Untitled - Red Bug Books

Madline Schachta
Für immer vergeben
Für Dich
© 2016, Red Bug Books, Potsdam, Germany
Cover Design: Katrin Bongard
Lektorat: Uwe Carow
ISBN: 978-3-943799-92-7
www.redbug-books.com
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I
mmer wieder riss der Wind an meinem Lenkrad. Das
perfekte Wetter, um vor seinem Leben wegzulaufen.
Vor den Menschen, die sich darin befanden, vor den Eltern, dem Ex-Freund, vor der Zukunft. Weit, weit weg.
Ich fuhr an den Ort, der meiner Meinung nach emotional
am weitesten von zu Hause entfernt war.
Heftig peitschte der Regen gegen meinen klapprigen,
roten Polo. Ich hatte ihn mir zum achtzehnten Geburtstag selbst geschenkt. Es war kein Auto zum Angeben,
aber es war zuverlässig und fuhr mich immer an mein
Ziel. Wieder musste ich bei einer besonders starken Böe
gegenlenken, um nicht im Straßengraben zu landen. Ich
kannte den Weg an die See im Schlaf. Es fühlte sich so
an, als ob mich das Meer mit den wogenden Bewegungen
der Wellen zu sich zog. Wir sind so oft zu meiner Oma
gefahren, dass ich es schon nicht mehr zählen konnte.
Noch häufiger aber haben mich meine Eltern in den Zug
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gesetzt, und ich war in den Ferien alleine bei ihr. Das
war mir sowieso immer am liebsten. Meine Oma war ein
Engel. Sie war die Mutter meiner Mutter, und sie war mir
oft mehr Mutter als meine eigene. Meine Mutter hatte
oft Schwierigkeiten, mir zu zeigen, dass ich ihr etwas bedeutete.
Meine Eltern sind keine schlechten Menschen. Sie
waren nur immer schon sehr auf ihren Vorteil bedacht.
Wenn ich etwas Tolles gemacht hatte, dann wurde das
nicht gewürdigt, weil sie wirklich stolz auf mich waren,
sondern weil man vor den Nachbarn damit angeben
konnte. Sie waren nicht besonders gemein oder hart zu
mir, aber auch eben nicht wahnsinnig liebevoll und umsorgend. Ich habe noch zwei jüngere Brüder, Zwillinge,
eine ungeplante Überraschung. Sobald sie da waren, war
ich nicht mehr ganz so stark im Fokus. Sie beanspruchten die gesamte Aufmerksamkeit meiner Eltern. Nicht,
dass ich das schlimm fand, denn so hatte ich meine Ruhe.
Und außerdem liebte ich die beiden Chaoten. Sie waren
wirklich süß und rotzfrech und hatten nur Blödsinn im
Kopf. Genau das, was meine Eltern nie wollten. Etwas,
das sie nicht steuern und bestimmen konnten. Ich gönnte ihnen dieses kleine Chaos. Das war vielleicht nicht
ganz fair, aber momentan war ich auf alles und jeden
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wütend. Und meistens sind es die Menschen, die einem
nahe stehen, die es dann abbekommen.
Wieder riss mich der Wind aus meinen Gedanken.
Diesmal landete ich nur knapp nicht im Graben. Mein
Herzschlag beschleunigte sich. Mein Auto war nur leicht
beladen, mit mir, einer großen Reisetasche und zwei Kartons mit Notizbüchern, sowie Erinnerungsstücken, die
ich schon mein Leben lang sammelte. Alles andere hatte
ich dagelassen. Das war alles Ballast, der mir nicht weiterhelfen würde. Für dieses Jahr Auszeit hatte ich die letzten
drei Jahre neben der Schule gearbeitet und gespart. Ich
hatte als Kellnerin gejobbt, Zeitungen ausgetragen und
jede Hilfsarbeit angenommen, die ich neben der Schule
machen konnte. Meine wundervolle Oma hatte auch etwas für mich beiseitegelegt. Sie wusste von meinem Plan,
und sie wollte mich unterstützen. Allerdings war eigentlich alles anders geplant gewesen. Ich wollte ursprünglich
mit Philip die Welt bereisen. Aber so kam es nicht. Und
deshalb würde ich dieses Jahr jetzt anders verbringen.
