diskussion - Deutsches Ärzteblatt

MEDIZIN
DISKUSSION
zu dem Beitrag
Rückgang der Inzidenz und Mortalität
von Darmkrebs in Deutschland – Analyse zeitlicher
Trends in den ersten 10 Jahren nach Einführung
der Vorsorgekoloskopie
von Prof. Dr. med. Hermann Brenner, Dr. rer. nat. Petra Schrotz-King,
Dr. sc. hum. Bernd Holleczek, Dr. med. Alexander Katalinic, Dr. sc. hum.
Michael Hoffmeister in Heft 7/2016
Wissenschaft braucht kritisches Hinterfragen
Die Studienautoren schlussfolgern: „Die beobachteten Muster sprechen für einen wesentlichen Beitrag
der Vorsorgekoloskopie zur Senkung der Darmkrebsinzidenz und -mortalität“ (1). Dies mag dem verständlichen Wunsch der Studienautoren entsprechen,
ist jedoch unkritisch. Wissenschaft braucht kritisches
Hinterfragen, weil wir Ärzte sonst Gefahr laufen
schädliche Empfehlungen zu geben. Wir sollten uns
aber gerade dann sehr sicher sein, wenn wir Gesunden Empfehlungen zu ihrer Lebensführung geben
wollen. Daher ein Versuch der nüchternen Aufarbeitung:
● Die Studie zeigt eine zeitliche, aber keine kausale Korrelation zwischen Vorsorgeuntersuchung und Rückgang von Darmkrebsinzidenz
und -mortalität. Das Beispiel der Korrelation
zwischen Storchenbrutpaaren und Geburtenrate
(p = 0,008) erinnert uns daran, dass Korrelation
nicht mit Kausalität gleichzusetzen ist (2). Die
Krebsregisterdaten aus dem Saarland, die Brenner et al. in Grafik 2 wiedergeben, zeigen bereits in den 20 Jahren vor Einführung der Vorsorgekoloskopie einen Rückgang der Darmkrebsmortalität. Hier müssen also andere Faktoren den Rückgang der Mortalität erklären.
● Selbst unter der spekulativen Annahme, die Reduktion der Darmkrebsmortalität wäre durch
die Vorsorgekoloskopie verursacht, könnte die
Gesamtmortalität durch die zu erwartenden Todesfälle bei der Koloskopie nivelliert werden:
Laut Grafik 1 der Studie sank die Darmkrebsmortalität innerhalb des Untersuchungszeitraums bei Männern von 28 auf 22, bei Frauen
von 18 auf 13, was einer Reduktion der Darmkrebsmortalität von 6 beziehungsweise von 5
pro 100 000 pro Jahr entspricht. Koloskopiespezifische Todesfälle dagegen werden mit
0,007 % angegeben (3). Das sind 7 Todesfälle
auf 100 000 Koloskopien. Man kann einwenden, dass die Mortalität bei Screeningkoloskopien möglicherweise niedriger ist, da die Untersuchten jünger und gesünder sein könnten. Umso dramatischer jedoch, wenn sie bei relativ jungen Gesunden zum Tod führt.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0507a
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 29–30 | 25. Juli 2016
LITERATUR
1. Brenner H, Schrotz-King P, Holleczek B, Katalinic A, Hoffmeister M:
Declining bowel cancer incidence and mortality in Germany—
an analysis of time trends in the first ten years after the introduction
of screening colonoscopy. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 101–6.
2. Matthews R: Der Storch bringt die Babys zur Welt (p = 0,008).
Übersetzung Joachim Engel. Stochastik in der Schule. 2001; 2:
21–3.
3. ASGE-Standards of Practice Comittee: Complications of
colonoscopy. Gastrointestinal Endoscopy 2011; 74: 745–52.
Dr. med. Enrico Völzke
Schlosspark-Klinik Berlin
[email protected]
Schlusswort
Dass Wissenschaft kritisches Hinterfragen braucht
und Korrelation nicht mit Kausalität gleichzusetzen
ist, sind Binsenweisheiten.
In der Medizin braucht Wissenschaft insbesondere auch bestmögliche Evidenz für Nutzen und
Risiken präventiver und kurativer Maßnahmen.
Dieser Herausforderung haben wir uns für die
Darmkrebsvorsorge mit einem umfangreichen und
differenzierten Forschungsprogramm gestellt, das
anderweitig im Detail vorgestellt wurde (zum Beispiel [1–3]).
Die Analyse der von Herrn Völzke nur sehr verkürzt und selektiv wiedergegeben Trends der Inzidenz und Mortalität sind dabei nur einer von vielen
Bausteinen.
Unsere Aussage basiert entsprechend auf einer
differenzierten und kritischen Betrachtung der Inzidenz- und Mortalitätstrends in Deutschland, die vor
dem Hintergrund der weltweiten Evidenz zur Effektivität der Darmkrebsvorsorge diskutiert werden.
