sie mir in den Bauch zu stoßen, denn ich glaubte, davon
würde ich augenblicklich sterben, so wie es in den Comics und im Trickfilm immer der Fall war. Doch ich hielt inne. Irgendwie genügte es, einfach nur das Messer zu besitzen und jederzeit die Möglichkeit zu haben,
aus diesem Leben zu scheiden, wenn ich das wollte. Schon mit fünf
Jahren hatte ich das Gefühl, dass, sollte ich sterben, dies nicht unbedingt das Ende wäre, sondern auch nur ein neuer Anfang, ein Übergang
zur nächsten Ebene der Existenz oder zum nächsten Leben.
Vielleicht hatte ich dieses Gefühl von all den sterbenden Menschen
gelernt, denen ich begegnete, wenn ich mit meinem Vater dessen
Patienten besuchte, die er psychologisch betreute und die er meditieren
lehrte. Manchmal wusste ich, wenn wir das Haus eines dieser Patienten
betraten, dass der Tod nahte, ich konnte ihn riechen. In meinem nächsten Leben würden sich meine Eltern hoffentlich nicht scheiden lassen,
wenn ich zwei Jahre alt war, und ich würde keinen gemeinen Stiefvater
und zwei kleine Geschwister bekommen, die alle Aufmerksamkeit auf
18
Kapitel 2 . Kids of the Black Hole
sich zogen. Vielleicht wäre es ja am einfachsten, wenn ich mir einfach
dieses Messer ins Herz stieße und von vorn anfinge.
In diesem Moment hörte ich einen lauten Knall aus dem Haus und
wie etwas zu Bruch ging. Mein Stiefvater warf wieder mal mit Sachen
um sich. Ich hörte, wie mein Name gebrüllt wurde. „Wo ist Noah? Gottverdammt! Noah?“, schrie er. Ich hörte, wie Tara ihm sagte, sie habe
mich aus der Hintertür gehen sehen. Ich versteckte rasch mein Messer
wieder unter der ersten Stufe und kroch unter der Veranda hervor. Ich
klopfte mich sauber und stieß den Dreck von meinen Schuhen. Ich zögerte an der Vordertür, ehe ich sie aufstieß, voller Angst, in Schwierigkeiten zu sein oder ebenfalls angeschrien zu werden. Als ich hörte, wie
erneut mein Name gerufen wurde, öffnete ich die Tür und sah meine
Mom, wie sie das Abendessen zubereitete, eine Zigarette in der einen
und ein Glas Wein in der anderen Hand.
Ich sagte nur: „Was?“
„Wo hast du gesteckt?“, brüllte mein Stiefvater.
Ich sagte ihm, dass ich draußen gespielt hätte.
Meine Mom bat mich, den Kompost hinauszubringen. „Wieso kann
Tara das nicht machen?“, fragte ich. Da fing mein Stiefvater wieder
an, mich anzubrüllen. „Du machst, was deine Mutter dir sagt, gottverdammt!“
Daraufhin brüllte meine Mutter ihn an, er solle mich gefälligst nicht
anschreien.
Und da fing er an, mit Sachen zu werfen. Zuerst waren es die Babyschuhe, einer flog in meine Richtung, der andere auf meine Mutter zu.
Ich nahm einfach die alte Kaffeekanne voller Kompost und knallte die
Tür hinter mir zu. Auf dem Weg zur Einfahrt fing ich an zu weinen und
beschloss, dass ich das Messer nächstes Mal auch benutzen würde,
dann hätte ich es ihnen gezeigt. Wenn ich erst tot wäre, würden sie
mich vermissen. Dann würden sie vielleicht verstehen, wie ich mich
fühlte. Hinter meinen Tränen und meiner Verwirrung begann ich, zu glauben, dass ich vielleicht lieber meinen Stiefvater umbringen sollte. Ich
könnte mich ja in sein Zimmer schleichen, wenn er schlief, und ihm
mein Messer reinrammen. Wenn ich ihn nur irgendwie loswerden würde,
könnten Mom und ich wieder glücklich sein.
19
Ich habe meinen Stiefvater nicht umgebracht und offensichtlich auch
mich selbst nicht. Aber ich versteckte mich weiter unter der Treppe und
spielte mit dem Gedanken und mit dem Messer, während ich mich vor
meinem Leben versteckte.
Das war 1976. Ich war gerade erst fünf Jahre alt und wollte schon
sterben. Ich wusste noch nichts von der Punkrock-Bewegung, die sich
in New York und London herausbildete, aber ein paar Jahre später sollte
sie genau das Ventil werden, das ich brauchte, um meiner Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Ich hatte noch keine Ahnung von den Drogen,
die bald schon mein bevorzugtes Mittel sein sollten, um mit den
Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens fertig zu werden, und die mich
am Ende fast umbringen würden. Und ich hätte mir gewiss nicht vorstellen können, dass ich mich jemals mit Meditationen und spirituellen
Praktiken beschäftigen würde. Meine Eltern betrieben diesen Quatsch,
und wohin hatte uns das geführt?
Doch all dies stand mir bevor, und in der Zwischenzeit rauchte ich
Moms Zigaretten und legte Feuer auf dem Felde hinter unserem Haus.
In diesem Jahr fing ich auch an zu stehlen, zu Hause und in der Schule,
und ich brach sogar ins Haus der Nachbarn ein, wenn sie nicht da
waren, verputzte ihre Cookies und Zitronenbaisers und lauschte ihrem
automatischen Klavier.
Ungefähr ein Jahr darauf begegnete mein Dad, bei dem ich damals
nur an den Wochenenden und gelegentlich für längere Zeit zu Besuch
war, Ondrea, die seine Lebensgefährtin und seine neue Ehefrau wurde.
Man beschloss, dass ich eine Zeit lang bei ihnen in New Mexico leben
würde. Ich zog mit meinem Dad nach Santa Fe und begegnete meinem
neuen großen Bruder, James. Mein Sicherheitsmesser ließ ich in der
Hoffnung, es nicht mehr zu brauchen, unter der Treppe des Hauses
meiner Mom zurück.
Ich hatte mir immer schon einen großen Bruder gewünscht, doch
James war nicht daran interessiert, mit mir rumzuhängen. Er schien
mich überhaupt nur dann zu beachten, wenn ich ihm so lange auf die
Ner ven ging, dass er mich schließlich rumschubste oder irgendwie
misshandelte. Zuerst habe ich Ondrea wirklich gehasst. Sie war nicht
gemein wie mein Stiefvater, aber ich wusste, dass es ihre Schuld war,
dass wir in dieses beschissene Haus mitten im Nirgendwo ziehen muss20
Kapitel 2 . Kids of the Black Hole
ten, so weit weg von all meinen Freunden und den Mammutbäumen
und den Santa-Cruz-Stränden meiner Kindheit. Sie gab sich wirklich alle
Mühe, mir eine Freundin zu sein, aber ich brauchte eine ganze Weile,
ehe ich das zuließ. Ich war so eifersüchtig und hatte das Gefühl, mein
Dad liebte sie mehr als mich.
In diesem Jahr begann ich, Pott zu rauchen, beging meinen ersten
Fahrraddiebstahl und hatte meinen ersten Faustkampf mit einem Menschen, der nicht mit mir verwandt war. In der Schulaufführung von Peter
Pan besetzte man mich als Kapitän Hook. Ich war auf dem besten Weg
in ein Leben der Kriminalität und der Piraterie.
Während der nächsten Jahre wurde ich zwischen Mom (die sich, kurz
nachdem ich fort war, von meinem bösen Stiefvater hatte scheiden lassen) in Kalifornien und Dad und Ondrea in New Mexico oder Colorado
hin- und hergereicht. Nebenbei lernte ich neue Wege kennen, high zu
werden, unter anderem Saufen, Schnüffeln, Rauchen, Schnupfen und
Schlucken. Das bringt uns zum eigentlichen Beginn meiner Geschichte
im Jahr 1980, als ich schließlich den Punkrock entdeckte und Toby,
dem besten Freund meines Lebens, begegnete.
