Das Berufsintegrationsjahr einer bayrischen Berufsschule aus Sicht geflüchteter SchülerInnen Heidi Brümmer, Petra Kriechel, Helga Lack, Lucas Läufer veröffentlicht unter den socialnet Materialien Publikationsdatum: 25.07.2016 URL: http://www.socialnet.de/materialien/27589.php Hochschule Darmstadt Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit Forschungsbericht M 120 Forschungsmethoden Sozialer Arbeit Geflüchtete Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem bei Prof. Dr. Susanne Spindler Forschungsfrage: Wie erleben die geflüchteten SchülerInnen das BIJ (V) an der Berufsschule I in Aschaffenburg? vorgelegt von: Heidi Brümmer, Matrikel-Nr.: 735879 Petra Kriechel, Matrikel-Nr.: 736462 Helga Lack, Matrikel-Nr.: 736379 Lucas Läufer, Matrikel-Nr.: 736399 Wintersemester 2015/2016 1. Einleitung 1 2. Schlüsselbegriffe 3 3. Forschungsfeld und Rahmenbedingungen 4 3.1. Modellprojekt BIJ und BIJ-V - Ziele und Konzeption 4 3.2. Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen 6 4. Methodisches Vorgehen 4.1. Planung, Vorbereitung und Auswahl der InterviewpartnerInnen 8 8 4.2. Das qualitative Interview und die Beobachtung 10 4.3. Durchführung der Beobachtungen und der Interviews 11 4.4. Transkription und Auswertung 12 4.5. Kritische Methodenreflektion 13 5. Empirische und theoretische Auswertung 14 5.1. Bildungsbiografien 15 5.2. Schulalltag – Chance mit vielen Hürden 18 5.2.1. Zugang: Information, Aufnahmetest und Schulweg 18 5.2.2. Schulklima 20 5.2.3. Unterricht - Schulfächer und Differenzierung 21 5.2.4. Pausen 26 5.2.5. Hausaufgaben 26 5.2.6. Praktikum 27 5.2.7. Klassenfahrt 28 5.2.8. Freizeit und Ferien 28 5.3. Spracherleben 30 5.4. Sozialkontakte als Stützsystem 32 5.4.1. Beziehung zu Gleichaltrigen 32 5.4.1.1. Kontaktaufnahme 32 5.4.1.2. Klassengemeinschaft 33 5.4.1.3. Freundschaften 5.4.2. Beziehung zu Erwachsenen 35 38 5.4.2.1. Fürsorge und Respekt 38 5.4.2.2. Die Helfer – Elternersatz oder Freunde? 38 5.5. Psychische Herausforderungen und Hilfen 42 5.5.1. Schule als sicherer Ort 43 5.5.2. Halt durch Tagesstruktur 44 5.6. Asylrecht 46 5.7. Kompetenzen und Zukunftswünsche 50 5.7.1. Kompetenzen 50 5.7.2. Zukunftswünsche und Ziele 53 5.8. Theoretische Schlussbetrachtung: Bildungs- und Teilhabechancen nach Bourdieu 6. Fazit: Schulalltag als Chance? 57 58 „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung." (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), Artikel 26) 1. Einleitung Die Bundesrepublik Deutschland erlebt zurzeit die höchste Zahl von AsylbewerberInnen seit den 1990er Jahren: Bis Dezember 2015 stellten knapp 500.000 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Davon waren etwa 103.000 unter 16 Jahre alt und etwa 115.000 zwischen 16 und 25 Jahre alt (vgl. BAMF 2015, S. 3, 7). Die öffentlichen Diskurse zum Thema Flucht und Asyl werden kontrovers geführt: Einerseits wird die Fluchtmigration in Verbindung mit dem demografischen Wandel als große Chance diskutiert, dem zunehmenden Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Doch unabhängig von ökonomischen Verwertbarkeitskriterien setzen sich Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder Wohlfahrtsverbände dafür ein, den Menschen Schutz und Teilhabemöglichkeiten zu gewähren. Einig sind sich beide Seiten darin, dass Inklusion nötig ist. Da Bildung ein bedeutender Inklusionsfaktor für geflüchtete Menschen ist, liegt die Herausforderung darin, die geflüchteten Menschen ins deutsche Bildungssystem aufzunehmen. Ohne Bildung wird es weder Fachkräfte geben noch gesellschaftliche Integration. Bildung ist einerseits ein wesentlicher Faktor für wirtschaftliche Entwicklung und soziale Integration, beeinflusst andererseits maßgeblich die individuellen Lebenschancen. (vgl. Allmendinger 2013) Frieters-Reermann beschreibt Bildung als den „Schlüssel für Handlungsfähigkeit, die Gestaltung von Lebensentwürfen sowie für Teilhabechancen von Menschen in einer Gesellschaft“ (vgl. Frieters-Reermann 2013, S. 89, 100), der Soziologe Pierre Bourdieu als „kulturelles Kapital“. Noch grundlegender wird Bildung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 aufgefasst: Artikel 26 fordert das allgemeine Recht auf Bildung. Bildung ist demnach ein Weg, um die Persönlichkeitsentfaltung für alle Menschen zu ermöglichen sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu stärken. Deutschland hat die AEMR anerkannt (vgl. Lohrenscheit 2013, S. 1). So ist es jenseits aller ökonomischen Überlegungen ein (völker-) rechtliches und ethisches Gebot, angemessene Bildungszugänge für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland zu schaffen. Im Rahmen des Studienmoduls „Geflüchtete Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem“ beschäftigen wir uns mit den (Aus-)Bildungsmöglichkeiten geflüchteter Jugendlicher in Deutschland. Exemplarisch untersuchen wir das !1 Modellprojekt der Berufsintegrations-Klassen an der staatlichen Berufsschule I in Aschaffenburg (Bayern). Unsere Forschungsfrage lautet: „Wie erleben geflüchtete Jugendliche das BIJ bzw. das BIJ-V an der Berufsschule I in Aschaffenburg?“ Uns interessiert dabei besonders die Sichtweise der aktuell am Schulgeschehen direkt Beteiligten, also der Sozialarbeiterinnen und LehrerInnen sowie die der geflüchteten Jugendlichen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Erleben der Jugendlichen selbst. Sie sind nach Aussage von Sozialarbeiterin S I bisher noch nicht dazu befragt worden. Wir betrachten die zahlenmäßig größte Altersgruppe der geflüchteten Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren. Während Jugendliche in Deutschland mit 16 Jahren bereits 9 oder 10 Jahre lang die Schule besucht haben und nicht mehr der Vollzeitschulpflicht unterliegen, bringen geflüchtete Jugendlichen in diesem Alter oft wesentlich weniger Schulerfahrung mit – quantitativ und qualitativ. Die jugendlichen Flüchtlinge sind den allgemeinbildenden Schulen daher altersmäßig „entwachsen“ (vgl. Deutscher Caritasverband e.V., S. 138). Nachdem wir im folgenden Kapitel die Schlüsselbegriffe „geflüchtete Jugendliche“, „Bildung“ und „Inklusion“ erklären, geht es im dritten Kapitel um das Forschungsfeld und seine konzeptionellen, gesetzlichen sowie finanziellen Rahmenbedingungen. Im vierten Kapitel setzen wir uns kritisch mit der gewählten Forschungsmethode und der Durchführung unseres Projekts auseinander, bevor wir im fünften Kapitel zur empirischen und theoretischen Auswertung unserer Ergebnisse kommen. Wir befassen uns mit der Frage, wie die geflüchteten Jugendlichen das für sie eingerichtete Modellprojekt an der BS I erleben. Welche Vorbildung bringen die SchülerInnen mit und wie erleben sie selbst ihren Schulalltag? In weiten Teilen der Arbeit befassen wir uns mit schulischen, sprachlichen, psychischen und rechtlichen Hürden, die geflüchtete Jugendliche überwinden müssen, um im Bildungssystem erfolgreich vorwärts zu kommen. Wie finden sie überhaupt einen Zugang zur Schule? An welche Bedingungen ist der Schulbesuch geknüpft? Wie begegnet die Schule der Heterogenität der geflüchteten Jugendlichen, ihren besonderen Schwierigkeiten und ihren mangelnden Sprachkenntnissen? Wie wirkt sich der Aufenthaltsstatus aus? Weiterer Schwerpunkt ist ein Blick auf die sozialen Kontakte und Vernetzung der Jugendlichen, die ihnen beim Einstieg in Schule und Gesellschaft helfen. Schließlich interessiert uns, wo die SchülerInnen sich selbst als besonders kompetent erleben oder von den Lehrkräften und Sozialarbeiterinnen als besonders kompetent erlebt !2 werden und wie diese Kompetenzen den geflüchteten Jugendlichen bei der Bewältigung ihres oft schwierigen Alltags helfen. Abgerundet wird der Auswertungsteil mit einer theoretischen Betrachtung der gesellschaftlichen Position und den Chancen der geflüchteten Jugendlichen nach Bourdieu. Im Fazit fassen wir unsere Ergebnisse zusammen und versuchen die Forschungsfrage zu beantworten. 2. Schlüsselbegriffe Geflüchtete Jugendliche Die Begriffe „AsylbewerberInnen“, „Flüchtlinge“ oder „Geduldete“ bezeichnen jeweils einen rechtlichen Status im Asylbewerberverfahren. Die befragten SchülerInnen haben unterschiedliche Status, somit wäre der Gebrauch eines der Begriffe nicht geeignet. Der Begriff „AusländerIn“ ist einerseits stigmatisierend und berücksichtigt andererseits nicht das Alter und den Fluchthintergrund. Wir wählen darum für unsere Zielgruppe den Begriff „geflüchtete Jugendliche“. Er zeigt auf, dass es sich um Jugendliche handelt, die einerseits im Prozess des Erwachsenwerdens stehen, andererseits ihre Flucht mit allen Folgen bewältigen müssen. Interkulturalität Dieser Begriff beschreibt den offenen und dynamischen Prozess, der aus dem Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Orientierungen entstehen kann (vgl. Nick 2005, S. 254). Inklusion Im Sinne inklusiver Bildung bedeutet Inklusion, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, besonderer Lernbedürfnisse, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen – die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu entwickeln (vgl. Deutsche Unesco Kommision e.V: Was ist inklusive Bildung). Bildung Bei dem Begriff Bildung handelt es sich um einen sehr komplexen Begriff, der weder im alltäglichen, noch im wissenschaftlichen Kontext einheitlich verwendet wird. Wir verwenden in der nachfolgenden Arbeit Bildung im Sinne von Humboldt, als einen aktiven und selbstbestimmten Prozess, der auf die Entwicklung einer Person in einem umfassenden Sinne abzielt (vgl. Humboldt !3 1972, S. 9). Wir meinen somit also nicht nur die formellen, sondern auch die informellen Bildungserfahrungen. 3. Forschungsfeld und Rahmenbedingungen Das Forschungsfeld, in dem unsere Erkundungen sich bewegen, ist die Staatliche Berufsschule I (BS I) in Aschaffenburg, einer Kleinstadt im bayerischen Unterfranken, die ökonomisch zur Rhein-Main-Region gehört. Die Stadt zählt 67.900 EinwohnerInnen (darunter ca. 18.000 MigrantInnen), im Landkreis wohnen weitere 173.000 Menschen. Anfang 2016 waren mehr als 2.100 geflüchtete Menschen in Stadt und Landkreis Aschaffenburg untergebracht (vgl. Internetseiten der Stadt und des Landkreises Aschaffenburg). Aschaffenburg ist Hochschulstadt mit über 3.000 Studierenden. Ungefähr 20.000 SchülerInnen besuchen diverse Schulen des strikt an der Dreigliedrigkeit orientierten bayerischen Schulsystems (Grund-, Förder-, Mittel-, Realschule, Gymnasien, Fach- und berufliche Schulen). In der Stadt gibt es 22 Fach- und berufliche Schulen, eine davon ist die BS I für gewerbliche Berufe mit den Berufsfeldern Metall-, Elektro-, Holz- und Farbtechnik. Zurzeit absolvieren knapp 1.800 SchülerInnen den schulischen Teil ihrer Ausbildung an der BS I. Neben der BS I gibt es auf dem Berufsschulgelände die BS II für kaufmännische Berufe und die BS III für hauswirtschaftliche Berufe und Textiltechnik. Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis können an der BS I Berufsvorbereitungsjahre (BVJ) absolvieren (vgl. www.berufsschule1ab.de). Das Berufsintegrationsjahr (BIJ) ist seit 2013/14 an der BS I eingerichtet. Es ist Teil des Bayerischen Modellprojekts „Perspektive Beruf für Asylbewerber“. 140 geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene besuchen zurzeit die beiden Jahrgangsstufen BIJ und BIJ-V, die neben dem Spracherwerb den mittleren Bildungsabschluss und die Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis zum Ziel haben (vgl. www.bij-aschaffenburg.de). 3.1. Modellprojekt BIJ und BIJ-V - Ziele und Konzeption Ziele und Zielgruppe für BIJ und BIJ-V Das Modellprojekt zur Beschulung berufsschulpflichtiger Flüchtlinge an bayerischen Berufsschulen richtet sich an geflüchtete Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren. !4 In Ausnahmefällen werden bis 25-Jährige aufgenommen, wenn sie noch keinen Schulabschluss in Deutschland erreicht haben oder der im Heimatland erreichte Abschluss nicht anerkannt wurde und ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um in regulären Berufsschulklassen für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz (JoAsKlassen) unterrichtet zu werden (vgl. ISB 2014, S. 69). Das bayerische Kultusministerium orientiert sich mit seinen Zielen für das Modellprojekt „Perspektive Beruf für Asylbewerber und Flüchtlinge“, das dem BIJ und BIJ-V zugrunde liegt, deutlich an ökonomischen Verwertbarkeitskriterien. So soll das BIJ der besseren Vorbereitung der „Integration von Flüchtlingen mit Bleibechancen in den Arbeitsmarkt“ dienen. Bestehende Unterrichtskonzepte sollen „passgenau weiterentwickelt und erprobt“ werden, um Jugendliche „besser auf einen erfolgreichen Übergang in eine duale Ausbildung und den Arbeitsmarkt“ vorzubereiten (Kultusministerium 2015). Konkret legt das Konzept des BIJ den Schwerpunkt auf drei Ziele: das Erlernen der deutschen Sprache, den Erwerb des mittleren Bildungsabschlusses und die Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis. Darüber hinaus haben die SozialarbeiterInnen der BS I sich in einer eigenen Konzeption zum Ziel gesetzt, die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen zu mindern, die bedingt durch Flucht und soziale wie rechtliche Benachteiligung entstanden ist. Sie wollen Halt und Zuversicht vermitteln und so das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit wiederherstellen, Kompetenzen erkennen und fördern und bezogen auf die Heterogenität in den Klassen für Ausgleich sorgen. Außerdem soll die Flüchtlingsschulsozialarbeit an der BS I die Jugendlichen für die deutsche Sprache und Kultur sensibilisieren (vgl. Konzept Schulsozialarbeit der BS I, S. 3f.). Konzeption BIJ und BIJ-V Die Konzeption des Modellprojekts an der BS I lehnt sich an die Konzeption der SchlaU-Schule in München und orientiert sich an der Handreichung des ISB, die im Auftrag des Kultusministeriums erstellt wurde (vgl. ISB 2015; SchlaU-Lehrkonzept 2015). Demnach ist der Schulbesuch der geflüchteten Jugendlichen für zwei Jahre vorgesehen, je nach Vorbildung und individuellem Lernfortschritt. Anhand der Ergebnisse des Aufnahmetests wird die Klassenzuteilung nach DeutschSprachniveau vorgenommen. Da auch die Mathematikkenntnisse sehr stark differieren, kann der Mathematikunterricht nach Leistungsgruppen differenziert abgehalten werden, wenn genügend Lehrkräfte verfügbar sind (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 173f.). Die Klasseneinteilung ist in beide Richtungen durchlässig. Wechsel !5 sind jederzeit möglich, auch innerhalb des Schuljahres. So gibt es an der BS I zurzeit sechs Vorbereitungsklassen für das Berufsintegrationsjahr (BIJ-V-Klassen), davon zwei Alphabetisierungsklassen, und zwei Berufsintegrationsklassen (BIJKlassen) (vgl. Experteninterview, Z. 15-19; Interview L III, Z. 48-49; ISB, S.30). Regelmäßig finden Leistungserhebungen in Form schriftlicher wie mündlicher Tests statt, die benotet werden. Zeugnisse informieren zwei Mal jährlich über den Lernstand. Ein „Sitzenbleiben“ ist nicht möglich, da die einzelnen Klassenstufen nicht über einheitliche Lernziele verfügen. Inhalt des BIJ-V ist insbesondere intensiver Spracherwerb, mitunter auch Alphabetisierung, als Schlüsselqualifikation zur Teilhabe am Erwerbsleben. Neben der Vermittlung mathematischer und allgemeinbildender Inhalte (Sozialkunde) erfolgt auch eine sozialpädagogische Unterstützung der Jugendlichen (vgl. ISB 2014). Im zweiten Schuljahr, dem BIJ, sollen die erworbenen Kenntnisse in Deutsch und Mathematik handlungsorientiert vertieft werden, mit Blick auf die Hauptziele, den Erwerb des Mittelschulabschlusses und damit auch die Möglichkeit zur Berufsausbildung. Zur beruflichen Orientierung sind außerdem mehrere Praktika in Betrieben vorgesehen. Die BS I beschäftigt eine Mitarbeiterin, die ausschließlich für die Akquise von Praktikumsplätzen, die Unterstützung der SchülerInnen bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen sowie für die Betreuung während der Praktika zuständig ist (vgl. Interview S III, Z.19-23, 41-43). Im zweiten Schuljahr (BIJ) haben die SchülerInnen auch die Möglichkeit, extern in Kooperation mit einer Mittelschule in Aschaffenburg die Prüfung zum qualifizierenden Mittelschulabschluss oder den mittleren Schulabschluss (gleichwertig mit Mittlerer Reife) abzulegen und somit den Grundstein für aufbauende Schulabschlüsse wie Abitur oder Fachabitur zu legen (vgl. ISB 2014, S. 70). 3.2. Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen Gesetzliche Rahmung Seit die UN-Kinderrechtskonvention 2010 durch die Bundesrepublik Deutschland vollständig anerkannt wurde, gelten die Kinderrechte der Gesetzeslage nach in vollem Umfang auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Demnach haben sie unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus das Recht, in Deutschland eine Schule zu besuchen. Im Jahr 2006 hat die Kultusministerkonferenz zur Umsetzung dieser Konvention festgehalten: „Die Kultusministerkonferenz richtet ihr Bemühen darauf, !6 das Recht des Kindes auf Bildung sowie auf Förderung durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten.“ (Mercator 2015, S.33) Grundlegend war das Recht auf Bildung schon vorher verankert in Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als das Recht auf grundlegende unentgeltliche Bildung, die der Staat bereitstellen soll. Im Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) ist das Recht auf Bildung ebenfalls verankert. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) (1951) schützt global die Rechte von Flüchtlingen. Art. 22 GFK verankert das Recht geflüchteter Kinder und Jugendlicher auf Gleichbehandlung mit eigenen Staatsangehörigen in Bezug auf den Unterricht in Volksschulen. Darüber hinaus bestimmt Art. 22 GFK eine möglichst an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen ausgerichtete Behandlung der Geflüchteten bei den Angeboten weiterführender Schulen. Die Qualifikationsrichtlinie der EU von 2011 gewährt durch Art. 27 Minderjährigen unter internationalem Schutz gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem. Das Recht auf Bildung von Flüchtlingen wird außerdem von weiteren EU-Richtlinien geregelt und präzisiert (vgl. z.B. Richtlinie 2013/33/EU). In Deutschland liegt die Zuständigkeit für die konkrete Umsetzung des Rechts auf Bildung in der Kulturhoheit der Bundesländer. Alle Länder unterscheiden zwischen einer allgemeinen Schulpflicht und einer Berufsschulpflicht, die einen Schulbesuch an einer allgemeinbildenden oder einer berufsbildenden Schule während einer Berufsausbildung vorsieht. In den meisten Bundesländern besteht eine Schulpflicht von insgesamt 12 Jahren, die sich in 9 Jahre Vollzeitschulpflicht und 3 Jahre Berufsschulpflicht gliedert (vgl. BWV 2015, S. 3). Für geflüchtete Kinder und Jugendliche gilt ein Recht auf Bildung, das die Bundesländer unterschiedlich handhaben. So gibt es Schulbesuchsrecht oder in nahezu allen Bundesländern mittlerweile die Schulpflicht, mit unterschiedlichen Bedingungen bezüglich Beginn, Kopplung an Wohnort oder auch Aufenthaltsrecht. In Bayern ist die Schulpflicht für alle Kinder und Jugendlichen in Art. 35 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes (BayEUG) verankert, wonach geflüchtete Kinder und Jugendliche grundsätzlich der Vollzeitschulpflicht bzw. im Anschluss daran der Berufsschulpflicht unterliegen. Den 16 bis 21-jährigen Jugendlichen wird ein besonderer Förderbedarf zugestanden, der über andere Angebote nicht gedeckt werden kann. Das Konzept aus BIJ-V und BIJ, welches die BS I anbietet, wird vom bayerischen Kultusministerium als Schulangebot für junge Geflüchtete gemäß Art. 36 Abs. 1, S. 1, Nr. 3 BayEUG anerkannt und als Modellprojekt gefördert. Die Berufsschulpflicht für geflüchtete Jugendliche ist erst seit kurzem in wenigen Bundesländern eingeführt. In Bayern können die Jugendlichen seit September 2013 !7 die staatlichen Berufsschulen besuchen (vgl. Frieters-Reermann 2013, S. 91), bis dahin war der Zugang zu Bildung für die 16 bis 25-jährigen Jugendlichen sehr eingeschränkt und beruhte meist auf privaten Initiativen, wie beispielsweise dem Münchener Projekt „SchlaU-Schule“. Das Konzept der SchlaU-Schule wurde Vorbild für das in Bayern eingeführte zweijährige Unterrichtsmodell an Berufsschulen. Finanzierung des Modellprojekts Der Haushalt Bayern finanziert vollständig die Kooperationspartner zur sonderpädagogischen Betreuung der SchülerInnen im BIJ-V im Schuljahr 2014/15. Kooperationspartner und somit Arbeitgeber für die Sozialpädagoginnen, die Fachkraft für die Praktika- und Ausbildungsbetreuerin und die LehrerInnen ist das Jugendamt der Stadt Aschaffenburg. Das Berufsintegrationsjahr 2014/15 wird aus Restmitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert (vgl. ISB 2014, S. 71, 75ff.; Jahresbericht 2015, S. 8-9; Interview S II, Z. 175-176). 