Trotz der Aussicht auf eine tolle Zeit bei meiner Oma,
spürte ich ein ständiges Ziehen im Magen. Es war einfach nicht das, was ich so lange gewollt hatte.
Ich wusste nach wie vor nicht, was ich mal mit meinem
Leben anfangen sollte, aber ich hatte einen Traum. Ei-
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nen Traum, von dem ich bisher nur wenigen erzählt hatte,
und dieses Jahr wollte ich genau dafür nutzen.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Straße. Der heftige Wind trieb immer stärkeren Regen vor sich her. Die
Sicht wurde so schlecht, dass ich aufpassen musste, die
Ausfahrt nicht zu verpassen. Es war kalt. Zwar gab die
Heizung im Auto alles, trotzdem fröstelte ich. Vielleicht
kam die Kälte aber auch aus meinem Inneren. Mit achtzehn Jahren mit Sack und Pack von zu Hause auszuziehen, war ein großer Schritt. Meine Eltern wussten natürlich, wo ich hinging, aber wenn ich einen tränenreichen
Abschied erwartet hatte, dann hatte ich mich getäuscht.
Tränen gab es schon, aber nur von meinen zwei kleinen
Frechdachsen ... und von mir. Meine Eltern verzogen
keine Miene, scheuchten die Zwillinge wieder ins Haus,
bevor mein Vater mich schnell drückte. Meine Mutter
klopfte mir sachte auf die Schulter und zog mich unbeholfen in eine Umarmung. Sie wollten mich nicht gehen
lassen, aber nur, weil sie weiterhin mein Leben bestimmen und mir Vorschriften machen wollten. So kam es
mir zumindest vor. Vielleicht würden sie mich aber auch
ein wenig vermissen. Selbst wenn ich es mir in diesem
Moment nicht vorstellen konnte, ich jedenfalls würde sie
vermissen.
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Es fühlte sich irgendwie befreiend an, mit meinem alten Auto wegzufahren. Immerhin sechshundert Kilometer weit weg. Nach zwei Kaffeepausen, drei Mal weinen
und einem Sturm, schaffte ich es endlich in das kleine Küstendorf, in dem ich schon unzählige Male gewesen war.
Ich steuerte das kleine Haus an, von dem man wunderbar
auf das Meer schauen konnte. Es lag an einem kleinen
Steilhang, etwas abgelegen vom Ort, einsam, ruhig, abgeschieden, einfach wundervoll. Es war mehr als nur in die
Jahre gekommen. Das ursprünglich hellblaue Haus war
komplett aus Holz. Mein Opa hatte es damals selbst erbaut und auch bis zu seinem Tod instandgehalten. Meine
Oma konnte sich nicht mehr darum kümmern, deshalb
blätterte die Farbe ab und Salz und Wind gaben ihr Übriges. Die Fenster waren undicht, die Veranda war morsch,
und von innen musste es generalüberholt werden.
Ein weiterer Grund, warum ich mich entschieden hatte,
zu meiner Oma zu ziehen. Ich wollte ihr helfen, das Haus
wieder in Schuss zu bringen. Ich hatte viele Bücher über das
Renovieren von alten Häusern gelesen und hoffte, dass das
handwerkliche Geschick von alleine kommen würde.
Als meine Reifen den Kies der Einfahrt berührten,
ging im Flur das Licht an. Es hatte endlich aufgehört zu
regnen, und ich sah wie sich die Tür öffnete.
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Meine Oma war das Licht am Ende meines Tunnels.
Die Sonne nach einer langen und kalten Nacht. Sie
strahlte, als sie mich in meinem Auto sah, und in meinem Herzen wurde es endlich wieder warm. Gegen die
Tränen, die sich aus meinen Augen stahlen, konnte ich
nichts tun. Oma würde sie trocknen, wie sie es immer
tat.
Ich stieg aus und atmete tief ein. Diese Luft. Nirgendwo sonst gab es diese Luft: salzig, rau, kalt und ungestüm.
