Ein Wandel nach Lehrbuch

Westfälische Rundschau vom 08.08.2016
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WR Dortmund-Süd II
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Ein Wandel nach Lehrbuch
Das von Kohle geprägte NRW hat sich zum bedeutsamen Wissensstandort mit vielen
Hochschulen entwickelt. Bochum gab dazu 1965 den Startschuss
Von Autor: Christopher Onkelbach
Essen.
Nach dem Krieg und der Gründung
Nordrhein-Westfalens ging es zuerst
darum, die zerstörten Industrieanlagen
wieder aufzubauen und die Produktion
anzukurbeln. Kohle und Stahl bestimmten noch für Jahrzehnte den Takt des
Ruhrgebiets. Kein Ereignis markiert da
deutlicher den Bruch mit der Industriegeschichte als die Gründung der ersten
Universität im Revier – der fällige
Strukturwandel begann.
Opelwerks gelungen, wo ab 1962 der
Kadett vom Band lief. Auch wegen der
Anforderungen moderner Industrie
sollte aus der Stahlschmiede Ruhrgebiet
die Ideenschmiede des Landes werden.
Wie alle Kohle- und Stahlstandorte litt
auch Bochum unter der Zeitenwende.
Einst mit Stolz die „größte Zechenstadt
Europas“ genannt, schlossen dort zwischen 1959 und 1962 fünf große
Schachtanlagen. Die Stadt verlor 40
Prozent ihrer Arbeitsplätze im Bergbau.
Die Ruhr-Uni, aus vor Ort gegossenen
Fertigbetonteilen auf die Hügel am
Ruhrtal gesetzt, stand für den Aufbruch
Zwar gab es im Land bereits die altehr- in eine neue Ära. Mit ihr zogen Bildung
würdigen Hochschulen in Münster, und Wissenschaft ins Land der MaloKöln, Bonn und Aachen, doch zwi- cher ein.
schen Münster und dem Rheinland war
bis Mitte der 60er-Jahre: nichts – wenn In den späten 60er- und 70er-Jahren
man von einer pädagogischen Hoch- setzte die Landesregierung Hochschuschule mit nur 2000 Studenten absieht. len ins Land wie Tulpenzwiebeln.
Nicht einmal die neue Landeshauptstadt Bochum, Dortmund und Bielefeld
Düsseldorf verfügte über eine eigene waren der Anfang. Unter Johannes Rau
Universität.
ging es 1972 weiter mit den Gesamthochschulen Essen, Duisburg, WupperSo viele Studenten wie nie zuvor
tal, Siegen und Paderborn. 1975 wurde
Und heute? Leben und lernen 745 000 die in Deutschland einzigartige FernuniStudenten in NRW, ein neuer Rekord- versität Hagen gegründet – derzeit mit
wert. Rund 100 000 junge Menschen rund 66 000 Studierenden die zahlenmäbeginnen an einer Hochschule des Lan- ßig größte Uni weit und breit. Heute
des jedes Jahr ein Studium. Und das verfügt NRW über 14 Universitäten, 16
Ruhrgebiet entwickelte sich zur dichte- Fach-, sieben Kunst- und Musikhochsten Hochschullandschaft Europas.
schulen, fünf Verwaltungshochschulen
sowie 28 staatlich anerkannte private
Das war der Region wahrlich nicht an und kirchliche Hochschulen – darunter
der Wiege gesungen worden. Mit der Deutschlands erste private Universität
Ruhr-Universität Bochum ging es 1965 Witten/Herdecke.
los, es war die erste größere Hochschulansiedlung auf dem Gebiet Nord- Der Aufbau des neuen Wissenslandes
rhein-Westfalens seit 1870 – und der ging nicht immer reibungslos voran.
Startschuss für einen tiefgreifenden Eigentlich wollte Dortmund die erste
Wandel. Die Hochschulen sollten das Uni-Stadt im Revier sein. Diesen
Bildungsniveau vor allem der Arbeiter- Wunsch hatte der Magistrat der Stadt
schaft erhöhen und der Wirtschaft Fach- am 3. April 1900 geäußert. Der Regent
kräfte beschaffen. Schließlich war kurz lehnte ab: keine Hochschulen für die
zuvor in Bochum die Ansiedlung des Kinder der Kumpel. Dortmund wieder-
holte das Ansinnen über Jahrzehnte.
Was folgte, als das Land Bochum den
Vorzug gab, ging in die Geschichte der
NRW-Hochschulpolitik als „Städtekampf“ ein, den der Historiker Hans
Stallmann detailreich beschrieben hat.
Städtestreit um Hochschulen
Die Entscheidung hatte wohl weniger
mit Bildungspolitik zu tun, eher mit
undurchsichtiger Parteitaktik im NRWLandtag. In Dortmund vermutete man
gar eine Verschwörung: Die CDU habe
das rote Dortmund eiskalt ausgebootet.
Vor der Landtagswahl 1962 gab die
CDU-Regierung nach und genehmigte
der Stadt ebenfalls den Bau einer Uni –
nur zwölf Kilometer von der Ruhr-Uni
entfernt. Mit der Eröffnung 1968 aber
war der Städtestreit noch lange nicht
beigelegt.
Geld hatte der Staat zu Zeiten der Hochschulgründungen genügend, die Politik
hoffte mit Zuversicht, dass die Region
sich als blühende Wissenslandschaft
entfalten würde. Die Hege und Pflege
dieses Erbes ist bis heute eine Herausforderung. „Die Akteure und Institutionen im Ruhrgebiet müssen im Hochschulsektor noch mehr kooperieren, die
Hochschulen noch mehr als Chance
begreifen“, schreibt der Bochumer Sozialwissenschaftler Jörg Bogumil. Hochschulen und Wissenschaft gehören zu
den „wenigen nennenswerten Chancen
für die Weiterentwicklung der Region“.
So einfach – und so schwierig ist die
Aufgabe.
Bild 1:
Früher prägten die Kumpel das Bild
vom Ruhrgebiet, heute sind es vielerorts die Studenten. Das Land hat 14
Universitäten.
Fotos: Kartenberg/Kusch
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