4. Methodisches Vorgehen Mit der Forschungsfrage „Wie erleben geflüchtete Jugendliche das BIJ (V) an der Berufsschule I in Aschaffenburg“ soll subjektives Erleben fallanalytisch erkundet werden. Dazu eignen sich hermeneutisch-sinnverstehende Erkenntnismethoden aus der qualitativen Forschung. Der Gegenstand unserer Fallanalyse ist das komplexe soziale Gefüge der BS I. Im Zentrum der qualitativen Forschung steht die Einzelfallanalyse, in unserer Forschung die Analyse der Interviews von zehn Akteuren des Gesamtsystems. Mit Hilfe der Einzelfallanalyse kann die Komplexität des gesamten Systems, seine Zusammenhänge und Funktionen deutlich gemacht werden. Sie hilft bei der „Suche nach relevanten Einflussfaktoren und bei der Interpretation von Zusammenhängen“ (Mayring 1999, S.28). Während des gesamten Analyseprozesses gewährleistet eine Einzelfallanalyse Rückgriffe auf den Fall in seiner ganzen Komplexität, „um so zu tiefgreifenderen Ergebnissen zu gelangen“ (Mayring 1999, S.29). 4.1. Planung, Vorbereitung und Auswahl der InterviewpartnerInnen Zunächst nahm die Forschungsgruppe telefonisch Kontakt mit dem Schulleiter und einer Sozialarbeiterin der BS I auf und erläuterte das Forschungsvorhaben. Der Schulleiter und die Sozialarbeiterin signalisierten ihre Bereitschaft zur Teilnahme !8 und zeigten auch großes Interesse am Forschungsergebnis. Sozialarbeiterin S I diente im weiteren Verlauf als Ansprechpartnerin der Schule und koordinierte die Termine vor Ort. Sie erklärte schon am Telefon in groben Zügen das Konzept der Berufsintegrationsklassen. Ein Treffen zwischen der Sozialarbeiterin S I und der Forschungsgruppe klärte das weitere praktische Vorgehen sowie weitere Fragen zum Schulkonzept. Hierzu wurde vorab ein Expertenfragebogen erstellt. Die Ergebnisse aus dem Telefonat und der Vorbesprechung wurden schriftlich protokolliert (s. Anhang) Ein wichtiger Punkt war die Anonymisierung. Die Forschungsgruppe sicherte zu, alle beteiligten Personen zu anonymisieren. Die Schule als solche darf in Absprache mit dem Schulleiter namentlich genannt, und die Forschungsergebnisse dürfen für weitere Studien der Hochschule Darmstadt zur Verfügung gestellt werden. Der Forschungsgruppe war es wichtig, das Erleben des Schulalltags und das Schulkonzept BIJ (V) aus möglichst verschiedenen Perspektiven zu betrachten, deshalb wurden neben SchülerInnen auch deren Sozialarbeiterinnen und LehrerInnen befragt. Diskutiert wurde auch, ob Interviews mit ehemaligen SchülerInnen und anderen Akteuren rund um die BS I geführt werden sollten, das hätte aber den Rahmen dieser Forschungsarbeit gesprengt. So verzichteten wir auf die Befragung z.B. von ehemaligen SchülerInnen oder von SchülerInnen, die keinen Zugang zur Schule bekommen haben, weil sie entweder durch den Aufnahmetest gefallen sind oder keine Information über das Schulangebot hatten. Auch SchülerInnen, die die Schule freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen haben, haben wir nicht befragt. Interessant wären auch Interviews mit dem Schulleiter, SozialarbeiterInnen der Verwaltung oder Sozialberatung sowie mit ehrenamtlichen Helfern gewesen. Auch auf eine Befragung der nicht von Flucht betroffenen SchülerInnen, die die BS I besuchen, mussten wir verzichten. Interessant wäre gewesen, wie sie die Anwesenheit der neuen geflüchteten MitschülerInnen erleben. Zehn Personen erklärten sich schließlich zu einem Interview bereit: eine Lehrerin, zwei Sozialarbeiterinnen, eine Mitarbeiterin, die für die Praktikumsbetreuung und Ausbildungsvermittlung der SchülerInnen verantwortlich ist, zwei Schülerinnen und vier Schüler aus einer Berufsintegrationsklasse, die als A-Klasse mit sehr guten Deutschkenntnissen geführt wird. Die Gruppe der sechs befragten SchülerInnen zeigte sich in vielen Punkten als sehr heterogen. Die SchülerInnen waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 18 und 23 Jahren alt und seit 2013 in Deutschland. Sie stammen aus dem Irak, Syrien, Kosovo, Aserbaidschan und Pakistan. Die SchülerInnen aus dem Irak und Syrien haben einen Status als anerkannte Flüchtlinge, die übrigen befinden sich noch im Asylverfahren. Sie haben unterschiedliche Bildungshintergründe vom „gelegentlichen Schulbesuch“ bis hin !9 zum Bachelor-Abschluss (vgl. Datenblätter, Interview V, Z. 55-57, vgl. Kapitel 5.1. Bildungsbiografien). 4.2. Das qualitative Interview und die Beobachtung Die Forschungsgruppe führte qualitative, leitfadengestützte Interviews und nichtteilnehmende, unstrukturierte Beobachtungen durch. Das teilstrukturierte Leitfadeninterview stellt ein geeignetes teilstandardisiertes Verfahren dar, um individuelle Handlungs- und Orientierungsmuster zu erfassen. Die Leitfäden sind einerseits theoretisch vorstrukturiert, anderseits offen genug, um den Interviewten Raum für das Erzählen von subjektiver Lebenserfahrung zu lassen (vgl. Mayring 1999). Für die LehrerInnen bzw. Sozialarbeiterinnen und für die SchülerInnen wurden unterschiedliche Leitfäden konzipiert (Leitfäden s. Anhang). Die offenen Fragen wurden flexibel anhand des Leitfadens gestellt. Themen des Leitfadens für die Interviews mit den SchülerInnen waren: • Aufnahme ins deutsche Schulsystem, insbesondere in die BS I • Erleben des Schulalltags • Bezugspersonen und Art und Umfang ihrer Unterstützung • Freizeit und Freunde • Ziele und Wünsche (auch nach Rahmenbedingungen) In den Interviews mit LehrerInnen und SozialarbeiterInnen waren folgende Themen von Interesse: • Zugang zu ihrem Arbeitsplatz, insbesondere die Motivation und die eigenen Kompetenzen • Erleben des Schulalltags mit den Aufgaben, Spannungsfeldern und Herausforderungen und den dafür vorhandenen Hilfen und Netzwerken • Sicht auf die Kompetenzen und das Miteinander der SchülerInnen und Inklusionsmöglichkeiten • Persönliches Erleben mit Grenzen, Selbsteinschätzung in der beruflichen Rolle • Ziele und Wünsche (auch nach Rahmenbedingungen) !10 4.3. Durchführung der Beobachtungen und der Interviews Die Beobachtungen und die Interviews fanden an einem Vormittag in der Schule statt. In den ersten beiden Schulstunden setzten sich zwei BeobachterInnen in eine Berufsintegrationsvorklasse (BIJ-V) und zwei BeobachterInnen in eine Berufsintegrationsklasse (BIJ). Sie führten eine nicht-teilnehmende, unstrukturierte Beobachtung durch. Die LehrerInnen und SchülerInnen wurden von der Sozialarbeiterin kurz über das Projekt informiert. Die Beobachtungen dienten in erster Linie dazu, einen Eindruck über den Unterricht und die sozialen Interaktionen dort zu bekommen. Sie wurden vor den SchülerInnen und den LehrerInnen nicht als Beobachtung, sondern als Hospitation deklariert, um Befürchtungen der SchülerInnen vor vermeintlicher Kontrolle auszuräumen. Für die anschließenden Interviews sollte aber ein Vertrauensverhältnis seitens der SchülerInnen aufgebaut werden. In der BIJ-V Klasse wurden die Beobachterinnen nicht vorgestellt. Für die Beobachtungsprotokolle wurden während des Unterrichts von beiden BeobachterInnen Notizen gemacht, die im Anschluss zu jeweils einem Protokoll zusammengefasst wurden (Beobachtungsprotokolle s. Anhang). Im Anschluss an den Unterricht erläuterte S I der BIJ-Klasse das Forschungsprojekt. Die Forschergruppe stellte sich vor und ermutigte die SchülerInnen, Rückfragen zu stellen. Die SchülerInnen waren vor allem an persönlichen Daten der InterviewerInnen interessiert wie Alter, Wohnort, Familienstand, Anzahl der Kinder sowie berufliche Laufbahn. Gleich im Anschluss wurden die Interviews durchgeführt. Die Interviews wurden jeweils als Zweier-Team durchgeführt, wobei eine Person interviewte, die andere Person das Aufnahmegerät bediente. Die SchülerInnen kamen allein oder zu zweit zum Interview und wurden nacheinander einzeln befragt. Die Lehrerin und die Sozialarbeiterinnen wurden alle einzeln interviewt. Die Interviews dauerten 25 bis 40 Minuten und wurden in deutscher Sprache durchgeführt. Ein kurzer Fragebogen zu persönlichen Daten der Interviewten wie Alter, Geschlecht, usw. (vgl. Datenblätter) wurde erst im Anschluss an das Interview gemeinsam von den InterviewerInnen und Interviewten ausgefüllt. Diese Daten wurden bewusst anschließend abgefragt, um bei den SchülerInnen nicht eventuell das beängstigende Gefühl auszulösen, sie befänden sich in einer behördlichen Anhörung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) führt Befragungen durch, um über Bewilligung oder Ablehnung des Asylgesuchs zu entscheiden. Diese Befragung vom BAMF wird unter den AsylbewerberInnen ebenfalls als „Interview“ bezeichnet und ist oft angst- und misstrauenbehaftet. Für unseren Fragenbogen !11 wurde den Interviewten angeboten, sich ein Pseudonym auszudenken, was aber schließlich auch anonymisiert wurde. 4.4. Transkription und Auswertung Alle zehn durchgeführten, audio-aufgezeichneten Interviews wurden wörtlich und vollständig transkribiert. (Transkripte s. Anhang) Sämtliche Namen von Personen wurden anonymisiert. Die Forschungsgruppe hat die Transkripte schließlich mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Die Methode basiert auf einer systematischen Analyse des transkribierten Materials (vgl. Mayring 1999, S.91-98). Dazu wurde das Material in Sinnabschnitte zergliedert und schrittweise bearbeitet. So entstanden zunächst folgende Oberkategorien, die sich deduktiv aus der Literatur bzw. den sich daraus ergebenden Leitfadenfragen sowie induktiv aus dem Material ableiten ließen: Leitbild und Konzept, Schulalltag, Bildungsbiografien, Motivation und Ziele, Soziales Netz und Herausforderungen. An dieser Stelle teilte die Forschungsgruppe die Suche nach Unterkatgorien unter den TeilnehmerInnen auf und wertete das Material in vier Schritten weiter aus. Zuerst wurden alle für das Oberthema relevanten Textstellen paraphrasiert, d.h. das Material wurde in einen Kurztext zusammengefasst und damit reduziert. In der anschließenden Generalisierung wurden alle Paraphrasen verallgemeinert und auf ein abstrakteres Sprachniveau gehoben. Abschließend erfolgte wiederum durch Subsumption die Unterkategorienbildung (siehe Auswertungstabelle im Anhang). Mit den Unterkategorien konnte das Restmaterial codiert werden. Das Kategoriensystem ließ sich anschließend aus den Ober- und Unterkategorien zusammenfügen. Daraus entstand eine erste vorläufige Gliederung. Die große Fülle an Daten aus zehn Interviews und die Vielzahl der Oberthemen, aus deren Perspektive wir die Forschungsfrage betrachten wollten, veranlasste uns an dieser Stelle, die Forschungsfrage weiter einzugrenzen. Wir beschränkten uns auf das Erleben der SchülerInnen und haben die Interviews der Lehrkräfte und SozialarbeiterInnen und Beobachtungsprotokolle nur noch unter diesem Gesichtspunkt ausgewertet. Nachdem alle Oberkategorien analysiert, Unterkategorien identifiziert und die entsprechenden Kapitel der Forschungsarbeit geschrieben waren, fiel auf, dass es Überschneidungen gab, die sich daraus ergaben, dass dasselbe Material von den einzelnen Mitgliedern der Forschungsgruppe unter verschiedenen Aspekten betrachtet wurde. Die Zusammenfassung der Einzelthemen zu einer Gesamtforschungsarbeit führte zu einer Neustrukturierung der Arbeit und war sehr !12 arbeits- und zeitintensiv. Eine enge Abstimmung unter den Gruppenmitgliedern war erforderlich. 4.5. Kritische Methodenreflektion Die Kritische Methodenreflektion beginnt in unserer Forschungsarbeit bei der Forschungsfrage. Die Frage nach dem Erleben von Schulalltag ist sehr weit gefasst. Der Begriff „Erleben“ wirkt schwammig und ist von den ForscherInnen zunächst unterschiedlich interpretiert worden: zum einen „Was erleben die Beteiligten?“ und zum anderen „Wie erleben es die Beteiligten?“. Das in Interviews und Beobachtungen gesammelte Material eignet sich als Basis für viele sich daraus ergebenden Untersuchungsfelder. So kann mit dem vorhandenen Material zum Beispiel die Frage nach Kompetenzen, Motivationen und Zielen der SchülerInnen untersucht werden; ebenso kann nach Herausforderungen, der Rolle der Sozialarbeiterinnen oder der Bedeutung eines sozialen Stützsystems geforscht werden. Eine große Schwierigkeit war es, hier eine Auswahl zu treffen. Der nächste Kritikpunkt bezieht sich auf die Materialfülle. Obwohl es sicherlich sinnvoll erscheint, weitere Interviews mit weiteren Akteuren zu führen, haben diese zehn Interviews den zeitlichen Rahmen für eine Forschungsarbeit im Modul 120, die innerhalb von drei Monaten von der Idee bis zur kritischen Auswertung gebracht werden muss, gesprengt. Zudem wurde dasselbe Material aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet (Kompetenzen, Beschränkungen, Ziele, Biografien der geflüchteten Jugendlichen). Die anfängliche Gliederung musste überarbeitet werden, da einige Inhalte sich wiederholten. Bei der Interviewführung ergab sich die Schwierigkeit, dass die Kommunikation, insbesondere zu Beginn der Interviewsituation, aufgrund von Sprachbarrieren von Unsicherheiten geprägt war. Um die SchülerInnen in ihren Aussagen zu bestätigen und um Verständnissicherheit zu erlangen, neigten die InterviewerInnen dazu, das Gesagte zusammenfassend zu wiederholen. Dadurch kam es stellenweise zur Lenkung der Aussagen. Eine teilweise leitende Art der Befragung vermittelte den SchülerInnen zwar sprachliche Sicherheit, beschränkte aber gleichzeitig die Offenheit der Antworten (vgl. Interview P, Z. 295-303). Sowohl die Interviewführung, als auch die Beobachtung und die Materialauswertung wurden von den ForscherInnen selektiv wahrgenommen. Individuelle Erfahrungen z. B. mit Schule, LehrerInnen oder Flüchtlingssozialarbeit, sowie persönliche Erkenntnisinteressen dienten als Basis der eigenen Interpretationen. !13 Die Inhaltsanalyse nach Mayring erwies sich als ein äußerst aufwendiges Verfahren. Insbesondere nachdem die Gruppe die Themen aufgeteilt hatte und jede/r für sich das gesamte Material unter dem Blickwinkel der eigenen Oberkategorie unterkategorisierte. In Folge entstand eine Fülle an Auswertungspunkten, die den Umfang und die Zeitintensität unserer Forschungsarbeit erklärt. Letztlich verbrachten wir wieder viel Zeit damit, die Ergebnisse zu reduzieren, zu gewichten und wieder zusammenzufassen. 5. Empirische und theoretische Auswertung „Wie erleben geflüchtete Jugendliche der BS I ihren Schul- und Lebensalltag, wo sehen sie ihre Chancen, was empfinden sie als hinderlich für ihre Alltagsbewältigung und ihre Zukunftsplanung?“ Diese erweiterte Forschungsfrage steht im Hauptteil der Forschungsarbeit im Mittelpunkt, in dem wir die Forschungsfrage empirisch und theoretisch auswerten und einzelne Kategorien genauer betrachten. Um zu einer ressourcenorientierten Sichtweise zu gelangen, werden mit der Betrachtung der Herausforderungen auch die gewählten Lösungswege mit Ressourcen und Kompetenzen beleuchtet, die die geflüchteten Jugendlichen entwickeln, um letztlich ihr (Aus)Bildungsziel zu erreichen. In den transkribierten Interviews lassen sich sieben wichtige Kategorien von Herausforderungen und Chancen finden, die in den nächsten Kapiteln näher analysiert werden. Manche werden in den Interviews explizit formuliert, andere werden kaum thematisiert, lassen sich aber zwischen den Zeilen ablesen und durch Literatur belegen: • Schulische Herausforderungen: Information, Zugang, Unterricht, Ferien, Schulabbruch, Klassenklima, Heterogenität und Differenzen • Sprachliche Herausforderung • Aufbau eines sozialen Netzwerks • Psychische Herausforderungen: Trauma, Angst, Unsicherheit, Einsamkeit, Selbständigkeit, Entwurzeltsein, Fremdheit, Erfolgsdruck • Asylrechtliche Herausforderungen: Aufenthaltsstatus und damit verbundene Einschränkungen • Kompetenzen: Bildungsbiografien, Motivation, Durchsetzungsvermögen, Zielstrebigkeit, Kontaktaufbau !14 • Herausforderung Zukunftsperspektive: Zukunftserwartungen, Berufsfindung, Aufenthaltsstatus, Unsicherheit, Scheitern 5.1. Bildungsbiografien Bevor wir auf die Bildungsbiografien unserer interviewten SchülerInnen genauer eingehen können, ist es zunächst dienlich zu beleuchten, wie wir den Begriff Bildungsbiografie verwenden werden. Da es sich bei diesen beiden Begriffen, Biografie und Bildung, um Begriffe handelt, die sowohl in unserem alltäglichen Sprachgebrauch, als auch in unterschiedlichen Fachdebatten Verwendung finden, besteht die Gefahr, dass sich unser Alltagsverständnis mit der wissenschaftlichen Verwendung der Begriffe vermischt. In dieser Arbeit verwenden wir den Begriff Bildung wie bereits beschrieben im Sinne von Humboldt als einen aktiven und selbstbestimmten Prozess, der auf die Entwicklung einer Person in einem umfassenden Sinne abzielt (vgl. Humboldt 1972, S. 9). Es sind somit also nicht nur die formellen, sondern auch die informellen Bildungserfahrungen gemeint. Jedoch, um dies schon vorweg zu nehmen, dominieren in den Interviews die Erzählungen über formelle Bildungsetappen, was sicherlich auch an dem Rahmen unserer Befragung liegt. Der Begriff Biografie kommt ursprünglich aus dem Griechischen und setzt sich aus zwei Begriffen zusammen. Zum einen aus dem Wort bios, was ´Leben´ bedeutet. Zum anderen aus dem Wort gráphein, was so viel wie ´abbilden, schreiben, zeichnen oder auch darstellen´ bedeutet (vgl. Lattschar; Wiemann 2013, S. 13). Für Kade ist die Biografie im Gegensatz zum Lebenslauf immer ein Resultat individueller Wahrnehmungs und Deutungsakte (vgl. Kade 2005). Eine Bildungsbiografie ist für uns somit das eigene Darstellen bzw. Beschreiben der im Leben bereits aktiv erfahrenen formellen und informellen Bildung. So unterschiedlich die SchülerInnen der BIJ und BIJ-V Klassen sind, so unterschiedlich sind auch ihre jeweiligen Bildungsbiografien. Bildungserfahrungen in der Heimat Schüler P erklärt, dass ihm Mathe hier in Deutschland besonders schwer fällt, weil er zuvor in seinem Heimatland Pakistan keinen richtigen Matheunterricht hatte. Somit fehlen ihm natürlich wichtige Grundlagen (vgl. Interview P, Z. !15 187-188). Des Weiteren führt er aus, dass er in seinem Herkunftsland eigentlich gar keinen richtigen Schulunterricht hatte. Er hat zwar eine Schule, die der deutschen Hauptschule ähnelt, besucht, dies sei aber nicht mit der Schule in Deutschland zu vergleichen (vgl. Interview P, Z. 191-193). Auch Schüler T, der aus Aserbaidschan stammt, gibt an, dass er in seiner Heimat elf Jahre in die Schule gegangen ist und dort sogar einige Zeit studiert hat. Dies wäre jedoch nicht mit dem Lernen in Deutschland zu vergleichen (vgl. Interview T, Z. 59-62). Aus dem Interview mit ihm kann man jedoch auch schließen, dass sich seine Prioritäten und seine Einstellungen zur Bildung mit der Zeit gewandelt haben. Mittlerweile ist er Ehemann und Vater, in Aserbaidschan hat er neben der Schule und Universität professionell Fußball gespielt. Er selbst formuliert folgende Einschätzung zu seiner Bildungsbiografie in der Heimat: „Ähh, als ich Aserbaidschan, habe ich Fußball gespielt, professionell. Ähh, deswegen ich hab nicht gleichzeitig Fußball und studiert mit guter Note weitermachen. (…) Ich hab ́ ganz äh konzentriert auf Fußball.