Als der gelb-weiße VW Bus meiner Mom sich in die Parklücke vor dem
Spielfeld der Capitola Soquel Little League quetschte, stritten wir uns
immer noch darüber, ob ich mein Skateboard mit zum Training der
Jugendliga bringen durfte oder nicht. Mom war überzeugt, ich würde es
am ersten Trainingstag bestimmt nicht brauchen, ich dagegen war mir
todsicher, dass ich ohne mein Skateboard nirgendwohin gehen würde,
und so waren wir in einem Machtkampf gefangen. Schließlich gab sie
aus lauter Frust nach, und ich sprang in meinen neuen karierten Vans,
OP-Shorts und einem T-Shirt aus einem örtlichen Surfshop aus dem
Bus, mein Duane-Peters-Skateboard unter den einen Arm geklemmt und
einen Rucksack mit meinen Sportklamotten und den Stollen im anderen. Noch bevor ich das Spielfeld auch nur betrat, war mir schon klar,
dass mich Skaten viel mehr interessierte als Baseball, aber aus irgendeinem Grund hatte ich mich bereit erklärt, der Mannschaft beizutreten.
Es lag wohl daran, dass ich zehn Jahre alt war und ein älterer Junge
aus der Nachbarschaft Baseball spielte; ich fand ihn cool, was mich
glauben ließ, wenn ich auch spielte, wäre ich so wie er.
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Doch sobald ich auf dem Feld ankam und nach nur einem einzigen
Blick auf die anderen Kids mit ihren Kurzhaarschnitten und ihren
nagelneuen Schuhen, die bereits ihre Trainingsuniformen anhatten, war
mir klar, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Ich hatte einen
Topfschnitt wie alle anderen Surfer und Skater in den späten Siebzigern
auch. Ich wollte nicht mit diesen Kids spielen. Ich wollte auf dem Parkplatz Skateboard fahren. Wenige Minuten später tauchte noch ein weiterer Junge auf; er hatte nicht nur einen Topfschnitt und OP-Shorts wie
ich, sondern trug auch noch ein Skateboard unterm Arm, und zwar ein
neues Rob Roscop, das beste Skateboard überhaupt. Er war darauf von
seinem Haus am Ende der Straße bis hierher zum Training gefahren.
Er hieß Toby. Ich stand abseits von den anderen; er kam direkt auf mich
zu und fragte: „Hey Alter, was geht ab?“
„Nichts, häng hier nur rum, nettes Skate, kann ich’s irgendwann mal
ausprobieren?“, erwiderte ich.
Er sagte: „Klar, nach dem Training könnten wir doch den Hügel runterfahren.“
Da wusste ich, dass das mein neuer bester Freund war.
Nach der ersten Trainingswoche lud er mich übers Wochenende zu
sich nach Hause ein. Unsere Eltern waren einverstanden. Bei diesem
ersten Besuch bei Toby stellte sich heraus, dass wir noch viel mehr gemeinsam hatten, als wir dachten. Wir skateten nicht nur beide, wir wurden auch beide gern high. Ich weiß nicht mehr, wer von uns damit
angefangen hat, aber schon nach kurzer Zeit pafften wir am Filter eines
Joints, den er seiner Tante gestohlen hatte. Ich kannte das Highsein
nun schon seit einigen Jahren und er ebenfalls.
Danach waren wir ständig zusammen – jedenfalls so oft wie möglich,
denn wir gingen auf verschiedene Grundschulen. Fast jedes Wochenende hingen wir zusammen rum. Nach dem Training fuhren wir Skateboard, gingen an den Strand, stromerten in den Bergen hinter dem
Haus meiner Mutter oder am Bach hinter dem Haus seiner Eltern
herum. Doch vor allem versuchten wir, so oft wie möglich high zu sein.
Mit zehn Jahren kommt man nur ziemlich schwer an Drogen heran, also
stahlen wir, so viel wir konnten, von unseren Verwandten und begnügten
uns damit, Lack oder Motorreiniger zu schnüffeln, rauchten Nelken und
kauten Tabak. Egal was, Hauptsache wir wurden davon high.
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Kapitel 2 . Kids of the Black Hole
Irgendwann im selben Jahr vertraute mir meine große Schwester an,
dass meine Mom ein paar Einkaufstüten voller Zeug hatte, das man
„Pilze“ nannte. Meine Schwester sagte, dass man die Dinger nicht
rauchte, sondern essen musste und dass man davon cooles Zeug sah.
Sie wollte, dass ich ihr etwas davon klaute, damit sie, falls man uns
erwischte, die Schuld auf mich schieben konnte. Also besorgte ich ihr
die Pilze und legte auch gleich ein paar davon für Toby und mich beiseite, damit wir sie am nächsten Wochenende probieren konnten. Das
passte ausgezeichnet, denn an diesem Wochenende wollten wir uns
mit Tobys Cousin Jason einen Surferfilm ansehen.
Tobys Cousin war ein paar Jahre älter als wir. Ich glaube, meine
Schwester kannte ihn aus der Schule oder so. Jason war der erste Punkrocker, den ich je getroffen habe: Er trug einen weiß gebleichten, aufgestellten Bürstenhaarschnitt und riesige, spitz zulaufende Schuhe, die
man Creepers nannte. Aber er war auch ein echt guter Surfer und Skater. Auf dem Weg ins Kino spielte Jason uns eine Kassette von einer
Band mit dem Namen Sex Pistols vor. Ich konnte es nicht fassen, es
war, als hätte ich die Stimme Gottes vernommen. Die starke Energie
und die Schnelligkeit der Musik weckte in mir das dringende Bedürfnis,
irgendetwas kaputt zu machen, ein Gefühl, das ich ohnehin meistens
verspürte. Von diesem Augenblick an war mir klar, dass ich auch ein
Punkrocker sein wollte.
Während des Surferfilms aßen wir die Pilze, jeder einen. Noch nie
hatte ich etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches und Widerliches gegessen.
Ich hätte beinah in den Kinosaal gekotzt. Wir holten uns Cola zum Runterspülen. Als der Film anfing, rauchten wir ein wenig Pott und warteten
darauf, dass die Pilze ihre Magie entfalteten. Denn so hatte meine
Schwester die Dinger bezeichnet: Magic Mushrooms. Ich merkte allerdings nichts, außer dass mir übel und ich vom Pott ein bisschen stoned
war. Ich musste immer wieder an die Musik denken, eine Zeile ging mir
dauernd durch den Kopf „There’s no future, there’s no future for me“ 7),
7) Wörtlich: Es gibt keine Zukunft, keine Zukunft für mich. Textzeile aus dem Song
„God Save the Queen“ von den Sex Pistols. Hier wird die Königin als nicht-menschliches Wesen und ihr Reich als faschistisches Regime bezeichnet; weiterhin heißt es,
„Englands Träumerei“ sei zukunftslos.
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und ich sagte sie im Geiste immer wieder vor mich hin. Ich weiß nicht
mehr genau, wann die Magie bei mir wirkte, doch als ich plötzlich auf
die Leinwand blickte, war ich schockiert, anstatt der erwarteten Surfer
und Wellen nur einen Farbenwirbel und verschlungene Formen zu sehen,
die von der Leinwand zu tropfen und das ganze Kino zu überfluten schienen, wie in The Blob, einem alten Horrorfilm, den ich einmal gesehen
hatte. Es war gleichzeitig beängstigend und überwältigend. Ich fühlte
mich so durch und durch lebendig und zugleich völlig außerhalb meiner
Erfahrung stehend. Es war, als wäre ich selbst zum Film, zu den Farben
und den Bewegungen geworden.
Toby und ich begannen, ein paar Monate lang fast jedes Wochenende
Pilze zu essen. Jason kopierte mir ein paar Punkrock-Kassetten, die ich
mir die ganze Zeit reinzog. Meine große Schwester und ich stritten uns
fast jeden Tag, aber ich blieb so weit wie möglich an ihr dran, um ihre
Freunde kennenzulernen und mehr über Punk und Ska-Bands zu erfahren. Meine Mom entdeckte schließlich, dass etliche Gramm ihrer Pilze
fehlten; meine Schwester beschuldigte mich sogleich, und ich nahm
die Strafe auf mich. In der Schule lief es schlecht und immer schlechter.
Als ich mich in Mr. Hersheys Büro – er war der Direktor meiner Grundschule – wiederfand, wusste ich, dass ich in Schwierigkeiten steckte.
Man hatte mich im Laufe des Jahres schon oft hierher geschickt, weil
ich den Unterricht gestört hatte, doch dieses Mal hatte man mich dabei
erwischt, wie ich gerade die kostbaren Kunstwerke der beliebtesten
kleinen Fingermaler der ganzen Schule zerstörte. Mein Freund Keith
und ich hatten, nachdem wir nach dem Kunstunterricht dazu verdonnert
worden waren, alle Pinsel zu reinigen, sämtliche Bilder der anderen
Kids, die in der Aula ausgestellt waren, mit Farbe bespritzt. Mr. Hershey
war außer sich; dieses Mal war ich zu weit gegangen. Ich war ein Kunstfeind, ein zehnjähriger Anarchist. Er hielt mir eine lange Strafpredigt, in
der er mich von meinem Fehlverhalten zu überzeugen versuchte und
mich mit einem verächtlichen Blick bedachte; danach erwartete er, ich
würde mich entschuldigen oder um Vergebung flehen, doch von mir
bekam er nichts weiter als ein verbissenes Grinsen, während ich leer
vor mich hinstarrte.