Herr Völzke stellt die vorliegenden epidemiologischen Daten hochgradig irreführend so dar, als würde die Vorsorgekoloskopie mindestens ebenso viele
Todesfälle verursachen wie verhindern. Dieser unsachgemäßen Interpretation liegen sehr schwerwiegende Fehler in der Herleitung zugrunde. So werden
auf die Gesamtbevölkerung jeglichen Alters bezogene jährliche Mortalitätsraten mit einer (viel zu hoch
angesetzten) Mortalitätsrate der Vorsorgekoloskopie
verglichen, die 1- bis 2-mal ab dem 55. Lebensjahr
angeboten und empfohlen wird.
Eine sachgemäßere Herangehensweise ergibt:
Bei einer Gesamtbevölkerung von mehr als 80 Millionen in Deutschland bedeutet eine Reduktion der
Darmkrebsmortalität um 6 beziehungsweise 5 Todesfälle pro 100 000 Fälle pro Jahr mehr als 4 000
weniger Darmkrebs-Todesfälle pro Jahr. Nach den
Daten des bundesweiten Registers der Vorsorgekoloskopien gab es in Deutschland seit deren Ein-
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führung durchschnittlich einen Koloskopie-bedingten Todesfall pro Jahr. Die Relation potenziell verhinderter und verursachter Todesfälle liegt damit
bei mehr als 4 000:1 und nicht bei 1:1.
4. Brenner H, Schrotz-King P, Holleczek B, Katalinic A, Hoffmeister M:
Declining bowel cancer incidence and mortality in Germany—
an analysis of time trends in the first ten years after the introduction of screening colonoscopy. Dtsch Arztebl Int 2016; 113:
101–6.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0507b
LITERATUR
1. Stock C, Ihle P, Sieg A, Schubert I, Hoffmeister M, Brenner H:
Adverse events requiring hospitalization within 30 days after
outpatient screening and non-screening colonoscopy. Gastrointest
Endosc 2013; 77: 419–29.
2. Brenner H, Chang-Claude J, Jansen L, Knebel P, Stock C,
Hoffmeister M: Reduced risk of colorectal cancer up to 10 years
after screening surveillance or diagnostic colonoscopy.
Gastroenterology 2014; 146: 709–17.
3. Brenner H, Stock C, Hoffmeister M: Effect of screening
sigmoidoscopy and screening colonoscopy on colorectal cancer
incidence and mortality: systematic review and meta-analysis of
randomised controlled trials and observational studies. BMJ
2014; 348: g2467.
Prof. Dr. med. Hermann Brenner
Dr. rer. nat. Petra Schrotz-King
Dr. sc. hum. Michael Hoffmeister
Deutsches Krebsforschungszentrum
Heidelberg
[email protected]
Dr. sc. hum. Bernd Holleczek
Krebsregister Saarland, Saarbrücken
Dr. med. Alexander Katalinic
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein,
Campus Lübeck und Institut für Krebsepidemiologie,
Universität zu Lübeck
Interessenkonflikt
Die Autoren beider Beiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Sechs Gründe für Autorinnen und Autoren, wissenschaftliche Übersichts- und Originalarbeiten
in der Rubrik Medizin im Deutschen Ärzteblatt zu publizieren
1. Die Reichweite des Deutschen Ärzteblattes
– Das Deutsche Ärzteblatt ist mit einer Auflage von mehr als 350 000 Exemplaren nicht nur die mit Abstand größte medizinische Zeitschrift in
Deutschland, sondern auch eine der größten Fachzeitschriften der Welt.
– Einen cme-Artikel im Deutschen Ärzteblatt bearbeiten im Durchschnitt mehr als 19 000 Teilnehmer.
– Der wissenschaftliche Teil des Deutschen Ärzteblattes wird mit steigender Tendenz auch in der meinungsführenden Publikumspresse als
wichtige Quelle wahrgenommen.
2. Die englische Ausgabe: Deutsches Ärzteblatt International
Alle wissenschaftlichen Artikel des Deutschen Ärzteblattes werden vollständig und kostenfrei übersetzt und in unserer
englischen Online-Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt International publiziert. Damit sind Artikel im Deutschen Ärzteblatt international zitierfähig.
3. Die Möglichkeit, Beiträge in zwei Sprachen einzureichen
Manuskripte können sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache eingereicht werden.
4. Die Präsenz in allen wichtigen Datenbanken
Alle wissenschaftlichen Artikel im Deutschen Ärzteblatt sind durch ihre Publikation in der englischen Ausgabe Deutsches Ärzteblatt International in
Medline gelistet und darüber hinaus in 15 weiteren Datenbanken vertreten.
5. Der Impact-Faktor
Deutsches Ärzteblatt International ist in den Datenbanken Web of Knowledge und Journal Citation Report gelistet. Der aktuelle Impact-Faktor
beträgt 3,738 (JCR 2015).
6. Der freie Zugang zu allen Artikeln
Alle Beiträge im Deutschen Ärzteblatt sind im Internet frei zugänglich (open access). Dies gilt für die deutsche und für die englische Fassung.
Die Redaktion freut sich auch über unverlangt eingereichte Übersichts- und Originalarbeiten,
insbesondere gilt das für randomisierte kontrollierte Studien sowie systematische Reviews und Metaanalysen.
Für interessierte Autoren sind wir jederzeit ansprechbar.
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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 29–30 | 25. Juli 2016