socialnet Materialien: Das Berufsintegrationsjahr einer bayrischen

Das Berufsintegrationsjahr
einer bayrischen Berufsschule
aus Sicht geflüchteter
SchülerInnen
Heidi Brümmer, Petra Kriechel,
Helga Lack, Lucas Läufer
veröffentlicht unter den socialnet Materialien
Publikationsdatum: 25.07.2016
URL: http://www.socialnet.de/materialien/27589.php
Hochschule Darmstadt
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
Forschungsbericht
M 120 Forschungsmethoden Sozialer Arbeit
Geflüchtete Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem
bei Prof. Dr. Susanne Spindler
Forschungsfrage:
Wie erleben die geflüchteten SchülerInnen das BIJ (V)
an der Berufsschule I in Aschaffenburg?
vorgelegt von:
Heidi Brümmer, Matrikel-Nr.: 735879
Petra Kriechel, Matrikel-Nr.: 736462
Helga Lack, Matrikel-Nr.: 736379
Lucas Läufer, Matrikel-Nr.: 736399
Wintersemester
2015/2016 1. Einleitung
1
2. Schlüsselbegriffe
3
3. Forschungsfeld und Rahmenbedingungen
4
3.1. Modellprojekt BIJ und BIJ-V - Ziele und Konzeption
4
3.2. Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen
6
4. Methodisches Vorgehen
4.1. Planung, Vorbereitung und Auswahl der InterviewpartnerInnen
8
8
4.2. Das qualitative Interview und die Beobachtung
10
4.3. Durchführung der Beobachtungen und der Interviews
11
4.4. Transkription und Auswertung
12
4.5. Kritische Methodenreflektion
13
5. Empirische und theoretische Auswertung
14
5.1. Bildungsbiografien
15
5.2. Schulalltag – Chance mit vielen Hürden
18
5.2.1. Zugang: Information, Aufnahmetest und Schulweg
18
5.2.2. Schulklima
20
5.2.3. Unterricht - Schulfächer und Differenzierung
21
5.2.4. Pausen
26
5.2.5. Hausaufgaben
26
5.2.6. Praktikum
27
5.2.7. Klassenfahrt
28
5.2.8. Freizeit und Ferien
28
5.3. Spracherleben
30
5.4. Sozialkontakte als Stützsystem
32
5.4.1. Beziehung zu Gleichaltrigen
32
5.4.1.1. Kontaktaufnahme
32
5.4.1.2. Klassengemeinschaft
33
5.4.1.3. Freundschaften
5.4.2. Beziehung zu Erwachsenen
35
38
5.4.2.1. Fürsorge und Respekt
38
5.4.2.2. Die Helfer – Elternersatz oder Freunde?
38
5.5. Psychische Herausforderungen und Hilfen
42
5.5.1. Schule als sicherer Ort
43
5.5.2. Halt durch Tagesstruktur
44
5.6. Asylrecht
46
5.7. Kompetenzen und Zukunftswünsche
50
5.7.1. Kompetenzen
50
5.7.2. Zukunftswünsche und Ziele
53
5.8. Theoretische Schlussbetrachtung: Bildungs- und Teilhabechancen
nach Bourdieu
6. Fazit: Schulalltag als Chance?
57
58
„Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung."
(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), Artikel 26)
1. Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland erlebt zurzeit die höchste Zahl von
AsylbewerberInnen seit den 1990er Jahren: Bis Dezember 2015 stellten knapp
500.000 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Davon waren etwa
103.000 unter 16 Jahre alt und etwa 115.000 zwischen 16 und 25 Jahre alt (vgl.
BAMF 2015, S. 3, 7).
Die öffentlichen Diskurse zum Thema Flucht und Asyl werden kontrovers geführt:
Einerseits wird die Fluchtmigration in Verbindung mit dem demografischen Wandel
als große Chance diskutiert, dem zunehmenden Fachkräftemangel auf dem
Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Doch unabhängig von ökonomischen
Verwertbarkeitskriterien setzen sich Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl
oder Wohlfahrtsverbände dafür ein, den Menschen Schutz und
Teilhabemöglichkeiten zu gewähren. Einig sind sich beide Seiten darin, dass
Inklusion nötig ist. Da Bildung ein bedeutender Inklusionsfaktor für geflüchtete
Menschen ist, liegt die Herausforderung darin, die geflüchteten Menschen ins
deutsche Bildungssystem aufzunehmen. Ohne Bildung wird es weder Fachkräfte
geben noch gesellschaftliche Integration. Bildung ist einerseits ein wesentlicher
Faktor für wirtschaftliche Entwicklung und soziale Integration, beeinflusst
andererseits maßgeblich die individuellen Lebenschancen. (vgl. Allmendinger 2013)
Frieters-Reermann beschreibt Bildung als den „Schlüssel für Handlungsfähigkeit,
die Gestaltung von Lebensentwürfen sowie für Teilhabechancen von Menschen in
einer Gesellschaft“ (vgl. Frieters-Reermann 2013, S. 89, 100), der Soziologe Pierre
Bourdieu als „kulturelles Kapital“.
Noch grundlegender wird Bildung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
(AEMR) von 1948 aufgefasst: Artikel 26 fordert das allgemeine Recht auf Bildung.
Bildung ist demnach ein Weg, um die Persönlichkeitsentfaltung für alle Menschen
zu ermöglichen sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu
stärken. Deutschland hat die AEMR anerkannt (vgl. Lohrenscheit 2013, S. 1). So ist
es jenseits aller ökonomischen Überlegungen ein (völker-) rechtliches und ethisches
Gebot, angemessene Bildungszugänge für geflüchtete Kinder und Jugendliche in
Deutschland zu schaffen.
Im Rahmen des Studienmoduls „Geflüchtete Kinder und Jugendliche im deutschen
Bildungssystem“ beschäftigen wir uns mit den (Aus-)Bildungsmöglichkeiten
geflüchteter Jugendlicher in Deutschland. Exemplarisch untersuchen wir das !1
Modellprojekt der Berufsintegrations-Klassen an der staatlichen Berufsschule I in
Aschaffenburg (Bayern). Unsere Forschungsfrage lautet:
„Wie erleben geflüchtete Jugendliche das BIJ bzw. das BIJ-V an der
Berufsschule I in Aschaffenburg?“
Uns interessiert dabei besonders die Sichtweise der aktuell am Schulgeschehen
direkt Beteiligten, also der Sozialarbeiterinnen und LehrerInnen sowie die der
geflüchteten Jugendlichen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Erleben der
Jugendlichen selbst. Sie sind nach Aussage von Sozialarbeiterin S I bisher noch
nicht dazu befragt worden.
Wir betrachten die zahlenmäßig größte Altersgruppe der geflüchteten Jugendlichen
zwischen 16 und 25 Jahren. Während Jugendliche in Deutschland mit 16 Jahren
bereits 9 oder 10 Jahre lang die Schule besucht haben und nicht mehr der Vollzeitschulpflicht unterliegen, bringen geflüchtete Jugendlichen in diesem Alter oft wesentlich weniger Schulerfahrung mit – quantitativ und qualitativ. Die jugendlichen
Flüchtlinge sind den allgemeinbildenden Schulen daher altersmäßig
„entwachsen“ (vgl. Deutscher Caritasverband e.V., S. 138).
Nachdem wir im folgenden Kapitel die Schlüsselbegriffe „geflüchtete Jugendliche“,
„Bildung“ und „Inklusion“ erklären, geht es im dritten Kapitel um das Forschungsfeld
und seine konzeptionellen, gesetzlichen sowie finanziellen Rahmenbedingungen. Im
vierten Kapitel setzen wir uns kritisch mit der gewählten Forschungsmethode und
der Durchführung unseres Projekts auseinander, bevor wir im fünften Kapitel zur
empirischen und theoretischen Auswertung unserer Ergebnisse kommen.
Wir befassen uns mit der Frage, wie die geflüchteten Jugendlichen das für sie
eingerichtete Modellprojekt an der BS I erleben. Welche Vorbildung bringen die
SchülerInnen mit und wie erleben sie selbst ihren Schulalltag? In weiten Teilen der
Arbeit befassen wir uns mit schulischen, sprachlichen, psychischen und rechtlichen
Hürden, die geflüchtete Jugendliche überwinden müssen, um im Bildungssystem
erfolgreich vorwärts zu kommen. Wie finden sie überhaupt einen Zugang zur
Schule? An welche Bedingungen ist der Schulbesuch geknüpft? Wie begegnet die
Schule der Heterogenität der geflüchteten Jugendlichen, ihren besonderen
Schwierigkeiten und ihren mangelnden Sprachkenntnissen? Wie wirkt sich der
Aufenthaltsstatus aus?
Weiterer Schwerpunkt ist ein Blick auf die sozialen Kontakte und Vernetzung der
Jugendlichen, die ihnen beim Einstieg in Schule und Gesellschaft helfen. Schließlich
interessiert uns, wo die SchülerInnen sich selbst als besonders kompetent erleben
oder von den Lehrkräften und Sozialarbeiterinnen als besonders kompetent erlebt
!2
werden und wie diese Kompetenzen den geflüchteten Jugendlichen bei der
Bewältigung ihres oft schwierigen Alltags helfen. Abgerundet wird der
Auswertungsteil mit einer theoretischen Betrachtung der gesellschaftlichen Position
und den Chancen der geflüchteten Jugendlichen nach Bourdieu. Im Fazit fassen wir
unsere Ergebnisse zusammen und versuchen die Forschungsfrage zu beantworten.
2. Schlüsselbegriffe
Geflüchtete Jugendliche
Die Begriffe „AsylbewerberInnen“, „Flüchtlinge“ oder „Geduldete“ bezeichnen jeweils
einen rechtlichen Status im Asylbewerberverfahren. Die befragten SchülerInnen
haben unterschiedliche Status, somit wäre der Gebrauch eines der Begriffe nicht
geeignet. Der Begriff „AusländerIn“ ist einerseits stigmatisierend und berücksichtigt
andererseits nicht das Alter und den Fluchthintergrund. Wir wählen darum für
unsere Zielgruppe den Begriff „geflüchtete Jugendliche“. Er zeigt auf, dass es sich
um Jugendliche handelt, die einerseits im Prozess des Erwachsenwerdens stehen,
andererseits ihre Flucht mit allen Folgen bewältigen müssen.
Interkulturalität
Dieser Begriff beschreibt den offenen und dynamischen Prozess, der aus dem
Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Gewohnheiten,
Verhaltensweisen und Orientierungen entstehen kann (vgl. Nick 2005, S. 254).
Inklusion
Im Sinne inklusiver Bildung bedeutet Inklusion, dass alle Menschen – unabhängig
von Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, besonderer Lernbedürfnisse,
sozialen und ökonomischen Voraussetzungen – die gleichen Möglichkeiten offen
stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu
entwickeln (vgl. Deutsche Unesco Kommision e.V: Was ist inklusive Bildung).
Bildung
Bei dem Begriff Bildung handelt es sich um einen sehr komplexen Begriff, der
weder im alltäglichen, noch im wissenschaftlichen Kontext einheitlich
verwendet wird. Wir verwenden in der nachfolgenden Arbeit Bildung im Sinne
von Humboldt, als einen aktiven und selbstbestimmten Prozess, der auf die
Entwicklung einer Person in einem umfassenden Sinne abzielt (vgl. Humboldt
!3
1972, S. 9). Wir meinen somit also nicht nur die formellen, sondern auch die
informellen Bildungserfahrungen.