“ (Interview T, Z. 65-68) Heute merkt man ihm an, welchen immensen Willen er zeigt, zu lernen, sich weiter zu bilden und einen möglichst guten Abschluss zu machen. Die Aussagen der Schüler P und T stehen im direkten Gegensatz zu dem, was uns Schüler R über seine bisherigen Schulerfahrungen berichtet. R gibt an, dass er in Syrien bis zur 10 Klasse in die Schule gegangen ist. Außerdem erinnert er sich, dass der Unterricht in der syrischen Schule sehr viel aufwendiger war. Sie hätten mehr lesen und mehr lernen müssen, als es in der BIJ Klasse der Fall ist. Aber auch Schüler R hat mit dem Matheunterricht auf deutschem Hauptschulniveau seine Probleme. Er sieht für sich zurzeit Deutsch und Mathe als die wichtigsten Fächer an, den Rest empfindet er unwichtiger (vgl. Interview R, Z. 119-129). Die Lehrerin L III betont, dass sie in ihrem Unterricht immer wieder auf ganz viel Vorwissen bei den Schülern stößt (vgl. Interview S III, Z. 158-159). So wie beispielsweise bei Schülerin U, die davon berichtet, dass ihr Sozialkunde sehr leicht fällt, weil sie dies schon „in (der) Wirtschaftsschule gelernt“ (Interview U, Z. 85) hat. Schülerin U. und Schüler V kommen beide aus dem Kosovo und sind dort bereits 13 Jahre in die Schule gegangen. Beide haben die Schule mit einer Fachhochschulreife im Bereich Wirtschaft abgeschlossen, die mittlerweile auch hier in Deutschland anerkannt wurde. Aber selbst für diese beiden Schüler, die Wirtschaft als Hauptfach in ihrer Fachhochschulreife !16 hatten, gehört Mathe in der BIJ Klasse nicht zu den Lieblingsfächern (vgl. Interview U, Z. 89-92). Berufliche Erfahrungen in der Heimat Einer der Schüler hat vor seiner Einreise nach Deutschland bereits berufliche Erfahrungen gesammelt, an denen er hier in Deutschland gerne anknüpfen würde. R berichtet davon, dass er in der Metallverarbeitung tätig war. Dadurch hat er viele Vorkenntnisse, die er nun in seinem Praktikum als Industriemechaniker gut einsetzen kann. Seine praktischen Kenntnisse kombiniert er nun mit neuer Technik und neuem Wissen. „Also ja also wir haben im Metall allgemein. Äh, so zum Beispiel so wie chinesisch Dach. (…) Ja, genau chinesisch Dach und Terasse und äh Lager, große Lager von Metall aber und äh Gebäude äh also Gebäude von unten, wenn irgend so Gebäude ist, weil wir haben in der Stadt Damaskus, wir haben ältere Gebäude ne und die sind über tausend Jahre oder sowas und mit der Zeit die werd bisschen älter. Dann gehen wir da und wir gucken, also wir machen ein andere Stand. (…) Ja sowas, ja, also ich konnte schweißen, schleifen und das machen wir auch in die Industriemechaniker. Aber halt wir haben neue Maschinen und neue Geräte. Das habe ich hier kennengelernt ich mein, das habe ich hier gesehen ja und das gefällt mir, das macht mir Spaß.“ (Interview R, Z. 29-42) Bildungserfahrungen in Deutschland vor dem ersten Schultag in der BIJ Klasse Einige der SchülerInnen konnten vor ihrem ersten Schultag in der BIJ Klasse bereits andere formelle Bildungserfahrungen in Deutschland sammeln. Schüler P erzählte uns, dass er vor seinem Start in der Schule Deutschunterricht von einer „Lehrerin“ bekommen hat. Sie sei jeden Tag in ihre Wohngruppe gekommen, um ihnen beim Deutsch lernen zu helfen (vgl. Interview P, Z. 16-26). Wobei er auch betont, dass es nicht wie ein Schulbesuch war und er vor dem Beginn der BIJ Klasse kaum Deutsch konnte (vgl. Interview P, Z. 163-166). Ähnlich erging es Schüler T, der auch vor dem Beginn der Schule in Deutschland an einem Deutschkurs teilnehmen konnte (vgl. Interview T, Z. 87-93). Dieser sei jedoch nicht von einer Lehrerin, sondern von einer Ehrenamtlichen geleitet worden. „Gibt es viele Leute privat. Sie wollen für uns helfen.“ (Interview T, Z. 90) Doch auch T ist sehr froh, dass er nun in der BIJ Klasse sein kann, denn das Niveau sei einfach etwas anderes (vgl. Interview T, Z. 88-93). Schüler R hingegen hat vor dem BIJ-Start einen Deutschkurs an !17 der Z-Schule absolviert. Schülerin O und Schüler V wurden mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen. Sie gingen vor der BIJ Klasse beide vier Monate in die Y-Schule, die eine normale Regelschule ist. Dort versuchten sie, mit den wenigen Deutschkenntnissen dem Unterricht zu folgen. In ihrem Fall war es dann ein Lehrer, der ihnen von dem Projekt der BIJ Klassen erzählte und alles in die Wege leitete. Beide scheinen über diesen Schritt sehr froh zu sein, denn ihre erste Prämisse war und ist es, Deutsch zu lernen. „Weil wir dort wir konnten nicht gut Deutsch sprechen und wir lernen dort nur Mathe äh und Physik und Chemie und so und ja und ich kann nicht am Anfang, aber jetzt ich bin besser ich kann mehr Deutsch sprechen.“ (Interview O, Z. 22-25) 5.2. Schulalltag – Chance mit vielen Hürden 5.2.1. Zugang: Information, Aufnahmetest und Schulweg Obwohl bayernweit im Schuljahr 2014/15 bereits 180 Schulklassen für insgesamt 3000 SchülerInnen eingerichtet waren (vgl. ISB, S. 69), reichen diese Schulplätze nicht aus, um alle berufsschulpflichtigen Jugendlichen aufzunehmen. So gilt praktisch keine Berufsschulpflicht, sondern ein Berufsschulrecht, das aber nicht einklagbar ist (vgl. Experteninterview, Z. 96-99). Auch an der BS I in Aschaffenburg sind die Plätze begrenzt. Von bis zu 100 InteressentInnen konnten im betrachteten Jahrgang nur 32 SchülerInnen aufgenommen werden (vgl. z.B. Interview L III, Z. 39-44). Der nicht aufgenommene Personenkreis wurde von uns nicht befragt, so dass dazu keine Aussage möglich ist. Allerdings sind die Kapazitäten sukzessive ausgebaut worden. Im Vorbereitungsjahr (BIJ-V) gibt es mittlerweile sechs Parallelklassen, die ab Februar 2016 auf acht erweitert werden sollen (vgl. Experteninterview, Z. 7-13, 93-94). Ob der Wohnort der geflüchteten Jugendlichen in der Stadt oder im Landkreis Aschaffenburg liegt oder wie der asylrechtliche Status der BewerberInnen ist, macht nach Aussage der Sozialarbeiterin S I keinen Unterschied bei den Zugangschancen. Allerdings beklagen zwei der befragten SchülerInnen, dass ihr Schulweg regelmäßig zu Verspätungen führt, weil z.B. der Bus überfüllt ist (vgl. Interview R, Z. 144-154). Schüler P ist sogar umgezogen. Sein früherer Weg zur Schule dauerte 90 Minuten mit Bus und Bahn, weshalb er regelmäßig zu spät kam (vgl. Interview P, Z. 92-115). Information !18 Den Zugang zur Schule empfindet die Mehrheit der befragten SchülerInnen nicht als Hürde. Während unbegleitete, minderjährige, geflüchtete Jugendliche von der Möglichkeit des Schulbesuchs durch die BetreuerInnen in ihren Jugendwohngruppen erfahren (vgl. Interview P, Z.11-16), bekommen vor allem volljährige Geflüchtete, aber auch begleitete minderjährige, jugendliche Geflüchtete, die in dezentralen Unterkünften des Landkreises Aschaffenburg oder in der Gemeinschaftsunterkunft in der Stadt wohnen, diese Information durch die CaritasSozialberatung (vgl. Interview T, Z. 6-8), den Jugendmigrationsdienst (vgl. Interview R, Z. 7-8) oder vorher besuchte Schulen (vgl. Interview O, Z. 3-7). Außerdem informieren die Fachstelle Asyl des Landratsamts oder der Arbeitskreis Asyl (vgl. Protokoll Telefonat S I s. Anhang). Da die Vernetzung der Stellen in Bezug auf die Information über Bildungswege (noch) nicht stattgefunden hat, gibt es trotzdem Jugendliche, die von der Möglichkeit der Integrationsklassen keine Kenntnis haben und somit vom Bildungssystem ausgeschlossen bleiben (vgl. Interview P, Z. 362-365). Auswahltest Um die begrenzten Kapazitäten – nach ökonomischen Verwertungskriterien sinnvoll auszuschöpfen, empfiehlt das Kultusministeriums in der „Handreichung zur Beschulung berufsschulpflichtiger AsylbewerberInnen und Flüchtlinge“, ein Auswahlverfahren durchzuführen (vgl. ISB 2014, S. 72). Die interessierten Jugendlichen können sich an der BS I bewerben und werden zu einem Test eingeladen, in dem Lehrkräfte gemeinsam mit Sozialarbeiterinnen die Deutsch- und Mathematikkenntnisse sowie die Motivation der BewerberInnen abfragen. Der Test besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil und die Ergebnisse entscheiden über Aufnahme der SchülerInnen sowie über die Klasseneinteilung. Eine Vorbereitung auf diesen Test gibt es nicht (vgl. Interview O, Z. 39-42; Interview T, Z. 25-26). Den Aufnahmetest finden vier von sechs befragten SchülerInnen einfach (vgl. Interview U, Z. 16-23; Interview V, Z. 11-24; Interview P, Z. 31-38; Interview O, Z. 26-38). Schüler R musste lediglich ein Aufnahmegespräch führen und keinen Test machen (vgl. Interview R, Z. 47-61). Schüler T scheiterte im ersten Versuch, schaffte es im zweiten Anlauf und kam als Seiteneinsteiger ein halbes Jahr später in die Klasse (vgl. Interview T, Z. 10-23). Die Schule handhabt das Verfahren flexibel, so gibt es auch SchülerInnen wie R, die mit entsprechender Vorbildung, wie einen bereits abgeleisteten Sprachkurs mit bestandener B1-Prüfung, auch ohne Test, nur mit einem Gespräch in die Schule aufgenommen werden. Eine größere Hürde stellt der Zugang vermutlich für die geflüchteten Jugendlichen dar, die aufgrund ihrer mangelhaften sozialen Vernetzung nicht von der Möglichkeit des Schulbesuchs wissen oder die den Test nicht bestanden haben. Ein Nichtbestehen des Tests führt zunächst zur Exklusion vom Bildungssystem. !19 5.2.2. Schulklima Die BS I ist geprägt von einem herzlichen und respektvollen Schulklima. Allen befragten SchülerInnen ist der erste Schultag noch in guter Erinnerung, vor allem mit dem gemeinsamen Frühstück. Die anfängliche Scheu der einzelnen SchülerInnen vor den vielen anderen fremden MitschülerInnen aus verschiedenen Ländern hat sich schnell gelegt und „danach war gut…danach ist alles klar“ (vgl. Interview O, Z.46-52, Interview P, Z.66). LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen stellten sich vor, gaben die Klassenaufteilung bekannt und informierten über organisatorische Details des Schulalltags. Der freundliche Empfang, Klarheit und Transparenz bauten schon am ersten Schultag Ängste und Unsicherheiten ab (vgl. Interview O, Z. 50-52). Der Schulleiter zeigt Präsenz in den Flüchtlingsklassen, spricht den SchülerInnen auch persönlich ein „Ihr seid hier herzlich willkommen!“ aus und bemüht sich um deren Wohlbefinden. Seine regelmäßigen, humorvollen Besuche vermitteln den SchülerInnen Sicherheit und ermöglichen ihnen dadurch ein entspannteres Lernen (vgl. Interview T, Z. 298-301). In für die geflüchteten Menschen politisch brisanten Situationen, wie z.B. nach den Terroranschlägen in Paris am 13.11.2015, geht der Schulleiter persönlich in alle Klassen und versichert ihnen Rückhalt und Schutz (vgl. Interview S III, Z. 381-394). Ganz nach dem Motto: „Der größte Feind des islamistischen Terrorismus ist die Willkommenskultur.“ (Ulrich 2015) Das gute Schulklima schließt auch den Respekt vor den anderen Kulturen und Religionen ein, der von den SchülerInnen der gesamten Berufsschule erwartet wird (vgl. Interview S III, Z. 371-381). Die Schule nimmt Rücksicht auf die besonderen Lebensumstände und Problematiken der SchülerInnen sowie auf die daraus resultierenden Handlungsweisen. Konkret wird z. B. der Einstieg in das Schulleben so gestaltet, dass die SchülerInnen wissen, was sie erwartet und was von ihnen erwartet wird. Das bringt ihnen Halt, Sicherheit und Orientierung. Dazu gehört es, Hausordnung, Klassenregeln sowie Abläufe und Ziele der Berufsintegrationsklassen zu erläutern (vgl. Interview U, Z. 26-32) und eine Zuordnung zu festen Bezugspersonen zu geben. So sind die SozialarbeiterInnen und LehrerInnen jeweils für bestimmte Klassen zuständig und es gelingt ihnen, eine gute Atmosphäre, geprägt von Zusammengehörigkeitsgefühl in den Klassen und Vertrauen, zu schaffen (vgl. Broschüre Flüchtlingskinder, S. 9; Interview S I, Z. 102, Interview S II, Z. 224-226). Hierbei ist es von großer Bedeutung, dass die LehrerInnen und die Sozialarbeiterinnen, den SchülerInnen signalisieren, dass sie ihre Probleme und Nöte ernst nehmen, ansprechbar sind und sich für sie Zeit nehmen. So werden aus !20 „Tür-und-Angel-Gesprächen“ häufig auch ein paar Stunden (vgl. Interview S I, Z. 393-395). Ein gutes Schulklima in Anerkennung der besonderen Situation erfordert auch geeignetes Fachpersonal. Lehrkräfte und SozialarbeiterInnen müssen den Herausforderungen der „besonderen Schülergruppe“ fachlich wie sozialpädagogisch gerecht werden und entsprechende Einsatzbereitschaft, Empathie, Engagement und Fachlichkeit mitbringen (vgl. ISB 2014, S. 31f.). Das alles trifft auf das Personal der Berufsschule I zu: So sind die LehrerInnen alle sehr flexibel, bieten viele Projekte an, sind sehr engagiert und entgegenkommend, so dass sie u. a. auch ihren Unterricht umorganisieren, um freie Räume zu schaffen, mehr Arbeitsstunden investieren und beispielsweise mit ihren SchülerInnen der Berufsschulklassen die Integrationsklassen besuchen und „als Herzenssache“ persönlich willkommen heißen (vgl. Interview, S I, Z. 494-496, Beobachtung BIJ-V, Z. 103-138). Die Fachkraft zur Praktikums- und Ausbildungsplatzsuche ist durch ihre Berufsbiografie am richtigen Platz und durch ihr großes Engagement auch sehr erfolgreich in ihrer Vermittlungstätigkeit (vgl. Interview S III, Z. 36-46; Jahresbericht 2015, S.7). Sie steht mit den Sozialarbeiterinnen den SchülerInnen für alle Anliegen zur Verfügung (vgl. Interview O, Z. 67-71, 130-140, 172-181). Sämtliches Personal nimmt regelmäßig an Fortbildungen teil, um die entsprechende Fachlichkeit zu gewähren.Insbesondere bilden sich die Sozialpädagoginnen zu den Themen Asylrecht, interkulturelle Kompetenz, Trauma, Motivation oder Jugend und Migration fort (vgl. Interview S II, Z. 62-63, Interview S I Z. 75-82). Den Einstieg erleichtern die MitarbeiterInnen den SchülerInnen unter anderem dadurch, dass sie ihre Sprache anpassen und einfacheres, aber korrektes Deutsch sprechen, in einem langsamen Tempo und vor allem deutlich (vgl. Interview, S III, Z. 124-135; Beobachtung BIJ-V, Z. 22-23). Letztlich sind es auch Rahmenbedingungen wie eine äußerliche Gepflegtheit der Schule, die ein Schüler als „Sauberkeit“ bezeichnet, wodurch die SchülerInnen sich wertgeschätzt und willkommen fühlen (vgl. Interview R, Z. 153-154). Die Schule ist somit bemüht, den SchülerInnen, das Bestmögliche innerhalb der Rahmenbedingungen anzubieten. Das gute Schulklima ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass geflüchtete SchülerInnen die Schule als sicheren Ort empfinden. 5.2.3. Unterricht - Schulfächer und Differenzierung Unterricht findet montags bis freitags von 8 bis 13.10 Uhr statt und beinhaltet sechs Schulstunden für die BIJ-V-Klassen (vgl. Beobachtung BIJ-V Anhang). Die BIJKlassen haben zwei Schulstunden mehr, der Unterricht endet um 15 Uhr (vgl. Interview R, Z. 94-95). Unterrichtet werden die Fächer Deutsch, Mathematik und !21 Sozialkunde. Zusätzlich gibt es berufsbezogene Projekte (vgl. Beobachtung BIJ-V Anhang). Grundsätzlich empfinden die befragten SchülerInnen die Schule und auch den Unterricht als sehr positiv. Ein Schüler aus Aserbaidschan bewertet das Unterrichtsniveau im Vergleich zu dem in seiner Heimat als gut (vgl. Interview T, Z. 54-59), ein Schüler aus Syrien hat in seiner Heimat „mehr machen“, „mehr lernen“ müssen (vgl. Interview R, Z. 120-121). Problemfach Mathematik Mathematik ist für alle befragten SchülerInnen die größte fachliche Herausforderung in der Schule. Die Hälfte der befragten SchülerInnen fühlt sich stark gefordert bis überfordert. Die Beobachtung des Mathematikunterrichts der Vorbereitungsklasse (BIJ-V) und ein anschließendes Kurzgespräch mit der Lehrerin bestätigen diese Aussagen (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 25-27, 41-72, 90-93, 172-176). „Weil ich kann ein bisschen Deutsch reden und ich kann auch mehr lernen Deutsch. Aber ich hab ein bisschen schwer mit Mathe. Mein Problem ist Mathe, deswegen ich mag kein Mathe.“ (Interview O, Z. 86-89) „Mathe gefällt mir weniger. (…) Ist zu schwierig für uns. Weil wir vorher nicht gelernt haben in unserer Heimat.“ (Interview P, Z. 184-188) „Ich liebe Deutsch sehr, Deutsch! Mathe ich will nicht sooo, ich mag nicht. (…) Mathe ist man geboren, ehrlich. Wenn man will Mathe, man mag das, aber ich kann das nur für eine Zeit. (…) Wie alle Leute, die haben [Mathe] ein bisschen gern“ (Interview U, Z. 83-92) Während für Schülerin U und Schüler V Mathematik lediglich kein Lieblingsfach ist (Interview U, Z. 83-92, Interview V, Z. 62-67), berichten die SchülerInnen O, P und R von Problemen. Schüler P führt seine Schwierigkeiten auf mangelnde Schulbildung aus dem Heimatland zurück. Schüler R empfindet das Niveau der Klasse als hoch, er versucht durch Lernen den Anschluss zu bekommen (vgl. Interview R, Z. 71-74). Auch Schülerin O empfindet Mathematik als ihr Problem (vgl. Interview O, Z. 86-89). Die Beobachtung des Mathematikunterrichts in der Vorbereitungsklasse gibt Hinweise auf die Herausforderungen: Zu Anfang des ersten Jahres liegen die Sprachkenntnisse im Deutschen noch weit unter B1-Niveau1. Die mathematische Fachsprache muss erlernt werden, bevor die Alltagssprache zur Verständigung ausreicht. Viele SchülerInnen können der Anleitung der Lehrerin nicht folgen. 1 Es handelt sich um Sprachniveaus nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen. A1 = Anfänger, A 2 = Anfänger mit Vorkenntnissen, B1 = Fortgeschrittene Sprachverwendung, B2 = Selbständige Sprachverwendung, C 1 = Fachkundige Sprachkenntnisse, C 2 = annähernd muttersprachliche Sprachkenntnisse !22 Zudem stuft Lehrerin L I die mathematische Vorbildung im Durchschnitt niedrig und individuell äußerst unterschiedlich ein (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 175f.). Der Mathematikunterricht scheint weder auf Bedürfnisse noch auf Vorwissen der Schüler zugeschnitten. Die Unterrichtsmaterialien stammen unter anderem aus Schulbüchern der Grundschule. Es scheint kein spezielles Unterrichtsmaterial für Mathematik in Flüchtlingsklassen zu geben. Der Deutschunterricht hingegen scheint auf die Fähigkeiten der SchülerInnen besser abgestimmt zu sein, es existieren zunehmend Konzeptionen und Unterrichtsmaterialien speziell für geflüchtete SchülerInnen. Die Motivation der SchülerInnen ist hier besonders hoch. Sie sehen direkt den Sinn und Erfolg, denn sie erleben im Alltag die Sprachbarriere als größte Hürde (siehe unten). Im Widerspruch zum Erleben von Mathematik als schwierigem Fach stehen die Berufs- und Ausbildungswünsche der befragten SchülerInnen. Alle streben in Berufsfelder, die mathematisch geprägt sind. U und V möchten weiter Ökonomie studieren, U und O eine Ausbildung als Kauffrau im Einzelhandel machen, P möchte KFZ-Mechaniker und R Industriemechaniker werden. Es stellt sich die Frage, ob die Berufswünsche realistisch sind und ob die Jugendlichen es in der regulären Ausbildung schaffen, sich an die hohen Anforderungen anzupassen. Dafür sprechen ihre hohe Motivation, ihre Beharrlichkeit und der Wille, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen (vgl. Kapitel 5.7. Kompetenzen). Lieblingsfach Deutsch Deutsch ist aber eindeutig das Lieblingsfach. Den SchülerInnen ist die Wichtigkeit von Deutschkenntnissen in Verbindung mit dem Ziel von Schulabschluss und Ausbildungschancen sehr bewusst und so wollen alle Befragten sehr engagiert mehr Deutschkenntnisse erwerben. Im Deutschunterricht können sie „Deutsch reden“, verbessern somit die Aussprache und sie können „mehr lernen“ (vgl. Interview R, Z. 124-125, 135; Interview O, Z. 6, 86-88; Interview P, Z. 204-211). Deutschkenntnisse verhelfen den SchülerInnen zu Selbstwert und Sicherheit: „Ich verstehe andere, andere verstehen mich besser. Wenn wir … zum Arzt gehen … wir können erzählen, wir können … zuhören. Davor wir hatten Angst, ja: Was mache ich? Was sage ich? Aber heute … ich habe nicht Angst.