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„Unsere Welt ist dabei, sich ständig zu verändern“
„Unsere Welt ist dabei, sich ständig zu verändern“
Malve Gradinger im Gespräch mit Sidi Larbi Cherkaoui
Veröffentlicht am 23.07.2016, von Malve Gradinger
München - Während die Flüchtlingskrise und jetzt der Brexit die EU in ihren ohnehin nicht soliden Grundfesten bedrohlich
erschüttern, gibt sich die Bayerische Staatsoper in ihrer Festwoche betont europäisch und weltbürgerlich. In Jean-Philippe Rameaus
Opéra-ballet „Les Indes galantes“ (1735) ersetzte der Librettist Louis Fuzelier frech erneuernd die sonst in diesem Genre üblichen
Götter und Helden durch ‚normale’ Menschen aus der Türkei, Persien und Nord- und Südamerika - Menschen aus eben jenen
fernen Ländern, die als „Indes“ galten. Rameaus erfolgreichstes Werk inszeniert jetzt im Münchner Prinzregententheater sozusagen
ein Über-Europäer: Sidi Larbi Cherkaoui. Als Sohn eines Marokkaners und einer flämischen Mutter aufgewachsen in Antwerpen
zwischen Katholizismus und Koran, brennt er privat und in seiner Arbeit für eine menschliche und kulturelle Offenheit gegenüber
dem Fremden, dem Andersartigen. Der Barockspezialist Ivor Bolton, hier auch musikalischer Leiter, dirigiert das Münchner
Festspielorchester und den Balthazar-Neumann-Chor. Vor der Premiere haben wir Cherkaoui zum Gespräch getroffen.
Herr Cherkaoui, durch ihre Gastspiele bei der Ballettfestwoche 2011 und bei der Dance Biennale 2012 hat man in München
bereits von Ihnen „Babel“ und „Puz/zle“ gesehen, Stücke, die Sie nach eigenen künstlerischen Vorstellungen mit ihrer eigenen
Kompanie Eastman entwickelt haben. Mit „Les Indes galantes“ spielen Sie noch mal in einer ganz anderen Liga: Der Text ist
vorgegeben. Gefordert sind Sie zudem als Choreograf u n d als Regisseur...
Intendant Nikolaus Bachler war schon vor acht Jahren an einer Zusammenarbeit interessiert. Damals fühlte ich mich noch nicht
bereit. Jetzt ist in mir, auch durch Herrn Bachler, ein Vertrauen gewachsen. Und Rameau: das ist französische Musik, in der ich
mich zuhause fühle. Auch seine Themen haben mit mir selbst zu tun – lassen sich durchaus heutig interpretieren. Krieg und Frieden
ist e i n Thema. Im Prolog verführt Bellone die jungen Leute, in den Krieg zu ziehen...
Wie der sogenannte Islamische Staat...
Ja, zum Beispiel. Aber im Prolog sagt gleichfalls Amor, Bellones Gegenspieler, „Prenez vos armes“, also „Greift zu den Waffen“,
quasi im Namen der Liebe. Aber man kann nicht f ü r die Liebe kämpfen, man muss einfach lieben. Da scheinen
Doppeldeutigkeiten und Widersprüche auf, die mich hellhörig machen. Unsere Welt ist dabei, sich ständig zu verändern, ist sehr
komplex. Es gibt immer auch die andere Seite der Medaille. Deshalb müssen wir uns vor Ideologien hüten, ganz allgemein auch
davor, reduktionistisch zu denken. Ich wehre mich dagegen, Verbrechen, all diese jüngst verübten Attentate, mit der Religion in
Verbindung zu bringen.
Ein Opéra-ballet besteht aus mehreren Entrées. Das sind jeweils in sich abgeschlossene Handlungen, in diesem Fall tragikomische
Liebesgeschichten.
Ja, es geht um die Fragen, was ist Liebe, Treue, Eifersucht, Obsession, Besitzergreifen. Im vierten Teil „Les Sauvages“, dem Auftritt
der Indianer, kommt zum Ausdruck, dass manche Menschen ihr Begehren und Gefühl ausschließlich auf eine Person
konzentrieren, andere sind gerne polyverliebt. Und da sehe ich wiederum unsere heutige Zeit, wo jeder seine erotische und
sexuelle Veranlagung ausleben kann.
Sie inszenierten 2014 am Brüsseler Opernhaus La Monnaie „Shell Shock“ des belgischen Komponisten Nicholas Lens, Ihre erste
Oper überhaupt. War das ein Lernprozess in puncto Musiktheater?
Ich habe damals zuerst mit den Tänzern gearbeitet, und hatte dann zu wenig Zeit für die Sänger. Diesmal habe ich das besser
austariert.
„Les Indes galantes“ hat all diese speziell Rameau'schen Qualitäten: erweiterte Harmonik, Klangfarben in Fülle und tänzerischen
Rhythmus. Den hat Rameau wohl verinnerlicht, als er zu jungen Jahren für die Jahrmärkte in den Pariser Stadtvierteln komponierte.
Diese Art „danses provencales“ im türkischen Teil oder „Der Tanz der großen Friedenspfeife“ der Indianer waren zu Rameaus
Zeiten sicher so etwas wie ein Pop-Hit und swingen ja auch heute noch...
Ja, seine Musik hat manchmal etwas Folkloristisches, das zu besonderen Bewegungsformen inspiriert. Für mich von Vorteil ist, dass
nicht durchgehend gesungen wird wie in der Oper, sodass mir reine Musik bleibt, um die Geschichte mit Tanz zu erzählen.
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„Unsere Welt ist dabei, sich ständig zu verändern“
Wie sieht Ihr Tanz hier aus? Durch Ihren Start im HipHop, ihre spätere Zusammenarbeit mit Shaolin-Mönchen, mit Flamenco-,
indischen und chinesischen Tänzerinnen haben Sie den Ruf des absoluten Grenzgängers.
Man wird nicht einzelne Elemente aus anderen Tanzstilen und -traditionen erkennen. Meine Sprache ist einfach ‚zeitgenössisch’.
Sie zeigt, wie die Welt heute ist: Die Menschen lösen sich von ihrer Kultur, machen sich auf den Weg in andere Länder. In
meiner Eastman Kompanie, mit der ich neben meiner Leitung des Königlich Flämischen Balletts weiterhin arbeite, gibt es Tänzer
aus Japan, den USA, Großbritannien, Deutschland. Es sind Persönlichkeiten, die auch eigenständig choreografieren, die mich seit
Langem kennen und die hier ihre je verschiedenen Vorschläge einbringen. In dieser kreativen Gemeinschaftlichkeit entsteht dann
diese Inszenierung.
Die Premiere im Münchner Prinzregententheater am 24.7., 18 Uhr ist ausverkauft: die Premiere kann man live sehen auf
staatsoper.de/tv. Ausverkauft auch am 26. und 27. 7., Restkarten für 29., 30. 7., Tel. 089/2185 1920
"Fractus V" von Sidi Larbi Cherkaoui; Eastmen/Sidi Larbi
Cherkaoui
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