3. Forschungsfeld und Rahmenbedingungen
Das Forschungsfeld, in dem unsere Erkundungen sich bewegen, ist die Staatliche
Berufsschule I (BS I) in Aschaffenburg, einer Kleinstadt im bayerischen
Unterfranken, die ökonomisch zur Rhein-Main-Region gehört. Die Stadt zählt
67.900 EinwohnerInnen (darunter ca. 18.000 MigrantInnen), im Landkreis wohnen
weitere 173.000 Menschen. Anfang 2016 waren mehr als 2.100 geflüchtete
Menschen in Stadt und Landkreis Aschaffenburg untergebracht (vgl. Internetseiten
der Stadt und des Landkreises Aschaffenburg).
Aschaffenburg ist Hochschulstadt mit über 3.000 Studierenden. Ungefähr 20.000
SchülerInnen besuchen diverse Schulen des strikt an der Dreigliedrigkeit
orientierten bayerischen Schulsystems (Grund-, Förder-, Mittel-, Realschule,
Gymnasien, Fach- und berufliche Schulen). In der Stadt gibt es 22 Fach- und
berufliche Schulen, eine davon ist die BS I für gewerbliche Berufe mit den
Berufsfeldern Metall-, Elektro-, Holz- und Farbtechnik. Zurzeit absolvieren knapp
1.800 SchülerInnen den schulischen Teil ihrer Ausbildung an der BS I. Neben der
BS I gibt es auf dem Berufsschulgelände die BS II für kaufmännische Berufe und
die BS III für hauswirtschaftliche Berufe und Textiltechnik. Jugendliche ohne
Ausbildungsverhältnis können an der BS I Berufsvorbereitungsjahre (BVJ)
absolvieren (vgl. www.berufsschule1ab.de).
Das Berufsintegrationsjahr (BIJ) ist seit 2013/14 an der BS I eingerichtet. Es ist Teil
des Bayerischen Modellprojekts „Perspektive Beruf für Asylbewerber“. 140
geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene besuchen zurzeit die beiden
Jahrgangsstufen BIJ und BIJ-V, die neben dem Spracherwerb den mittleren
Bildungsabschluss und die Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis zum Ziel
haben (vgl. www.bij-aschaffenburg.de).
3.1. Modellprojekt BIJ und BIJ-V - Ziele und Konzeption
Ziele und Zielgruppe für BIJ und BIJ-V
Das Modellprojekt zur Beschulung berufsschulpflichtiger Flüchtlinge an bayerischen
Berufsschulen richtet sich an geflüchtete Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren.
!4
In Ausnahmefällen werden bis 25-Jährige aufgenommen, wenn sie noch keinen
Schulabschluss in Deutschland erreicht haben oder der im Heimatland erreichte
Abschluss nicht anerkannt wurde und ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um
in regulären Berufsschulklassen für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz (JoAsKlassen) unterrichtet zu werden (vgl. ISB 2014, S. 69).
Das bayerische Kultusministerium orientiert sich mit seinen Zielen für das
Modellprojekt „Perspektive Beruf für Asylbewerber und Flüchtlinge“, das dem BIJ
und BIJ-V zugrunde liegt, deutlich an ökonomischen Verwertbarkeitskriterien. So
soll das BIJ der besseren Vorbereitung der „Integration von Flüchtlingen mit
Bleibechancen in den Arbeitsmarkt“ dienen. Bestehende Unterrichtskonzepte sollen
„passgenau weiterentwickelt und erprobt“ werden, um Jugendliche „besser auf
einen erfolgreichen Übergang in eine duale Ausbildung und den Arbeitsmarkt“
vorzubereiten (Kultusministerium 2015).
Konkret legt das Konzept des BIJ den Schwerpunkt auf drei Ziele: das Erlernen der
deutschen Sprache, den Erwerb des mittleren Bildungsabschlusses und die
Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis.
Darüber hinaus haben die SozialarbeiterInnen der BS I sich in einer eigenen
Konzeption zum Ziel gesetzt, die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen zu
mindern, die bedingt durch Flucht und soziale wie rechtliche Benachteiligung
entstanden ist. Sie wollen Halt und Zuversicht vermitteln und so das Vertrauen in die
eigene Handlungsfähigkeit wiederherstellen, Kompetenzen erkennen und fördern
und bezogen auf die Heterogenität in den Klassen für Ausgleich sorgen. Außerdem
soll die Flüchtlingsschulsozialarbeit an der BS I die Jugendlichen für die deutsche
Sprache und Kultur sensibilisieren (vgl. Konzept Schulsozialarbeit der BS I, S. 3f.).
Konzeption BIJ und BIJ-V
Die Konzeption des Modellprojekts an der BS I lehnt sich an die Konzeption der
SchlaU-Schule in München und orientiert sich an der Handreichung des ISB, die im
Auftrag des Kultusministeriums erstellt wurde (vgl. ISB 2015; SchlaU-Lehrkonzept
2015).
Demnach ist der Schulbesuch der geflüchteten Jugendlichen für zwei Jahre
vorgesehen, je nach Vorbildung und individuellem Lernfortschritt. Anhand der
Ergebnisse des Aufnahmetests wird die Klassenzuteilung nach DeutschSprachniveau vorgenommen. Da auch die Mathematikkenntnisse sehr stark
differieren, kann der Mathematikunterricht nach Leistungsgruppen differenziert
abgehalten werden, wenn genügend Lehrkräfte verfügbar sind (vgl. Beobachtung
BIJ-V, Z. 173f.). Die Klasseneinteilung ist in beide Richtungen durchlässig. Wechsel
!5
sind jederzeit möglich, auch innerhalb des Schuljahres. So gibt es an der BS I
zurzeit sechs Vorbereitungsklassen für das Berufsintegrationsjahr (BIJ-V-Klassen),
davon zwei Alphabetisierungsklassen, und zwei Berufsintegrationsklassen (BIJKlassen) (vgl. Experteninterview, Z. 15-19; Interview L III, Z. 48-49; ISB, S.30).
Regelmäßig finden Leistungserhebungen in Form schriftlicher wie mündlicher Tests
statt, die benotet werden. Zeugnisse informieren zwei Mal jährlich über den
Lernstand. Ein „Sitzenbleiben“ ist nicht möglich, da die einzelnen Klassenstufen
nicht über einheitliche Lernziele verfügen.
Inhalt des BIJ-V ist insbesondere intensiver Spracherwerb, mitunter auch
Alphabetisierung, als Schlüsselqualifikation zur Teilhabe am Erwerbsleben. Neben
der Vermittlung mathematischer und allgemeinbildender Inhalte (Sozialkunde)
erfolgt auch eine sozialpädagogische Unterstützung der Jugendlichen (vgl. ISB
2014). Im zweiten Schuljahr, dem BIJ, sollen die erworbenen Kenntnisse in Deutsch
und Mathematik handlungsorientiert vertieft werden, mit Blick auf die Hauptziele,
den Erwerb des Mittelschulabschlusses und damit auch die Möglichkeit zur
Berufsausbildung. Zur beruflichen Orientierung sind außerdem mehrere Praktika in
Betrieben vorgesehen. Die BS I beschäftigt eine Mitarbeiterin, die ausschließlich für
die Akquise von Praktikumsplätzen, die Unterstützung der SchülerInnen bei der
Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen sowie für die Betreuung während
der Praktika zuständig ist (vgl. Interview S III, Z.19-23, 41-43).
Im zweiten Schuljahr (BIJ) haben die SchülerInnen auch die Möglichkeit, extern in
Kooperation mit einer Mittelschule in Aschaffenburg die Prüfung zum
qualifizierenden Mittelschulabschluss oder den mittleren Schulabschluss
(gleichwertig mit Mittlerer Reife) abzulegen und somit den Grundstein für
aufbauende Schulabschlüsse wie Abitur oder Fachabitur zu legen (vgl. ISB 2014, S.
70).
3.2. Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen
Gesetzliche Rahmung
Seit die UN-Kinderrechtskonvention 2010 durch die Bundesrepublik Deutschland
vollständig anerkannt wurde, gelten die Kinderrechte der Gesetzeslage nach in
vollem Umfang auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Demnach haben sie
unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus das Recht, in Deutschland eine Schule zu
besuchen. Im Jahr 2006 hat die Kultusministerkonferenz zur Umsetzung dieser
Konvention festgehalten: „Die Kultusministerkonferenz richtet ihr Bemühen darauf,
!6
das Recht des Kindes auf Bildung sowie auf Förderung durch geeignete
Maßnahmen zu gewährleisten.“ (Mercator 2015, S.33)
Grundlegend war das Recht auf Bildung schon vorher verankert in Art. 26 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als das Recht auf
grundlegende unentgeltliche Bildung, die der Staat bereitstellen soll. Im
Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) und der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) ist das Recht auf Bildung
ebenfalls verankert. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) (1951) schützt global
die Rechte von Flüchtlingen. Art. 22 GFK verankert das Recht geflüchteter Kinder
und Jugendlicher auf Gleichbehandlung mit eigenen Staatsangehörigen in Bezug
auf den Unterricht in Volksschulen. Darüber hinaus bestimmt Art. 22 GFK eine
möglichst an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen ausgerichtete Behandlung
der Geflüchteten bei den Angeboten weiterführender Schulen. Die
Qualifikationsrichtlinie der EU von 2011 gewährt durch Art. 27 Minderjährigen unter
internationalem Schutz gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem. Das Recht
auf Bildung von Flüchtlingen wird außerdem von weiteren EU-Richtlinien geregelt
und präzisiert (vgl. z.B. Richtlinie 2013/33/EU).
In Deutschland liegt die Zuständigkeit für die konkrete Umsetzung des Rechts auf
Bildung in der Kulturhoheit der Bundesländer. Alle Länder unterscheiden zwischen
einer allgemeinen Schulpflicht und einer Berufsschulpflicht, die einen Schulbesuch
an einer allgemeinbildenden oder einer berufsbildenden Schule während einer
Berufsausbildung vorsieht. In den meisten Bundesländern besteht eine Schulpflicht
von insgesamt 12 Jahren, die sich in 9 Jahre Vollzeitschulpflicht und 3 Jahre
Berufsschulpflicht gliedert (vgl. BWV 2015, S. 3). Für geflüchtete Kinder und
Jugendliche gilt ein Recht auf Bildung, das die Bundesländer unterschiedlich
handhaben. So gibt es Schulbesuchsrecht oder in nahezu allen Bundesländern
mittlerweile die Schulpflicht, mit unterschiedlichen Bedingungen bezüglich Beginn,
Kopplung an Wohnort oder auch Aufenthaltsrecht. In Bayern ist die Schulpflicht für
alle Kinder und Jugendlichen in Art. 35 des Bayerischen Erziehungs- und
Unterrichtsgesetzes (BayEUG) verankert, wonach geflüchtete Kinder und
Jugendliche grundsätzlich der Vollzeitschulpflicht bzw. im Anschluss daran der
Berufsschulpflicht unterliegen. Den 16 bis 21-jährigen Jugendlichen wird ein
besonderer Förderbedarf zugestanden, der über andere Angebote nicht gedeckt
werden kann. Das Konzept aus BIJ-V und BIJ, welches die BS I anbietet, wird vom
bayerischen Kultusministerium als Schulangebot für junge Geflüchtete gemäß Art.