Ich wurde im fünften Schuljahr von der Schule verwiesen, ich war in
der Mountain School nicht mehr erwünscht. Meine Mom war am Ende
24
Kapitel 2 . Kids of the Black Hole
ihrer Weisheit. Und da sie nicht wussten, was sie sonst mit mir anstellen sollten, beschlossen meine Eltern, ich solle wieder bei meinem
Vater und Ondrea wohnen.
Am Strand von Capitola berichtete ich Toby, dass ich nach dem Sommer wieder zu meinem Dad sollte. „Wow, das ist echt scheiße“, sagte
er. „Dann machen wir uns jetzt den besten Sommer unseres Lebens.“
Ich musste meine Tränen zurückhalten und möglichst cool tun, aber ich
hatte noch nie so einen guten Freund gehabt, und ich würde ihn wirklich
schwer vermissen.
Ich lebte zwei Jahre bei meinem Dad und verbrachte den Großteil der
Sommermonate bei meiner Mom in Santa Cruz. In New Mexico war
leicht an Drogen zu kommen, nur Punkrock suchte man vergebens. Ich
musste die Kassetten im dortigen Plattenladen erst bestellen. In der
Schule war ich der einzige Junge mit gefärbtem Haar und Springerstiefeln. Ich hasste das Leben hier zutiefst und flehte meine Eltern an,
mich wieder in Kalifornien leben zu lassen.
Als ich im nächsten Sommer nach Santa Cruz kam, hatten Toby und
ich unseren ersten LSD-Trip. Chris, ein älterer Junge, mit dem wir immer
Gras rauchten, hatte es uns verkauft. Es war schwer zu glauben, dass
diese kleinen quadratischen Pappstückchen mit Bildern von Mickeymaus darauf so eine krasse Wirkung haben sollten. Sie sahen mehr
nach Briefmarken oder Schokolade aus als nach Drogen. Wir liefen
durch die Straßen von Capitola und lachten uns ohne jeden Anlass
kaputt. Wir versteckten uns vor imaginären Nazis, die hinter uns her
waren. Wir tauchten in den Sand am Strand, als flüchteten wir uns in
einen Sicherheitsbunker. Am Strand waren wir sicher und konnten uns
ein wenig ausruhen, bevor wir ins Dorf zurückkehrten und weiter den
Truppen aus dem Weg gingen.
25
Kapitel 3 .
It’s in my Blood
M
8)
it jedem langsamen Zug der Rasierklinge auf meinem Schädel jagte die kühle Brise, die durch das offene Fenster
hereinwehte, mir Schauer über den Rücken. Aus der Stereoanlage in
Tobys Zimmer dröhnte Black Flag, und es fiel mir echt schwer, still
sitzen zu bleiben, während er mir den Kopf rasierte. Wir wollten zu
einem Punk-Konzert, darum brauchte ich eine frische Rasur. Normalerweise nahm ich nur die Haarschneidemaschine, aber heute wollte
ich richtig kahl sein. Als er meinen Schädel fertig rasiert hatte, wandte
Toby sich mir zu und sagte: „Jetzt siehst du echt aus wie ein Pimmel
mit Ohren.“
Nachdem ich meinen Kopf abgespült hatte, war Toby an der Reihe.
Er hatte einen Bürstenhaarschnitt und wollte ihn bleichen, also mischten wir ein bisschen Wasserstoffperoxid und Bleichmittel, und ich
begann, es ihm über den Kopf zu schütten. Nach etwa zehn Minuten
beschwerte er sich, seine Kopfhaut brenne, und mir fiel auf, dass seine
Stirn ganz rot geworden war. Wir wuschen das Bleichmittel herunter.
Sein Haar war noch nicht weiß geworden, aber seine Kopfhaut und sein
8) Wörtlich: Ich hab’s im Blut. Albumtitel der Punkband Bl’ast von 1987.
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Kapitel 3 . It’s in my Blood
Nacken warfen schon Blasen, und so beließen wir es bei dem rostigen
Orange eines versauten Bleichversuchs. Es gefiel ihm sogar ganz gut,
er meinte, das sei „verdammt punkig“. Ich nannte ihn Karottenkopf,
Chicken Little, Q-Tipp und rostige Arschschlampe. Er hatte für mich so
innovative Spitznamen wie Glatzenlocke, Ko-Jack und Babyarschkopf.
Es war toll, wieder mit meinem besten Freund zusammen zu sein. Wir
machten einfach dort weiter, wo wir aufgehört hatten.
Seit ich aus New Mexico zurück war, hatten wir fast jeden Tag miteinander abgehangen. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber schließlich konnte ich meine Eltern doch noch überzeugen, dass ich nach
Kalifornien, wohin ich nun einmal gehörte, zurückkehren durfte. Meine
Mom hatte ihr Haus in den Bergen verkauft und war nach Pleasure Point,
dem Surferghetto im Osten von Santa Cruz, gezogen. Das war für mich
ziemlich cool. Wir wohnten nur einen halben Block vom Strand entfernt,
und es gab dort viel mehr Kids, die die ganze Zeit surften und skateten.
Toby und ich hatten nun schon seit mehreren Jahren Punkrock gehört,
aber keiner von uns war schon einmal auf einem Punk-Konzert gewesen. Durch die Musik wusste ich bereits, dass die Punks genau wussten, wie ich mich fühlte, und ich war entschlossen, wie Sid Vicious
schnell zu leben und jung zu sterben. Die Skate- und Sur f-Punks,
die ich kannte, brachten mir bei, dass ich die ganzen friedliebenden,
protestierenden Schwächlingspunks zu hassen hatte. Punkrock ließ
sich für mich in drei Worten zusammenfassen: Scheiß auf Autoritäten.
Nachdem wir mit unserer Punkrock-Schönheitspflege fertig waren,
wurde es Zeit, uns auf die Show vorzubereiten. Wir mussten ein paar
Hemden präparieren und ein paar Drogen einwerfen. Ich befreite ein
Hemd der US-Post, das ich von der Wohlfahrt gestohlen hatte, von seinen Ärmeln und klebte einen Bl’ast-Sticker über das Post-Logo auf der
Brust. Auf dem Rücken malte ich mit einem dicken schwarzen Filzstift
die Balken von Black Flag auf und schrieb „Skate and Destroy“ 9)
darunter. Ich war sehr zufrieden mit meinem Werk. Im Derby Skate Park
9) Wörtlich: Skaten und Zerstören. In der Szene bekannter Songtitel der Band
The Faction. Außerdem Motto der Skatepunk Bewegung, die in den frühen Achtzigerjahren aufkam.
27
hatte ich schon ein paar ältere Kids mit ähnlich gestalteten Hemden
rumlaufen gesehen. Toby malte ein großes Dead-Kennedys-Symbol auf
sein Holzfällerhemd und zog ein Minor-Threat-T-Shirt an, das er sich von
seinem Cousin geborgt hatte.
Wir nahmen den Bus in die City und holten uns von ein paar Hippies
im Park ein bisschen LSD. Wir waren spät dran, und so steckten wir
uns die Trips einfach in den Mund und gingen rüber zur Pacific Garden
Mall, um zu sehen, wer alles gekommen war. Wir entdeckten Chris,
einen älteren Punk, der gerade im Eingang eines geschlossenen Ladens
seinen Irokesenschnitt mit Haarspray bearbeitete. Er sagte: „Ihr kleinen
Scheißer wollt wohl auch zur Show?“ Ich blickte zu ihm auf, hatte aber
zu viel Angst vor ihm, um etwas zu erwidern. Er hatte mir schon ein
paar Mal Bier gekauft, was ziemlich cool war, aber er hing auch immer
viel mit den Mädels rum und hatte mir auch einmal gesagt, ich solle
mich verpissen, als ich versucht hatte, mich in seinem Schlepptau auf
einer Party einzuschleichen. Toby sagte: „Ja, wir wollen zur Show, du
auch?“ Er stand vornübergebeugt und sprühte sein Haar ein, darum
dachte ich, er dass er uns eh nicht hören konnte oder sich für uns
interessierte, und so gingen wir einfach weiter. Auf der Straße waren
kaum Punks zu sehen, also gingen wir gleich rüber zum Club Culture.