“ (Interview T, Z. 99-103) Deutsch ist vermutlich auch deshalb Lieblingsfach, weil die befragten SchülerInnen sich auch schon auf einem gewissen Niveau befinden: Drei der Befragten schätzen !23 ihre Deutschkompetenzen als sehr gut, zwei als gut ein. Ein Schüler, der sich auch bereits auf B1-Niveau befindet, schätzte seine Deutschkompetenz als gering2 ein. Sozialkunde wird nur von einer SchülerIn explizit als Lieblingsfach nach Deutsch benannt. Hier gefällt vor allem der Bezug zu alltagsrelevanten Themen mit dem Beispiel, Zeitungsartikel aus der regionalen Tageszeitung zu diskutieren (vgl. Interview O, Z. 89-91). Obwohl Deutsch als Lieblingsfach deklariert wird, wird der Deutschunterricht doch am häufigsten kritisiert. Vier der sechs Befragten fühlen sich unterfordert, empfinden die intensiven Hausaufgabenbesprechungen als langweilig, ermüdend und haben Probleme, sich zu konzentrieren. Eine Schülerin würde sich etwas Abwechslung wünschen oder auch Bewegung, um neue Energie für besseres Lernen zu bekommen. Den Lernfortgang empfinden sie als zu langsam, bzw. stagnierend, insbesondere, weil offensichtlich nur die Lerninhalte aus dem ersten Schuljahr wiederholt werden und das B1-Niveau gehalten wird. Einige SchülerInnen haben schon erweiterte Deutschkenntnisse und empfinden den Deutschunterricht als Zeitverlust und demotivierend (vgl. Interview O, Z. 103-111, Z. 193-206; Interview R, 249-269; Interview U, Z. 119-158; Interview V, Z. 77-86). Heterogenität, Differenzierung und „Lernen lernen“3 Die befragte Lehrerin L III sieht sich im Spannungsfeld, dass sie den SchülerInnen das „Lernen lernen“ lehren und gleichzeitig den Unterrichtsstoff unter Zeitdruck von zwei Jahren vermitteln muss. Leistungsheterogenität empfindet sie als normal und versucht die SchülerInnen dazu zu bringen, sich gegenseitig zu unterstützen, indem sie den Stoff nicht fortführt, „wenn die Langsamen nichts verstehen“. Diverse Bildungserfahrungen in den Heimatländern führen laut Sozialarbeiterinnen S I zu Unter- und Überforderung (vgl. Interview L III, Z. 113-146, Interview S I, Z. 191-300). Als Zeitverschwendung empfinden drei der befragten SchülerInnen die vielen Wiederholungsübungen. Sie bemängeln fehlenden Fortschritt im Deutschlernen, finden lange Hausaufgabenkontrollen langweilig und fühlen sich „wie im Kindergarten“, wenn Übungen wiederholt oder zu intensiv geübt werden. Sie wollen „etwas mehr erreichen…“ (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 102-106; Interview U, Z. 119-130; Interview V, Z. 75-86; Interview O, Z. 103-112). Unterforderte SchülerInnen 2 Diese Einschätzung widerspricht dem Eindruck der Interviewerinnen, ebenso wie die Tatsache, dass er B1-Niveau erreicht hat. Die schlechte Einschätzung seiner Leistungen passt aber zu seiner späteren Aussage, „mein Gefühl ist immer schlecht, (…) aber dann er war sehr gut.“ (vgl. Interview P, Z. 48-51) 3 Beim „Lernen lernen“ geht es um das Erlernen von Lernstrategien zur Organisation des Lernens, Wissensaufnahme, -verarbeitung und –anwendung sowie Motivation, Entspannung und Kontrolle. (vgl. wikipedia) !24 haben bereits das BIJ verlassen und sind ans Gymnasium gewechselt bzw. haben nach Anerkennung ihrer Schulabschlüsse ein Studium angefangen (vgl. Interview U, Z. 142-158). Über den Erfolg der Studierenden ist nichts bekannt. Von den drei Gymnasiasten haben zwei das Gymnasium nach einem Schuljahr wegen mangelhafter Leistungen und fehlender Unterstützung abbrechen müssen.4 Die Erweiterung des Modellprojekts auf sechs (geplante acht) Klassen im Vorbereitungsjahrgang ermöglicht zwar eine weitere Differenzierung nach Leistung, aber für einige bleiben der mittlere Bildungsabschluss und die Ausbildungsreife nach Einschätzung der Sozialarbeiterinnen und Lehrerin L III kaum erreichbar. Sie plädieren für ein drittes Schuljahr oder sprechen sich für eine intensivere, gezieltere und differenziertere Förderung der SchülerInnen je nach Bildungsniveau aus (vgl. Interview L III, Z. 235-243; Interview S I, Z. 479-492). Sorge bereiten Sozialarbeiterin S II die SchülerInnen, die ihr Ziel nach der Schulzeit voraussichtlich nicht erreicht haben werden. „Ich weiß, dass einige Schüler es nicht packen werden, (…) in zwei Jahren den Hauptschulabschluss. (…) Das ist schwierig, wohin mit denen? (…) Dann sind sie da und haben nichts.“ (Interview S II, Z .319-324) Ihre Frage „Wohin mit denen?“ bleibt unbeantwortet im Raum stehen. Der erste Jahrgang der BIJ konnte zwar im September 2015 erfolgreich verabschiedet werden - alle wurden in eine Ausbildungsstelle oder weiterführende Schule vermittelt - aber mit der Erweiterung auf acht Klassen pro Jahrgang ist absehbar, dass die Zahl derer, die Scheitern könnten, ebenfalls steigen wird. Zumal die Ressourcen (neu eingestellte Lehrerkräfte und SozialarbeiterInnen) bisher nicht im gleichen Maße aufgestockt wurden. Auch die regionalen Aufnahmekapazitäten des Arbeits- und Ausbildungsmarktes für geflüchtete Jugendliche, die für die Ausbildungsbetriebe immer auch Mehrarbeit bedeuten, sind begrenzt (vgl. Interview S III, Z. 456-459). Junge Flüchtlinge drohen zu Marktbenachteiligten zu werden, „die unter gegebenen Konkurrenzbedingungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht oder nur schwer vermittelbar sind“ (Schroeder 2003b, S.89f.). 4 Anm. d. Verf.: Zwei der Schüler, die das Gymnasium wieder verlassen mussten, haben wir während eines Projektes im Rahmen des M 100 Moduls im Mai 2015 kennen gelernt und von ihren Schwierigkeiten erfahren. !25 5.2.4. Pausen In den Pausen werden Gespräche über die Klasse, den Lernstoff oder auch persönliche Anliegen geführt (vgl. Interview V, Z. 69-74; Interview U, Z. 95-97; Interview R, Z. 195-196). Das Pausengeschehen gibt Hinweise auf das Sozialverhalten unter den Klassenkameraden und anderen MitschülerInnen der Berufsschule (vgl. Kapitel 5.4.1.2. Klassengemeinschaft). Die zwei zwanzigminütigen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden werden grundsätzlich als positiv empfunden. Sie werden genutzt, um sich mit KlassenkameradInnen, die auch als FreundInnen betrachtet werden, über die Unterrichtsinhalte auszutauschen oder um zu lernen, aber auch, um sich über ganz alltägliche Themen zu unterhalten oder im nahegelegenen Supermarkt einzukaufen. Und zumindest die SchülerInnen, die kein Gegenüber für ihre Muttersprache haben, reden auch in den Pausen Deutsch. Das Miteinander ist ob der vielen verschiedenen Nationalitäten gut. Alle verstehen sich in dieser Klasse gut. Kontakte zu MitschülerInnen der übrigen Berufsschulklassen wurden nicht erwähnt (vgl. Interviews R, Z.188-198; Interview P, Z. 212-225; Interview O, Z. 96-100; Interview U, Z. 95-106; Interview V, Z. 116-117; Interview T, Z. 46-47). Drei der befragten SchülerInnen sprachen auch davon, dass sie in den Pausen essen. Während zwei der Befragten sagten: „wir essen“, sagte der alleinlebende Schüler „ich ess was, dann trink ich was auch,…und dann die Zeit ist schnell vorbei, dann direkt zurück nach Klasse….“ Hier könnte man vermuten, dass dieser Schüler sehr vom „Nichts-Zutun-Haben“ geprägt ist, bis in die Schulpause hinein, und diesem „Nichts-Zutun-Haben“ alltägliche Grundbedürfnisse wie essen und trinken entgegenhalten will (siehe Kapitel 5.5.2 Halt durch Tagesstruktur). 5.2.5. Hausaufgaben Hausaufgaben sind wesentlicher Bestandteil und immer noch Standard eines regulären Schulalltags, wenn auch Sinn und Zweck von Hausaufgaben schon lange diskutiert werden. Auch bei den befragten SchülerInnen lassen sich Anhaltspunkte erkennen, den Punkt Hausaufgaben zu überdenken. Während den SchülerInnen im BIJ-V Nachhilfemöglichkeiten über freiwillig Engagierte in der Schule zur Verfügung stehen, die bei den Hausaufgaben auch unterstützen können, sind die SchülerInnen der BIJ auf sich allein gestellt, haben unterschiedliche Rahmenbedingungen am Nachmittag und kommen unterschiedlich mit den Hausaufgaben zurecht. Diejenigen, die alleine wohnen, haben außer der whats-app-Gruppe der Klasse, selten jemanden, den sie um Hilfe bitten können und würden sich beispielsweise wünschen, am Nachmittag gemeinsam mit KlassenkameradInnen die Hausaufgaben zu erledigen. (vgl. Interview P, Z. 122-160) Manche nutzen das !26 Internet, bzw. youtube, um sich in ihrer Muttersprache Verständnisfragen zu beantworten (vgl. Interview T, Z. 35-39). Im Unterricht selbst, ist die Zeit, die für die Hausaufgabenkontrolle, bzw. – besprechung verwendet wird, für diejenigen, die keine Probleme damit hatten, zu lang (im beobachteten Deutschunterricht lag der Zeitaufwand bei etwa einer Schulstunde). Ihnen ist langweilig und sie schweifen ab (vgl. Interview O, Z. 109-111). Hier wäre der Wunsch eines Schülers, lieber weniger Hausaufgaben aufzugeben, weil manche SchülerInnen sie, seinem Eindruck zufolge, nicht zum Lernfortschritt nutzen können, stattdessen inhaltlich gleich mehr in der Schule zu erledigen, um das Niveau der SchülerInnen möglichst homogen zu halten (vgl. Interview R, Z. 252-262). 5.2.6. Praktikum Zum Schulalltag gehören im BIJ vor allem auch die Praktika in Betrieben. Sie sollen den SchülerInnen Orientierung für die Berufswahl geben und die Chancen auf einen Ausbildungsplatz erhöhen. Hierbei müssen allerdings asylrechtliche Bedingungen beachtet werden. Für anerkannte AsylbewerberInnen und Flüchtlinge gilt, dass sie keine Einschränkungen für eine Beschäftigung haben. Für AsylbewerberInnen im Verfahren oder für Geduldete gilt aber, dass sie, in diesem Fall für Praktika oder Berufsausbildung, eine Genehmigung durch die Ausländerbehörde benötigen. Dies ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (vgl. BAMF: FAQ Arbeitsmarktzugang 2015). Um die SchülerInnen bei der Ausländerbehörde und bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen zu unterstützen, wurde eine Mitarbeiterin als „Fachkraft für Praktikums- und Ausbildungssuche der BIJ-Klassen“ eingestellt, die in ihrer Arbeit sehr engagiert und sehr erfolgreich ist, unter anderem auch, weil sie den potentiellen Ausbildungsbetrieben ehrlich gegenüber ist und mögliche Problematiken, die sich mit Einstellung eines ausländischen Jugendlichen ergeben könnten, nicht verschweigt, wie u. a., dass ein Ausbildungsverhältnis nicht vor einer Ausweisung schützt, das Ausbildungsverhältnis also somit auch eventuell vorzeitig beendet ist (vgl. Jahresbericht, S.106, Interview S III, Z. 449-463; FrietersReermann 2013, S. 92). Die SchülerInnen nutzen das Angebot der Praktika zur Berufsorientierung. Die befragten SchülerInnen hatten bereits Praktika als Industriemechaniker, Einzelhandelskauffrau, Apothekenhelferin, Elektriker, KFZ-Mechaniker, als Lagerist und Konditor absolviert und konnten dort feststellen, ob ihnen die jeweilige Tätigkeit liegt oder nicht (vgl. Interview R, Z. 38-42; Interview O, Z. 215-226; Interview P, Z. 170-182; Interview T, Z. 214-215, 226-232). Ein weiterer Aspekt der Praktika, der von den SchülerInnen als sehr positiv bewertet wird, ist, dass sie dort die !27 Möglichkeit haben, Sozialkontakte zu knüpfen und vor allem auch, Deutsch zu sprechen (vgl. Interview O, Z. 220-222; Interview P, Z. 308-313; Interview T, Z. 140-143). 5.2.7. Klassenfahrt Als ein besonderes Erlebnis während des Schulalltags gaben nahezu alle Befragten die sechstägige Klassenfahrt nach Berlin im Juni vergangenen Jahres an. Die beiden BIJ-Klassen konnten sich dort kennenlernen, Vorurteile abbauen, Freundschaften und Gemeinschaft aufbauen. Aus Sicht einer Sozialpädagogin hat diese Klassenfahrt die beiden Klassen „zusammengeschweißt“ und die Vertrauensbildung durch gemeinsame Erlebnisse, Spaß und viele persönliche Gespräche befördert (vgl. Interview O, Z. 122-123; Interview P, Z. 270-294; Interview S I, Z. 337-355). Bleibenden Eindruck bei einer Lehrerin hinterließ das Gespräch mit einem Schüler über seine Fluchtgeschichte. (vgl. Interview L III, Z. 99-109) Die während der Klassenfahrt miteinander verbrachte Zeit schaffte vor allem aus Sicht der SchülerInnen ein herzliches, vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis zu den Lehrkräften, auch denen der Parallelklasse, Sozialpädagoginnen und KlassenkameradInnen (vgl. Interview U, Z. 175-182; Interview P, Z. 277-294). „(…) In Berlin waren wir wie Freunde mit allen. (…) War alles toll. (…) Es war wirklich alles gut. Mit alle. Wir waren mit alle wie mit Freund. Besonders mit Susi. Ich hab schon gesagt ((lachen)), ich kann nicht „Sie“ sagen, weil Sie sind wie unsere Freundin jetzt. (…)“ (Interview V, Z. 90-97). 5.2.8. Freizeit und Ferien Zum Schulalltag gehört auch die Freizeit nach der Schule, die auch Teil der Tagesstruktur ist. Die Schule ist bemüht, diverse außerschulische Freizeitangebote zu stellen, an denen alle teilnehmen können, auch, um Vorurteile abzubauen und Gemeinschaft zu fördern. Die SozialarbeiterInnen organisieren dazu die Teilnahme am Brüderschaftsfest der Völker und der Nacht der Museen, was jährlich in Aschaffenburg stattfindet, an Schulkinowochen oder an einem Radioprojekt. Sie planen für die SchülerInnen eine Weihnachtsfeier, einen Ausflug in das Aschaffenburger Jugendkulturzentrum oder ein Ping-Pong-Turnier, vermitteln in das Fußballprojekt, das von Lehrern der Fachoberschule gemanagt wird und helfen den SchülerInnen, in ortsansässigen Vereinen Anschluss zu finden (vgl. Interview S I, Z. 347-370, Interview S II, Z. 245-246, 262-263). Ein Schüler erwähnte die Kooperation mit einer weiteren Schule zu einer außerschulischen Freizeitaktivität: „Manchmal kommt die Leute …vom Gymnasium“, mit denen ging es dann zum Bowling, einmal wurde gegrillt (vgl. Interview P, Z. 379-391). !28 Die SchülerInnen gehen in ihrer Freizeit aber auch diversen Hobbys nach. Hier werden Aktivitäten genannt, die sie in Gemeinschaft tun: Fitnesstraining, Billiard spielen, Kino, Bowling, in Frankfurt einkaufen oder auch nur spazieren und etwas essen, einen Film, oder auch Dokumentarfilm anschauen, kochen oder Fußball im örtlichen Verein spielen (vgl. Interview U, Z. 112-114; Interview T, Z. 278; P, Z. 314-335; Interview V, Z. 154). Als Aktivitäten, die die SchülerInnen allein tun, gaben sie an, gern für die Schule zu lernen, insbesondere Deutsch oder zu lesen, gern auch in der Muttersprache. Ein Schüler gab an, sich selbst mit Hilfe von Youtube, das Gitarre-spielen beizubringen. Außerdem geht er gerne schwimmen und reitet hin und wieder. Das Reiten ist ein Hobby, das ihn mit seiner Heimat verbindet und auch mit einem noch bestehenden, guten Sozialkontakt zu einer deutschen Frau aus dem Ort seiner ersten Unterkunft im Aschaffenburger Raum (vgl. Interview O, Z. 153-158; Interview R, Z. 212-228). Ein Schüler gab an, in seiner Heimat Kricket gespielt zu haben und bedauert, dass er hier diese Möglichkeit nicht hat, zeigt sich aber flexibel und hat neue Hobbys für sich entdeckt (vgl. Interview P, Z. 317-319). Eine Schülerin berichtet, dass eine ehemalige Caritasmitarbeiterin sich sehr um die Integration ihrer Schützlinge bemüht: „…sie hat ein Projekt, und sie hat uns immer mitgenommen….wir treffen uns vielleicht zwei Mal pro Woche, ja wir gehen zu sie. Sie lebt allein, und sie hat uns gesagt: Ihr könnt zu mir jeden Tag kommen.“ (Interview U, Z. 219-230) Ebenso hat sich ein ehemaliger Wirt sehr für Freizeitaktivitäten seiner HeimbewohnerInnen engagiert: „Zum Beispiel es gibt eine Party oder was, er hat uns auch Geld gegeben, macht er das. Wir waren immer ins Kino, vielleicht jede Woche, er hat uns (…) nicht nur für mich! Vielleicht wir waren 15 Leute, er hat das alles bezahlt. Wir waren im Schwimmbad …“ (Interview O, Z. 238-242) Nicht nur der Schulalltag, sondern auch die Gestaltung der Ferien birgt für geflüchtete SchülerInnen Probleme. Wie alle anderen freuen auch sie sich über „Ausschlafen und Abhängen“. Anders als die nicht-geflüchteten SchülerInnen haben sie wegen Residenzpflicht oder finanzieller Einschränkungen weniger Möglichkeiten zu vereisen oder ihre Familien oder Freunde zu besuchen. Auch die, meist kleinen, Unterkünfte bieten wenig Erholungsraum (vgl. Interview V, Z. 142-155; Interview U, Z.260-265). „Den ganzen Tag zu Hause. Es waren sehr lange Ferien und ich hab gar nichts gemacht. Wir haben niemanden in Deutschland. Außer Deutschland wir können nichts gehen. (…) Waren wie drei Monate, so lang.“ (Interview V, Z. 146-152) !29 Schüler R hat die Herbstferien für Jobsuche und Nebenjob genutzt. „In den Herbstferien ich hab gearbeitet. (…) Im Nebenjob, ja. (…) In der Küche.“ (Interview R, Z. 231-242) Seine Lösungsstrategie gegen sinnleere Langeweile scheint eine strenge Tagesstrukturierung zu sein. Er versucht sehr zielgerichtet, sich eine Zukunft in Deutschland zu erarbeiten. 5.3. Spracherleben Die mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache wird von den Geflüchteten als große Belastung, Verunsicherung und Hindernis erlebt: im Alltagsleben, z. B. beim Arztbesuch oder im Kontakt mit Behörden, bei der Umsetzung von Berufswünschen oder auch bei der Freizeitgestaltung (vgl. Interview T, Z. 25-29, 97-104, 150-152). Deutschkenntnisse ermöglichen den SchülerInnen, mit Deutschen auf Augenhöhe in Kontakt zu treten (vgl. Interview T, Z. 101-104, 267-278). Daher ist das Erlernen der deutschen Sprache eine große Integrationsaufgabe für alle SchülerInnen. Spracherwerb und Sozialkontakte bedingen sich wechselseitig. Sprache wird unbewusst und implizit durch soziale Interaktion im Alltag erworben - im Gegensatz zum bewussten gezielten Sprachenlernen in der Schule (vgl. wikipedia 2016, Spracherwerb). „Ich möchte jeden Tag etwas lernen, besser was wir lernen und sprechen, aber ähm gibt es solche, ich kann über Internet etwas lernen, aber wenn ich nicht spreche, ich spreche falsch.“ (Interview T, Z. 93-96) Die Verständigung in der Klasse geschieht auf Deutsch, da die meisten SchülerInnen aus unterschiedlichen Ländern kommen (vgl. Interview P, Z. 213-219). Dies ist für den Spracherwerb der Jugendlichen sehr hilfreich. Sie können die deutschen Ausdrücke und Wörter in einen für sie alltagsrelevanten Zusammenhang setzen und dadurch besser lernen. Auch im sprachsensiblen Unterricht mit Asylbewerbern und Flüchtlingen sollen Handlungsorientierung und Alltagsrelevanz berücksichtigt werden (ISB 2015, S. 1f.). Im Pausengespräch mit MitschülerInnen geschieht dies natürlicherweise „nebenbei“. Umgekehrt aber ist wie oben beschrieben die Sprache für Bildung, Vertiefung und Pflege von Sozialkontakten unerlässlich. Kommunikation, vor allem die Sprache, ist die Voraussetzung für eine aktive, angemessene Teilhabe an sozialen Prozessen. Fehlende Sprachkompetenz kann zu sozialer Isolation mit einem erheblichen psychischen Krankheitswert führen. Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist !30 allerdings verschieden, ihr Mangel wird nicht immer gleich stark empfunden. Für Schülerin U sind zwischenmenschliche Gespräche ein Weg, sich als Subjekt fühlen zu können: „(…) mein Hobbys ist (...) mit die Leute Kontakt zu haben, ja, gefällt mir. Ich will nicht zum Beispiel wie ein Maschine bleiben. Ich will mit Leute reden.“ (Interview U, Z. 77-79) Neben endogenen Faktoren (Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen) führen auch exogene Faktoren zu sozialer Isolation. Hierzu zählen Flucht und Migration, da sich die Betroffenen aufgrund der bestehenden Sprachbarriere oft in die Einsamkeit zurückziehen, obwohl sie gerne soziale Kontakte hätten (vgl. wikipedia 2016, soziale Isolation). Deutschkenntnisse führen die Geflüchteten aus der Isolation und verbessern ihr seelisches Wohlbefinden, was diese auch bestätigen: „Ähhh, wir fühlen nicht, ähh, wir fühlen uns gut als früher.