36 Abs. 1, S. 1, Nr. 3 BayEUG anerkannt und als Modellprojekt gefördert.
Die Berufsschulpflicht für geflüchtete Jugendliche ist erst seit kurzem in wenigen
Bundesländern eingeführt. In Bayern können die Jugendlichen seit September 2013
!7
die staatlichen Berufsschulen besuchen (vgl. Frieters-Reermann 2013, S. 91), bis
dahin war der Zugang zu Bildung für die 16 bis 25-jährigen Jugendlichen sehr
eingeschränkt und beruhte meist auf privaten Initiativen, wie beispielsweise dem
Münchener Projekt „SchlaU-Schule“. Das Konzept der SchlaU-Schule wurde Vorbild
für das in Bayern eingeführte zweijährige Unterrichtsmodell an Berufsschulen.
Finanzierung des Modellprojekts
Der Haushalt Bayern finanziert vollständig die Kooperationspartner zur
sonderpädagogischen Betreuung der SchülerInnen im BIJ-V im Schuljahr 2014/15.
Kooperationspartner und somit Arbeitgeber für die Sozialpädagoginnen, die
Fachkraft für die Praktika- und Ausbildungsbetreuerin und die LehrerInnen ist das
Jugendamt der Stadt Aschaffenburg. Das Berufsintegrationsjahr 2014/15 wird aus
Restmitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert (vgl. ISB 2014, S. 71, 75ff.;
Jahresbericht 2015, S. 8-9; Interview S II, Z. 175-176).
4. Methodisches Vorgehen
Mit der Forschungsfrage „Wie erleben geflüchtete Jugendliche das BIJ (V) an der
Berufsschule I in Aschaffenburg“ soll subjektives Erleben fallanalytisch erkundet
werden. Dazu eignen sich hermeneutisch-sinnverstehende Erkenntnismethoden
aus der qualitativen Forschung. Der Gegenstand unserer Fallanalyse ist das
komplexe soziale Gefüge der BS I.
Im Zentrum der qualitativen Forschung steht die Einzelfallanalyse, in unserer
Forschung die Analyse der Interviews von zehn Akteuren des Gesamtsystems. Mit
Hilfe der Einzelfallanalyse kann die Komplexität des gesamten Systems, seine
Zusammenhänge und Funktionen deutlich gemacht werden. Sie hilft bei der „Suche
nach relevanten Einflussfaktoren und bei der Interpretation von
Zusammenhängen“ (Mayring 1999, S.28). Während des gesamten
Analyseprozesses gewährleistet eine Einzelfallanalyse Rückgriffe auf den Fall in
seiner ganzen Komplexität, „um so zu tiefgreifenderen Ergebnissen zu
gelangen“ (Mayring 1999, S.29).
4.1. Planung, Vorbereitung und Auswahl der InterviewpartnerInnen
Zunächst nahm die Forschungsgruppe telefonisch Kontakt mit dem Schulleiter und
einer Sozialarbeiterin der BS I auf und erläuterte das Forschungsvorhaben. Der
Schulleiter und die Sozialarbeiterin signalisierten ihre Bereitschaft zur Teilnahme
!8
und zeigten auch großes Interesse am Forschungsergebnis. Sozialarbeiterin S I
diente im weiteren Verlauf als Ansprechpartnerin der Schule und koordinierte die
Termine vor Ort. Sie erklärte schon am Telefon in groben Zügen das Konzept der
Berufsintegrationsklassen. Ein Treffen zwischen der Sozialarbeiterin S I und der
Forschungsgruppe klärte das weitere praktische Vorgehen sowie weitere Fragen
zum Schulkonzept. Hierzu wurde vorab ein Expertenfragebogen erstellt. Die
Ergebnisse aus dem Telefonat und der Vorbesprechung wurden schriftlich
protokolliert (s. Anhang) Ein wichtiger Punkt war die Anonymisierung. Die
Forschungsgruppe sicherte zu, alle beteiligten Personen zu anonymisieren. Die
Schule als solche darf in Absprache mit dem Schulleiter namentlich genannt, und
die Forschungsergebnisse dürfen für weitere Studien der Hochschule Darmstadt zur
Verfügung gestellt werden.
Der Forschungsgruppe war es wichtig, das Erleben des Schulalltags und das
Schulkonzept BIJ (V) aus möglichst verschiedenen Perspektiven zu betrachten,
deshalb wurden neben SchülerInnen auch deren Sozialarbeiterinnen und
LehrerInnen befragt. Diskutiert wurde auch, ob Interviews mit ehemaligen
SchülerInnen und anderen Akteuren rund um die BS I geführt werden sollten, das
hätte aber den Rahmen dieser Forschungsarbeit gesprengt. So verzichteten wir auf
die Befragung z.B. von ehemaligen SchülerInnen oder von SchülerInnen, die keinen
Zugang zur Schule bekommen haben, weil sie entweder durch den Aufnahmetest
gefallen sind oder keine Information über das Schulangebot hatten. Auch
SchülerInnen, die die Schule freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen haben,
haben wir nicht befragt. Interessant wären auch Interviews mit dem Schulleiter,
SozialarbeiterInnen der Verwaltung oder Sozialberatung sowie mit ehrenamtlichen
Helfern gewesen. Auch auf eine Befragung der nicht von Flucht betroffenen
SchülerInnen, die die BS I besuchen, mussten wir verzichten. Interessant wäre
gewesen, wie sie die Anwesenheit der neuen geflüchteten MitschülerInnen erleben.
Zehn Personen erklärten sich schließlich zu einem Interview bereit: eine Lehrerin,
zwei Sozialarbeiterinnen, eine Mitarbeiterin, die für die Praktikumsbetreuung und
Ausbildungsvermittlung der SchülerInnen verantwortlich ist, zwei Schülerinnen und
vier Schüler aus einer Berufsintegrationsklasse, die als A-Klasse mit sehr guten
Deutschkenntnissen geführt wird. Die Gruppe der sechs befragten SchülerInnen
zeigte sich in vielen Punkten als sehr heterogen. Die SchülerInnen waren zum
Zeitpunkt der Interviews zwischen 18 und 23 Jahren alt und seit 2013 in
Deutschland. Sie stammen aus dem Irak, Syrien, Kosovo, Aserbaidschan und
Pakistan. Die SchülerInnen aus dem Irak und Syrien haben einen Status als
anerkannte Flüchtlinge, die übrigen befinden sich noch im Asylverfahren. Sie haben
unterschiedliche Bildungshintergründe vom „gelegentlichen Schulbesuch“ bis hin
!9
zum Bachelor-Abschluss (vgl. Datenblätter, Interview V, Z. 55-57, vgl. Kapitel 5.1.
Bildungsbiografien).
4.2. Das qualitative Interview und die Beobachtung
Die Forschungsgruppe führte qualitative, leitfadengestützte Interviews und nichtteilnehmende, unstrukturierte Beobachtungen durch. Das teilstrukturierte
Leitfadeninterview stellt ein geeignetes teilstandardisiertes Verfahren dar, um
individuelle Handlungs- und Orientierungsmuster zu erfassen. Die Leitfäden sind
einerseits theoretisch vorstrukturiert, anderseits offen genug, um den Interviewten
Raum für das Erzählen von subjektiver Lebenserfahrung zu lassen (vgl. Mayring
1999). Für die LehrerInnen bzw. Sozialarbeiterinnen und für die SchülerInnen
wurden unterschiedliche Leitfäden konzipiert (Leitfäden s. Anhang). Die offenen
Fragen wurden flexibel anhand des Leitfadens gestellt.
Themen des Leitfadens für die Interviews mit den SchülerInnen waren:
•
Aufnahme ins deutsche Schulsystem, insbesondere in die BS I
•
Erleben des Schulalltags
•
Bezugspersonen und Art und Umfang ihrer Unterstützung
•
Freizeit und Freunde
•
Ziele und Wünsche (auch nach Rahmenbedingungen)
In den Interviews mit LehrerInnen und SozialarbeiterInnen waren folgende Themen
von Interesse:
•
Zugang zu ihrem Arbeitsplatz, insbesondere die Motivation und die eigenen
Kompetenzen
•
Erleben des Schulalltags mit den Aufgaben, Spannungsfeldern und
Herausforderungen und den dafür vorhandenen Hilfen und Netzwerken
•
Sicht auf die Kompetenzen und das Miteinander der SchülerInnen und
Inklusionsmöglichkeiten
•
Persönliches Erleben mit Grenzen, Selbsteinschätzung in der beruflichen
Rolle
•
Ziele und Wünsche (auch nach Rahmenbedingungen)
!10
4.3. Durchführung der Beobachtungen und der Interviews
Die Beobachtungen und die Interviews fanden an einem Vormittag in der Schule
statt. In den ersten beiden Schulstunden setzten sich zwei BeobachterInnen in eine
Berufsintegrationsvorklasse (BIJ-V) und zwei BeobachterInnen in eine
Berufsintegrationsklasse (BIJ). Sie führten eine nicht-teilnehmende, unstrukturierte
Beobachtung durch. Die LehrerInnen und SchülerInnen wurden von der
Sozialarbeiterin kurz über das Projekt informiert. Die Beobachtungen dienten in
erster Linie dazu, einen Eindruck über den Unterricht und die sozialen Interaktionen
dort zu bekommen. Sie wurden vor den SchülerInnen und den LehrerInnen nicht als
Beobachtung, sondern als Hospitation deklariert, um Befürchtungen der
SchülerInnen vor vermeintlicher Kontrolle auszuräumen. Für die anschließenden
Interviews sollte aber ein Vertrauensverhältnis seitens der SchülerInnen aufgebaut
werden. In der BIJ-V Klasse wurden die Beobachterinnen nicht vorgestellt.
Für die Beobachtungsprotokolle wurden während des Unterrichts von beiden
BeobachterInnen Notizen gemacht, die im Anschluss zu jeweils einem Protokoll
zusammengefasst wurden (Beobachtungsprotokolle s. Anhang).
Im Anschluss an den Unterricht erläuterte S I der BIJ-Klasse das Forschungsprojekt.
Die Forschergruppe stellte sich vor und ermutigte die SchülerInnen, Rückfragen zu
stellen. Die SchülerInnen waren vor allem an persönlichen Daten der
InterviewerInnen interessiert wie Alter, Wohnort, Familienstand, Anzahl der Kinder
sowie berufliche Laufbahn.
Gleich im Anschluss wurden die Interviews durchgeführt. Die Interviews wurden
jeweils als Zweier-Team durchgeführt, wobei eine Person interviewte, die andere
Person das Aufnahmegerät bediente. Die SchülerInnen kamen allein oder zu zweit
zum Interview und wurden nacheinander einzeln befragt. Die Lehrerin und die
Sozialarbeiterinnen wurden alle einzeln interviewt. Die Interviews dauerten 25 bis 40
Minuten und wurden in deutscher Sprache durchgeführt.
Ein kurzer Fragebogen zu persönlichen Daten der Interviewten wie Alter, Geschlecht, usw. (vgl. Datenblätter) wurde erst im Anschluss an das Interview
gemeinsam von den InterviewerInnen und Interviewten ausgefüllt. Diese Daten
wurden bewusst anschließend abgefragt, um bei den SchülerInnen nicht eventuell
das beängstigende Gefühl auszulösen, sie befänden sich in einer behördlichen
Anhörung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) führt Befragungen
durch, um über Bewilligung oder Ablehnung des Asylgesuchs zu entscheiden. Diese
Befragung vom BAMF wird unter den AsylbewerberInnen ebenfalls als „Interview“
bezeichnet und ist oft angst- und misstrauenbehaftet. Für unseren Fragenbogen
!11
wurde den Interviewten angeboten, sich ein Pseudonym auszudenken, was aber
schließlich auch anonymisiert wurde.