Auf dem Weg durch die Bushaltestelle schien uns einer der Wachleute
zu beobachten. Ich spürte noch immer, wie sich das kleine Stück Löschpapier mit dem LSD unter meiner Zunge auflöste, das vertraute Kribbeln und den chemischen Geschmack im Mund. Einen Moment lang
fragte ich mich, ob er wohl wusste, dass wir auf Drogen waren.
Als das LSD zu wirken begann, prickelte meine Haut, und ich konnte
die Finger nicht von meinem frisch rasierten Schädel lassen. Ich stellte
mich in die Schlange vorm Club Culture und wartete auf das erste PunkKonzert meines Lebens, bei dem ich live dabei sein sollte. Mein Magen
war hin- und hergerissen zwischen Schmetterlingen und Übelkeit.
Toby quatschte mit ein paar Mädels hinter uns, aber ich war viel
zu high, um auch nur zu versuchen zu sprechen, schon gar nicht mit
diesen süßen Punkerinnen. Ich kannte eine von ihnen aus der Schule,
wir besuchten dieselbe Junior High, und ich glaube, wir waren auch im
selben Jahrgang, aber ich hatte noch nie mit ihr geredet. Sie trug einen
blauen Pullover mit ein paar Ansteckern auf der Brust und enge
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Kapitel 3 . It’s in my Blood
schwarze Jeans, die an den Beinen umgekrempelt waren und gut fünf
Zentimeter oberhalb ihrer gelb-pinken Rautenmustersocken und den
weißen Frankenstein-Creepers endeten. Ich wusste, dass sie Carrie
hieß, aber aus irgendeinem Grund hingen wir in der Schule nie zusammen rum. Im vergangenen Jahr hatte ich ja noch in New Mexico gelebt,
und als ich nach Santa Cruz zurückkehrte, besuchten die meisten
meiner Freunde eine andere Junior High. In der Schule war ich eigentlich immer high und blieb für mich, wenn ich nicht gerade mit den
Skatern herumhing.
Als die Schlange sich endlich in Bewegung setzte, sagte Toby, wir
könnten nach der Show mit den Mädels ein paar Bier trinken gehen.
Das hörte sich toll an, aber in diesem Moment war mir alles egal, mein
Kopf fühlte sich echt merkwürdig an, die kahle Haut so glatt unter
meinen Fingern. Als wir an dem großen Fenster des Clubs vorbeikamen,
erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild und war völlig perplex
über das breite Grinsen in meinem Gesicht. Ich war so überrascht, dass
ich, als ich mein Gesicht mit dem dämlichen Grinsen sah, versuchte,
mit dem Grinsen aufzuhören. Ich wollte hart aussehen, nicht albern.
Aber es hatte keinen Zweck, immer wenn ich versuchte, mit dem Grinsen aufzuhören, fing ich an zu kichern. Ich gab mir die größte Mühe,
einen ernsthaften Raubein-Look aufzusetzen, indem ich die Augen
zusammenkniff und mein Spiegelbild anfunkelte, aber ich musste nur
jedes Mal mehr lachen. Schon bald fing auch Toby an zu lachen und
dann die Mädels hinter uns, und dann dauerte es nicht lange, und
die ganze Schlange brach in hysterisches Gelächter aus. Das heißt alle
bis auf ein paar streng dreinblickende Skinheads, die uns mit finsteren
Blicken bedachten. Wahrscheinlich dachten sie: „Diese dämlichen
kleinen Skate-Punks, haben wohl LSD eingeschmissen oder so was“.
Falls sie das dachten, hatten sie jedenfalls Recht. Das Lachen hielt
mehrere Minuten lang an, und ich war nicht ganz sicher, ob sie alle mit
mir oder eher über mich lachten, aber im Grunde war es mir egal.
Als wir zum Eingang kamen, begrüßten uns zwei Mädels und ein
großer schwarzer Mann, der die Leute beim Einlass zu zählen schien.
Die eine verlangte die vier Dollar Eintritt, während die andere mir den
Stempel auf die Hand drücken wollte. Dieser ganze Vorgang war beinahe zu viel für mich. Ich hatte zwar aufgehört zu lachen, aber ich
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konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Das Innere des Clubs war voller Menschen, Streetpunks 10) mit grell gefärbten, aufgestellten Irokesenschnitten, Mädchen mit allen möglichen Haarfarben, die karierte
Röcke oder umgekrempelte Hosen, Lederjacken oder Pullover trugen.
Es gab auch ein paar Skinheads in engen Hosen, sauberen, geknöpften
Hemden und glänzenden Stiefeln und jede Menge Skater und Sur fPunks mit Topfschnitten und Locken in Shorts und Sweatshirts,
wie man sie auch beim Skaten oder am Strand tragen würde. Der
unvermeidliche Heavy-Metal-Teen mit langem Haar, einem Tour-T-Shirt,
Jeans und Holzfällerhemd. Trotz meines rasierten Schädels gehörten
wir eindeutig zu den Skate-Punks, nicht zu den Skinheads. Am beeindruckendsten fand ich die Typen, die ihre langen Haare aufgestellt
trugen, so dass sie in alle Richtungen abstanden, als hätten sie in eine
Steckdose gefasst.
Jetzt war ich nicht mehr der merkwürdigste Typ im Raum. Endlich
befand ich mich an einem Ort, wo ich einfach ich selbst sein konnte
und mir keine Gedanken machen musste, ob mich vielleicht irgendwelche Jocks oder Hicks verprügeln wollten. In der Schule war ich
ständig dem Hohn ausgesetzt, aber hier war ich nur einer von vielen
Kids, die zusammen abhingen. Ich fühlte mich akzeptiert und unter
meinesgleichen. Dass wir bei diesem Konzert die Jüngsten waren,
schien überhaupt keine Rolle zu spielen.
Als die erste Band zu spielen begann, intensivierte sich die Energie
im Raum; Körper begannen in alle Richtungen zu fliegen. Irgendwann
wurde das Chaos zu einem Circle Pit 11) aus umherfliegenden Armen
und ineinanderprallenden Körpern. Tobys Vetter Jason kam zu uns
rüber. Er starrte uns eine Minute lang an und sah mit seinem fiesen
10) Der Streetpunk bezeichnet eine Subszene innerhalb des Punkrocks, die in den
1970er Jahren in Großbritannien aufkam. Die Streetpunks oder Realpunks verabscheuten Poser und die extreme Vermarktung von Punk und seiner Mode und favorisierten
eine Version von Punk, die von musikalischer Professionalität „unverdorben“ war.
11) Der oder das Circle Pit (auch „Moshpit“, „Pogopit“) ist ein häufig auf Metal-,
Hardcore- oder Punk-Konzerten vor der Bühne entstehender Kreis, in dem die Zuschauer tanzen. Der Circle Pit bezeichnet dabei vor allem die Kreislinie, entlang deren
die Zuschauer tanzen; nach außen hin erscheint ein Pit wie eine große Menschentraube.
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Kapitel 3 . It’s in my Blood
Grinsen ziemlich bösartig aus. „Habt ihr etwa Drogen genommen?“,
fragte er. Wir begannen beide zu lachen und sagten gleichzeitig: „Nein“,
hörten aber nicht auf zu lachen. Er packte uns am Genick und schleifte
uns mitten hinein in die Pogo-Menge. Ich bekam einen Faustschlag auf
den Hinterkopf, doch der Schmerz wirkte belebend, mein ganzer Körper
füllte sich mit beruhigendem Zorn, eine angenehme Erlösung für meine
Aggressionen. Ich begann, so schnell ich konnte, im Kreis zu laufen,
und krachte dabei in alle möglichen Leute auf der Tanzfläche. Immer,
wenn ich hinfiel, wurde ich sofort wieder auf die Beine gestellt.
Ein Typ fiel mir besonders auf, vielleicht weil er zu den wenigen
schwarzen Punks hier gehörte. Er hatte einen Iro aus Dreadlocks und
sprang die ganze Zeit so hoch, dass er auf der wogenden Menge vor
der Bühne landete. Ich war so beeindruckt davon, wie er die Schwerkraft
zu über winden schien, dass ich es selbst ausprobierte. Ich lief, so
schnell ich konnte, stützte mich auf irgendwelchen Schultern ab und
hob mich über die Köpfe der Menge, bis ich entweder in der Menge
selbst oder aber auf dem Fußboden landete.
Die ganzen älteren Punks schienen ein Auge auf uns zu haben.