“ (Interview T, Z. 103-104) Auf der Klassenfahrt haben dieSchülerInnen besonders die Möglichkeit für viele persönliche Gespräche geschätzt und so neue und tiefere Beziehungen innerhalb der Klasse und darüber hinaus entwickeln können. Bemerkenswert ist auch, dass eine Klasse offenbar eine „eigene Sprache“ miteinander entwickelt hat. Ein Schüler erlebt dies als besonderes Zeichen der Vertrautheit und des Zusammenhalts, in Abgrenzung zu den anderen Klassen: „Jetzt, wir verstehen. Klassenkollegen wir haben bisschen unsere Sprache, ja, ((Lachen)), deswegen wir alle, wir verstehen. Ich verstehe andere, andere verstehen mich besser.“ (Interview T, Z. 98-100) Außerhalb der Schule spielen Personen mit Migrationshintergrund, Migrantenorganisationen oder Vereine eine wichtige Rolle bei der Integration der Neuzuwanderer. Sie sind durch ihre Sprachkenntnisse oft die ersten, die Kontakte knüpfen können und zu denen die jungen Geflüchteten Vertrauen aufbauen. Verbindend wirken neben der gemeinsamen Sprache unter Umständen die Religion, vertraute Traditionen und Essgewohnheiten oder ein gemeinsames Hobby. Schüler T berichtet vom Fußballspiel im türkischen Verein. Mittlerweile hat er genug Vertrauen in seine Sprachkompetenz, dass er im nächsten Schritt plant, einem deutschen Fußballverein beizutreten (vgl. Interview T, Z. 265f., 279-282). !31 5.4. Sozialkontakte als Stützsystem In diesem Kapitel wird dargelegt, wie die geflüchteten Jugendlichen ihre sozialen Beziehungen im BIJ erleben und welche Bedeutung diese für ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihr Wohlbefinden haben. 5.4.1. Beziehung zu Gleichaltrigen 5.4.1.1. Kontaktaufnahme Die Kontaktaufnahme in der neuen Klasse wurde durch ein gemeinsames Frühstück und Kennenlernspiele erleichtert (vgl. Interview P, Z. 65-74). Berührungsängste wurden abgebaut. Einige SchülerInnen schildern, wie sie ihre Scham und Unsicherheit angesichts der vielen fremden Menschen aus unterschiedlichen Ländern überwinden konnten und am Ende des ersten Schultags viel entspannter und fröhlicher waren (vgl. Interview R, Z. 63-65; Interview O, Z. 46-50, 55-57). Bei Verunsicherung suchen Menschen nach Sicherheit und wenden sich Vertrautem zu. Sie suchen Sicherheit in der Segregation z.B. nach Geschlecht, Hautfarbe oder Religion. Zu sehen ist diese Phase am besten in der Sitzordnung der BIJ-V Klasse. Männer und Frauen sitzen getrennt, SchülerInnen sitzen nach Ländern oder Hautfarbe zusammen. Das Kennenlernen in dieser Klasse weist besondere Schwierigkeiten auf: die Namen sind beispielsweise fremd und darum schwer zu lernen (vgl. Interview P, Z. 78-84). Die interkulturelle Kommunikation, d.h. Handeln und Verstehen, unterliegt oft dem Ethnozentrismus der Gesprächspartner. Beide deuten die verbalen und nonverbalen Mitteilungen auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kultur. Das führt leicht zu Missverständnissen und erschwert die Verständigung (vgl. wikipedia 2016, Probleme der interkulturellen Kommunikation). Da im BIJ vielfältige Kulturen aufeinander treffen, benötigt das Vertrautwerden miteinander mehr Zeit und ist anstrengender als in Schülergruppen derselben Kultur. Die geflüchteten Jugendlichen sind zutiefst sozial verunsichert aufgrund ihrer verschiedenen kulturellen Prägungen. Das betrifft das gesamte Alltagsverhalten, so auch die Regeln in der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen oder das Verhalten in der Schule. Häufig entsteht Angst davor, etwas falsch zu machen, Scham über „Fehlverhalten“ und Scheu, überhaupt in Kontakt zu treten (vgl. Shah 2015, S. 11f.). Gemeinsames Essen und Spielen am ersten Schultag vermittelten hier etwas Sicherheit im neuen Umfeld. Auch wenn neue SchülerInnen in die bestehende Klasse aufgenommen werden, scheint das nach unserer Beobachtung nicht ganz einfach zu sein: Schüler W setzt sich sehr widerwillig neben den neuen Schüler X und nimmt keinerlei Kontakt auf, !32 weder verbal noch durch einladende Gesten (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 26-30, 32-34, 46f, 69-71, 95f.). Es bleibt offen, ob dies auf persönlicher Abneigung oder auf anderen Vorbehalten beruht. Möglicherweise ist W auch verärgert über häufige Wiederholungen des Schulstoffs wegen der Neuzugänge. Sehr eindrucksvoll war der Besuch der Nachbarklasse von FleischereifachverkäuferInnen der BS III im Mathematik-Unterricht: die Klasse reagierte sehr interessiert, fröhlich und lebhaft auf diese Kontaktaufnahme mit deutschen SchülerInnen, die von Lehrerin L II als „Brückenperson“ angeleitet wurde. Höhepunkt war die Verabschiedung von jedem/-r SchülerIn mit Blickkontakt und Handschlag (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 136-138, 162-166). 5.4.1.2. Klassengemeinschaft Alle befragten SchülerInnen geben an, sich in der Klasse wohl zu fühlen. Die SchülerInnen beschreiben nach 1 ½ gemeinsamen Jahren im BIJ ein sehr gutes Umgehen miteinander (vgl. Interview T, Z. 42-47). Sie können dort fröhlich und entspannt sein, alle Mitschüler sind integriert (vgl. Interview O, Z. 144-145). Die SchülerInnen haben ein starkes Zugehörigkeits- und Wir-Gefühl entwickelt. Teilweise empfinden sie ihre Klasse als die „bessere“ im Vergleich mit anderen Klassen, d.h. sie sind stolz auf ihre Klasse (vgl. Interview T, Z: 45-46). Die SchülerInnen verbringen einen großen Teil des Tages gemeinsam, bis ca. 15 Uhr, und sind daher wichtige Sozialpartner füreinander (vgl. Interview O, Z. 165-167). Sie tauschen ihre Gedanken und Meinungen aus, oft noch nach der Schule per Whatsapp. Sie geben einander seelische und praktische Unterstützung, z.B. Aufmunterungen oder Hausaufgabenhilfe (vgl. Interview T, Z. 117-120; Interview P, Z. 155-159). So fördert die Klassengemeinschaft die Selbsthilfe der Jugendlichen. Im Gegensatz dazu berichten die Pädagoginnen auch von Konflikten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in der Klasse, z.B. dass einige SchülerInnen eher Einzelgänger sind (vgl. Interview S II, Z. 232-239; Interview L III, Z. 86-90) oder dass dunkelhäutigere MitschülerInnen diskriminiert werden (vgl. Interview S I, Z. 320-323). So habe eine frühere Lehrerin die gewachsene Klasseneinheit zerstört, indem sie die Grüppchenbildung in Christen, Muslime u.a. förderte und eine gemeinsame Weihnachtsfeier ablehnte, berichtet Sozialarbeiterin S II. Damit hat sie die gegenseitige Wahrnehmung von Differenz als trennendes Element gestützt und die Abgrenzung und Identitätsbildung nach religiösen Untergruppen gestärkt (vgl. Interview S II, Z. 220-230, 247-260; Rehberg 2001, S.64). Zur gemeinsamen Weihnachtsfeier konnten alle ihr traditionelles Essen mitbringen. Auch hier wurden zwar Unterschiede in Form von verschiedenen Speisen sichtbar gemacht, aber gleichzeitig die Gruppe durch gemeinsames Einverleiben vereint. Gemeinsames !33 Essen kann „Gefühle der Zusammengehörigkeit und des Verstehens erzeugen“ und dadurch sehr diverse Personen verbinden (vgl. Barlösius 2011, S. 201ff.). Bemerkenswert ist, dass Rassismus an dieser Stelle nicht nur als ein Problem der einheimischen Gesellschaft, sondern auch als eines der neu Zugewanderten selbst erscheint. Flüchtlinge können also nicht nur Opfer von Exklusion, sondern auch Täter sein. Rassismus ist eine globale Erscheinung (vgl. Melter 2006, S. 18, Frieters-Reermann 2013, S. 46f.). Jugendliche, d.h. Personen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, müssen nach Hurrelmann in westlichen Gesellschaften bestimmte Entwicklungsschritte bewältigen, die einerseits der Selbstfindung und Abgrenzung und andererseits der gesellschaftlichen Integration dienen. Dazu gehören die intellektuelle und soziale Kompetenz, um einen Beruf zu erlernen (Existenzsicherung), die Entwicklung der eigenen Geschlechterrolle (Grundlage einer Partnerbeziehung), eines eigenen Wertesystems (Grundlage für Authentizität und Mündigkeit als Staatsbürger) sowie eines eigenen Lebensstils (Handlungsmuster für ein bedürfnisgerechtes Leben, inklusive einer angemessenen sozialen Gruppe). Da diese Entwicklungsaufgaben nur in der alltäglichen Interaktion mit dem sozialen Umfeld bewältigt werden können, leisten Gruppen Gleichaltriger, die sog. Peergroups5, hierbei einen wichtigen Beitrag (vgl. Stangl 2016, Entwicklungsaufgaben im Jugendalter). Die Gruppe kann prosoziales Verhalten einüben, z.B. freundschaftliche Unterstützung, aber auch unsoziales Verhalten etablieren, z.B. die Ausgrenzung nicht-konformer, „fremder“ Mitglieder (vgl. Stangl 2016, Peergroup). Beide Verhaltensweisen sind in der Klasse zu beobachten: Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Die geflüchteten Jugendlichen stehen vor der Herausforderung, ihre Identität und gesellschaftliche Position im Kontext der aufnehmenden (westlichen) Gesellschaft neu zu entwickeln. Ihre Identitätsbildung ist eng verbunden mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft (kollektive Identität) bei gleichzeitiger Abgrenzung von „den anderen“. Sozialisiert wurden die geflüchteten Jugendlichen in ihren Heimatländern. Ihre Einstellungen sind geprägt von den dortigen Vorstellungen und Traditionen, die sich von denen, die sie im Aufnahmeland vorfinden, stark unterscheiden können. Insbesondere in interkulturellen Begegnungsräumen wie den Flüchtlingsklassen kommt es zur vielfachen Konfrontation mit Fremdheit. Sie kann die beteiligten Akteure zutiefst verunsichern, 5 Mit Peergroups werden Gruppen Jugendlicher ähnlichen Alters bezeichnet, die aufgrund gleicher Interessen für einen bestimmten Zeitraum miteinander verbunden sind. Hilfreiche Peergroups bieten einen geschützten Raum für das Erproben und den Aufbau von Sozialverhalten, problematische Peergroups dominieren und kontrollieren ihre Mitglieder und verleiten sie zu riskanten, gewalttätigen oder gar kriminellen Verhaltensweisen (vgl. BAMF 2016, Lernangebot Freundschaft). !34 alltägliche Deutungsmuster bis hin zur eigenen Identität werden in Frage gestellt (Kulturschock). Differenzerfahrungen können als bereichernd oder als bedrohlich erfahren werden und spiegeln gesellschaftliche Diskurse wieder, die Macht ausüben und Individuen in ihrem Fühlen, ihrem Selbstverständnis und Vorstellungen beeinflussen. (vgl. Nick 2005, S. 245f.) Das Konstruieren von Differenzen und Fremdheit kann der Selbstvergewisserung dienen. Ein Bewältigungsversuch von Fremdheit kann Indifferenz oder Typisierung der unvertrauten Anderen sein. Indifferentes Verhalten zeigt zum Beispiel Schüler W im Umgang mit dem neuen Schüler X - er scheint ihn schlicht zu ignorieren (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 26-30, 32-34, 46f., 69-71, 95f.). Darüber hinaus haben Formen von rassistischer Ausgrenzung individuell die Funktion, die eigene Person aufzuwerten, ein bekanntes Muster in Phasen der verunsicherten Identität (vgl. Mecheril/ Melter 2010, S. 155). Auf der anderen Seite suchen die SchülerInnen in der BIJ-Klasse ihre Zugehörigkeit. Sie sind eine Interessengemeinschaft: alle wollen Deutsch lernen und sich auf eine Berufstätigkeit in Deutschland vorbereiten. Gemeinsam ist (fast) allen auch der Verlust ihres vertrauten sozialen Umfelds. In der Klasse wird (neues) Sozialverhalten erprobt, ausgehandelt und gelernt. Verbunden mit der kulturell bedingten Verunsicherung suchen die SchülerInnen nach Sicherheit, Orientierung und Anerkennung in einem neuen sozialen Netz, um die hier gesellschaftlich erwarteten Entwicklungsaufgaben (Berufsorientierung, Geschlechterrolle, Wertesystem, Lebensstil) erfolgreich zu bewältigen. Die geflüchteten Jugendlichen sind trotz großer ethnischer Unterschiede mehr als ihre deutschen AltersgenossInnen auf ihre Klasse als Peergroup angewiesen, die ihnen Sicherheit und Orientierung gibt. Darum wird sie von ihnen sehr geschätzt und vielleicht auch etwas idealisiert. 5.4.1.3. Freundschaften Viele SchülerInnen aus der Klasse gestalten auch ihre Freizeit gemeinsam: sie unternehmen Ausflüge nach Frankfurt, spielen Billard usw. (vgl. Interview P, Z. 322-333). Das bekommt besondere Bedeutung für die Geflüchteten, da sie sonst wenig oder keine Kontakte zu Gleichaltrigen haben (vgl. Interview V, Z. 147-148, 162-171; Interview P, Z. 301). Die SchülerInnen genießen den gemeinsamen Zeitvertreib. Derzeit sind sie allerdings oft zu müde von der Schule, um in ihrer Freizeit noch etwas zu unternehmen (vgl. Interview U, Z. 112-116; Interview O, Z. 165-167). Es gibt einzelne Schüler, die die Klasse schätzen, aber keine Freizeit mit den Schulkameraden verbringen (vgl. Interview R, Z. 207-209). !35 Die Beziehungsqualität unter den SchülerInnen ist unterschiedlich. Auch wenn die meisten betonen, zu allen aus der Klasse eine gleich gute Beziehung zu haben und ihre KlassenkameradInnen als „Freunde“ bezeichnen (vgl. Interview P, Z. 223-226), berichten einige von näherstehenden Einzelkontakten. Vertrautheit ist möglich trotz verschiedener kultureller Herkunft. So ist die Klasse ist für einige Schülerinnen ein wichtiger Ort, um ihre Freundschaften zu pflegen und über sehr Persönliches auszutauschen, z.B. „Frauenthemen“ (vgl. Interview U, Z. 100-106; Interview O, Z. 96-100, 145, 161-165). Nach 18 Monaten sind diese Schülerinnen erfolgreich zu einer tragfähigen interkulturellen Gemeinschaft zusammengewachsen: „Ich habe drei Freundinnen, eine aus Togo, eine aus dem Iran und eine aus Irak. Wir kommen aus vier verschiedenen Ländern, aber wir gehen gut miteinander um.“ (Interview U, Z. 103-106) Ein Schüler verwendet die Begriffe „Leute“, „Jungs“ und „Freunde“ nebeneinander. Die Mitschüler sind für ihn „Freunde“, mit denen er auch seine Freizeit gestaltet. (vgl. Interview P, Z. 323-326). Manche Jugendliche sind in der Klassengemeinschaft gut integriert, bezeichnen aber niemanden dort als Freund (vgl. Interview V, Z. 115-117). Die Vertrauensbildung im BIJ verläuft demnach unterschiedlich bei den Mitschülern. Schüler R scheint weniger eingebunden in die Klassengemeinschaft. Er ist sehr ehrgeizig, fixiert auf die für ihn wichtigen Fächer und seine Tagesstruktur ist stark vom Lernen bestimmt (vgl. Interview R, Z. 70 ff., 94 f., 99-102, 207-213). Dennoch gibt er an, sich mit den „Kollegen“ gut zu verstehen (vgl. Interview R, Z. 190-200). Die Vertrauensbildung in der Klasse vollzieht sich demnach als Prozess in Abhängigkeit von mehreren Komponenten: vom Umfang der gemeinsam verbrachten Zeit, von vorherigen Beziehungserfahrungen, dem externen sozialen Netz und der Persönlichkeit (vgl. Interview R, Z. 202-206). Unter den Geflüchteten gibt es einige, die zusammen mit ihrem Ehepartner die Schule besuchen. Sie haben bereits eine sehr vertraute Beziehung in der Klasse (vgl. Interview T, Z. 16, 74-76, 176-177). Ein Kennzeichen von Peergroups kann (muss aber nicht) freundschaftliche Verbundenheit sein (vgl. Stangl 2016, Peergroup). Die unterschiedliche Beteiligung an gemeinsamen Freizeitaktivitäten zeigt, dass die Klasse nicht für alle SchülerInnen ein Ort für Freundschaften ist, sie sich aber trotzdem dort wohl und zugehörig fühlen. Zur Entwicklung eines eigenen Lebensstils gehört die passende und erfolgreiche Gestaltung persönlicher und beruflicher Beziehungen, also auch Freundschaften und eine Partnerschaft. Hierfür sind Kenntnisse über Beziehungsgeflechte und hierarchien wichtig, aber auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Die Begriffe für !36 Freundschaften unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturen. In den USA werden bspw. schon flüchtige Bekanntschaften mit „friendship“ bezeichnet. Freundschaftliche Beziehungen fußen nach deutschem Verständnis auf einer gemeinsamen emotionalen Ebene (abgesehen von reinen Zweckfreundschaften) und sind von Wertvorstellungen wie Vertrauen, Verlässlichkeit und gegenseitiger Unterstützung geprägt. Sie verändern sich mit steigendem Alter und existieren in unterschiedlichen Qualitäten. Für Jugendliche in westlichen Industriegesellschaften sind emotionale Beziehungen zu Gleichaltrigen im Vergleich zur Generation unserer Großeltern wichtiger geworden für die Identitätsbildung. FreundInnen werden von Jugendlichen heute oft als kompetente RatgeberInnen geschätzt, weil sie über aktuelle Informationen verfügen und denselben Erfahrungshorizont teilen. Für die Klassengemeinschaft ist es wichtig, dass die SchülerInnen Ausgrenzungsphänomene erkennen und geeignete prosoziale Lösungswege suchen, damit sich jede/r wohlfühlen kann (vgl. BAMF 2016, Lernangebot Freundschaft). Alle SchülerInnen betonen die gute, freundschaftliche Gemeinschaft auf der Klassenfahrt. Dies ist ein Hinweis auf das große Bedürfnis nach Nähe und Vertrautheit in den Beziehungen der SchülerInnen untereinander. Es ist zu vermuten, dass der Grund hierfür in ihrer Entwurzelungserfahrung und jetzigen sozialen Isolation in Deutschland liegt (vgl. Interview P, Z. 301). Die Beziehungen haben sich über vielfältige – auch sinnliche – gemeinsame Erlebnisse vertieft, aber vor allem auch über persönliche Gespräche. Das gemeinsame Zeit-Verbringen sowie eine wache Verfassung waren dafür Voraussetzung, im ermüdenden Schulalltag fehlt den SchülerInnen oft die Kraft für Beziehungsaufbau (vgl. Interview U, Z. 214-216). Bezogen auf die Persönlichkeitsentwicklung erleben die SchülerInnen folgende Anregungen durch die Klassengemeinschaft: Sie setzen sich mit ihrer Geschlechterrolle auseinander - erwähnt werden Gespräche über Frauenthemen -, ihrem Lebensstil - sie suchen und teilen Freizeitinteressen miteinander, die in Deutschland üblich sind, und wählen FreundInnen aus - und ihrem Wertesystem, was z.B. an einem anderen Heiratsverständnis erkennbar wird (vgl. Interview S III, Z. 353-370). So leistet die Peergroup im BIJ(V) einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung der SchülerInnen. !37 5.4.2. Beziehung zu Erwachsenen 5.4.2.1. Fürsorge und Respekt Alle SchülerInnen schätzen die freundliche und fürsorgliche Atmosphäre der Schule. Sie können mit allen Fragen auf die LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen zugehen, die ihnen gerne und umfassend helfen (vgl. Interview V, Z. 132-134; vgl. Interview R, Z. 160-163). Einige betonen, dass alle Anliegen ernstgenommen werden - auch beispielsweise Kritik am Lehrplan. Sie erleben dies als Annahme und können sich öffnen und Vertrauen entwickeln (vgl. Interview O, Z. 70-71; Interview U, Z. 205-211; Interview V, Z. 77). Ein Anliegen der Professionellen der BS I ist es, den geflüchteten SchülerInnen auch bei der alltäglichen Lebensbewältigung Orientierung zu geben. Sie sind Ansprechpartner für Alltagsprobleme und erklären „wie hier in Deutschland etwas funktioniert“. Sie unterstützen die SchülerInnen u.a. bei Telefonverträgen, Bank- und Krankenversicherungsangelegenheiten, bei der Kommunikation mit den Behörden und Arztterminen (vgl. Interview S I, Z. 182-199; Interview S II, Z. 130-131; Interview O, Z. 134-140). Wie zu Anfang dieses Kapitels beschrieben sind die geflüchteten Jugendlichen aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und vermissen ihre vertrauten Beziehungen, die ihnen positive Beachtung schenken würden. Hinzu kommt das Leben in Armut und unter diskriminierenden Lebensbedingungen (z.B. das Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften für AsylbewerberInnen) sowie die sprachliche und kulturelle Verunsicherung. Die fürsorgliche und wohlwollende Atmosphäre im BIJ (V) ist für sie vor diesem Hintergrund besonders wohltuend. Die SchülerInnen erfahren Freundlichkeit, Annahme und Respekt - Grundbedingungen, um eine gesunde Selbstachtung entwickeln zu können. Nach Erkenntnis des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow gehört Anerkennung zu den Grundbedürfnissen des Menschen (vgl. Stangl 2016, Bedürfnis-Pyramide Maslow). 