4.4. Transkription und Auswertung
Alle zehn durchgeführten, audio-aufgezeichneten Interviews wurden wörtlich und
vollständig transkribiert. (Transkripte s. Anhang) Sämtliche Namen von Personen
wurden anonymisiert. Die Forschungsgruppe hat die Transkripte schließlich mittels
qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Die Methode basiert auf einer
systematischen Analyse des transkribierten Materials (vgl. Mayring 1999, S.91-98).
Dazu wurde das Material in Sinnabschnitte zergliedert und schrittweise bearbeitet.
So entstanden zunächst folgende Oberkategorien, die sich deduktiv aus der
Literatur bzw. den sich daraus ergebenden Leitfadenfragen sowie induktiv aus dem
Material ableiten ließen: Leitbild und Konzept, Schulalltag, Bildungsbiografien,
Motivation und Ziele, Soziales Netz und Herausforderungen. An dieser Stelle teilte
die Forschungsgruppe die Suche nach Unterkatgorien unter den TeilnehmerInnen
auf und wertete das Material in vier Schritten weiter aus. Zuerst wurden alle für das
Oberthema relevanten Textstellen paraphrasiert, d.h. das Material wurde in einen
Kurztext zusammengefasst und damit reduziert. In der anschließenden
Generalisierung wurden alle Paraphrasen verallgemeinert und auf ein abstrakteres
Sprachniveau gehoben. Abschließend erfolgte wiederum durch Subsumption die
Unterkategorienbildung (siehe Auswertungstabelle im Anhang). Mit den
Unterkategorien konnte das Restmaterial codiert werden. Das Kategoriensystem
ließ sich anschließend aus den Ober- und Unterkategorien zusammenfügen.
Daraus entstand eine erste vorläufige Gliederung.
Die große Fülle an Daten aus zehn Interviews und die Vielzahl der Oberthemen, aus
deren Perspektive wir die Forschungsfrage betrachten wollten, veranlasste uns an
dieser Stelle, die Forschungsfrage weiter einzugrenzen. Wir beschränkten uns auf
das Erleben der SchülerInnen und haben die Interviews der Lehrkräfte und
SozialarbeiterInnen und Beobachtungsprotokolle nur noch unter diesem
Gesichtspunkt ausgewertet.
Nachdem alle Oberkategorien analysiert, Unterkategorien identifiziert und die
entsprechenden Kapitel der Forschungsarbeit geschrieben waren, fiel auf, dass es
Überschneidungen gab, die sich daraus ergaben, dass dasselbe Material von den
einzelnen Mitgliedern der Forschungsgruppe unter verschiedenen Aspekten
betrachtet wurde. Die Zusammenfassung der Einzelthemen zu einer
Gesamtforschungsarbeit führte zu einer Neustrukturierung der Arbeit und war sehr
!12
arbeits- und zeitintensiv. Eine enge Abstimmung unter den Gruppenmitgliedern war
erforderlich.
4.5. Kritische Methodenreflektion
Die Kritische Methodenreflektion beginnt in unserer Forschungsarbeit bei der
Forschungsfrage. Die Frage nach dem Erleben von Schulalltag ist sehr weit gefasst.
Der Begriff „Erleben“ wirkt schwammig und ist von den ForscherInnen zunächst
unterschiedlich interpretiert worden: zum einen „Was erleben die Beteiligten?“ und
zum anderen „Wie erleben es die Beteiligten?“. Das in Interviews und
Beobachtungen gesammelte Material eignet sich als Basis für viele sich daraus
ergebenden Untersuchungsfelder. So kann mit dem vorhandenen Material zum
Beispiel die Frage nach Kompetenzen, Motivationen und Zielen der SchülerInnen
untersucht werden; ebenso kann nach Herausforderungen, der Rolle der
Sozialarbeiterinnen oder der Bedeutung eines sozialen Stützsystems geforscht
werden. Eine große Schwierigkeit war es, hier eine Auswahl zu treffen.
Der nächste Kritikpunkt bezieht sich auf die Materialfülle. Obwohl es sicherlich
sinnvoll erscheint, weitere Interviews mit weiteren Akteuren zu führen, haben diese
zehn Interviews den zeitlichen Rahmen für eine Forschungsarbeit im Modul 120, die
innerhalb von drei Monaten von der Idee bis zur kritischen Auswertung gebracht
werden muss, gesprengt. Zudem wurde dasselbe Material aus unterschiedlichen
Perspektiven betrachtet (Kompetenzen, Beschränkungen, Ziele, Biografien der
geflüchteten Jugendlichen). Die anfängliche Gliederung musste überarbeitet
werden, da einige Inhalte sich wiederholten.
Bei der Interviewführung ergab sich die Schwierigkeit, dass die Kommunikation,
insbesondere zu Beginn der Interviewsituation, aufgrund von Sprachbarrieren von
Unsicherheiten geprägt war. Um die SchülerInnen in ihren Aussagen zu bestätigen
und um Verständnissicherheit zu erlangen, neigten die InterviewerInnen dazu, das
Gesagte zusammenfassend zu wiederholen. Dadurch kam es stellenweise zur
Lenkung der Aussagen. Eine teilweise leitende Art der Befragung vermittelte den
SchülerInnen zwar sprachliche Sicherheit, beschränkte aber gleichzeitig die
Offenheit der Antworten (vgl. Interview P, Z. 295-303).
Sowohl die Interviewführung, als auch die Beobachtung und die Materialauswertung
wurden von den ForscherInnen selektiv wahrgenommen. Individuelle Erfahrungen z.
B. mit Schule, LehrerInnen oder Flüchtlingssozialarbeit, sowie persönliche
Erkenntnisinteressen dienten als Basis der eigenen Interpretationen.
!13
Die Inhaltsanalyse nach Mayring erwies sich als ein äußerst aufwendiges Verfahren.
Insbesondere nachdem die Gruppe die Themen aufgeteilt hatte und jede/r für sich
das gesamte Material unter dem Blickwinkel der eigenen Oberkategorie
unterkategorisierte. In Folge entstand eine Fülle an Auswertungspunkten, die den
Umfang und die Zeitintensität unserer Forschungsarbeit erklärt. Letztlich
verbrachten wir wieder viel Zeit damit, die Ergebnisse zu reduzieren, zu gewichten
und wieder zusammenzufassen.
5. Empirische und theoretische Auswertung
„Wie erleben geflüchtete Jugendliche der BS I ihren Schul- und Lebensalltag, wo
sehen sie ihre Chancen, was empfinden sie als hinderlich für ihre
Alltagsbewältigung und ihre Zukunftsplanung?“ Diese erweiterte Forschungsfrage
steht im Hauptteil der Forschungsarbeit im Mittelpunkt, in dem wir die
Forschungsfrage empirisch und theoretisch auswerten und einzelne Kategorien
genauer betrachten.
Um zu einer ressourcenorientierten Sichtweise zu gelangen, werden mit der
Betrachtung der Herausforderungen auch die gewählten Lösungswege mit
Ressourcen und Kompetenzen beleuchtet, die die geflüchteten Jugendlichen
entwickeln, um letztlich ihr (Aus)Bildungsziel zu erreichen. In den transkribierten
Interviews lassen sich sieben wichtige Kategorien von Herausforderungen und
Chancen finden, die in den nächsten Kapiteln näher analysiert werden. Manche
werden in den Interviews explizit formuliert, andere werden kaum thematisiert,
lassen sich aber zwischen den Zeilen ablesen und durch Literatur belegen:
•
Schulische Herausforderungen: Information, Zugang, Unterricht, Ferien,
Schulabbruch, Klassenklima, Heterogenität und Differenzen
•
Sprachliche Herausforderung
•
Aufbau eines sozialen Netzwerks
•
Psychische Herausforderungen: Trauma, Angst, Unsicherheit, Einsamkeit,
Selbständigkeit, Entwurzeltsein, Fremdheit, Erfolgsdruck
•
Asylrechtliche Herausforderungen: Aufenthaltsstatus und damit verbundene
Einschränkungen
•
Kompetenzen: Bildungsbiografien, Motivation, Durchsetzungsvermögen,
Zielstrebigkeit, Kontaktaufbau
!14
•
Herausforderung Zukunftsperspektive: Zukunftserwartungen, Berufsfindung,
Aufenthaltsstatus, Unsicherheit, Scheitern
5.1. Bildungsbiografien
Bevor wir auf die Bildungsbiografien unserer interviewten SchülerInnen
genauer eingehen können, ist es zunächst dienlich zu beleuchten, wie wir den
Begriff Bildungsbiografie verwenden werden. Da es sich bei diesen beiden
Begriffen, Biografie und Bildung, um Begriffe handelt, die sowohl in unserem
alltäglichen Sprachgebrauch, als auch in unterschiedlichen Fachdebatten
Verwendung finden, besteht die Gefahr, dass sich unser Alltagsverständnis mit
der wissenschaftlichen Verwendung der Begriffe vermischt.
In dieser Arbeit verwenden wir den Begriff Bildung wie bereits beschrieben im
Sinne von Humboldt als einen aktiven und selbstbestimmten Prozess, der auf
die Entwicklung einer Person in einem umfassenden Sinne abzielt (vgl.
Humboldt 1972, S. 9). Es sind somit also nicht nur die formellen, sondern
auch die informellen Bildungserfahrungen gemeint. Jedoch, um dies schon
vorweg zu nehmen, dominieren in den Interviews die Erzählungen über
formelle Bildungsetappen, was sicherlich auch an dem Rahmen unserer
Befragung liegt.
Der Begriff Biografie kommt ursprünglich aus dem Griechischen und setzt sich
aus zwei Begriffen zusammen. Zum einen aus dem Wort bios, was ´Leben´
bedeutet. Zum anderen aus dem Wort gráphein, was so viel wie ´abbilden,
schreiben, zeichnen oder auch darstellen´ bedeutet (vgl. Lattschar; Wiemann
2013, S. 13). Für Kade ist die Biografie im Gegensatz zum Lebenslauf immer
ein Resultat individueller Wahrnehmungs und Deutungsakte (vgl. Kade 2005).
Eine Bildungsbiografie ist für uns somit das eigene Darstellen bzw.
Beschreiben der im Leben bereits aktiv erfahrenen formellen und informellen
Bildung.
So unterschiedlich die SchülerInnen der BIJ und BIJ-V Klassen sind, so
unterschiedlich sind auch ihre jeweiligen Bildungsbiografien.
Bildungserfahrungen in der Heimat
Schüler P erklärt, dass ihm Mathe hier in Deutschland besonders schwer fällt,
weil er zuvor in seinem Heimatland Pakistan keinen richtigen Matheunterricht
hatte. Somit fehlen ihm natürlich wichtige Grundlagen (vgl. Interview P, Z.
!15
187-188). Des Weiteren führt er aus, dass er in seinem Herkunftsland
eigentlich gar keinen richtigen Schulunterricht hatte. Er hat zwar eine Schule,
die der deutschen Hauptschule ähnelt, besucht, dies sei aber nicht mit der
Schule in Deutschland zu vergleichen (vgl. Interview P, Z. 191-193).