Immer, wenn einer von uns in der Menge hinfiel, wurden wir sofort wieder auf die Füße gezogen. Es waren auch ein paar Mädchen auf der
Tanzfläche, einige von ihnen hatten ziemlich viel Kraft und waren echt
wild. Eines mit schwarzem Eyeliner und kahlrasiertem Kopf versuchte
immer wieder, rückwärts gegen den Fluss der wirbelnden Menge anzugehen, wobei sie jeden aus dem Weg stieß und den massigen Circle
Pit aus stoßenden Körpern teilte.
Zwischen den Songs versuchten wir, Atem zu schöpfen und gleichzeitig Zigaretten zu rauchen. Das war wirklich der größte Spaß meines
Lebens. Das war genau mein Ding: die Energie, der Zorn und die Freiheit, wir selbst zu sein.
Zwischen den Bands merkte ich, wie high ich war. Die mit Graffiti
übersäten Wände atmeten, und obwohl der Pit aufgehört hatte zu
rotieren, sah ich immer noch einen gigantischen Wirbel aus Farben und
Rauch in der Mitte des Raumes. Ich saß, mit dem Rücken zur Wand,
einfach nur da und starrte auf das Geschehen vor mir. Punks, Skater,
Skinheads, New-Wave-Girls und wenige Metaller alle miteinander vermischt. Toby und Jason saßen neben mir und unterhielten sich über
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irgendwas; hin und wieder blickten sie zu mir herüber und fingen an zu
lachen. Wahrscheinlich trug ich immer noch dieses dämliche Grinsen
im Gesicht: der glücklichste Mensch der Welt und voll auf LSD.
Als nächste Gruppe spielte die örtliche Band Bl’ast, deren Name auch
mein Hemd zierte. Jason hatte mir eine Kassette von ihnen aufgenommen. Sie waren spitze, eine der härtesten Bands, die ich je gehört
hatte. Ich hörte mir das Band fast jeden Tag an; auf der einen Seite
war Bl’ast und auf der anderen Black Flag. Ich konnte kaum glauben,
dass ich sie jetzt live erleben sollte. Als sie ihr Equipment aufgebaut
hatten, begann sich eine riesige Menge vor der Bühne zu versammeln,
um dabei zu sein, wenn diese lokalen Legenden den Hardcore-Sur fPunk spielten, für den sie im ganzen Land berühmt waren. Der Sänger
war ein großer, kahl geschorener Kerl; er trug schwarze Boardshorts
und weder T-Shirt noch Schuhe. Er hatte ein Tattoo auf der Schulter und
eines auf dem Rücken. Als die Basslinie begann, fing er an, vor und
zurück zu schaukeln und den Kopf mit einem bösen Grinsen im Gesicht
von einer Seite zur anderen zu schütteln. Er starrte mitten in die Menge
und blickte doch durch uns hindurch. Als der mächtigste Sound, den
ich je gehört hatte, aus der Gitarre explodierte, sprang er mit hoch über
die Bühne und landete auf dem Trommelschlag mit einem Brüllen, das
den ganzen Raum in völliges Chaos stürzte. Im Saal herrschte völliges
Durcheinander, Leiber flogen in alle Richtungen und wurden schließlich
zu einer wuchtig kreisenden Masse, die hin und wieder jemanden zur
Seite oder über die Köpfe der Menge ausspie, der dann auf der Bühne
landete, nur um von dort augenblicklich wieder in die Menge zu tauchen. Die Tanzfläche war zu einem pulsierenden Wirbel geworden, der
die gesammelte Wut aller Anwesenden in sich aufsog.
Ich rannte wild umher, und mich überkam das dringende Bedürfnis,
meinen Kopf aus der Masse emporzuheben. Ich fing an, mich immer
wieder über Jasons Schultern zu werfen. Ich keuchte nach Luft. Schließlich sprang ich einem großen Suicidal12) Skatepunk auf den Rücken,
12) Anhänger eines „suizidalen“ (halsbrecherischen, bis aufs Letzte gehenden)
Lebensstils innerhalb der Punkbewegung. Geprägt wurde dieser Lebensstil in den
Achtzigerjahren von der kalifornischen Hardcore Band Suicidal Tendencies.
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Kapitel 3 . It’s in my Blood
und er trug mich über die Tanzfläche, während ich wild mit den Armen
ruderte und alle Songs, die ich kannte, lauthals mitgrölte. Ich fühlte
mich so lebendig wie nie zuvor. Der Pit war wie eine Erlösung für mich.
Ich spürte fast keine Schmerzen und war mir der Schläge, die auf meinen Körper trafen, kaum bewusst. Ich bekam einen Ellenbogen ins Auge
und fiel hin, nur um sofort von einem älteren Punk mit Iro wieder auf
die Beine gezerrt zu werden. Bl‘ast hämmerten die härteste Musik heraus, die ich je gehört hatte. Ich spürte, wie sie durch meine Adern
strömte; nun hatte ich den Hardcore-Punk für immer im Blut.
Seit diesem Abend war mir klar, wohin ich gehörte. Ich hatte meinen
Platz in dieser beschissenen Welt gefunden.
Auf dem Weg nach draußen hielt mich Ritchie, der große schwarze Kerl,
der den Laden führte, am Arm fest und sagte: „Hey Kleiner, wie wär’s,
wenn du und deine Freunde kostenlos alle Konzerte sehen könntet?“
„Klasse, was muss ich dafür tun?“, antwortete ich.
„Ganz einfach. Du kommst jeden Donnerstagnachmittag hierher, und
ich gebe dir einen Stapel Flyer für die nächsten Konzerte, die du dann
in der ganzen Stadt verteilst. Dafür lasse ich dich und ein paar Freunde
in jedes Konzert, das ihr sehen wollt“, erwiderte er.
„Super, dann sehen wir uns Donnerstag gegen halb vier“, sagte ich.
Ich konnte es nicht fassen. Mein allererstes Konzert, und ich hatte
gleich einen Job bekommen. Toby meinte nur: „Wow, krass, jetzt arbeitest du hier.“ Draußen informierte er auch gleich noch Jason. „Noah
soll ab jetzt Flyer verteilen. Dafür kommen wir kostenlos in die Konzerte.“ Jason grinste nur, denn ihm war klar, dass auch er selbst von
nun an kostenlos in die Shows kam. Wir suchten die Mädels, mit denen
wir zuvor in der Schlange gestanden hatten, um noch ein paar Bier mit
ihnen zu kippen und ein bisschen rumzuhängen, aber sie waren nirgends zu entdecken. Es war schon spät, und die Busse fuhren nicht
mehr. Die Mädchen waren vermutlich schon eher gegangen, um noch
einen Bus zu erwischen. Wir steckten ohne unsere Skateboards in der
City fest, also beschlossen wir, auf den Bahnschienen nach Hause zu
laufen. So würden wir wenigstens nicht von den Bullen genervt werden,
weil wir um diese Zeit noch draußen waren. Wir mussten lediglich von
der City bis zur Strandpromenade kommen, und dann konnten wir einfach den Schienen bis zum Haus meiner Mom in Pleasure Point folgen.
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Am schwierigsten war es, erst einmal zur Strandpromenade zu kommen. Wir beschlossen, so lange wie möglich auf dem Uferdamm zu bleiben, obwohl die Bullen dort oft auf Streife waren. Aber zumindest
würden wir sie von dort aus rechtzeitig sehen und uns verstecken und
weglaufen können, wenn es drauf ankäme. Der Damm verlief direkt hinter dem Club, also gingen wir zu seiner Rückseite, wo die Bands gerade
damit beschäftigt waren, ihren Kram zusammenzupacken. Auch ein
paar Ältere hingen dort rum und tranken. Toby kannte ein paar von
ihnen, es waren Freunde seines Vetters. Einer von ihnen gab uns ein
paar Bier für den Nachhauseweg.
Auf dem Uferdamm hingen mehrere kleine Grüppchen von Punks rum,
tranken und rauchten und unterhielten sich über die Show. Ich glaubte,
die Mädels, mit denen wir uns treffen wollten, mit ein paar älteren
Punks zu sehen, aber ich sagte Toby nichts davon, denn ich wollte
einfach nur weiterlaufen. Unter der Brücke an der Laurel Street sahen
wir ein Pärchen beim Sex. Sie stöhnten und atmeten schwer. Ich fand
das gleichzeitig peinlich und aufregend, aber wir gingen an ihnen vorbei
und wünschten nur, wir selbst könnten diese herrliche Nacht auch auf
diese Weise beenden, anstatt den langen Heimweg zur East Side auf
uns nehmen zu müssen.