5.4.2.2. Die Helfer – Elternersatz oder Freunde? Fünf der sechs SchülerInnen sind auf sich allein gestellt, d.h. ohne Familie bzw. Eltern in Deutschland. Sie müssen ihre Entscheidungen eigenverantwortlich treffen, ihren Alltag selbständig bewältigen und sich ein eigenes soziales Unterstützungsnetzwerk aufbauen, welches ihnen anstelle ihrer Familie Beratung, Halt und Orientierung geben kann. „Manchmal wir nehmen Empfehlungen von unserer Familie und Freunden, aber in Deutschland nicht so viel.“ (Interview V, Z. 121-128) !38 Dies gilt auch für die verheirateten SchülerInnen des BIJ. Obwohl sie sich selbst eine kleine Familieneinheit geschaffen haben, fehlt ihnen der familiäre Rückhalt. Schüler T - bereits Vater zweier Kleinkinder und im täglichen Gespräch mit seiner Frau (auch Schülerin des BIJ) über die Vereinbarkeit von Familie und Schule/ Ausbildung (vgl. Interview T, Z. 33-35, 47-51, 163-221) – formuliert das so: „Wissen Sie, wir haben auch Probleme. Wir haben keine Familie und Verwandten hier.“ (Datenblatt T) Schüler T hat gelernt, andere Menschen um Hilfe zu bitten, z.B. für die Kinderbetreuung (vgl. Interview T, Z. 204-212). Das geschieht im Wohnumfeld, aber auch in der Schule. Vor diesem Hintergrund kommt der Beziehung der SchülerInnen zu den PädagogInnen an der BS I eine besondere Bedeutung zu. Die LehrerInnen werden durchgängig als sehr nett, humorvoll und sehr gut empfunden, aber auch teilweise als streng, was als Einschränkung des Nett-Seins erlebt wird (vgl. Interview O, Z. 69-70, 73, Interview V, Z. 44-48). Lehrerin VII wird für ihr großes Verständnis für alle SchülerInnen gelobt (vgl. Interview U, Z. 167-171). Sie habe sich den SchülerInnen gegenüber auf der Klassenfahrt sehr fürsorglich verhalten, was für sie sehr wohltuend war: Lehrerin VII habe die SchülerInnen ermahnt, warme Kleidung mitzunehmen für den Abend, und die SchülerInnen hätten dagegen teilweise rebelliert oder gehorcht wie gegenüber einer Mutter (vgl. Interview U, Z. 175-182). „Und danach wir sind gegangen, und wir haben gesagt: ´Oh danke, wir haben jetzt keine Mutter, aber Sie sind wie unsere Mutter. Sie haben uns gesagt und wir haben gehört, weil (.) ´ ähm, das war ((leise)) schön. (...) Das war, dass ich liebe sie sehr.“ (Interview U, Z. 179-182) Die Sozialarbeiterinnen unterstützen die SchülerInnen bei Behördenangelegenheiten, indem sie Formulare und Briefe übersetzen und erklären sowie stellvertretend für sie telefonieren (vgl. Interview O, Z. 134-136; Interview R, Z. 181-187; Interview P, Z. 242-245; Interview S I, Z. 180-210). Bei der Berufsorientierung erfüllen LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen eine Brückenfunktion zur deutschen (Arbeits-) Kultur. Sie machen die Geflüchteten mit der Arbeitswelt und ihren Regeln vertraut, z.B. welche Leistungsanforderungen an einen Beruf gestellt werden, den sie erlernen möchten. Die SchülerInnen erleben diese Realitätskonfrontation teilweise als Enttäuschung, weil sie ihre Träume aufgeben, zurückstellen oder anpassen müssen (vgl. Interview T, Z. 153-157). Sozialarbeiterin S I wird einhellig als besonders weitherzig und wohlwollend erlebt (vgl. Interview O, Z. 140; Interview U, Z. 198). Sie bietet den SchülerInnen große !39 Verlässlichkeit, die teilweise sogar über die gemeinsame Zeit in der Schule hinaus reicht (vgl. Interview U, Z. 205-211, 289-291). „Sie sagt, ich bin nur für da Euch.“ (Interview U, Z. 211) Sozialarbeiterin S I wird von allen Schülern geduzt und mit ihrem Kosenamen angesprochen (vgl. Interview V, Z. 95-97, Interview T, Z. 83-85; Interview P, Z. 286-289). Sie ist eine Vertrauensperson für die SchülerInnen (vgl. Interview O, Z. 139-140; Interview S I, Z. 210-218). Ein Schüler beschreibt, dass er in der Schule ausschließlich als „Hilfeempfänger“ Kontakt mit den Sozialarbeiteinnen hat (vgl. Interview V, Z. 107-109). Auf der Klassenfahrt dagegen führte er mit ihnen Gespräche auf Augenhöhe, einen gleichwertigen Gedankenaustausch. Der Jugendliche empfand dies als sehr wertschätzend und erlebte es persönliche Aufwertung. Hierbei wird die Beziehung zu Sozialarbeiterin S I von den SchülerInnen als herausragend unter den PädagogInnen beschrieben. Sie legte auf der Klassenfahrt ihre professionelle Distanz ab und öffnete sich für einen gegenseitigen Austausch (vgl. Interview V, Z. 95-97). Denkbar ist, dass sie hier mit den Geflüchteten u.a. über ihr eigenes Interessengebiet, die politischen Verhältnisse in den Herkunftsländern, gesprochen hat (vgl. Interview S I, Z. 384-397). Von den SchülerInnen wurde sie dort als Freundin erlebt. Diese Ergänzung von Strenge und Wohlwollen erinnert an die Rolle von Eltern gegenüber heranwachsenden Kindern: Die Kinder reiben sich an den Eltern, deren Regeln, und Grenzziehungen sowie dem Machtgefälle, aber sie schätzen auch die Unterstützung und den Erfahrungsvorsprung. Die Geflüchteten sind zwar alle schon volljährig, brauchen dennoch aufgrund ihrer Kulturfremdheit Vorbilder und Anleitung in deutscher Lebensführung. Sie sind herausgefordert, sich in Deutschland ein soziales Stützsystem aufzubauen. Diese Aufgabe, die üblicherweise die Erziehungsberechtigten erfüllen, übernehmen an der BS I die LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen. Hinzu kommt ein Rahmen persönlicher Geborgenheit im BIJ. Die Anrede von Sozialarbeiterin S I mit ihrem Kosenamen als Ausdruck drückt diese familiäre Nähe aus. Die elternähnliche Nähe hat für die PädagogInnen auch Grenzen. Die Grenzziehung zum Schutz ihrer Privatsphäre und psychischen Belastungsgrenze wird von den PädagogInnen unterschiedlich gehandhabt. So geben Sozialarbeiterin S II und Lehrerin L III ihre Handy-Nummern nicht (mehr) heraus, sind also nicht immer erreichbar (vgl. Interview L III, Z. 197-202; Interview S II, Z. 293-301). Auch ist das BIJ grundsätzlich zeitlich begrenzt auf zwei bis zweieinhalb Jahre. Dann ist der pädagogische Auftrag beendet. Aber auch hier gibt !40 es Verhandlungsspielräume oder zumindest Wünsche der SchülerInnen nach Verlängerung (vgl. Interview U, Z. 289-291). Das Unwohlsein von Schüler V bei seinem Erleben als Hilfeempfänger in der Schule im Gegensatz zu dem als ebenbürtiger Freund auf der Klassenfahrt wirkt signifikant und wegweisend für die Art der Hilfestellung: Sie ist und muss ein Übergang sein zu selbständigem und selbstbestimmtem Leben, mit dem Fokus auf Befähigung zur Selbsthilfe, Stärkung von Selbstvertrauen und Zuversicht. Hilfebedürftigkeit kann als kränkend empfunden werden und darf nur auf das Notwendige beschränkt sein. Die Geflüchteten in Deutschland benötigen ebenbürtige Begegnungen für ihr Würdeempfinden. Die Pädagogen erfüllen nur eine vorübergehende – allerdings sehr prägende – Aufgabe, eine Brückenfunktion. Oder wie Sozialarbeiterin S III ausgedrückt hat: sie haben eine Funktion als Tür auf dem Weg in eine neue Zukunft (vgl. Interview S III, Z. 504-508). Zuverlässige Bezugspersonen bilden nach Shah die wichtigste Ressource für die seelische Gesundheit geflüchteter Jugendlicher (vgl. Shah 2015, S. 14). Persönliche Fürsorge, Respekt und Sicherheit bilden außerdem die Basis für ein günstiges, effektives Lernklima im BIJ. In der Untersuchung, wie die SchülerInnen des BIJ ihre sozialen Beziehungen an der Schule erleben, konnte gezeigt werden, dass ihre Grundbedürfnisse nach Maslow weitreichend erfüllt werden. Dies findet Ausdruck in ihrer großen Zufriedenheit mit dem BIJ. Nach Maslows Konzept der Bedürfnispyramide sind die Grundbedürfnisse des Menschen hierarchisch strukturiert: die befriedigende Erfüllung der niederen Bedürfnisse ist Voraussetzung für das Streben nach höheren Bedürfnissen. Physiologische Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf), Sicherheitsbedürfnisse Zugehörigkeitsbedürfnisse (Stabilität, (Familie, Freunde) Angstfreiheit, und Struktur), Anerkennungsbedürfnisse (Wertschätzung, Respekt) gehen der Selbstverwirklichung des Menschen voraus. Auch wenn dieses Hierarchiemodell in seiner Starrheit kritisiert wird, zeigt Maslow mit ihm eine grundlegende Struktur der menschlichen Ideale auf. Nach dem Begründer der kritischen Psychologie Klaus Holzkamp (1985) ist das wichtigste menschliche Lebensbedürfnis die personale Handlungsfähigkeit. Sie ermöglicht, gestaltend auf die Umwelt Einfluss nehmen zu können, sowohl auf die eigenen Lebensbedingungen als auch auf gesellschaftliche Prozesse. Hier schließt sich der Kreis zu den in 5.4.1. genannten Entwicklungsaufgaben, die auf Selbstfindung und gesellschaftliche Integration abzielen. Das BIJ erfüllt den umfassenden Auftrag, die personale Handlungsfähigkeit der jungen Menschen in unserer Kultur zu entwickeln und zu stärken – trotz aller asylrechtlichen Ungewissheiten. Das geht über die Vermittlung der Sprachkenntnis und eines Berufspraktikums weit hinaus und wird darum von den SchülerInnen mit großer Dankbarkeit und Wertschätzung angenommen. !41 5.5. Psychische Herausforderungen und Hilfen Ausdrücklich berichtet keine/r der SchülerInnen von psychischen Problemen wie aktuellen Ängsten oder traumatischen Erlebnissen. Die InterviewerInnen haben sich bemüht, belastende Fragestellungen zu vermeiden, um die SchülerInnen durch die Forschungsarbeit möglichst wenig zusätzlich zu belasten. Hinweise auf die Bedeutung von Traumata, Ängsten und anderen psychischen Belastungen lassen sich aber in dem finden, was nicht angesprochen wurde. Auch in übersprachlichen Äußerungen wie Lachen, lautes Schlucken, leise werdender oder schneller Sprechweise werden Gefühle erfahrbar (vgl. Interview U, Z. 184-192). Expliziert werden traumatische Erfahrungen in den Interviews mit den Professionellen. Meist als belastende Erlebnisse für sie selbst: „Es war kein schöner Moment. (…) Wir hatten einen Schüler aus [Land] (…) und letztes Jahr war ein Massaker an der Schule in [seiner Heimat]. (…) und das hat uns, hat mich so sehr mitgenommen, weil seine Familie nämlich in [der Heimat] ist und sein kleiner Bruder. (…) Dem ging´s so schlecht. Und ich konnte dann auch nicht, also ich konnte auch den Druck nicht aushalten, und dann habe ich mitgeweint (…) er hat so einen Schmerz gehabt (…) Ich war eigentlich ohnmächtig da. Und deswegen habe ich diese Erinnerung auch.“ (Interview S II, Z. 152-177) Abschiebung und Behördengänge sind die größten Angstauslöser für die geflüchteten Jugendlichen – und ihre professionellen UnterstützerInnen (vgl. Interview S I, Z. 205-218; 233-289; S II, Z. 143-148). Sorge um die Familie in der Heimat, das Zurechtkommen im alltäglichen Leben ohne familiären Halt, die Unsicherheit ihrer eigenen Lebenssituation und ein hoher Erfolgsdruck belasten demnach die geflüchteten SchülerInnen der BS I. Die Jugendlichen sind entwurzelt und müssen sich in ein völlig neues soziales und kulturelles Umfeld einfügen (vgl. Shah 2015, S. 10f., 15). Angst und/ oder Trauma beeinträchtigen zumindest periodisch die Bildungs- und Integrationsbemühungen der Jugendlichen. Sie führen zu Unzuverlässigkeit, Leistungseinbrüchen oder Konzentrationsschwierigkeiten, in Extremfällen zu Ausfällen durch Psychiatrieaufenthalte. Schulische Anforderungen können dann nur schwer bewältigt werden (vgl. Interview SI, Z. 233-262, 453-460; Interview LIII, Z. 92-95, 99-109). Eine Schwierigkeit im Raum Aschaffenburg ist der Mangel an geeigneten Therapiemöglichkeiten für die geflüchteten Jugendlichen (vgl. Interview SI, Z. 453-460). In den folgenden Unterkapiteln ist aufgeführt, welche Maßnahmen zur psychischen Stabilisierung das Konzept der BIJ (V) Klassen bietet und wie sie von den geflüchteten SchülerInnen sowie Lehrkräften und Sozialarbeiterinnen wahrgenommen werden. !42 5.5.1. Schule als sicherer Ort Geflüchtete Kinder und Jugendliche werden als eine „besondere Schülergruppe“ (ISB 2014, S. 5) bezeichnet. Gemeint ist, dass die SchülerInnen sich in einer Ausnahmesituation befinden, die mit dem Verlust von Sicherheit und Halt gebenden Strukturen einhergeht. Psychische Instabilität hindert die SchülerInnen daran, sich auf Lernprozesse in der Schule einzulassen (vgl. Interview S I, Z. 253-256). Die Schule soll den SchülerInnen einen geschützten Raum anbieten, der ihnen wieder Halt, Orientierung und Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit gibt sowie ein angstfreies Miteinander ermöglicht, damit sie psychisch stabiler werden (vgl. ISB 2014, S.5f.). Die BS I bietet denSchülerInnen über die LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen ein umfassendes Unterstützungsangebot an, das den Geflüchteten Sicherheit gibt und ihnen gut tut (vgl. Interview T, Z. 83-85; Interview R, Z. 160-163). Geflüchtete Jugendliche haben in Deutschland nur wenige persönliche Fürsorgebeziehungen. Die MitarbeiterInnen der Schule sind daher für deren emotionale Sicherheit von herausragender Bedeutung. Eine Schülerin schildert, dass allein die gedankliche Vorstellung ihrer UnterstützerInnen ein innerer sicherer Ort für sie ist: „Ich finde, wenn ich mir die vorstelle, (.) ich weiß nicht ((Lachen)), ich fühle mich gut, ((leise)) ja.“ (Interview U, Z. 231-235) Die SchülerInnen sind dankbar für die berufliche Orientierung und Vorbereitung durch LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen. Sie erhalten dadurch ein Ziel für diese Lebensphase und eine Perspektive in die Zukunft. Sie bekommen Zuversicht und ein Gefühl der (Planungs-) Sicherheit (vgl. Interview V, Z. 44-48). Aufgrund ihrer Fluchterfahrungen und aktuellen Lebenssituation haben die geflüchteten Jugendlichen ein höheres Bedürfnis nach Sicherheit als ihre deutschen AltersgenossInnen. Die BS I kommt dem im BIJ (V) auf vielerlei Weise nach: Die SchülerInnen werden in die alltäglichen und bürokratischen Abläufe in Deutschland eingeführt, ebenso ins deutsche System beruflicher Bildung und in die Gepflogenheiten der Arbeitswelt. Die berufliche Perspektive vermittelt ein Gefühl der Planbarkeit und Handhabbarkeit ihres Lebens. Klarheit und Schulregeln, die für alle sichtbar in der Klasse hängen, sollen Halt geben, auch wenn sie manchmal Anstoß erregen (vgl. Interview. V, Z. 45-46; Interview L III, Z. 228-231; Interview S III, Z. 330-345; Beobachtung BIJ-V Anhang). Vor Abschiebung kann die Schule allerdings nicht schützen (vgl. Experteninterview, Z. 51-52). Darüber sprechen die SchülerInnen nicht mit uns. !43 Beim Gestalten von Schule als sicheren Ort sind die Kompetenzen der Sozialarbeiterinnen gefragt. Sie selbst schätzen ihre Arbeit an dieser Stelle als sehr wichtig ein. Sie haben ein feines Gespür für belastete SchülerInnen und bieten ihnen ein offenes Ohr. In vertrauensvollen Gesprächen geben sie den SchülerInnen Sicherheit und thematisieren in den Interviews, dass sie häufig helfen müssen, Ängste abzubauen (vgl. Interview S I, Z. 193-230, Interview S III, Z. 386-387). Den LehrerInnen wird empfohlen, Themen, die für die SchülerInnen evtl. problembehaftet, beängstigend oder retraumatisierend sein könnten, nicht abzublocken, sie aber auch nicht herauszufordern. In diesem Sinne versuchen die LehrerInnen, den SchülerInnen einen neutralen, sicheren Ort zum Lernen zu schaffen (vgl. ISB 2014, S. 9f.; Interview L III, Z. 92-95, 125-130). Halt und Zuversicht bekommen die SchülerInnen auch dadurch, dass sie gut informiert sind über den Ablauf dieses Modellprojektes. Sie wissen, dass sie als Grundlage für eine Berufsausbildung hier in Deutschland mindestens einen Mittelschulabschluss haben sollten und dass sie diesen am Ende des BIJ erreichen können. Sie wissen, dass die Fächer Deutsch und Mathematik von besonderer Wichtigkeit hierfür sind, und dass ein Ziel während des BIJ ist, das B1-Niveau im Deutschen zu erreichen. Das B1-Zertifikat könnten sie auch mit Sprachkursen an der Volkshochschule (VHS) erwerben, aber sie schätzen die Option, während der Schulzeit zusätzlich Berufspraktika absolvieren zu können und damit ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu erhöhen. Sie wertschätzen das große Maß an Unterstützung, welches die MitarbeiterInnen an der BS I ihnen anbieten. Dass in Deutschland die Ausbildungsmöglichkeiten vielfältig sind und lebenslanges Lernen möglich ist, wird als sehr positiv bewertet (vgl. Interview R, Z. 135, 154-161, 277-284; Interview O, Z. 5-18, 61-69; Interview T, Z. 104-116; Interview U, Z. 61-64; Interview S II, Z. 267-271). 5.5.2. Halt durch Tagesstruktur Regelmäßiger Schulbesuch strukturiert das Leben, den Alltag. Eine Struktur bietet Halt und Orientierung. So bietet Schule ein Stück Normalität für die Jugendlichen (vgl. Deutscher Caritasverband e. V., S. 137). Durch die Flucht aus ihrer Heimat ist ihre Ordnung der alltäglichen Lebensführung dekonstruiert worden. Mit dem soziologischen Konzept der „Alltäglichen Lebensführung“ ist gemeint, was Menschen jeden Tag auf welche Art und Weise tun und wie sie die Routinen ihrer einzelnen Tätigkeiten, die bestimmt werden von „Zeit, Ort, Netz, Normen, Sinn, Emotionen und Ressourcen“, zu einem für sie stimmigen Gesamtwerk arrangieren. Dazu setzt sich das Subjekt mit der Umwelt auseinander und konstruiert aktiv seine Lebensführung, somit auch seine Identität, und beeinflusst mit seiner Lebensführung auch wieder seine Umwelt. Dieses Konstrukt wird zur Routine, zur !44 „Lebensführung“, die oft un-hinterfragt bleibt, aber für das Subjekt und das Umfeld eine verlässliche Struktur bietet. Jedoch ist sie auch von äußeren Bedingungen abhängig und somit auch ver-änderbar, indem sich das Subjekt mit den veränderten Bedingungen auseinander-setzt und sich ihnen anpasst (vgl. Täubig 2009, S. 60 ff.). Die alltägliche Lebensführung der SchülerInnen ist dahingehend dekonstruiert, als dass sie durch die Flucht den Heimatort mitsamt sozialem Netz, der Kultur mit Normen und Werten und mit den sonstigen alltäglichen Routinen, sei es Schulbesuch oder Arbeitsverhältnis, verlassen haben. Sie sind entwurzelt. In Deutschland müssen sie sich dann zunächst mit sehr fremdbestimmten Lebensbedingungen auseinandersetzen. Sie können sich beispielsweise nicht aussuchen, wo und mit wem sie wohnen, werden in Sammelunterkünften untergebracht auf beengtem Wohnraum, häufig am Ortsrand oder sogar außerhalb der Ortschaft. Sie dürfen in den ersten 3 Monaten ihres Aufenthalts keine Arbeit aufnehmen und selbst danach ist eine Arbeitsaufnahme mit großen Hürden verbunden, wie der Genehmigung durch das Ausländeramt und der Agentur für Arbeit (vgl. AsylVfG §§ 46-53; BAMF: FAQ Arbeitsmarktzugang 2015; Interview U, Z. 244-250; Interview V, Z. 33-35). In einer Studie über die alltägliche Lebensführung in der „totalen Institution Asyl“ wird beschrieben, dass die BewohnerInnen einer Gemeinschaftsunterkunft das „Nichts-Zutun-Haben“ arrangieren müssen. Das Nichts-Zutun-Haben und die meist im Heim verbrachte Zeit werden sehr stark thematisiert. Das, was sie tun können, wird dem entgegengesetzt. Es sind dann Grundbedürfnisse wie essen, schlafen und Körperpflege, die dem Tag Struktur geben und helfen, die Zeit zu „füllen“ (vgl. Täubig 2009, S. 75 ff.). Auch die hier befragten SchülerInnen sprechen davon. „Wir waren dort eineinhalb Jahre in einer Wohnung, in einem Zimmer. 16 qm und wir hatten nichts zu tun.“ (Interview V, Z. 33-34) „…in Deutschland, ich bin immer zu Hause, wenn gibt es keine Arbeit oder (.) wirklich sehr, sehr langweilig. Ich hab in den ersten vier oder fünf Monaten, ich hab immer zu Hause bleiben.“ (Interview T, Z. 85-88) Der allein lebende Schüler thematisiert „Zeitfüller“ für die Zeit nach der Schule: „Schön essen, bisschen duschen und dann entweder schlafen eine Stunde oder weiterlernen und dann schlafen.“ (Interview R, Z. 208-210; vgl. Datenblatt R) Auf die im Interview gestellte Frage, wie der Schulbesuch das Leben der Befragten verändert hat, berichten sie, dass sie nach teilweise mehreren Monaten ohne Arbeit !45 und mit sehr, sehr viel Langeweile endlich „beschäftigt“ sind, das ist die „Hauptsache“ für sie, es gibt ihnen Sinn (vgl. Interview R, Z. 73-83, 126-127). „…von morgen von acht Uhr bis um eins Uhr aber jetzt ist …mehr zwei Stunden…drei Stunden ja, ja zwei Stunden und äh ja das macht mich beschäftigt ….