Auch Schüler T, der aus Aserbaidschan stammt, gibt an, dass er in seiner
Heimat elf Jahre in die Schule gegangen ist und dort sogar einige Zeit studiert
hat. Dies wäre jedoch nicht mit dem Lernen in Deutschland zu vergleichen
(vgl. Interview T, Z. 59-62). Aus dem Interview mit ihm kann man jedoch auch
schließen, dass sich seine Prioritäten und seine Einstellungen zur Bildung mit
der Zeit gewandelt haben. Mittlerweile ist er Ehemann und Vater, in
Aserbaidschan hat er neben der Schule und Universität professionell Fußball
gespielt. Er selbst formuliert folgende Einschätzung zu seiner
Bildungsbiografie in der Heimat:
„Ähh, als ich Aserbaidschan, habe ich Fußball gespielt, professionell. Ähh, deswegen
ich hab nicht gleichzeitig Fußball und studiert mit guter Note weitermachen. (…) Ich
hab ́ ganz äh konzentriert auf Fußball.“ (Interview T, Z. 65-68)
Heute merkt man ihm an, welchen immensen Willen er zeigt, zu lernen,
sich weiter zu bilden und einen möglichst guten Abschluss zu machen.
Die Aussagen der Schüler P und T stehen im direkten Gegensatz zu dem, was
uns Schüler R über seine bisherigen Schulerfahrungen berichtet. R gibt an,
dass er in Syrien bis zur 10 Klasse in die Schule gegangen ist. Außerdem
erinnert er sich, dass der Unterricht in der syrischen Schule sehr viel
aufwendiger war. Sie hätten mehr lesen und mehr lernen müssen, als es in
der BIJ Klasse der Fall ist. Aber auch Schüler R hat mit dem Matheunterricht
auf deutschem Hauptschulniveau seine Probleme. Er sieht für sich zurzeit
Deutsch und Mathe als die wichtigsten Fächer an, den Rest empfindet er
unwichtiger (vgl. Interview R, Z. 119-129).
Die Lehrerin L III betont, dass sie in ihrem Unterricht immer wieder auf ganz
viel Vorwissen bei den Schülern stößt (vgl. Interview S III, Z. 158-159). So wie
beispielsweise bei Schülerin U, die davon berichtet, dass ihr Sozialkunde sehr
leicht fällt, weil sie dies schon „in (der) Wirtschaftsschule gelernt“ (Interview U,
Z. 85) hat. Schülerin U. und Schüler V kommen beide aus dem Kosovo und
sind dort bereits 13 Jahre in die Schule gegangen. Beide haben die Schule mit
einer Fachhochschulreife im Bereich Wirtschaft abgeschlossen, die
mittlerweile auch hier in Deutschland anerkannt wurde. Aber selbst für diese
beiden Schüler, die Wirtschaft als Hauptfach in ihrer Fachhochschulreife
!16
hatten, gehört Mathe in der BIJ Klasse nicht zu den Lieblingsfächern (vgl.
Interview U, Z. 89-92).
Berufliche Erfahrungen in der Heimat
Einer der Schüler hat vor seiner Einreise nach Deutschland bereits berufliche
Erfahrungen gesammelt, an denen er hier in Deutschland gerne anknüpfen
würde. R berichtet davon, dass er in der Metallverarbeitung tätig war. Dadurch
hat er viele Vorkenntnisse, die er nun in seinem Praktikum als
Industriemechaniker gut einsetzen kann. Seine praktischen Kenntnisse
kombiniert er nun mit neuer Technik und neuem Wissen.
„Also ja also wir haben im Metall allgemein. Äh, so zum Beispiel so wie chinesisch
Dach. (…) Ja, genau chinesisch Dach und Terasse und äh Lager, große Lager von
Metall aber und äh Gebäude äh also Gebäude von unten, wenn irgend so Gebäude
ist, weil wir haben in der Stadt Damaskus, wir haben ältere Gebäude ne und die sind
über tausend Jahre oder sowas und mit der Zeit die werd bisschen älter. Dann gehen
wir da und wir gucken, also wir machen ein andere Stand. (…) Ja sowas, ja, also ich
konnte schweißen, schleifen und das machen wir auch in die Industriemechaniker.
Aber halt wir haben neue Maschinen und neue Geräte. Das habe ich hier
kennengelernt ich mein, das habe ich hier gesehen ja und das gefällt mir, das macht
mir Spaß.“ (Interview R, Z. 29-42)
Bildungserfahrungen in Deutschland vor dem ersten Schultag in
der BIJ Klasse
Einige der SchülerInnen konnten vor ihrem ersten Schultag in der BIJ Klasse
bereits andere formelle Bildungserfahrungen in Deutschland sammeln.
Schüler P erzählte uns, dass er vor seinem Start in der Schule
Deutschunterricht von einer „Lehrerin“ bekommen hat. Sie sei jeden Tag in
ihre Wohngruppe gekommen, um ihnen beim Deutsch lernen zu helfen (vgl.
Interview P, Z. 16-26). Wobei er auch betont, dass es nicht wie ein
Schulbesuch war und er vor dem Beginn der BIJ Klasse kaum Deutsch konnte
(vgl. Interview P, Z. 163-166).
Ähnlich erging es Schüler T, der auch vor dem Beginn der Schule in
Deutschland an einem Deutschkurs teilnehmen konnte (vgl. Interview T, Z.
87-93). Dieser sei jedoch nicht von einer Lehrerin, sondern von einer
Ehrenamtlichen geleitet worden. „Gibt es viele Leute privat. Sie wollen für uns
helfen.“ (Interview T, Z. 90) Doch auch T ist sehr froh, dass er nun in der BIJ
Klasse sein kann, denn das Niveau sei einfach etwas anderes (vgl. Interview
T, Z. 88-93). Schüler R hingegen hat vor dem BIJ-Start einen Deutschkurs an
!17
der Z-Schule absolviert. Schülerin O und Schüler V wurden mehr oder
weniger ins kalte Wasser geworfen. Sie gingen vor der BIJ Klasse beide vier
Monate in die Y-Schule, die eine normale Regelschule ist. Dort versuchten sie,
mit den wenigen Deutschkenntnissen dem Unterricht zu folgen. In ihrem Fall
war es dann ein Lehrer, der ihnen von dem Projekt der BIJ Klassen erzählte
und alles in die Wege leitete. Beide scheinen über diesen Schritt sehr froh zu
sein, denn ihre erste Prämisse war und ist es, Deutsch zu lernen.
„Weil wir dort wir konnten nicht gut Deutsch sprechen und wir lernen dort nur Mathe
äh und Physik und Chemie und so und ja und ich kann nicht am Anfang, aber jetzt ich
bin besser ich kann mehr Deutsch sprechen.“ (Interview O, Z. 22-25)
5.2. Schulalltag – Chance mit vielen Hürden
5.2.1. Zugang: Information, Aufnahmetest und Schulweg
Obwohl bayernweit im Schuljahr 2014/15 bereits 180 Schulklassen für insgesamt
3000 SchülerInnen eingerichtet waren (vgl. ISB, S. 69), reichen diese Schulplätze
nicht aus, um alle berufsschulpflichtigen Jugendlichen aufzunehmen. So gilt
praktisch keine Berufsschulpflicht, sondern ein Berufsschulrecht, das aber nicht
einklagbar ist (vgl. Experteninterview, Z. 96-99). Auch an der BS I in Aschaffenburg
sind die Plätze begrenzt. Von bis zu 100 InteressentInnen konnten im betrachteten
Jahrgang nur 32 SchülerInnen aufgenommen werden (vgl. z.B. Interview L III, Z.
39-44). Der nicht aufgenommene Personenkreis wurde von uns nicht befragt, so
dass dazu keine Aussage möglich ist. Allerdings sind die Kapazitäten sukzessive
ausgebaut worden. Im Vorbereitungsjahr (BIJ-V) gibt es mittlerweile sechs
Parallelklassen, die ab Februar 2016 auf acht erweitert werden sollen (vgl.
Experteninterview, Z. 7-13, 93-94).
Ob der Wohnort der geflüchteten Jugendlichen in der Stadt oder im Landkreis
Aschaffenburg liegt oder wie der asylrechtliche Status der BewerberInnen ist, macht
nach Aussage der Sozialarbeiterin S I keinen Unterschied bei den Zugangschancen.
Allerdings beklagen zwei der befragten SchülerInnen, dass ihr Schulweg
regelmäßig zu Verspätungen führt, weil z.B. der Bus überfüllt ist (vgl. Interview R, Z.
144-154). Schüler P ist sogar umgezogen. Sein früherer Weg zur Schule dauerte 90
Minuten mit Bus und Bahn, weshalb er regelmäßig zu spät kam (vgl. Interview P, Z.
92-115).
Information
!18
Den Zugang zur Schule empfindet die Mehrheit der befragten SchülerInnen nicht als
Hürde. Während unbegleitete, minderjährige, geflüchtete Jugendliche von der
Möglichkeit des Schulbesuchs durch die BetreuerInnen in ihren
Jugendwohngruppen erfahren (vgl. Interview P, Z.11-16), bekommen vor allem
volljährige Geflüchtete, aber auch begleitete minderjährige, jugendliche Geflüchtete,
die in dezentralen Unterkünften des Landkreises Aschaffenburg oder in der
Gemeinschaftsunterkunft in der Stadt wohnen, diese Information durch die CaritasSozialberatung (vgl. Interview T, Z. 6-8), den Jugendmigrationsdienst (vgl. Interview
R, Z. 7-8) oder vorher besuchte Schulen (vgl. Interview O, Z. 3-7). Außerdem
informieren die Fachstelle Asyl des Landratsamts oder der Arbeitskreis Asyl (vgl.
Protokoll Telefonat S I s. Anhang). Da die Vernetzung der Stellen in Bezug auf die
Information über Bildungswege (noch) nicht stattgefunden hat, gibt es trotzdem
Jugendliche, die von der Möglichkeit der Integrationsklassen keine Kenntnis haben
und somit vom Bildungssystem ausgeschlossen bleiben (vgl. Interview P, Z.
362-365).
Auswahltest
Um die begrenzten Kapazitäten – nach ökonomischen Verwertungskriterien sinnvoll auszuschöpfen, empfiehlt das Kultusministeriums in der „Handreichung zur
Beschulung berufsschulpflichtiger AsylbewerberInnen und Flüchtlinge“, ein
Auswahlverfahren durchzuführen (vgl. ISB 2014, S. 72). Die interessierten
Jugendlichen können sich an der BS I bewerben und werden zu einem Test
eingeladen, in dem Lehrkräfte gemeinsam mit Sozialarbeiterinnen die Deutsch- und
Mathematikkenntnisse sowie die Motivation der BewerberInnen abfragen. Der Test
besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil und die Ergebnisse
entscheiden über Aufnahme der SchülerInnen sowie über die Klasseneinteilung.