Als wir endlich bei mir zu Hause angekommen waren, war es fast
drei Uhr morgens. Meine Mom und ihr Freund schliefen fest. Ganz leise
holten wir uns aus der Küche was zu essen und verzogen uns in mein
Zimmer. Wir aßen Müsli und Brot und versuchten danach zu schlafen.
Da wir aber beide nicht einschlafen konnten, unterhielten wir uns noch
eine Weile. Toby sagte: „Hörst du das auch?“ Ich sagte: „Was?“ Er
sagte nur „Hörst du das auch?“, und ich fragte noch einmal: „Was soll
ich hören?“ Er sagte „Na, wie deine Gehirnzellen platzen?“ Ich saß eine
Minute lang einfach nur da und dachte darüber nach, wie es sich wohl
anhörte, wenn einem die Gehirnzellen platzten. Plötzlich hörte ich es
tatsächlich. Ich hörte winzige Knallgeräusche wie die von Reiscrispies,
kurz nachdem man sie mit Milch übergossen hatte. Ich sagte:
„Scheiße, ich glaube, ich hör’s auch.“
„Ob wir dann wohl hirntot sind oder so was, wenn sie alle zerplatzen?“, fragte Toby.
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Kapitel 4 . Fuck Authority
„Nein, ich habe mal gehört, dass wir sowieso nur ein Zehntel unseres
Gehirns nutzen, hoffen wir mal, dass es der andere Teil war, den wir
zerstört haben.“ Ich sagte das im Scherz, aber für mich klang es plausibel. Ich hätte schwören können, dass ich da wirklich meine Hirnzellen
hatte platzen hören. Es war schon seltsam, so dazuliegen und der Zerstörung meines Gehirns zu lauschen.
Das war es wert gewesen, den Schmerz, den Kater und das ganze
tote Hirn. Ich hatte endlich meinen Platz in dieser Scheißwelt gefunden.
Fuck Authority
13)
Kapitel 4 .
A
m nächsten Tag in der Schule konnte ich an nichts anderes
denken, als am Donnerstag in den Club zu gehen und die Flyer
abzuholen. Ich konnte es kaum erwarten, rauszufahren und auf meinem
Skateboard durch die ganze Stadt zu rollen und an sämtlichen Telefonzellen die Flyer aufzuhängen. Ich war total aus dem Häuschen über
meinen neuen Job. Doch am Mittwoch wurde ich in der Schule mit Gras
er wischt. Ich hatte mich schon vor dem Unterricht zu Hause völlig
zugedröhnt und saß nun einfach in meinem Klassenzimmer rum.
Der Wachmann der Schule kam in meine Klasse und nahm mich mit
ins Büro, wo er und der stellvertretende Direktor mich aufforderten,
meine Taschen zu leeren.
Sie fanden drei Dollar Bargeld, eine Packung Kaugummi, Zigarettenblättchen und eine Filmdose voller Gras, die ich dem Freund meiner
Mutter gestohlen hatte. Später erfuhr ich, dass das Gras so stark duftete, dass meine Lehrerin es in meiner Tasche gerochen und den Wachmann gebeten hatte, mich zu durchsuchen. Ich war so stoned und so
sehr an den Geruch dieser klebrigen grünen Duftknospen gewöhnt,
13) Wörtlich: Scheiß auf die Autoritäten. Einer der zentralen Slogans der Szene und
bekannter Songtitel der Band Pennywise von dem Album „Land of Free“ von 2001.
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dass ich den scharfen Kräutergeruch, der aus meinen Taschen strömte,
gar nicht wahrnahm. Die Tatsache, dass ich in diesem Schuljahr bereits
drei Mal mit Pott erwischt worden war, war auch nicht gerade hilfreich.
Zweimal hatte man mich ertappt, wie ich mich gerade mit ein paar
anderen Kids in der Gasse gegenüber der Schule zudröhnte. Das eine
Mal hatte mein Freund Corey in seinem Rucksack auch noch zwei Unzen
Kokain gehabt, die er seinem Dad gestohlen hatte und die wir nach der
Schule gegen Gras eintauschen wollten. Corey hatte ich seither nicht
mehr gesehen, aber seine Schwester hatte mir erzählt, dass man ihn
in eine Besserungsanstalt oder etwas Ähnliches gesteckt hatte.
Dieses Mal suspendierten sie mich nicht nur von der Schule, sondern
riefen auch noch die Bullen und ließen mich wegen Besitzes einer
verbotenen Substanz einsperren. Meine Mom musste früher von der
Arbeit kommen und mich von der Polizeiwache abholen. Sie war verdammt sauer. Als sie mich fragte, woher ich das Gras hätte, und ich ihr
sagte, ich hätte es ihrem Freund geklaut, hielt sie die Klappe. Sie wollte
vermeiden, dass er herausfand, dass ich ihn bestahl, und fühlte sich
zudem schuldig, dass ich das Zeug aus ihrem eigenen Haus hatte.
Am Donnerstag, als es Zeit wurde, mich auf den Weg zum Club
Culture zu machen und meinen neuen Job als Flyerverteiler anzutreten,
hatte ich Hausarrest und sollte unter keinen Umständen das Haus verlassen. Meine Mom kam aber für gewöhnlich nicht vor halb sechs von
der Arbeit heim, also dachte ich mir, dass ich mich gegen drei aus dem
Haus schleichen und in die Stadt fahren könnte. So hätte ich zumindest
ein paar Stunden Zeit, um die Flyer aufzuhängen. Das Problem war nur,
dass meine Schwester, Tara, vorher heimkommen würde und ich sie
anbetteln müsste, mich nicht zu verpetzen. Sie kam früher als sonst,
und ich versprach ihr, ihr ein bisschen Gras zu besorgen, wenn sie Mom
nicht verriete, dass ich mich davongeschlichen hatte, und sich eine Ausrede einfallen ließe, falls sie anrufen sollte oder so. Sie willigte zögernd
ein, nachdem sie mich eine Weile hatte zappeln lassen, und ich machte
mich aus dem Staub. Als ich zum Club kam, war Ritchie gar nicht da,
aber eine Frau namens Andrea war im Büro und erwartete mich. Sie
gab mir zwei Stapel Flyer für die nächsten Konzerte. Der eine Stapel
war für eine englische Band, die sich Sub-Humans nannte, von der ich
noch nie gehört hatte, der andere für JFA und Aggression, zwei Punk36
Kapitel 4 . Fuck Authority
bands, die ich bei Jason schon einmal gehört hatte. Bl’ast und eine
Band mit dem Namen The Faction würden den zweiten Teil der Show
bestreiten.
Mit einem Tacker bewaffnet, den ich in der Schule geklaut hatte, fuhr
ich auf meinem Skateboard nach Hause und hängte unterwegs an jeder
Telefonzelle die Poster auf. Als ich am nächsten Tag auf dem Weg in
die Stadt war, fiel mir auf, dass ich nur auf einer Straßenseite welche
aufgehängt hatte. Am Wochenende rekrutierte ich Toby und unseren
gemeinsamen Freund Joe, mir zu helfen, die Flyer aufzuhängen. Joe
wohnte auch in Pleasure Point, nur ein paar Blocks von mir entfernt,
aber wir gingen auf verschiedene Highschools, darum kannte ich ihn
kaum. Wir hatten ihm von der Show berichtet, und er wollte nächstes
Mal auch mitkommen, darum half er uns mit den Flyern, damit wir ihn
mitnahmen. Wir skateten von der East Side bis rüber zum Derby Skate
Park auf der West Side. Im Derby überzeugten wir ein paar Ältere, uns
ein paar Bier zu besorgen, und dann verbrachten wir den Rest des
Tages mit Skaten und vergaßen darüber völlig, die Flyer zu verteilen.
Ich fühlte mich ein wenig schuldig, dass ich meinen Flyer-Job nicht ernst
genug nahm, aber ich hatte nun einmal meine Prioritäten, und die hießen Saufen und Skateboardfahren.
Zu Hause war der Krach wegen des Grases schon bald vergessen,
und als ich in der nächsten Woche wieder zur Schule ging, freuten sich
meine Freunde, mich zu sehen. Trotz all des Ärgers ging es mir fantastisch. Scheiß auf Schule, Familie und die Regeln der anderen. Alles,
was zählte, waren Drogen, Skateboardfahren und Sex.