Der Wind zog an meinen Haaren und hieß mich willkommen. Ich war zu Hause. Endlich wieder.
Ich stieg die Stufen der Veranda hoch, und meine Oma
öffnete ihre Arme. Ich legte mich hinein und war da, wo
ich hingehörte.
»Hallo mein Mädchen«, flüsterte ihre vertraute Stimme. Meine Tränen hörten nicht auf, aber noch aus einem
anderen Gefühl. Ich war erschöpft durch die vorangegangenen Wochen.
»Komm erst mal rein«, sagte sie und zog mich in die
Wärme des kleinen Holzhauses. Ich ließ meine Habseligkeiten im Auto und ging bereitwillig mit. Es war nun
schon ein paar Monate her, dass ich das letzte Mal hier
gewesen war, und ich sah immer deutlicher den Verfall.
Meine Oma wusste nichts von meinem Vorhaben, hier
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alles zu renovieren, aber sie würde sich schon an den
Gedanken gewöhnen. Ich musste nur den richtigen Moment abpassen, um es ihr zu sagen.
Das Haus war klein, aber gemütlich, es hatte Atmosphäre. Ich dachte an die Zeiten zurück, in denen ich
unbeschwert durch diesen Flur mit seiner orangebraunen Tapete und der kleinen dunklen Kommode gerannt
war. An die Zeiten, in denen mein Herz nicht schwer von
Kummer geplagt und mein Kopf nicht voller Sorgen war.
Es war eine Ewigkeit her.
Meine Oma rief mich und riss mich aus meinen
Gedanken. Sie hatte schon Tee aufgesetzt und lehnte
an der Küchenzeile. Sie sah schon immer so aus wie
jetzt, zumindest solange ich sie kannte. Ihre grauen,
oder eher weißen Haare trug sie adrett zu einem Pixie
frisiert. Sie war schlank, klein und immer, wirklich immer, schick angezogen. Sie war eher die Art jung gebliebener Oma. Die Großmütter meiner Freundinnen
sahen immer schon anders aus, irgendwie alt eben. Ich
glaube, meine Oma war einfach nicht nur äußerlich,
sondern vor allem im Inneren junggeblieben. Aber
ihr jugendliches Aussehen nahm ihr nichts von ihrer
Weisheit, Liebe und mütterlichen Energie. Sie sah mir
zu, wie ich mich auf den alten Küchenstuhl fallen ließ.
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Ein tonnenschweres Gewicht auf meinen Schultern.
Sie sah mich eindringlich an.
»Nichts ist so schlimm, wie es in dem Moment scheint«,
sagte sie sanft.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Das weiß aber der Moment noch nicht«, erwiderte ich
und lachte schief.
»Ach Schätzchen, wir haben schon Schlimmeres überstanden.«
Ich nickte. Das hatten wir. Sie noch mehr als ich. Als
Opa starb, war ich nicht mehr klein genug, als dass es
als entfernte Erinnerung hätte verblassen können. Ich
sah es und fühlte es noch immer viel zu genau und viel
zu stark.
Er ist alt gewesen – ich weiß.
Er hat ein schönes Leben gehabt – ich weiß.
Er ist geliebt worden – ich weiß.
Und obwohl ich das alles wusste, tat es weh. Er war der
lustigste Mensch auf der Welt gewesen, ein Kasper und
der tollste Opa, den sich ein Kind hatte wünschen können. Man hatte in seiner Gegenwart niemals schlechte
Laune haben können. Er war es gewesen, der Buden im
Wohnzimmer gebaut hatte, der mit uns Angeln gegangen war, auch wenn es in Strömen geregnet hatte, der im
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Wohnzimmer Lagerfeuer gemacht hatte. Er hatte mein
Leben so sehr geprägt.
Ich konnte nur ahnen, wie sehr meine Oma ihn vermisste. Rita und Pepe. Oma Rita und Opa Pepe. Als ich
meine Oma einmal fragte, wie sie es ohne ihn aushielt,
sagte sie nur: »Ich bin nie ohne ihn. Jede Nacht im Traum
ist er bei mir, wir unterhalten uns, wir tanzen, wir singen.