Eine Vorbereitung auf diesen Test gibt es nicht (vgl. Interview O, Z. 39-42; Interview
T, Z. 25-26). Den Aufnahmetest finden vier von sechs befragten SchülerInnen
einfach (vgl. Interview U, Z. 16-23; Interview V, Z. 11-24; Interview P, Z. 31-38;
Interview O, Z. 26-38). Schüler R musste lediglich ein Aufnahmegespräch führen
und keinen Test machen (vgl. Interview R, Z. 47-61). Schüler T scheiterte im ersten
Versuch, schaffte es im zweiten Anlauf und kam als Seiteneinsteiger ein halbes Jahr
später in die Klasse (vgl. Interview T, Z. 10-23). Die Schule handhabt das Verfahren
flexibel, so gibt es auch SchülerInnen wie R, die mit entsprechender Vorbildung, wie
einen bereits abgeleisteten Sprachkurs mit bestandener B1-Prüfung, auch ohne
Test, nur mit einem Gespräch in die Schule aufgenommen werden. Eine größere
Hürde stellt der Zugang vermutlich für die geflüchteten Jugendlichen dar, die
aufgrund ihrer mangelhaften sozialen Vernetzung nicht von der Möglichkeit des
Schulbesuchs wissen oder die den Test nicht bestanden haben. Ein Nichtbestehen
des Tests führt zunächst zur Exklusion vom Bildungssystem.
!19
5.2.2. Schulklima
Die BS I ist geprägt von einem herzlichen und respektvollen Schulklima. Allen
befragten SchülerInnen ist der erste Schultag noch in guter Erinnerung, vor allem
mit dem gemeinsamen Frühstück. Die anfängliche Scheu der einzelnen
SchülerInnen vor den vielen anderen fremden MitschülerInnen aus verschiedenen
Ländern hat sich schnell gelegt und „danach war gut…danach ist alles klar“ (vgl.
Interview O, Z.46-52, Interview P, Z.66). LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen
stellten sich vor, gaben die Klassenaufteilung bekannt und informierten über
organisatorische Details des Schulalltags. Der freundliche Empfang, Klarheit und
Transparenz bauten schon am ersten Schultag Ängste und Unsicherheiten ab (vgl.
Interview O, Z. 50-52).
Der Schulleiter zeigt Präsenz in den Flüchtlingsklassen, spricht den SchülerInnen
auch persönlich ein „Ihr seid hier herzlich willkommen!“ aus und bemüht sich um
deren Wohlbefinden. Seine regelmäßigen, humorvollen Besuche vermitteln den
SchülerInnen Sicherheit und ermöglichen ihnen dadurch ein entspannteres Lernen
(vgl. Interview T, Z. 298-301). In für die geflüchteten Menschen politisch brisanten
Situationen, wie z.B. nach den Terroranschlägen in Paris am 13.11.2015, geht der
Schulleiter persönlich in alle Klassen und versichert ihnen Rückhalt und Schutz (vgl.
Interview S III, Z. 381-394). Ganz nach dem Motto: „Der größte Feind des
islamistischen Terrorismus ist die Willkommenskultur.“ (Ulrich 2015) Das gute
Schulklima schließt auch den Respekt vor den anderen Kulturen und Religionen ein,
der von den SchülerInnen der gesamten Berufsschule erwartet wird (vgl. Interview S
III, Z. 371-381).
Die Schule nimmt Rücksicht auf die besonderen Lebensumstände und
Problematiken der SchülerInnen sowie auf die daraus resultierenden
Handlungsweisen. Konkret wird z. B. der Einstieg in das Schulleben so gestaltet,
dass die SchülerInnen wissen, was sie erwartet und was von ihnen erwartet wird.
Das bringt ihnen Halt, Sicherheit und Orientierung. Dazu gehört es, Hausordnung,
Klassenregeln sowie Abläufe und Ziele der Berufsintegrationsklassen zu erläutern
(vgl. Interview U, Z. 26-32) und eine Zuordnung zu festen Bezugspersonen zu
geben. So sind die SozialarbeiterInnen und LehrerInnen jeweils für bestimmte
Klassen zuständig und es gelingt ihnen, eine gute Atmosphäre, geprägt von
Zusammengehörigkeitsgefühl in den Klassen und Vertrauen, zu schaffen (vgl.
Broschüre Flüchtlingskinder, S. 9; Interview S I, Z. 102, Interview S II, Z. 224-226).
Hierbei ist es von großer Bedeutung, dass die LehrerInnen und die
Sozialarbeiterinnen, den SchülerInnen signalisieren, dass sie ihre Probleme und
Nöte ernst nehmen, ansprechbar sind und sich für sie Zeit nehmen. So werden aus
!20
„Tür-und-Angel-Gesprächen“ häufig auch ein paar Stunden (vgl. Interview S I, Z.
393-395).
Ein gutes Schulklima in Anerkennung der besonderen Situation erfordert auch
geeignetes Fachpersonal. Lehrkräfte und SozialarbeiterInnen müssen den
Herausforderungen der „besonderen Schülergruppe“ fachlich wie sozialpädagogisch
gerecht werden und entsprechende Einsatzbereitschaft, Empathie, Engagement
und Fachlichkeit mitbringen (vgl. ISB 2014, S. 31f.). Das alles trifft auf das Personal
der Berufsschule I zu: So sind die LehrerInnen alle sehr flexibel, bieten viele
Projekte an, sind sehr engagiert und entgegenkommend, so dass sie u. a. auch
ihren Unterricht umorganisieren, um freie Räume zu schaffen, mehr Arbeitsstunden
investieren und beispielsweise mit ihren SchülerInnen der Berufsschulklassen die
Integrationsklassen besuchen und „als Herzenssache“ persönlich willkommen
heißen (vgl. Interview, S I, Z. 494-496, Beobachtung BIJ-V, Z. 103-138). Die
Fachkraft zur Praktikums- und Ausbildungsplatzsuche ist durch ihre Berufsbiografie
am richtigen Platz und durch ihr großes Engagement auch sehr erfolgreich in ihrer
Vermittlungstätigkeit (vgl. Interview S III, Z. 36-46; Jahresbericht 2015, S.7). Sie
steht mit den Sozialarbeiterinnen den SchülerInnen für alle Anliegen zur Verfügung
(vgl. Interview O, Z. 67-71, 130-140, 172-181). Sämtliches Personal nimmt
regelmäßig an Fortbildungen teil, um die entsprechende Fachlichkeit zu
gewähren.Insbesondere bilden sich die Sozialpädagoginnen zu den Themen
Asylrecht, interkulturelle Kompetenz, Trauma, Motivation oder Jugend und Migration
fort (vgl. Interview S II, Z. 62-63, Interview S I Z. 75-82). Den Einstieg erleichtern die
MitarbeiterInnen den SchülerInnen unter anderem dadurch, dass sie ihre Sprache
anpassen und einfacheres, aber korrektes Deutsch sprechen, in einem langsamen
Tempo und vor allem deutlich (vgl. Interview, S III, Z. 124-135; Beobachtung BIJ-V,
Z. 22-23). Letztlich sind es auch Rahmenbedingungen wie eine äußerliche
Gepflegtheit der Schule, die ein Schüler als „Sauberkeit“ bezeichnet, wodurch die
SchülerInnen sich wertgeschätzt und willkommen fühlen (vgl. Interview R, Z.
153-154). Die Schule ist somit bemüht, den SchülerInnen, das Bestmögliche
innerhalb der Rahmenbedingungen anzubieten.
Das gute Schulklima ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass geflüchtete
SchülerInnen die Schule als sicheren Ort empfinden.
5.2.3. Unterricht - Schulfächer und Differenzierung
Unterricht findet montags bis freitags von 8 bis 13.10 Uhr statt und beinhaltet sechs
Schulstunden für die BIJ-V-Klassen (vgl. Beobachtung BIJ-V Anhang). Die BIJKlassen haben zwei Schulstunden mehr, der Unterricht endet um 15 Uhr (vgl.
Interview R, Z. 94-95). Unterrichtet werden die Fächer Deutsch, Mathematik und
!21
Sozialkunde. Zusätzlich gibt es berufsbezogene Projekte (vgl. Beobachtung BIJ-V
Anhang).
Grundsätzlich empfinden die befragten SchülerInnen die Schule und auch den
Unterricht als sehr positiv. Ein Schüler aus Aserbaidschan bewertet das
Unterrichtsniveau im Vergleich zu dem in seiner Heimat als gut (vgl. Interview T, Z.
54-59), ein Schüler aus Syrien hat in seiner Heimat „mehr machen“, „mehr lernen“
müssen (vgl. Interview R, Z. 120-121).
Problemfach Mathematik
Mathematik ist für alle befragten SchülerInnen die größte fachliche Herausforderung
in der Schule. Die Hälfte der befragten SchülerInnen fühlt sich stark gefordert bis
überfordert. Die Beobachtung des Mathematikunterrichts der Vorbereitungsklasse
(BIJ-V) und ein anschließendes Kurzgespräch mit der Lehrerin bestätigen diese
Aussagen (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 25-27, 41-72, 90-93, 172-176).
„Weil ich kann ein bisschen Deutsch reden und ich kann auch mehr lernen Deutsch. Aber ich
hab ein bisschen schwer mit Mathe. Mein Problem ist Mathe, deswegen ich mag kein
Mathe.“ (Interview O, Z. 86-89)
„Mathe gefällt mir weniger. (…) Ist zu schwierig für uns. Weil wir vorher nicht gelernt haben
in unserer Heimat.“ (Interview P, Z. 184-188)
„Ich liebe Deutsch sehr, Deutsch! Mathe ich will nicht sooo, ich mag nicht. (…) Mathe ist man
geboren, ehrlich. Wenn man will Mathe, man mag das, aber ich kann das nur für eine Zeit.
(…) Wie alle Leute, die haben [Mathe] ein bisschen gern“ (Interview U, Z. 83-92)
Während für Schülerin U und Schüler V Mathematik lediglich kein Lieblingsfach ist
(Interview U, Z. 83-92, Interview V, Z. 62-67), berichten die SchülerInnen O, P und R
von Problemen. Schüler P führt seine Schwierigkeiten auf mangelnde Schulbildung
aus dem Heimatland zurück. Schüler R empfindet das Niveau der Klasse als hoch,
er versucht durch Lernen den Anschluss zu bekommen (vgl. Interview R, Z. 71-74).
Auch Schülerin O empfindet Mathematik als ihr Problem (vgl. Interview O, Z. 86-89).
Die Beobachtung des Mathematikunterrichts in der Vorbereitungsklasse gibt
Hinweise auf die Herausforderungen: Zu Anfang des ersten Jahres liegen die
Sprachkenntnisse im Deutschen noch weit unter B1-Niveau1. Die mathematische
Fachsprache muss erlernt werden, bevor die Alltagssprache zur Verständigung
ausreicht. Viele SchülerInnen können der Anleitung der Lehrerin nicht folgen.
1
Es handelt sich um Sprachniveaus nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen. A1 =
Anfänger, A 2 = Anfänger mit Vorkenntnissen, B1 = Fortgeschrittene Sprachverwendung, B2 = Selbständige Sprachverwendung, C 1 = Fachkundige Sprachkenntnisse, C 2 = annähernd muttersprachliche Sprachkenntnisse
!22
Zudem stuft Lehrerin L I die mathematische Vorbildung im Durchschnitt niedrig und
individuell äußerst unterschiedlich ein (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 175f.). Der
Mathematikunterricht scheint weder auf Bedürfnisse noch auf Vorwissen der
Schüler zugeschnitten. Die Unterrichtsmaterialien stammen unter anderem aus
Schulbüchern der Grundschule. Es scheint kein spezielles Unterrichtsmaterial für
Mathematik in Flüchtlingsklassen zu geben. Der Deutschunterricht hingegen scheint
auf die Fähigkeiten der SchülerInnen besser abgestimmt zu sein, es existieren
zunehmend Konzeptionen und Unterrichtsmaterialien speziell für geflüchtete
SchülerInnen. Die Motivation der SchülerInnen ist hier besonders hoch. Sie sehen
direkt den Sinn und Erfolg, denn sie erleben im Alltag die Sprachbarriere als größte
Hürde (siehe unten).