Ab und zu hatte ich Sex mit einem Mädchen aus der Schule, sie hieß
Halley. Wir gingen nach der Schule zu ihr, dröhnten uns zu und machten
miteinander rum, was manchmal in Sex oder einem Blowjob endete,
manchmal endete es aber auch damit, dass ich aus dem Fenster
sprang, weil ihre Mom oder ihr Dad nach Hause gekommen waren. Es
hielt nur ein paar Monate, dann ging sie statt meiner mit einem meiner
Freunde aus.
Meine Mom fing wieder damit an, dass ich vielleicht nach New Mexico
ziehen und eine Weile bei meinem Vater und Ondrea leben sollte. Sie
hatte vor, ihr Haus zu verkaufen und ein Jahr oder länger mit ihrem
Freund durch die Welt zu reisen. Zuerst sagte ich: „Auf keinen Fall“,
37
aber nachdem ich ein bisschen darüber nachgedacht hatte, kam ich zu
dem Schluss, dass die Idee gar nicht so schlecht war. Ich hasste den
Freund meiner Mutter, und in Santa Cruz hatte ich inzwischen jede
Menge Schwierigkeiten. Außerdem vermisste ich meinen Dad und
Ondrea. Im Laufe der Jahre hatten wir uns miteinander angefreundet,
und sie ließen mir viel Freiheit. Nach ein paar intensiven Streitgesprächen einigten wir uns darauf, dass ich die neunte Klasse bei ihnen
beginnen sollte und wir dann sehen würden, ob es gut ging. Ich war
stinksauer auf meine Mom. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich mal
wieder abschob, damit sie mit ihrem Freund Party machen konnte. Das
Schlimmste aber war, dass ich all die genialen Punk-Konzerte verpassen würde. Endlich hatte ich einen Platz für mich gefunden, und nun
machten sie mir das alles wieder kaputt.
In der nächsten Woche nahmen Toby und ich ein paar andere Skater
aus dem Point mit zur Show: Joe, der uns mit den Flyern geholfen hatte,
und Rick, einen anderen Jungen aus dem Viertel, der mit Joe und Toby
zur Schule ging. Wir nahmen den Bus in die Stadt, aber dieses Mal hatten wir für hinterher unsere Skateboards dabei. Joe und Toby warteten
an der U-Bahn-Station, während ich Rick mit in die Mall nahm, um uns
ein bisschen LSD zu besorgen.
In dem kleinen Park in der Pacific Garden Mall hingen immer gut ein
Dutzend Hippies rum. Als wir hinkamen, fragten uns einige von ihnen,
wonach wir suchten. „Wir brauchen ein bisschen Stoff“, sagte ich. Ein
wild aussehender Hippie mit wirrem Blick und schmutzigem Gesicht
nahm uns mit in eine Ecke des Parks hinter einem großen Mammutbaum, wo er eine ganze Pappe Orange-Sunshine-LSD her vorzog. Er
erzählte uns, er selbst habe letzte Woche eine halbe Pappe gegessen
und komme erst jetzt wieder langsam runter. Wir kauften fünf Trips für
je vier Dollar. Nachdem er uns unsere Trips gegeben hatte, kaute er
den Rest der Pappe selbst. Ich konnte nicht verstehen, wie man sich
so viel LSD reinschieben konnte, ohne daran zu sterben.
Wir bogen um die Ecke, um noch ein bisschen Gras zu besorgen. Rick
kaufte einem Rasta ein Tütchen ab, und wir setzten uns auf die Treppen
an der Turmuhr und verstauten das LSD und das Gras in einer Zigarettenschachtel. Da tauchte wie aus dem Nichts plötzlich ein Bulle neben
uns auf und sagte: „Hey Jungs, was macht ihr denn in dieser Gegend?“
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Kapitel 4 . Fuck Authority
„Ähm, wir warten nur auf ein paar Freunde“, erwiderte ich. Rick begann
vor lauter Angst zu zittern. Der Bulle fragte uns, wie alt wir seien, und
konfiszierte dann die Zigarettenschachtel. Er entdeckte das Gras, doch
anstatt uns Ärger zu machen, kippte er es einfach nur auf den Gehweg
und zertrampelte es mit seinen gewaltigen Boots. Ich nannte ihm einen
falschen Namen und behauptete, keinen Ausweis dabeizuhaben, denn
mir war klar, dass er uns mit Sicherheit einbuchten würde, wenn er
herausfand, dass ich bereits auf Bewährung war. Er ließ uns laufen
und ermahnte uns, uns hier nicht mehr blicken zu lassen. Ich war so
erleichtert, dass er uns hatte laufen lassen, dass es mir völlig egal
war, dass wir gerade Drogen im Wert von dreißig Mäusen verloren
hatten. Das war zwar eine Menge Geld, aber immerhin wanderten wir
nicht in den Jugendarrest.
Nachdem er das Gras vernichtet hatte, warf er die Zigarettenschachtel in einen Mülleimer. Das LSD, das wir hinter die Cellophanverpackung
gesteckt hatten, war unentdeckt geblieben, und ich wollte es mir
zurückholen. Der Bulle wartete allerdings, dass wir uns aus dem Staub
machten, also gingen wir um den Block, kamen zurück und holten die
Zigarettenschachtel aus dem Müll. Der Bulle war fort, aber mein Herz
raste so sehr, dass ich zu schwitzen anfing. Es war das Risiko wert,
wieder in den Knast zu gehen. Ich hätte alles darum gegeben, high zu
werden, LSD zu nehmen und eine Punk-Show zu erleben.
Toby und Joe waren enttäuscht, dass wir das Pott nicht gerettet
hatten, und da wir alle zusammen nur noch acht Dollar bei uns hatten,
besorgten wir einen Zwölferpack billiges Bier und kauften noch ein paar
Zigaretten. Wir setzten uns unter die Brücke, wo wir in der Woche zuvor
das Pärchen beim Sex gesehen hatten. Wir kippten jeder drei Bier und
waren bald ziemlich angetrunken. Als wir vor dem Club anstanden,
merkten wir alle auf einmal das LSD. Für Joe und Rick war es der erste
LSD-Trip und auch die erste Punk-Show.
An der Tür sagte das Mädchen, ich dürfe nur zwei Gäste mitbringen,
nicht drei. Ich erklärte ihr, dass wir kein Geld mehr hätten, und sie ließ
uns schließlich doch alle rein und war auch nur ein kleines bisschen
genervt. Wir verstauten unsere Skateboards in dem Büro, in dem ich
auch die Flyer abgeholt hatte. Joe und Rick waren ganz eindeutig
nervös, genau wie ich selbst, doch als die Musik begonnen hatte und
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sie den Pit erlebten, fühlten sie sich schon bald ganz wie zu Hause. Die
erste Band, die an diesem Abend spielte, hieß The Faction. Der Gitarrist
war ein Profi-Skater namens Steve Caballero. Wir alle hatten schon
von der Band gehört, und natürlich kannten wir auch Cab, er war eine
Legende auf dem Skateboard. Ich war ein wenig überrascht, dass die
Besucherzahl bei diesem Konzert sehr viel kleiner war als letztes Mal.
The Faction waren toll, aber es gab keinen Pit, und wir würden ganz
sicher keinen in Gang bringen.
Als Bl’ast die Bühne betraten, kam es mir vor, als strömten
Menschenmassen aus den Wänden, und plötzlich war der Saal gefüllt
mit Punks, Skatern, Skins und ein paar Metallern. Mit den drei Bier und
dem LSD intus fühlte ich mich angenehm betäubt. Clifford, der Sänger
von Bl’ast, kam auch dieses Mal nur in Shorts heraus und eröffnete
die Show, indem er „Start the Machine“ über die Massen hinweg
brüllte. Noch bevor die Band ihren musikalischen Angriff überhaupt
starten konnte, begannen die Leute auf und ab zu springen, und
der Pit hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Man bekam den Eindruck, dass allein die Präsenz dieser lokalen Legenden genügte,
um einen Aufruhr auszulösen.
Wir vier blieben die ganze Show über mitten im Pit. Rick bekam einen
Schlag auf die Nase und blutete ein wenig, was ihn jedoch nicht weiter
zu kümmern schien. Sein Blick schien zu sagen: „Mich kann keiner verletzen.“ Ich sah, wie ein paar Typen an der Seite der Bühne hochkletterten und mit Anlauf von der Bühne in die Menge oder auch direkt in
den Pit sprangen. Ich beschloss, es ihnen gleichzutun, aber mein vergeblicher Versuch endete darin, dass ich über die Bühne stolperte und
über die Köpfe in der ersten Reihe hinwegkroch. Joe war direkt hinter
mir und hatte die Situation besser im Griff. Er rannte los, stieß sich mit
einem Fuß vom Lautsprecher ab, schwang sich gut einen Meter in die
Höhe, flog über die Menge hinweg und landete auf ein paar Kids, die
Arm in Arm durch den Pit skankten 14). Siegesstolz kam er wieder auf
die Füße und blickte zu uns herüber, um sicherzugehen, dass wir seinen
Dive auch wirklich gesehen hatten.