“ (Interview R, Z. 80-82) Endlich, so scheint es, muss der junge Mann nur noch die Zeit zwischen 15 Uhr und dem Abend „füllen“: „Manchmal ist mir langweilig, aber ja also wie gesagt, ich lerne gerne und damit konnte ich bisschen lesen …oder bisschen Gitarre spielen oder irgendwas machen. Ja und jetzt die Schule ist bis um drei Uhr, dann es geht schon bei mir. Is alles gut.“ (Interview, R, Z. 92-96) Die befragten SchülerInnen empfinden es als überaus positiv und sinnvoll, als junge Menschen nicht länger untätig zuhause zu sein, endlich auch wieder etwas zu lernen, vor allem Deutsch, Kontakt mit anderen Menschen zu bekommen und auch endlich einen anderen Sozialraum zu erfahren. Denn den ganzen Tag zu zweit in einem 16 qm großen Zimmer zu verbringen, ohne Aufgaben, macht „verrückt“ (vgl. Interview T, Z. 85-88; Interview V, Z. 33-41). „…ich finde die Schule ist sehr sehr gut für die junge Leute weil sie bleiben nicht zu Hause, sie kommen zur Schule und das ist wirklich eine gute, eine gute Idee…“ (Interview O, Z. 241-243) 5.6. Asylrecht Geflüchtete Jugendliche sind junge MigrantInnen, die in unsicheren repressiven Aufenthaltsverhältnissen leben. Sie unterscheiden sich von anderen Migranten durch ihren Rechtsstatus. Ihr Recht auf Asyl leitet sich aus dem Grundgesetz Art. 16a GG ab und wird durch das Asylgesetz (AsylG)6 konkretisiert. Weitere spezielle Gesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) regeln ihren Aufenthalt in Deutschland und schränken ihre Entfaltungsmöglichkeiten in vielen Lebensbereichen ein. Auch das Recht auf Bildung und Ausbildung der geflüchteten Kinder und Jugendlichen wird ordnungspolitischen Zielen – dem Asylrecht – untergeordnet. Bildung und Aufenthaltsrecht sind somit eng miteinander verflochten (vgl. Müller/ Nägele 2014, S. 328). Das Asylrecht ist ein unkalkulierbarer Unsicherheitsfaktor, das aufgrund der aktuellen politischen Debatte ständiger Veränderung unterliegt. 6Bis 2015 hieß das Asylgesetz (AsylG) Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). !46 Auch die von uns befragten SchülerInnen haben durch rechtliche Regeln verschiedene Aufenthaltsstatus und unterliegen damit sehr unterschiedlichen Begrenzungen, die ihre Integrations- und Bildungsmöglichkeiten mehr oder weniger stark eingrenzen: O und R haben eine Anerkennung als Flüchtling, welche ihnen eine sichere Perspektive für die nächsten drei Jahre bietet. SchülerInnen U, V, T und P haben lediglich eine Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung des Asylverfahrens, die mit großer Unsicherheit verbunden ist, zumal zumindest U und V aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen (vgl. Datenblätter). Die Sozialarbeiterin S I hat eine große Expertise im Asylrecht, dennoch ist es ein hoher Aufwand für sie, auf dem aktuellen Stand zu bleiben. (vgl. Interview S I, Z. 14-24, 53-57) Selbst die Mitarbeiter der zuständigen Behörde wissen oft nicht über geltendes Recht Bescheid. (vgl. Interview S II, Z. 200-207) Bei asylrechtlichen Fragen kommt S I auch wegen der rechtlichen Komplexität an ihre Grenzen ihrer Beratungskompetenz, „weil das sich jetzt alles gewandelt hat und ich bin auch kein Rechtsanwalt und das Asylrecht ist so komplex, dass sogar einige Rechtsanwälte nicht alles wissen“. (Interview S I, Z. 450-453) Im November 2015 kam es mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (AsylVfBeschlG) und diversen anderen Änderungen zu einer erneuten Verschärfung d e s A s y l r e c h t s . Vo r a l l e m g e f l ü c h t e t e M e n s c h e n a u s „ s i c h e r e n Herkunftsländern“ (Kosovo, Albanien, Montenegro, Ghana, Senegal, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina) 7 sind durch Zwangsverbleib in der Erstaufnahme bis zur Abschiebung (§ 47 Abs.1a AsylG) und Arbeitsverbot (§ 61 Abs. 2 Satz 4 AsylVfG) noch weiter zu geflüchteten Menschen zweiter Klasse degradiert worden. Strukturell (per Gesetz) werden pauschal nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit große Unterschiede zwischen Flüchtlingsgruppen gemacht. Das Asylrecht wurde dadurch weiter verkompliziert. Für geflüchtete Menschen erscheint es noch beängstigender und für Helfer schwierig, den Überblick zu behalten. In den folgenden Ausführungen werden einige Neuerungen des Asylrechts mit Relevanz für die Bildungs- und Integrationschancen junger Geflüchteter erläutert. Die meisten Einschränkungen betreffen Geflüchtete aus „sicheren Herkunftsländern“: Die Berufsausbildung wurde als Abschiebungsverbot in § 60a Abs.2 AufenthG aufgenommen. Das erscheint zunächst positiv, ist aber systemwidrig, weil eine Berufsausbildung in der Regel mehr als 18 Monate dauert und damit eigentlich ein 7Sichere Herkunftsstaaten sind Staaten, bei denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet (§ 29a AsylG) !47 Regelfall des § 25 Abs. 5 AufenthG ist. Voraussetzung ist auch hier wieder, dass der/ die Auszubildende nicht aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt und die Berufsausbildung vor Vollendung des 21. Lebensjahres begonnen wurde. Dann folgt eine Duldung für ein Jahr und – bei Fortdauern des Ausbildungsverhältnisses und Aussicht auf erfolgreichen Abschluss - weitere Duldungen für jeweils ein Jahr. Problematisch ist das Akquirieren von Ausbildungsbetrieben, die sich auf solch unsichere Ausbildungsverhältnisse einlassen. Im Übrigen bleiben Altfälle ungeklärt, in denen geflüchtete Jugendliche aus „sicheren Herkunftsländern“ (§ 29 a AsylVfG) bereits eine Ausbildung begonnen haben (vgl. Kabis 2015, S.35). Den SchülerInnen der BS I, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen, wird auch der neue § 60a Abs.6 AufenthG zum Verhängnis. Er untersagt geduldeten Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten nach Ablehnung ihres Asylantrags eine Erwerbstätigkeit. Auch die Aufnahme oder Fortführung einer Bildungsmaßnahme, die nicht der allgemeinen Schulpflicht unterliegt, könnte davon betroffen sein. Mit einer Verordnung zum AsylVfBeschlG ist mit Wirkung zum 1. November 2015 für Staatsangehörige der Balkanstaaten ein „Anreiz“ geschaffen worden, „freiwillig“ auszureisen, sofern sie eine Arbeitsaufnahme beabsichtigen. Der Zugang zu Visum und Arbeitsmarkt nach Ausreise ist allerdings äußerst voraussetzungsreich, er unterliegt unter anderem der Vorrangprüfung. Deutschsprachenförderung wird per Gesetz (§ 45 a AsylG) ausgeschlossen für alle, für die kein Aufenthaltstitel zu erwarten ist, ausdrücklich für Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“. Eine Chance für Jugendliche und Heranwachsende bietet der neue § 25 a AufenthG in Form einer verbesserten Bleiberechtsregelung für langfristig geduldete, gut integrierte Geflüchtete. Allerdings müssen sie sich seit vier Jahren legal in Deutschland aufhalten und entweder seitdem erfolgreich die Schule besucht haben oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben haben. Der Antrag muss vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt werden. § 60a AufenthG verbietet die Abschiebung während der Berufsausbildung, wenn diese vor dem 21. Lebensjahr begonnen wird und der/ die Auszubildende nicht aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt (vgl. Kabis 2015, S.35). Analog haben mit der Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration (§25 b AufenthG) auch langjährig geduldete Erwachsene nach acht bzw. sechs Jahren (wenn Minderjährige im Haus leben) neue Bleiberechtsperspektiven, wenn sie ihren Lebensunterhalt überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit sichern können, die Kinder ein Schule besuchen und mündliche Deutschkenntnisse auf Niveau A2 vorliegen. Vorübergehender Bezug von Sozialleistungen ist aufenthaltsrechtlich unschädlich bei Studierenden, Auszubildenden oder in staatlich geförderten !48 Berufsförderungsmaßnahmen. Ausnahmen gelten auch für Familien, Kranke, Alte oder Behinderte. Problematisch ist die Ausschlussregelung nach § 25b Abs. 2 AufenthG bei Verhinderung oder Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung durch Täuschung usw. oder Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 u. 2. Nach Niedrig lassen sich drei Kategorien von besonders restriktiven rechtlichen Vorgaben unterscheiden: räumliche, zeitliche und persönliche Beschränkungen. Die Residenzpflicht (§ 56 AsylG) begrenzt den Bewegungsraum von Asylbewerbern und geduldeten Flüchtlingen. Aktuell wird über eine Wohnortpflicht für anerkannte Flüchtlinge sowie über eine Verschärfung der Residenzpflicht diskutiert. (vgl. Welt online 2016; Zeit-online 2015 b) Die jungen Flüchtlinge unterliegen wegen regelmäßiger Behördengänge und hohen bürokratischen Hürden ihrer Alltagsorganisation (z.B. Arztbesuch, Schulweg) zeitlichen Begrenzungen. Rechtliche Vorgaben wie sie oben beschrieben sind, beschränken aber insbesondere die persönlichen Entfaltungsräume der Jugendlichen. Haben sie lediglich eine Duldung oder Aufenthaltsgestattung, erhalten sie nicht immer eine Arbeitserlaubnis für eine betriebliche Ausbildung. Wenn sie einen BAföG-fähigen Ausbildungsgang belegen, verlieren sie ihren Anspruch auf Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem AsylbLG und haben auch keinen Anspruch auf BAföG, solange sie nicht anerkannt sind. Jederzeit sind Auflagen nach § 60 AsylG möglich und auch die Erwerbstätigkeit kann eingeschränkt werden (vgl. Niedrig 2005, S. 263 ff.). Eine Chance bietet das Asylgesetz für die geflüchteten Jugendlichen, wenn sie einen erfolgreichen Schul- und Ausbildungsweg nachweisen: Bildungserfolg ist eine Möglichkeit auf ein gesichertes Bleiberecht für gut integrierte, bereits längerfristig Geduldete (siehe oben). Eine solche Option könnte für U, V und T bestehen und setzt sie gleichzeitig unter enormen Erfolgsdruck. Unter diesem Gesichtspunkt ist eventuell ihre große Ungeduld und Angst des verlangsamten Fortschritts in der Schule zu verstehen. O und R haben eine Anerkennung als Flüchtling. Eine gute Rechtsberatung ist für die Bildungs- und Lebenschancen der geflüchteten SchülerInnen von existenzieller Bedeutung und wird durch das Fachwissen der Sozialarbeiterinnen gewährleistet. Sie bringen ihre fundierten Kenntnisse des Asylrechts zugunsten der SchülerInnen ein, vermitteln an Anwälte weiter und bilden sich regelmäßig fort (vgl. Interview S I, Z. 15-34, 42-60, 450-453; Interview S II, Z. 63-67, 143-148, 200-207). !49 5.7. Kompetenzen und Zukunftswünsche Auf Grund ihrer schwierigen Ausgangssituation entwickeln geflüchtete Jugendliche ihre eigenen Lösungsstrategien, die Seukwa „Habitus der Überlebenskunst“ nennt. Damit identifiziert er ein Bündel an Kompetenzen, die es den Jugendlichen trotz aller Barrieren ermöglichen, Bildungs- und Lebensziele zu verwirklichen. (vgl. Seukwa 2006, S. 228-242). Im nachfolgenden Kapitel werden wir einige dieser Kompetenzen beleuchten. Des Weiteren werden wir auch auf die Zukunftswünsche und Ziele der interviewten Jugendlichen eingehen. 5.7.1. Kompetenzen Beharrlichkeit Am Beispiel des Schülers T zeigt sich, dass die Bildungs- und Lebensräume der Jugendlichen transnational geprägt sind, d.h. formale und non-formale Bildung wird während der Flucht mit zum Teil längeren Aufenthalten in verschiedenen Ländern angeeignet. Die Lebensperspektive ist nicht nur auf ein Land gerichtet. Mit unsicherer Perspektive wird die Zukunft Schritt für Schritt gestaltet, auch wenn die SchülerInnen nicht wissen, in welchem Land sie sie verbringen werden. Das hält sie nicht davon ab, ihre Bildungsziele beharrlich weiter zu verfolgen. Seukwa nennt das „die Kunst trotz ungewissen Ausgangs weiterzumachen“ (vgl. Seukwa 2006, S. 231ff.). Der Bildungsraum geflüchteter Jugendliche „entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen transnationalen Dimensionen und asylrechtlichen Begrenzungen“. Auf der einen Seite als ein grenzüberschreitender Raum mit daran angepassten sozialen und kulturellen Ressourcen, der auf der anderen Seite durch das Asylrecht stark eingegrenzt und kontrolliert wird (vgl. Niedrig 2005, S. 257f.). Dankbarkeit Die Dankbarkeit der geflüchteten Jugendlichen wird als eine der sehr deutlich hervortretenden Kompetenzen von den Personen wahrgenommen, die täglich mit ihnen zusammen arbeiten. S II drückt dies folgendermaßen aus: „Dankbarkeit! Ja, die sind so dankbar ja, verstehen Sie, sie sind so menschlich! Also ich weiß es nicht, diese Wärme ja diese Dankbarkeit und wenn die reinkommen, ja: „Wie geht es ihnen?“ Ja, das ist die erste Frage wenn sie reinkommen: „Wie geht es ihnen?“ Ja, die machen es ja nicht so distanziert. Es muss nicht unbedingt diese Distanz sein ja, diese Wärme, diese Nähe. Das ist es, das ist schön.“ (Interview S II, Z. 210/216) Auch Lehrerin L III empfindet sehr ähnlich und berichtet davon, dass sie immer wieder überrascht und erfreut ist, wieviel Dankbarkeit und vor allem auch Respekt ihnen von den Jugendlichen entgegengebracht wird. Sie führt dafür gleich mehrere !50 konkrete Situationen aus ihrem Schulalltag auf. Zum einen erzählt sie von der letzten Abschlussfeier und welch liebe und dankbare Worte die Schüler dort gesagt haben. Zum anderen legt sie dar, wie hilfsbereit die Jugendlichen reagieren, wenn man selber einmal Hilfe braucht. Auch ein sehr respektvolles Miteinander stellt sie bei den Jugendlichen fest, vor allem den Lehrenden gegenüber. Diese Beobachtung führt sie auf die Herkunft der SchülerInnen zurück und darauf, dass eine lehrende Person in den Herkunftsländern der Jugendlichen oft noch eine angesehenere Stellung hat (vgl. Interview L III, Z. 179-193). Schüler T formuliert seine Dankbarkeit sehr anschaulich, in dem er davon berichtet, dass er sich wie neu geboren fühlt, weil er nun durch die neuen Bildungsmöglichkeiten ganz von Neuem beginnen kann (vgl. Interview T, Z. 73-79). Zielstrebigkeit und Flexibilität Sozialarbeiterin S I erlebt die SchülerInnen als „neugierig, flexibel und energetisch“ und führt das darauf zurück, dass alles um sie herum neu und spannend ist. Vor allem Durchhaltevermögen und die Wissbegierde beobachtet sie bei ihren Schülern (vgl. Interview S I, Z. 405-431). Jedoch gehören auch Scheitern und Umwege zu ihren Erfahrungen dazu und werden als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, auf die aufbauend die nächsten Schritte folgen. Dabei zeigen die SchülerInnen eine hohe Flexibilität, sowohl räumlich, als auch in ihrer Zukunftsgestaltung. „Einen Beruf lernen, ja das ist nicht einfach, aber wenn ich Beruf habe, ich kann nicht nur in Deutschland, ich kann andere Länder auch arbeiten.“ (Interview T, Z. 122ff.) Auch die „Kunst, die Gelegenheit zu ergreifen“ und die Bildungszeit für sich individuell optimal auszugestalten (vgl. Seukwa 2006, S. 230) beherrschen die befragten geflüchteten Jugendlichen. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel im Bericht von Schüler R, der sehr zielstrebig und sehr bewusst die schnellste Möglichkeit zu einem Abschluss wählt. Dabei versteht er es, sein soziales Stützsystem so einzusetzen, dass er sein Ziel erreicht. Sich Hilfe zu holen, wo man sie braucht, ist eine weitere hilfreiche Stärke auf dem Weg zum Bildungsziel (vgl. Interview R, Z. 4-24, 57-61). Manchmal ist es jedoch auch nötig, „die eigenen Träume den Plänen unterzuordnen“ und zu einer realistischeren Zielsetzung zu gelangen. (vgl. Seukwa 2005, S. 238f.) Im Interview formuliert Schüler T ein wenig desillusioniert: „Wegen Deutsch wir können nicht unsere Wünsche machen. (…) Wir sagen zum Beispiel S III: „Das ist mein Traumberuf.“ Sie sagt: „Das ist Traum. Aber dort musst du perfekt Deutsch !51 sprechen und dann musst du sehr gut Mathe wissen (…) und mit Computer gut umgehen.“ So so. (…) Wegen meinen Kindern ich kann nicht auch einfach etwas wählen. (…) Meine Frau auch hat Wünsche.“ (Interview T, Z. 150-158) Schülerin U stellt ihren Studienwunsch ebenfalls zugunsten einer Ausbildung zurück, bis sie sicher ist, einem Studium in deutscher Sprache gewachsen zu sein (vgl. Interview U, Z. 61-64). Die mitgebrachte Fähigkeit, z. B. Fußball zu spielen (vgl. Interview T, Z. 64f.) oder Reiten (vgl. Interview R, Z. 221-230), können Schüler T und R zum Aufbau eines neuen Freundeskreises nutzen, über die sie Anerkennung und Halt in der neuen Heimat bekommen. Das gelingt allerdings nur, wenn die mitgebrachten Kompetenzen mit dem Angebot am Aufenthaltsort kompatibel sind. So kann Schüler P das Kricketspiel aus Mangel an Angebot in Deutschland nicht fortführen und hat mit Billard spielen ein neues Hobby gefunden, mit dem er sich an die Freizeitstruktur seiner neuen Umgebung angepasst hat und Kontakte knüpfen kann (vgl. Interview P, Z. 315-320). Die Anpassungsleistung der geflüchteten Jugendlichen und integrative Funktion von Hobbys zeigt sich auch in unserer Beobachtung des Besuchs einer Nachbarklasse von FleischereifachverkäuferInnen der Berufsschule III: Die Jugendlichen stellen sich mit ihren jeweiligen Hobbys vor und die Lehrerin stellt fest, dass Interessen und Musikgeschmäcker der heimischen und der geflüchteten Jugendlichen nicht weit voneinander entfernt sind. (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 116-166) Gemeinsame Freizeitgestaltung wie Grillen, Bowling, Kino oder Sport ist ein wichtiger Weg, um Kontakt zu gleichaltrigen Peers zu bekommen und wird sehr motiviert wahrgenommen (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 136-139, 150-155; Interview P, Z. 378-388; Interview U, Z. 112-116). Als einen „kreativen Prozess der Identitätsarbeit“ bezeichnet Frieters-Reermann (Frieters-Reermann 2003, S. 106f.) die „Herstellung der Kohärenz von Kompetenzen, Erfahrungen beziehungsweise Interessen im Herkunftsland mit jenen im Ankunftsland “und meint damit, dass die geflüchteten Jugendlichen in diversen sozialen Zusammenhängen gelernt haben, „sich selbst auf unterschiedliche Arten zu konzipieren und in die Sozialbeziehungen dieser Kontexte einzuspinnen“ (Frieters-Reermann 2003, S. 106f.). !52 5.7.2. Zukunftswünsche und Ziele Die geflüchteten SchülerInnen bringen nicht nur eine Vielzahl von Kompetenzen mit, sondern natürlich auch ihre ganz eigenen Zukunftswünsche und Ziele. Im nachfolgenden werden wir diese Ziele genauer betrachten. Bildung und Ausbildung Bei den angegebenen Wünschen überwiegt der Wunsch nach Bildung und Ausbildung. Fast alle der Schüler formulierten diese Wünsche. Schüler T berichtet uns, dass es sein Wunsch und Ziel ist, jeden Tag mehr zu lernen (vgl. Interview T, Z. 93-98). Schüler V geht es ähnlich und er pflichtet ihm bei: „Wir haben jetzt erreicht, wir wollen etwas mehr erreichen. Und dann hat was (erzielt) zu erreichen, arbeiten wir in diese Richtung. Aber was lernen wir jetzt ist nicht besser, ich glaube. Wir wollen besser lernen. Wir wollen mehr lernen.“ (Interview V, Z. 81-84) Wie oben bereits erwähnt, verfolgen die SchülerInnen ihre Wünsche und Träume auch wenn Widerstände auftreten. R sagt, dass sie Freude am Lernen haben, selbst wenn es ihnen nicht immer leicht fällt (vgl. Interview R, Z. 72-74, 84-85). Die befragten SchülerInnen formulieren meist sehr präzise die eigenen Bildungsziele. „Zuerst will ich eine Ausbildung im Einzelhandel, danach will ich studieren etwas mit Wirtschaft und so, was habe ich gelernt, was weiß ich.“ (Interview U, Z. 67-69) „Ich habe auch verschiedene Praktikum gemacht: Garten, Schneiderei, Maler und von der Schule her Elektriker, aber da …(I: Aber das war´s nicht.) Nee, nur die Erfahrung. (…) Ja, ich hab vor, Kfz-Mechaniker will ich.“ (Interview P, Z. 169-179) Schülerin U verknüpft den Wunsch nach Bildung direkt mit dem Wunsch eine (bessere) Zukunft zu haben. „Wenn man will ein, eine gute Zukunft haben, man muss (…) ehrlich in Schule gehen oder studieren.