Im Widerspruch zum Erleben von Mathematik als schwierigem Fach stehen die
Berufs- und Ausbildungswünsche der befragten SchülerInnen. Alle streben in
Berufsfelder, die mathematisch geprägt sind. U und V möchten weiter Ökonomie
studieren, U und O eine Ausbildung als Kauffrau im Einzelhandel machen, P möchte
KFZ-Mechaniker und R Industriemechaniker werden. Es stellt sich die Frage, ob die
Berufswünsche realistisch sind und ob die Jugendlichen es in der regulären
Ausbildung schaffen, sich an die hohen Anforderungen anzupassen. Dafür sprechen
ihre hohe Motivation, ihre Beharrlichkeit und der Wille, das selbst gesteckte Ziel zu
erreichen (vgl. Kapitel 5.7. Kompetenzen).
Lieblingsfach Deutsch
Deutsch ist aber eindeutig das Lieblingsfach. Den SchülerInnen ist die Wichtigkeit
von Deutschkenntnissen in Verbindung mit dem Ziel von Schulabschluss und
Ausbildungschancen sehr bewusst und so wollen alle Befragten sehr engagiert
mehr Deutschkenntnisse erwerben. Im Deutschunterricht können sie „Deutsch
reden“, verbessern somit die Aussprache und sie können „mehr lernen“ (vgl.
Interview R, Z. 124-125, 135; Interview O, Z. 6, 86-88; Interview P, Z. 204-211).
Deutschkenntnisse verhelfen den SchülerInnen zu Selbstwert und Sicherheit:
„Ich verstehe andere, andere verstehen mich besser. Wenn wir … zum Arzt gehen … wir
können erzählen, wir können … zuhören. Davor wir hatten Angst, ja: Was mache ich? Was
sage ich? Aber heute … ich habe nicht Angst.“ (Interview T, Z. 99-103)
Deutsch ist vermutlich auch deshalb Lieblingsfach, weil die befragten SchülerInnen
sich auch schon auf einem gewissen Niveau befinden: Drei der Befragten schätzen
!23
ihre Deutschkompetenzen als sehr gut, zwei als gut ein. Ein Schüler, der sich auch
bereits auf B1-Niveau befindet, schätzte seine Deutschkompetenz als gering2 ein.
Sozialkunde wird nur von einer SchülerIn explizit als Lieblingsfach nach Deutsch
benannt. Hier gefällt vor allem der Bezug zu alltagsrelevanten Themen mit dem
Beispiel, Zeitungsartikel aus der regionalen Tageszeitung zu diskutieren (vgl.
Interview O, Z. 89-91).
Obwohl Deutsch als Lieblingsfach deklariert wird, wird der Deutschunterricht doch
am häufigsten kritisiert. Vier der sechs Befragten fühlen sich unterfordert, empfinden
die intensiven Hausaufgabenbesprechungen als langweilig, ermüdend und haben
Probleme, sich zu konzentrieren. Eine Schülerin würde sich etwas Abwechslung
wünschen oder auch Bewegung, um neue Energie für besseres Lernen zu
bekommen. Den Lernfortgang empfinden sie als zu langsam, bzw. stagnierend,
insbesondere, weil offensichtlich nur die Lerninhalte aus dem ersten Schuljahr
wiederholt werden und das B1-Niveau gehalten wird. Einige SchülerInnen haben
schon erweiterte Deutschkenntnisse und empfinden den Deutschunterricht als
Zeitverlust und demotivierend (vgl. Interview O, Z. 103-111, Z. 193-206; Interview R,
249-269; Interview U, Z. 119-158; Interview V, Z. 77-86).
Heterogenität, Differenzierung und „Lernen lernen“3
Die befragte Lehrerin L III sieht sich im Spannungsfeld, dass sie den SchülerInnen
das „Lernen lernen“ lehren und gleichzeitig den Unterrichtsstoff unter Zeitdruck von
zwei Jahren vermitteln muss. Leistungsheterogenität empfindet sie als normal und
versucht die SchülerInnen dazu zu bringen, sich gegenseitig zu unterstützen, indem
sie den Stoff nicht fortführt, „wenn die Langsamen nichts verstehen“. Diverse
Bildungserfahrungen in den Heimatländern führen laut Sozialarbeiterinnen S I zu
Unter- und Überforderung (vgl. Interview L III, Z. 113-146, Interview S I, Z. 191-300).
Als Zeitverschwendung empfinden drei der befragten SchülerInnen die vielen
Wiederholungsübungen. Sie bemängeln fehlenden Fortschritt im Deutschlernen,
finden lange Hausaufgabenkontrollen langweilig und fühlen sich „wie im
Kindergarten“, wenn Übungen wiederholt oder zu intensiv geübt werden. Sie wollen
„etwas mehr erreichen…“ (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 102-106; Interview U, Z.
119-130; Interview V, Z. 75-86; Interview O, Z. 103-112). Unterforderte SchülerInnen
2
Diese Einschätzung widerspricht dem Eindruck der Interviewerinnen, ebenso wie die Tatsache, dass
er B1-Niveau erreicht hat. Die schlechte Einschätzung seiner Leistungen passt aber zu seiner späteren
Aussage, „mein Gefühl ist immer schlecht, (…) aber dann er war sehr gut.“ (vgl. Interview P, Z. 48-51)
3
Beim „Lernen lernen“ geht es um das Erlernen von Lernstrategien zur Organisation des Lernens,
Wissensaufnahme, -verarbeitung und –anwendung sowie Motivation, Entspannung und Kontrolle. (vgl.
wikipedia)
!24
haben bereits das BIJ verlassen und sind ans Gymnasium gewechselt bzw. haben
nach Anerkennung ihrer Schulabschlüsse ein Studium angefangen (vgl. Interview U,
Z. 142-158). Über den Erfolg der Studierenden ist nichts bekannt. Von den drei
Gymnasiasten haben zwei das Gymnasium nach einem Schuljahr wegen
mangelhafter Leistungen und fehlender Unterstützung abbrechen müssen.4
Die Erweiterung des Modellprojekts auf sechs (geplante acht) Klassen im
Vorbereitungsjahrgang ermöglicht zwar eine weitere Differenzierung nach Leistung,
aber für einige bleiben der mittlere Bildungsabschluss und die Ausbildungsreife
nach Einschätzung der Sozialarbeiterinnen und Lehrerin L III kaum erreichbar. Sie
plädieren für ein drittes Schuljahr oder sprechen sich für eine intensivere, gezieltere
und differenziertere Förderung der SchülerInnen je nach Bildungsniveau aus (vgl.
Interview L III, Z. 235-243; Interview S I, Z. 479-492).
Sorge bereiten Sozialarbeiterin S II die SchülerInnen, die ihr Ziel nach der Schulzeit
voraussichtlich nicht erreicht haben werden.
„Ich weiß, dass einige Schüler es nicht packen werden, (…) in zwei Jahren den
Hauptschulabschluss. (…) Das ist schwierig, wohin mit denen? (…) Dann sind sie da und
haben nichts.“ (Interview S II, Z .319-324)
Ihre Frage „Wohin mit denen?“ bleibt unbeantwortet im Raum stehen. Der erste
Jahrgang der BIJ konnte zwar im September 2015 erfolgreich verabschiedet werden
- alle wurden in eine Ausbildungsstelle oder weiterführende Schule vermittelt - aber
mit der Erweiterung auf acht Klassen pro Jahrgang ist absehbar, dass die Zahl
derer, die Scheitern könnten, ebenfalls steigen wird. Zumal die Ressourcen (neu
eingestellte Lehrerkräfte und SozialarbeiterInnen) bisher nicht im gleichen Maße
aufgestockt wurden. Auch die regionalen Aufnahmekapazitäten des Arbeits- und
Ausbildungsmarktes für geflüchtete Jugendliche, die für die Ausbildungsbetriebe
immer auch Mehrarbeit bedeuten, sind begrenzt (vgl. Interview S III, Z. 456-459).
Junge Flüchtlinge drohen zu Marktbenachteiligten zu werden, „die unter gegebenen
Konkurrenzbedingungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht oder nur
schwer vermittelbar sind“ (Schroeder 2003b, S.89f.).
4 Anm.
d. Verf.: Zwei der Schüler, die das Gymnasium wieder verlassen mussten, haben wir während
eines Projektes im Rahmen des M 100 Moduls im Mai 2015 kennen gelernt und von ihren Schwierigkeiten erfahren.
!25
5.2.4. Pausen
In den Pausen werden Gespräche über die Klasse, den Lernstoff oder auch
persönliche Anliegen geführt (vgl. Interview V, Z. 69-74; Interview U, Z. 95-97;
Interview R, Z. 195-196). Das Pausengeschehen gibt Hinweise auf das
Sozialverhalten unter den Klassenkameraden und anderen MitschülerInnen der
Berufsschule (vgl. Kapitel 5.4.1.2. Klassengemeinschaft).
Die zwei zwanzigminütigen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden werden
grundsätzlich als positiv empfunden. Sie werden genutzt, um sich mit
KlassenkameradInnen, die auch als FreundInnen betrachtet werden, über die
Unterrichtsinhalte auszutauschen oder um zu lernen, aber auch, um sich über ganz
alltägliche Themen zu unterhalten oder im nahegelegenen Supermarkt einzukaufen.
Und zumindest die SchülerInnen, die kein Gegenüber für ihre Muttersprache haben,
reden auch in den Pausen Deutsch. Das Miteinander ist ob der vielen
verschiedenen Nationalitäten gut. Alle verstehen sich in dieser Klasse gut. Kontakte
zu MitschülerInnen der übrigen Berufsschulklassen wurden nicht erwähnt (vgl.
Interviews R, Z.188-198; Interview P, Z. 212-225; Interview O, Z. 96-100; Interview
U, Z. 95-106; Interview V, Z. 116-117; Interview T, Z. 46-47).
Drei der befragten SchülerInnen sprachen auch davon, dass sie in den Pausen
essen. Während zwei der Befragten sagten: „wir essen“, sagte der alleinlebende
Schüler „ich ess was, dann trink ich was auch,…und dann die Zeit ist schnell vorbei,
dann direkt zurück nach Klasse….“ Hier könnte man vermuten, dass dieser Schüler
sehr vom „Nichts-Zutun-Haben“ geprägt ist, bis in die Schulpause hinein, und
diesem „Nichts-Zutun-Haben“ alltägliche Grundbedürfnisse wie essen und trinken
entgegenhalten will (siehe Kapitel 5.5.2 Halt durch Tagesstruktur).
5.2.5. Hausaufgaben
Hausaufgaben sind wesentlicher Bestandteil und immer noch Standard eines
regulären Schulalltags, wenn auch Sinn und Zweck von Hausaufgaben schon lange
diskutiert werden. Auch bei den befragten SchülerInnen lassen sich Anhaltspunkte
erkennen, den Punkt Hausaufgaben zu überdenken. Während den SchülerInnen im
BIJ-V Nachhilfemöglichkeiten über freiwillig Engagierte in der Schule zur Verfügung
stehen, die bei den Hausaufgaben auch unterstützen können, sind die SchülerInnen
der BIJ auf sich allein gestellt, haben unterschiedliche Rahmenbedingungen am
Nachmittag und kommen unterschiedlich mit den Hausaufgaben zurecht.