14) Skanken ist ein Kunstwort, das das Tanzen zu Ska-Musik beschreibt.
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Kapitel 4 . Fuck Authority
Toby verbrachte den Großteil des Abends damit, in einer Ecke mit
einem New Wave Girl, das wie Cindy Lauper aussah, rumzumachen. Joe
und ich bewarfen die beiden immer wieder mit irgendwelchem Zeug.
Wir waren einfach neidisch, dass wir selbst kein Mädchen abbekamen.
Der Club Culture war nicht nur ein Punk-Club, dort fanden auch HipHop-Shows und Breakdance-Wettkämpfe statt. Eines Donnerstags, als
ich mal wieder Flyer abholte, fand ich auf dem Boden eine Kassette,
beschriften mit NYC 15). Ich dachte, es handle sich dabei um irgendwelche Punkbands aus New York, und steckte sie ein. Nachdem ich einen
langen Nachmittag damit zugebracht hatte, Flyer zu verteilen, kam ich
nach Hause und schob die Kassette in den pinkfarbenen Barbie-Kassettenrekorder meiner kleinen Schwester. Ich hatte kein eigenes Zimmer, sondern teilte meine Bleibe mit meinem kleinen Bruder und meiner
kleinen Schwester, die aber meistens bei ihrem Dad lebten. Nichtsdestotrotz musste ich in einem Zimmer mit Etagenbetten und lauter Barbies
leben. Meistens fühlte ich mich wie ein Fremder im eigenen Haus. Da
ich damit gerechnet hatte, einen lauten und schnellen New Yorker Hardcore-Sound zu hören, war ich ziemlich schockiert, als der Barbie-Kassettenrekorder lauter merkwürdige Beats und Reime von sich gab.
Meine erste Reaktion war Enttäuschung, trotzdem ließ ich das Band
weiterlaufen. Ich hatte dieses Zeug schon in der Schule gehört, wenn
die Kids in der Mittagspause Breakdance dazu machten. Aber ich war
nun mal ein Punk, darum hatte ich nie so richtig hingehört. Ich machte
mich lediglich darüber lustig, und manchmal brach ich mit ein paar
Freunden in den Breakdance-Kreis ein, und wir versuchten, einen Slam
Pit daraus zu machen.
Diese Kassette war aber eigentlich ziemlich gut, sie gefiel mir wirklich
sehr. Die Texte waren gegen die rassistische Politik unseres Staates
gerichtet, was dem Punkrock, den ich mir meistens reinzog, ziemlich
ähnlich kam. Auf dem Tape waren unter anderem Curtis Blow, Shante,
Real Roxanne und Whodini zu hören. Seitdem hörten Toby und ich auch
heimlich Hip-Hop. Wir waren Punks aus Überzeugung und kleideten uns
15) N(ew) Y(ork) C(ity).
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auch so, aber manchmal waren wir auch stoned und hörten die Sugar
Hill Gang oder Run DMC.
Es gab in der Szene eine große Kluft zwischen Punkrock und Hip-Hop,
aber das kümmerte uns wenig. Mir gefiel Rap, also hörte ich ihn mir
an, auch wenn ich das in der Öffentlichkeit niemals zugegeben hätte.
In der Schule gab es einen mexikanischen Jungen, Ernesto, der zu den
wirklich guten Breakdancern gehörte. Eines Abends traf ich ihn und ein
paar seiner Freunde dabei an, wie sie hinter dem Club Culture Graffiti
sprühten. Er überließ mir ein paar seiner Farben, und so sprayte ich
„East Side Punks“ und daneben einen kleinen Totenkopf an die Wand.
Er sprayte einen Kopf mit zur Seite gedrehter Kappe und das Wort
„Breakers“ daneben. Unsere beiden Werke sahen richtig cool aus
nebeneinander, und wir beide waren ganz stolz auf unsere Kreationen.
Danach wurden Ernesto und ich Freunde. Ab und zu nahmen wir zusammen vor der Schule Drogen, doch wenn er mit seinen Leuten zusammen
war oder ich mit meinen, nahmen wir kaum Notiz voneinander.
Der Ärger in der Schule wurde nicht weniger. Ich wurde in diesem Jahr
fünf Mal wegen Drogenbesitzes und einmal wegen Körper verletzung
(in einer Prügelei) festgenommen. Ich schaffte kaum den Abschluss an
der Junior High. Ich war in so gut wie allen Fächern wegen mangelnder
Anwesenheit durchgefallen, doch als die Prüfungszeit näherrückte,
beschloss man, mich einfach mit dem Abschluss der achten Klasse
ziehen zu lassen. Ich glaube, sie wollten mich einfach nur loswerden.
Ich hatte ohnehin die Nase voll davon, immer vorgeschrieben zu bekommen, was ich zu tun hätte. Schule war doch kompletter Blödsinn.
Nichts, was die uns dort beibrachten, konnte man im wahren Leben
gebrauchen. Nichts von dem, was ich in der Schule lernte, ließ mich so
genau verstehen, was wirklich in der Welt vor sich ging, wie die Texte
der Punkbands. Ich plante für die Abschlussfeier einen großen AntiSchule-, Anti-Autoritäten-Protest, doch als es dann ernst wurde, zog ich
den Schwanz ein und betrat die Bühne wie alle anderen auch.
In diesem Sommer erlebte ich jede Menge Bands und nahm jede
Menge Drogen. Alles wohl durchorganisiert, denn die neunte Klasse
würde ich in New Mexico absolvieren. Meine Eltern hatten mich an
irgendeiner kleinen Hippie-Schule bei irgendeinem Kerl zu Hause
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Kapitel 4 . Fuck Authority
angemeldet. Wie es aussah, würde der Club Culture sowieso geschlossen werden, weil dort zu viel Gewalt herrschte und Minderjährige sich
die Birne wegsoffen. Wahrscheinlich hatten auch die Punks und
Breakers angefangen, sich dort zu prügeln. Es hatte mehrere kleinere
Zwischenfälle und eine ganze Menge Verhaftungen gegeben. Die Bullen
waren drauf und dran, den einzigen Club der Stadt zu schließen, in dem
jede Altersgruppe willkommen war. Alle waren stinksauer, aber die meisten von uns waren viel zu betrunken oder zu jung, um etwas dagegen
zu unternehmen. Es gab dazu zahlreiche Versammlungen im Rathaus,
und ich wollte auch einmal hingehen, tat es aber doch nicht.
Am Abend vor meiner Abreise nach New Mexico spielte im Club Social
Unrest. Ich hatte die Flyer für die Show aufgehängt und stand auf der
Gästeliste, doch meine Mom wollte mich nicht gehen lassen, weil wir
früh aufstehen mussten, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Wir
stritten uns lautstark, und ich versuchte, trotzdem zu gehen, als ihr
Freund mit einem Besenstiel hinter mir her kam und mir drohte, mich
zu verprügeln, wenn ich jetzt ginge. Er war ein verdammter Psycho,
ein nichtsnutziger Säufer. Also verbrachte ich den letzten Abend in
Santa Cruz in rasender Wut auf meinem Zimmer und hörte meine neue
Crucifix-Platte rauf und runter. Meine Mom versuchte zwar, mit mir zu
reden, aber ich beachtete sie gar nicht. Sie verstand mich einfach nicht,
niemand verstand mich. Das Einzige, was mir blieb, war meine Musik.
Eigentlich fiel mir der Umzug durch diesen Streit wesentlich leichter. Ich hatte guten Grund, sauer zu sein, und auch jemanden, den
ich hassen konnte. Ich hatte den Freund meiner Mutter immer schon
gehasst, teilweise darum, weil man das als Teenager eben so macht,
teilweise aber auch, weil sie sich irgendwie immer die größten Arschlöcher aussuchte.
Kurz nachdem man mich nach New Mexico verfrachtet hatte, schloss
der Club Culture für immer seine Türen, womit ein wichtiges Kapitel der
frühen Punk-Szene der Achtzigerjahre in Santa Cruz beendet war. Ich
hatte inzwischen Dutzende Shows gesehen und mich einem Lebensstil
verschrieben, der mich für den Rest meines Lebens beeinflussen sollte.
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