“ (Interview U, Z. 49-50) Sie verbindet die Möglichkeit Schulbildung zu erfahren mit der Möglichkeit der Inklusion, denn Bildung gilt als ein „wesentlicher Inklusionskontext in modernen Gesellschaften“ (Ottersbach 2015, S. 100). Der Flüchtlingsstatus, mit allen gesetzlichen Restriktionen, ist hingegen mit Inklusion kaum vereinbar. Dennoch existieren Schulkonzepte wie das des BIJ, die auf Integration von geflüchteten Jugendlichen abzielen. Grundvoraussetzung für Inklusion ist es, die Perspektive der geflüchteten Jugendlichen sowie ihre Vorstellungen von Inklusion und die damit verbundenen Probleme einzubinden. Han-Broich definiert Inklusion als ein durch Stabilität und Wohlbefinden gekennzeichnetes Gleichgewicht eines Geflüchteten, das drei Dimensionen umfasst: Die seelisch-emotionale Inklusion zeigt sich als gefühltes Nähe-Distanz-Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft, die kognitiv-kulturelle !53 Inklusion bemisst sich anhand von Sprachkompetenz und gesellschaftlich adäquaten Wissen und Verhalten und die sozial-kulturelle Inklusion bezeichnet die soziale Position in der Gesellschaft. Diese drei Dimensionen der Inklusion finden sich auch in den Zukunftswünschen und Zielen der Jugendlichen (vgl. Han-Broich 2014, S. 351-356). Kontakt Han-Broich belegt in ihrer Studie, dass Ehrenamtliche wesentlich zur seelischemotionalen Integration beitragen, obwohl ihr Aufgabenbereich meist die konkrete praktische Hilfestellung im Alltag ist. Der Aufbau persönlicher Beziehungen hilft den geflüchteten Menschen bei der Überwindung ihrer seelisch belastenden Vergangenheits- und Gegenwartsprobleme. Erst die Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts ermöglicht weitere Integrationsschritte kognitiver oder sozio-kultureller Art (vgl. Han-Broich 2014, S. 351-356). Auch unsere Forschungsarbeit zeigt, dass die empathische Beziehung zu Ehrenamtlichen, Professionellen oder Bekannten von den geflüchteten Jugendlichen als große Hilfestellung und Motivation erlebt wird. Dieser Wunsch nach Kontakt schlägt sich auch in den Zielen nieder. Einige der SchülerInnen formulieren ganz konkret, dass sie gerne in der Gegend bleiben würden, in der sie zurzeit wohnen. Denn hier haben sie bereits gute Kontakte geknüpft, was ihnen Sicherheit und Halt gibt. „Ist auch eine wichtige, weil wir haben hier viele Bekannte, wir haben schon hier Bekannten, dann Nachbarn. Wenn wir ein andere Stadt umziehen, müssen wir wieder anfangen: Neue Bekannte neue Kontakt. Ähm, muss kennenlernen, wo liegt das, wo liegt das..., aber in Aschaffenburg, Nähe Aschaffenburg, Sulzbach oder bei der Stadt haben, ich habe viele Kontakt.“ (Interview T, Z. 260-266) T gibt als weiteren Grund nicht umziehen zu wollen an, dass ihm ein Umzug in die größere Stadt zu unsicher sei. Er möchte nicht, dass seine Kinder in einer großen Stadt aufwachsen, denn man höre ja viele Geschichten in den Nachrichten, dass es dort viel mehr Gefahren gäbe (vgl. Interview T, Z. 48-58). Ein weiteres Ziel der SchülerInnen zeigt sich darin, dass viele der Befragten äußern, mehr Kontakt in Deutschland haben zu wollen. Vor allem auch außerhalb ihres bereits bestehenden Systems zu Deutschen. Schüler P spricht explizit davon, dass er gerne in einem Betrieb mit Deutschen zusammen arbeiten würde, um so Kontakt zu ihnen zu bekommen: „Mit Deutsch? (I: Mmh.) Ja, wenn wir (.) zum Beispiel gehen in (.) in Betrieb, in die Firma zusammenarbeiten mit Deutsch. (I: Ja, ja.) Wir, wir können die kennenlernen. (…) Ja. (I: Ja.) !54 Dort gibt auch Deutsche, und wir sind zusam-, arbeiten zusammen.“ (Interview P, Z. 206-311) Schüler T erzählt von seinen Erfahrungen aus dem Praktikum. Auch hier wird deutlich, wie wichtig ihm der Kontakt ist. „Als wir, äh, im Praktikum wir haben viele neue Worte gelernt. Und auch wir machen Praktikum, jeden Tag, äh, wir lernen neue Worte (.) im Kontakt, denn wir wollen machen Kontakt. Aber ich hab viele Worte schon vergessen, weil ich schon nicht benutze. Aber wenn ich Kontakt mache, ich wieder erinnere diese Worte. (I: Hmhm.) (...).“ (Interview T, Z. 142-145) In seiner Aussage spiegeln sich die Wichtigkeit und der Wunsch nach Sprache wider. Sprache Eine große Integrationsaufgabe für alle SchülerInnen ist das Erlernen der deutschen Sprache. Mangelnde Sprachkenntnisse werden als größte Hürde empfunden und verunsichern sie z.B. beim Arztbesuch oder im Kontakt mit Behörden. Berufe bleiben ihnen versagt, weil ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen. Auch Kontakte auf Augenhöhe mit Deutschen finden nicht statt ohne eine gemeinsame Sprache. Schülerin U drückt es sehr bildlich aus, indem sie sagt, „Ich will nicht zum Beispiel wie eine Maschine bleiben. Ich will mit Leuten reden.“ (Interview U, Z. 79) Ein großer Vorteil ist, dass die meisten der befragten SchülerInnen bereits über gute Sprachkenntnisse in verschiedensten Sprachen verfügen (vgl. Datenblätter). Sie erleben ihre Kenntnisse als hilfreiche Ressource beim Spracherwerb des Deutschen. „Aber Gott sei Dank wir haben gut verstanden und unsere Buchstaben sind gleiche wie Deutsch. (…) Auch Englisch ist nicht so ein Unterschied mit Deutsch. Das hat uns gut geholfen uns zu verstehen auch. Viele Worte sind oder in meine Muttersprache oder in Englisch sind simmular.“ (Interview V, Z. 18-24) In einem Fall führten Türkischkenntnisse auch zum Aufbau eines sozialen Netzwerkes –zunächst mit türkischstämmigen Deutschen. „Ich habe viele Kontakt. Auch Türken. Weil ich kann türkisch sprechen. (…) Früher, ich habe nicht viele Kontakte, deswegen ich hab nur türkische Leute gefunden und dort Fußball gespielt. Aber mein Bekannter sagt, es gibt viele deutsche Mannschaften. Du kannst hingehen und spielen.“ (Interview T, Z. 265 f, 279-282) !55 Migranten der letzten Generation, sowie die von ihnen gegründeten Vereine und Organisationen, können eine Rolle bei der Integration der Neuzuwanderer spielen. Aus eigener Erfahrung wissen Menschen mit Migrationshintergrund, wie schwer der Anfang ist und mit welchen Hürden und psychischen Herausforderungen Integration und Identitätsfindung in der Fremde sind (vgl. Interview S II, Z.42-49). Sie sind durch ihre Sprachkenntnisse oft die ersten, die Kontakte knüpfen können und zu denen die jungen Geflüchteten Vertrauen aufbauen. Verbindend wirken neben der gemeinsamen Sprache unter Umständen die Religion, vertraute Traditionen und Essgewohnheiten oder ein gemeinsames Hobby. Schüler T berichtet vom Fußballspiel im türkischen Verein (siehe oben). Sein Wunsch ist es jedoch, in einem deutschen Verein mit deutschen Mitspielern zu spielen. Er sieht dies als eine weitere wichtige Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und sich heimischer zu fühlen. Mittlerweile hat er genug Vertrauen in seine Sprachkompetenz, dass er diesen nächsten Schritt bald wagen möchte (vgl. Interview T, Z. 265f, 279-282). Partizipation Auch der Wunsch nach Partizipation und Mitbestimmung spielt eine Rolle im Leben der Jugendlichen. Schülerin U ist Mitglied in der Schülermitverwaltung (SMV) der BS I. Damit sind die Interessen der geflüchteten SchülerInnen an der Berufsschule formell auch schulpolitisch vertreten. Die Teilhabe in Form von Mitbestimmung ist ein bedeutender Inklusionsfaktor und zugleich ein persönliches Ziel dieser engagierten Schülerin. Familie Neben den oben angeführten Themen spielt auch das Thema Familie eine wichtige Rolle. So wünscht sich zum Beispiel der Familienvater T eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und betont in diesem Zuge gleich, wie wichtig ihm Familie ist. Mit einer Familie sei einfach alles ein bisschen besser (vgl. Interview T, Z. 160-221, 228-237). Schülerin O wünscht sich, in der Zukunft mit ihrer Familie zusammen wohnen zu können und vielleicht sogar einen Freund zu haben (vgl. Interview O, Z. 230-232). Auch ihre Klassenkameradin U sagt, dass sie sich neben der Möglichkeit eine Ausbildung machen zu können, als allererstes ein Kind wünscht (vgl. Interview U, Z. 279-280). !56 5.8. Theoretische Schlussbetrachtung: Bildungs- und Teilhabechancen nach Bourdieu Im Modell des französischen Soziologen Pierre Bourdieu lassen sich die in den vorigen Kapiteln empirisch herausgearbeiteten Herausforderungen für die geflüchteten SchülerInnen subsummieren und ihre soziale Benachteiligung anschaulich darstellen. Unabhängig vom Fluchtkontext hat er die gesellschaftliche Position eines Menschen anhand der Konfiguration der Kapitalsorten veranschaulicht. Er unterscheidet ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital und setzt das Kapitalvolumen, welches einem Individuum zur Verfügung steht, in Korrelation zu seinen Bildungschancen und in Folge zu seinen gesellschaftlichen Teilhabechancen (vgl. Bourdieu 1983). Im Fluchtkontext erweitert Joachim Schroeder das Modell um juridisches Kapital. Durch die vier Kapitalarten lassen sich die Bildungsbarrieren junger Flüchtlinge kategorisieren und ihre gesellschaftliche Benachteiligung erklären (vgl. Schroeder 2003, S. 411-426; Schroeder/ Seukwa 2007, S. 24-27, Frieters-Reermann 2013; S. 99-107). Geflüchtete Kinder- und Jugendliche leben durch die Leistungen, die ihnen laut Asylgesetzen zustehen, häufig unterhalb des Existenzminimums. Einige leben besonders sparsam, um von ihrem kleinen Budget noch Geld in ihre Heimat zu schicken (vgl. Interview S III; Z. 310-316). Häufig unterliegen sie einem Arbeitsverbot oder -hindernis, welches eine reguläre Beschäftigung erschwert oder verbietet. Ihr ökonomisches Kapital reicht damit nicht für Investitionen in ihr kulturelles Kapital – sei es objektiviert (z.B. Bücher, Schulmaterial), inkorporiert (z.B. Nachhilfe, Weiterbildung, Museumsbesuch) oder institutionell (z.B. Bildungstitel, B1Prüfung). Durch die Flucht haben die SchülerInnen mit ihren familiären Netzwerken und Freundeskreisen zunächst ihr gesamtes soziales Kapital verloren. Eine der größten Herausforderungen bedeutet der Wiederaufbau eines sozialen Stützsystems aus (Ersatz-)Familie, neuen Freunden, Ehrenamtlichen und Professionellen. Die am meisten beeinträchtigende und stigmatisierende Kapitalart ist für die jungen Flüchtlinge das fehlende juridische Kapital: Weil Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnis und Bildungsrechte fehlen bzw. einschränken, wird der Zugang zu anderen Kapitalsorten behindert. Die soziale Lebenslage der Jugendlichen, definiert durch materielle Lebensverhältnisse, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnsituation und soziales Netzwerk, bleibt hinter den eigentlichen Möglichkeiten zurück. Die Selbstverwirklichungs- und Teilhabechancen der Geflüchteten an der Gesellschaft sind eingeschränkt (vgl. Schroeder/ Seukwa, S. 25). Junge Geflüchtete sind besonders benachteiligt, „weil ihnen gesellschaftlich anerkanntes Bildungskapital fehlt, rechtliche Einschränkungen ihre Lebensentwürfe behindern !57 und sie durch die Struktur des Bildungssystems nicht in ausreichendem Maß gefördert werden.“ (Frieters-Reermann 2013, S. 105) 6. Fazit: Schulalltag als Chance? Um unsere Forschungsfrage beantworten zu können, nämlich wie das Erleben der geflüchteten Jugendlichen im BIJ ist, greifen wir auf die Ziele der Jugendlichen zurück und stellen sie den Zielen von Schule und Gesellschaft gegenüber. Das Schulkonzept sieht den mittleren Bildungsabschluss, die Ausbildungsreife und das Erlernen der deutschen Sprache als wesentliche Ziele des Berufsintegrationsjahres vor und bereitet damit eine gesellschaftliche Integration der Geflüchteten vor. Die Gesellschaft steht wie in der Einleitung erläutert in der Ambivalenz, den geflüchteten Jugendlichen aus ökonomischen Interessen Bildung und Inklusion zu gewähren und das Recht auf Bildung gemäß der AEMR umzusetzen. Andererseits ist der Flüchtlingsstatus mit den zughörigen gesetzlichen Restriktionen mit Inklusion kaum vereinbar, führen sie doch zu erheblicher sozialer Benachteiligung und erschweren die gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten. Vor diesem Spannungsfeld bewältigen die Jugendlichen hoch motiviert und beharrlich das BIJ. Ein Teil der SchülerInnen nutzt die Möglichkeit zu Schulabschluss und Berufsausbildung, die mittelfristig Halt und Perspektive bieten. Längerfristige Ziele sind für diese SchülerInnen aufgrund ihres unsicheren Aufenthaltsstatus schwer formulierbar: „In diese Zeit ist schwer zu denken darüber. Weil wir sind nicht so sicher auch hier in Deutschland. Wir haben keine Aufenthaltserlaubnis oder so etwas. Und kann man nicht wissen ob, oder kann man nicht sagen, ob ich eine Zukunft hier oder in Heimat. Deswegen denke ich nicht so viel nach! Was mach ich nach fünf Jahre. Ich versuche immer am besten machen für morgen. Und dann morgen, wenn es ist gut, ich mache noch für übermorgen. Immer ein Schritt. Nicht so Längen bis jetzt. Und dann, wenn man hat was konkret, kann man auch mehr denken.“ (Interview V, Z. 184-193) Der andere Teil könnte das BIJ als Weg zum Bleiberecht in Deutschland nach § 25 AufenthG nutzen, verbunden mit großem Erfolgsdruck. Diese SchülerInnen haben längerfristige Perspektiven, z.B. Familiengründung und aufbauende Bildungsziele. Beiden Gruppen der SchülerInnen gibt das BIJ einen haltgebenden, wertschätzenden Rahmen und ein soziales Stützsystem in der für sie fremden Kultur. Sie können ihre Persönlichkeit entwickeln, d.h. ihre Identität (neu) bilden, in und trotz unsicherer Aufenthaltsverhältnisse. Diese Stabilisierung und Anleitung stärkt die Handlungskompetenzen der SchülerInnen, die in Deutschland bleiben, aber auch derjenigen, die nicht bleiben können. Die SchülerInnen beschreiben das !58 Schulklima der BS I einhellig als sehr wohltuend. Alle PädagogInnen – einschließlich des Schulleiters – prägen Werte wie Toleranz und Respekt, Teilhabe und Mitbestimmung. Durch die Flucht haben die meisten Jugendlichen ihre unmittelbaren Bezugspersonen verloren. Sie sind gezwungen, sich ein neues soziales Netzwerk aufzubauen. Das BIJ gibt den SchülerInnen die Möglichkeit, neue soziale Kontakte zu schließen – sowohl zu Gleichaltrigen als auch zu den PädagogInnen in der Funktion elternähnlicher Fürsorgebeziehungen. Ihre Zukunftschancen hängen wesentlich davon ab, inwieweit es ihnen gelingt, das nötige soziale Kapital (Bourdieu) aufzubauen. Zuhause können sie sich nur da fühlen, wo Familie (nersatz) und Freunde erreichbar sind. So entwickeln viele SchülerInnen im BIJ eine Art „Zuhause-Gefühl“. Die SchülerInnen empfinden große Dankbarkeit für diese Unterstützung der Schule und die Chance für einen Neuanfang. „Aber Zukunft Schritt für Schritt und ich glaube für uns alles besser sein.“ (Interview T, Z. 244 f.) Die Chance auf eine sichere, tragfähige, realistische Zukunftsperspektive ist allerdings von den politischen und gesetzlichen Rahmenbedingen abhängig und kann weder von der Institution Schule noch von den SchülerInnen selbst beeinflusst werden. So werden vermutlich manche SchülerInnen nach Beendigung des BIJ in Bezug auf den gewünschten Neuanfang enttäuscht werden, wie es auch schon in Bezug auf unrealistische Berufswünsche geschehen ist. Für die SchülerInnen birgt des BIJ außerdem die Chance, Interkulturalität zu lernen. Die SchülerInnen berichten von den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, aber auch von gelingenden interkulturellen Freundschaften in der Klasse. Es ist anzunehmen, dass diese Kompetenz im Zuge der Globalisierung weiter an Bedeutung gewinnen wird. Hier wäre es interessant zu untersuchen, in wieweit sich die erworbene Interkulturalität positiv auf die berufliche Laufbahn der jetzigen SchülerInnen auswirkt. Das Projekt des Berufsintegrationsjahres wurde als sicherer Ort für die SchülerInnen konzipiert. Das bedeutet nicht nur Schutz vor traumatischen Erlebnissen, sondern auch Schutz vor Überforderung im Regelschulsystem. Damit geht allerdings eine gewisse Abschottung von der Normalität der Mehrheitsgesellschaft einher, eine Form von Exklusion. Für die Inklusion geflüchteter Jugendlicher ist es bedeutsam, danach den Übergang in die Erwerbsarbeit zu schaffen. Nach Korntheuer ist Erwerbsarbeit eine der drei !59 Dimensionen von Inklusion (vgl. Korntheuer 2014, S. 321). Hier wäre interessant zu untersuchen, wie erfolgreich und nachhaltig die SchülerInnends BIJ in der Arbeitswelt Fuß fassen können. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit könnten außerdem eine Grundlage dafür sein, bundesweit Schulmodelle zu entwickeln, die geflüchteten Jugendlichen einen Zugang zu Erwerbsarbeit verschaffen. Kritisch ist aus unserer Sicht die Instrumentalisierung der Institution Schule im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeit. Dies widerspricht dem Gebot von Bildung als Menschenrecht, dem sich Deutschland verpflichtet hat. „Wenn man will eine gute Zukunft haben, man muss in die Schule gehen oder studieren.“ (Interview U, Z. 49f.) Im Laufe unserer Forschungsarbeit tauchten im Kontext Flucht und Bildung immer mehr interessante Aspekte auf, die wir in der Forschungsarbeit nicht weiter thematisieren konnten, da sie von der Forschungsfrage zu sehr abwichen. Am Ende wollen wir sie dennoch nennen, um zu zeigen, an welcher Stelle Forschungslücken weiter erkundet werden könnten. Die befragten Jugendlichen berichteten zwar kaum von Zugangsbarrieren in die Schule, tatsächlich aber kennen nicht alle geflüchteten Jugendlichen das Bildungsangebot, nicht jede/r besteht den Aufnahmetest und es gibt nicht für alle 16-21-jährigen geflüchteten Jugendlichen aus der Stadt und dem Landkreis Aschaffenburg einen Schulplatz. Vermutlich erhöhen eine lange und qualitativ hochwertige Bildungsbiographie, glücklicher Zufall und eine günstige soziale Vernetzung mit einem professionellen oder erfahrenen Helfersystem die Chance, vom Modellprojekt zu erfahren und die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Hier könnte weiter geforscht werden z.B. nach Kriterien, die den Jugendlichen den Einstieg ermöglichen oder den Erfolg wahrscheinlicher machen. Ebenso könnten daraus Forderungen gestellt werden nach einem standardisierten Zugangsverfahren und der Anpassung von Angebot an Nachfrage. Ein weiterer kritischer Punkt ist das Thema Inklusion und exklusive Schulbildung. Die Empfehlung einer Sozialarbeiterin, das BIJ (V) um ein drittes Jahr zu verlängern, klingt plausibel, wenn es darum geht, leistungsschwächeren SchülerInnen mit wenig Bildungserfahrung zum mittleren Bildungsabschluss zu verhelfen. Nachteilig ist aber der Verbleib der Jugendlichen in einer exklusiven Bildungsmaßnahme. Interessant wäre an dieser Stelle z.B. eine Langzeitbeobachtung der Entwicklung geflüchteter Jugendlicher mit exklusiver und mit inklusiver Ausbildung. !60 Vielfach äußerten die Interviewten den Wunsch nach mehr Differenzierung, sei es durch Hausaufgabenhilfe am Nachmittag, Kleingruppenarbeit oder individueller Förderung. Vorstellbar ist eine Erforschung der Differenzierungsmodelle und Möglichkeiten und deren Auswirkungen auf die Zielerreichung der geflüchteten Jugendlichen. Mehr Differenzierung im Unterricht wäre an der BS I nur möglich, wenn zusätzlicheLehrerInnen eingestellt würden. Ein näherer Blick lohnt sich auf jeden Fall auf die Auswirkungen des aktuellen Asylrechts auf die Bildungschancen geflüchteter junger Menschen. Auch unter diesem Aspekt wäre die BS I ein geeignetes Forschungsfeld. Ein Coaching der Jugendlichen über die Schulzeit hinaus könnte an dieser Stelle den schwierigen Schritt in die Ausbildung abfedern. !61 Literaturverzeichnis Badawia, Tarek (2005): Am Anfang ist man auf jeden Fall zwischen zwei Kulturen – Inter-kulturelle Bildung durch Identitätstransformation. In: Hamburger, Franz/ Badawia, Tarek/ Hummrich, Merle: Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften, S. 205-220 Bayrisches Staatsministerium für Bildung und Kultus (2014): Unterrichtsangebote für berufsschulpflichtige Asylbewerber und Flüchtlinge im Schuljahr 2014/2015. Schreiben Nr. VII.1-5 S 9210-1-7b.072 959 vom 24.07.2014 Barlösius, Eva (2011): Soziologie des Essens. 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