Er ist nur am Tage nicht da.«
Ihre Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken.
Konnte man jemanden so lieben, dass man jede Nacht
von ihm träumte? Konnte es sein, dass er noch so fest in
ihrem Herzen war, dass sie sich nie alleine fühlte? Meine
Oma bewies mir, dass es ging.
Ich wurde bisher nicht so geliebt. Wieder schlichen
sich die dunklen Gedanken in meinen Kopf, und eine
kalte Kralle legte sich um mein Herz. Ein weiterer
Grund, vielleicht der Hauptgrund, warum ich weg
musste. Oma stellte mir eine Tasse heißen Tee vor die
Nase und setzte sich zu mir an den Tisch. Ich roch die
frisch aufgebrühte Minze. Meine Oma benutzte keine
Teebeutel, sie nahm echte Kräuter und hatte schon etliche Mischungen kreiert. Sie legte ihre Hand, an der
ihr Ehering schimmerte, auf meine und sah mich lächelnd an.
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»Was wollen wir morgen machen Schätzchen? Ich
würde gerne mit dir essen gehen und an der Promenade
bummeln. Hast du Lust?«
Ich schüttelte die dunklen Gedanken ab und nickte.
»Ja, auf jeden Fall.«
»Sehr schön, und wenn du deinen Tee getrunken hast,
holen wir deine Sachen und machen es dir in deinem
Zimmer gemütlich.«
Wieder nickte ich. Oma erzählte mir noch ein bisschen
vom neuesten Klatsch aus dem kleinen Ort und brachte
mich wieder zum Lachen. Es war herrlich, wenn sie sich
über die anderen Rentner aufregte, die so stur und verbohrt waren und immer auf die jungen Leute schimpften. Irgendwie zählte meine Oma sich selbst auch zu den
jungen Leuten.
Ich trank meinen Tee aus, und wir holten meine Kartons und Taschen ins Haus. Ich bekam das Gästezimmer,
in dem ich bei jedem Besuch schlief. Es war wirklich eher
mein Zimmer, als ein Gästezimmer. Wir schafften alles
die Treppe hoch, und gleich rechts ging es in mein neues Leben. Mein Rückzugsort für das nächste Jahr. Alles
war hell und frisch, die Wände weiß tapeziert. Vor dem
großen Holzfenster stand ein kleiner Schreibtisch, und
mitten im Zimmer prangte ein riesiges weißes Metallbett
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mit einem wunderschönen rosa Bezug. Oma musste ihn
neu gekauft haben. Er passte toll zu dem cremefarbenen
Teppich.
Auch wenn alles alt war, war es für mich das schönste
Zimmer der Welt, und es gab keinen Ort, an dem ich in
diesem Moment lieber gewesen wäre.
»Pack in Ruhe aus, ich warte im Wohnzimmer auf
dich, und dann können wir uns diesen neuen Film mit
George Clooney anschauen«, sagte sie und zwinkerte
mir zu. Nein, sie war wirklich keine klassische Oma.
Ich lachte und fing an, meine Kartons ins Zimmer zu
schieben. Zuerst packte ich meine Klamotten in den
kleinen weißen Holzschrank rechts an der Wand. Das
ging schnell, denn ich hatte nicht viele Sachen. Ich beschränkte mich auf Jeans, Pullover, T-Shirts und ab und
an mal eine Bluse.
Es war nicht so, dass ich mich nicht um mein Äußeres kümmerte, aber im Moment war mir einfach nicht
danach, mich rauszuputzen. Wozu auch? Es hatte in der
letzten Zeit keine Anlässe gegeben, zu denen das nötig
gewesen wäre. Und selbst wenn, wäre ich eh nicht hingegangen. Von daher hätte meine Garderobe theoretisch
auch aus einem Bademantel bestehen können. Den Unterschied hätte keiner gemerkt. Nachdem mein Schrank
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eingeräumt war, hockte ich mich auf den Teppich vor
meine Kartons. Ich hatte Unmengen von Büchern. Vor
allem Tagebücher. Ich schrieb Tagebuch seit ich zehn war.
Damals waren die Seiten noch mit kindlichen Gedanken
gefüllt worden, mit ganz kleinen Sorgen, mit unwichtigen
Dingen. Ich zog ein schwarzes Büchlein aus dem Karton,
welches mit 2008 beschriftet war. Das Jahr, in dem ich zu
schreiben angefangen hatte.
Ich blätterte durch die leicht vergilbten Seiten und blieb
an einem Eintrag hängen. Damals gab es meine Brüder
noch nicht. Ich war mit meinen Eltern allein und nicht immer glücklich darüber. Aber damals konnte ich das noch
nicht einordnen. Kinder nehmen Tatsachen und Umstände oft so hin, wie sie eben sind. Sie hinterfragen zwar, aber
sie finden sich schneller damit ab, denn ändern können sie
es in den meisten Fällen sowieso nicht. Je älter ich wurde,
desto schwieriger wurde dieses einfache Hinnehmen. Ich
las mir den Eintrag durch, der zu einer Zeit geschrieben
worden war, als die Welt noch in Ordnung schien.
Liebes Tagebuch,
heute war ein doofer Tag. Jenna hat keine Zeit gehabt, um mich
nach der Schule zu besuchen, und Mama hatte keine Lust, mit mir
etwas zu spielen. Also habe ich den ganzen Tag in meinem Zimmer
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gesessen und mich gelangweilt. Aber morgen wird besser, denn da
bin ich beim Ballett, und ich freue mich schon.
Deine Mina.
Jenna war damals meine beste Freundin gewesen, und
ich hätte am liebsten jeden Tag mit ihr verbracht. Na ja,
und zum Ballett hatten mich natürlich meine Eltern angestiftet. Zum Glück hatte es mir wirklich Spaß gemacht.
Bis zu dem Tag, an dem meine Eltern gemerkt hatten,
dass es niemals für eine große Karriere reichen würde
und ich aufhören musste, um mich wichtigeren Dingen
zu widmen. Schließlich tat man nichts einfach zum Spaß,
sondern nur, wenn man auch ein größeres Ziel damit verfolgte. Ich legte das Buch wieder in den Karton und zog
ein anderes hervor.
2013
Damals gab es Philip schon. Seinen Namen auch nur zu
denken, schmerzte tief in meiner Brust. Ein Ziehen ging
durch meinen Magen, und eine leichte Übelkeit überkam
mich. So als würde man sich den Ellbogen stoßen. In den
Büchern ab 2012 bestimmte er meine Gedanken, jeden
Eintrag, jede Seite. Seine Familie war in unsere Stadt ge-
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zogen, und er kam in meine Klasse. Ich verliebte mich auf
der Stelle in ihn. In seine blonden Haare, seine braunen
Augen, seinen immer leicht gebräunten Teint, seine coole
Art. Er ließ sich nie beirren oder verunsichern. Diese Eigenschaften hat er sich über all die Jahre bewahrt. Auch,
oder gerade dann, als er sich von mir trennte. Unbeirrbar.
Ich blätterte wieder in dem Buch und fand den Eintrag, an den ich hatte denken müssen. Ich hatte Philip
das erste Mal mit zu meinen Eltern gebracht. Ich hatte
es lange aufgeschoben. Wir waren damals schon fast ein
Jahr zusammen. Ich war wahnsinnig aufgeregt und hatte unheimliche Angst, dass sie ihn nicht mögen könnten,
oder verlangen würden, dass ich mich von ihm fernhielt.
Gedanken, die man bei seinem ersten festen Freund eben
hat. Aber ich hatte mich geirrt.
Heute war der große Tag. Der Tag, vor dem ich so viel Angst
hatte. Ich habe am ganzen Körper gezittert, als es an der Tür klingelte. Meine beiden Brüder quietschten, weil sich Besuch ankündigte und sie Menschen lieben, aber meine Eltern lieben Menschen nur,
wenn sie vor ihnen angeben können. Ich rannte die Treppe runter
und riss die Tür auf, und da stand er. Schön wie immer, lässig
wie immer, cool wie immer und kein bisschen aufgeregt. Er ist es
gewohnt, dass die Menschen ihn mögen. Und für ihn ist es unvor-
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stellbar, dass es jemanden geben könnte, der ihn nicht mag. Aber
ich kenne meine Eltern.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo meine Eltern mit den Zwillingen auf uns warteten, und Philip stellte sich höflich vor. Meine
Eltern lächelten verhalten und boten ihm einen Platz an. Er hatte
meiner Mutter Blumen mitgebracht. Er wechselte ein paar Worte
mit ihnen, und ich spürte, dass etwas anders war als sonst. Sie
wandten sich ihm zu, waren interessiert an dem, was er sagte. Sie
wirkten nett. Wirklich nett. War das zu glauben? Meine Eltern
sind nicht nett. Aber so war Philip nun mal. Er hatte dieses einnehmende Wesen, mit dem er auch mich eingenommen hatte. Nach
einer Stunde war der Spuk vorbei, und Philip ging wieder. Meine
Eltern waren total aus dem Häuschen. Sie fanden ihn toll und sagten mir, ich könnte froh sein, einen so tollen Jungen kennengelernt
zu haben. Ich solle mich bloß an ihn halten. Danke. Vielleicht
konnte er sich ja auch glücklich schätzen. Aber aus Sicht meiner
Eltern bin ich der Pflegefall, der sich an ihn hängen sollte.
Na ja, um ehrlich zu sein, bin ich zwar froh, dass sie ihn mögen, aber ich bin irgendwie auch eifersüchtig. Können sie mich nicht
genauso mögen wie ihn?
Bis bald, Mina
Ich ließ die Schultern hängen. Ja, das skizzierte meine
gesamte Beziehung zu Philip und zu meinen Eltern ganz
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gut. Er stand auf einem Podest und ich davor. Ich schlug
auch dieses Buch wieder zu und schob den ganzen Karton unter mein Bett. Ich hatte keine Lust mehr, in der Vergangenheit zu wühlen, denn schließlich war ich hier, um
davon loszukommen, und nicht, um mich immer wieder
von ihr einholen zu lassen. Auch wenn es schwer würde,
ich musste das alles irgendwie hinter mir lassen. Ich holte einen neueren, kleineren Karton hervor und öffnete
den Deckel. Dort befanden sich ganz frische, neue Notizbücher. Ich schrieb zwar immer noch Tagebuch, aber
diese Bücher waren für etwas anderes gedacht. Ich nahm
meinen Laptop und stellte ihn auf den kleinen Schreibtisch. Eins der neuen Notizbücher legte ich sorgfältig mit
einem schönen Stift daneben. Dieses Buch würde ich
mit meinen Ideen füllen, mit Liebe und einer Geschichte,
die die Menschen bewegt. Ich würde mein eigenes Buch
schreiben. Nicht einfach bloß meine Vergangenheit zu
Papier bringen, sondern etwas ganz neues schaffen. Es
war schon sehr lange mein Traum, Autorin zu werden.
Ich hatte außer Oma und Philip bisher noch niemandem
davon erzählt, denn ich wusste, wie meine Eltern reagiert
hätten. Das ist kein richtiger Beruf, woher willst du denn das
Talent haben, Bücher zu schreiben, das ist doch kindisch. Und
genau deswegen hatte ich es ihnen nicht erzählt. Und ob-
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wohl ich dachte, Philip würde anders reagieren, hatte ich
mich gewaltig getäuscht, denn er reagierte genauso, wie
ich es von meinen Eltern erwartet hätte: Schreiben wäre
Verschwendung, und ich würde Lebenszeit vergeuden.
Ob ich nicht wisse, wie viele Autoren es auf der Welt
gäbe, und dass ich nur eine von vielen wäre.
Aber ich würde es ihnen beweisen, ich würde es Philip
beweisen, ich würde es mir beweisen. Ich würde mein
erstes Buch schreiben.
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Madline Schachta hat
sich schon als Kind
Geschichten
ausgedacht und aufgeschrieben. Jetzt schreibt sie
am liebsten auf ihrem
Sofa und hört zu jedem
Buch eine spezielle Playlist.
Sie liebt Spaziergänge am Meer und ist am glücklichsten,
wenn die Menschen um sie herum glücklich sind.