Diejenigen, die alleine wohnen, haben außer der whats-app-Gruppe der Klasse,
selten jemanden, den sie um Hilfe bitten können und würden sich beispielsweise
wünschen, am Nachmittag gemeinsam mit KlassenkameradInnen die
Hausaufgaben zu erledigen. (vgl. Interview P, Z. 122-160) Manche nutzen das
!26
Internet, bzw. youtube, um sich in ihrer Muttersprache Verständnisfragen zu
beantworten (vgl. Interview T, Z. 35-39).
Im Unterricht selbst, ist die Zeit, die für die Hausaufgabenkontrolle, bzw. –
besprechung verwendet wird, für diejenigen, die keine Probleme damit hatten, zu
lang (im beobachteten Deutschunterricht lag der Zeitaufwand bei etwa einer
Schulstunde). Ihnen ist langweilig und sie schweifen ab (vgl. Interview O, Z.
109-111). Hier wäre der Wunsch eines Schülers, lieber weniger Hausaufgaben
aufzugeben, weil manche SchülerInnen sie, seinem Eindruck zufolge, nicht zum
Lernfortschritt nutzen können, stattdessen inhaltlich gleich mehr in der Schule zu
erledigen, um das Niveau der SchülerInnen möglichst homogen zu halten (vgl.
Interview R, Z. 252-262).
5.2.6. Praktikum
Zum Schulalltag gehören im BIJ vor allem auch die Praktika in Betrieben. Sie sollen
den SchülerInnen Orientierung für die Berufswahl geben und die Chancen auf einen
Ausbildungsplatz erhöhen. Hierbei müssen allerdings asylrechtliche Bedingungen
beachtet werden. Für anerkannte AsylbewerberInnen und Flüchtlinge gilt, dass sie
keine Einschränkungen für eine Beschäftigung haben. Für AsylbewerberInnen im
Verfahren oder für Geduldete gilt aber, dass sie, in diesem Fall für Praktika oder
Berufsausbildung, eine Genehmigung durch die Ausländerbehörde benötigen. Dies
ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (vgl. BAMF: FAQ Arbeitsmarktzugang
2015). Um die SchülerInnen bei der Ausländerbehörde und bei der Suche nach
Praktikums- und Ausbildungsplätzen zu unterstützen, wurde eine Mitarbeiterin als
„Fachkraft für Praktikums- und Ausbildungssuche der BIJ-Klassen“ eingestellt, die in
ihrer Arbeit sehr engagiert und sehr erfolgreich ist, unter anderem auch, weil sie den
potentiellen Ausbildungsbetrieben ehrlich gegenüber ist und mögliche
Problematiken, die sich mit Einstellung eines ausländischen Jugendlichen ergeben
könnten, nicht verschweigt, wie u. a., dass ein Ausbildungsverhältnis nicht vor einer
Ausweisung schützt, das Ausbildungsverhältnis also somit auch eventuell vorzeitig
beendet ist (vgl. Jahresbericht, S.106, Interview S III, Z. 449-463; FrietersReermann 2013, S. 92).
Die SchülerInnen nutzen das Angebot der Praktika zur Berufsorientierung. Die
befragten SchülerInnen hatten bereits Praktika als Industriemechaniker,
Einzelhandelskauffrau, Apothekenhelferin, Elektriker, KFZ-Mechaniker, als Lagerist
und Konditor absolviert und konnten dort feststellen, ob ihnen die jeweilige Tätigkeit
liegt oder nicht (vgl. Interview R, Z. 38-42; Interview O, Z. 215-226; Interview P, Z.
170-182; Interview T, Z. 214-215, 226-232). Ein weiterer Aspekt der Praktika, der
von den SchülerInnen als sehr positiv bewertet wird, ist, dass sie dort die
!27
Möglichkeit haben, Sozialkontakte zu knüpfen und vor allem auch, Deutsch zu
sprechen (vgl. Interview O, Z. 220-222; Interview P, Z. 308-313; Interview T, Z.
140-143).
5.2.7. Klassenfahrt
Als ein besonderes Erlebnis während des Schulalltags gaben nahezu alle Befragten
die sechstägige Klassenfahrt nach Berlin im Juni vergangenen Jahres an. Die
beiden BIJ-Klassen konnten sich dort kennenlernen, Vorurteile abbauen,
Freundschaften und Gemeinschaft aufbauen. Aus Sicht einer Sozialpädagogin hat
diese Klassenfahrt die beiden Klassen „zusammengeschweißt“ und die
Vertrauensbildung durch gemeinsame Erlebnisse, Spaß und viele persönliche
Gespräche befördert (vgl. Interview O, Z. 122-123; Interview P, Z. 270-294;
Interview S I, Z. 337-355). Bleibenden Eindruck bei einer Lehrerin hinterließ das
Gespräch mit einem Schüler über seine Fluchtgeschichte. (vgl. Interview L III, Z.
99-109) Die während der Klassenfahrt miteinander verbrachte Zeit schaffte vor
allem aus Sicht der SchülerInnen ein herzliches, vertrauensvolles und
freundschaftliches Verhältnis zu den Lehrkräften, auch denen der Parallelklasse,
Sozialpädagoginnen und KlassenkameradInnen (vgl. Interview U, Z. 175-182;
Interview P, Z. 277-294).
„(…) In Berlin waren wir wie Freunde mit allen. (…) War alles toll. (…) Es war wirklich alles
gut. Mit alle. Wir waren mit alle wie mit Freund. Besonders mit Susi. Ich hab schon gesagt
((lachen)), ich kann nicht „Sie“ sagen, weil Sie sind wie unsere Freundin jetzt.
(…)“ (Interview V, Z. 90-97).
5.2.8. Freizeit und Ferien
Zum Schulalltag gehört auch die Freizeit nach der Schule, die auch Teil der
Tagesstruktur ist. Die Schule ist bemüht, diverse außerschulische Freizeitangebote
zu stellen, an denen alle teilnehmen können, auch, um Vorurteile abzubauen und
Gemeinschaft zu fördern. Die SozialarbeiterInnen organisieren dazu die Teilnahme
am Brüderschaftsfest der Völker und der Nacht der Museen, was jährlich in
Aschaffenburg stattfindet, an Schulkinowochen oder an einem Radioprojekt. Sie
planen für die SchülerInnen eine Weihnachtsfeier, einen Ausflug in das
Aschaffenburger Jugendkulturzentrum oder ein Ping-Pong-Turnier, vermitteln in das
Fußballprojekt, das von Lehrern der Fachoberschule gemanagt wird und helfen den
SchülerInnen, in ortsansässigen Vereinen Anschluss zu finden (vgl. Interview S I, Z.
347-370, Interview S II, Z. 245-246, 262-263). Ein Schüler erwähnte die Kooperation
mit einer weiteren Schule zu einer außerschulischen Freizeitaktivität: „Manchmal
kommt die Leute …vom Gymnasium“, mit denen ging es dann zum Bowling, einmal
wurde gegrillt (vgl. Interview P, Z. 379-391).
!28
Die SchülerInnen gehen in ihrer Freizeit aber auch diversen Hobbys nach. Hier
werden Aktivitäten genannt, die sie in Gemeinschaft tun: Fitnesstraining, Billiard
spielen, Kino, Bowling, in Frankfurt einkaufen oder auch nur spazieren und etwas
essen, einen Film, oder auch Dokumentarfilm anschauen, kochen oder Fußball im
örtlichen Verein spielen (vgl. Interview U, Z. 112-114; Interview T, Z. 278; P, Z.
314-335; Interview V, Z. 154). Als Aktivitäten, die die SchülerInnen allein tun, gaben
sie an, gern für die Schule zu lernen, insbesondere Deutsch oder zu lesen, gern
auch in der Muttersprache. Ein Schüler gab an, sich selbst mit Hilfe von Youtube,
das Gitarre-spielen beizubringen. Außerdem geht er gerne schwimmen und reitet
hin und wieder. Das Reiten ist ein Hobby, das ihn mit seiner Heimat verbindet und
auch mit einem noch bestehenden, guten Sozialkontakt zu einer deutschen Frau
aus dem Ort seiner ersten Unterkunft im Aschaffenburger Raum (vgl. Interview O, Z.
153-158; Interview R, Z. 212-228). Ein Schüler gab an, in seiner Heimat Kricket
gespielt zu haben und bedauert, dass er hier diese Möglichkeit nicht hat, zeigt sich
aber flexibel und hat neue Hobbys für sich entdeckt (vgl. Interview P, Z. 317-319).
Eine Schülerin berichtet, dass eine ehemalige Caritasmitarbeiterin sich sehr um die
Integration ihrer Schützlinge bemüht:
„…sie hat ein Projekt, und sie hat uns immer mitgenommen….wir treffen uns vielleicht zwei
Mal pro Woche, ja wir gehen zu sie. Sie lebt allein, und sie hat uns gesagt: Ihr könnt zu mir
jeden Tag kommen.“ (Interview U, Z. 219-230)
Ebenso hat sich ein ehemaliger Wirt sehr für Freizeitaktivitäten seiner
HeimbewohnerInnen engagiert:
„Zum Beispiel es gibt eine Party oder was, er hat uns auch Geld gegeben, macht er das. Wir
waren immer ins Kino, vielleicht jede Woche, er hat uns (…) nicht nur für mich! Vielleicht wir
waren 15 Leute, er hat das alles bezahlt. Wir waren im Schwimmbad …“ (Interview O, Z.
238-242)
Nicht nur der Schulalltag, sondern auch die Gestaltung der Ferien birgt für
geflüchtete SchülerInnen Probleme. Wie alle anderen freuen auch sie sich über
„Ausschlafen und Abhängen“. Anders als die nicht-geflüchteten SchülerInnen haben
sie wegen Residenzpflicht oder finanzieller Einschränkungen weniger Möglichkeiten
zu vereisen oder ihre Familien oder Freunde zu besuchen. Auch die, meist kleinen,
Unterkünfte bieten wenig Erholungsraum (vgl. Interview V, Z. 142-155; Interview U,
Z.260-265).
„Den ganzen Tag zu Hause. Es waren sehr lange Ferien und ich hab gar nichts gemacht.
Wir haben niemanden in Deutschland. Außer Deutschland wir können nichts gehen. (…)
Waren wie drei Monate, so lang.“ (Interview V, Z. 146-152)
!29
Schüler R hat die Herbstferien für Jobsuche und Nebenjob genutzt. „In den
Herbstferien ich hab gearbeitet. (…) Im Nebenjob, ja. (…) In der Küche.“ (Interview
R, Z. 231-242)
Seine Lösungsstrategie gegen sinnleere Langeweile scheint eine strenge
Tagesstrukturierung zu sein. Er versucht sehr zielgerichtet, sich eine Zukunft in
Deutschland zu erarbeiten.
5.3. Spracherleben
Die mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache wird von den Geflüchteten als
große Belastung, Verunsicherung und Hindernis erlebt: im Alltagsleben, z. B. beim
Arztbesuch oder im Kontakt mit Behörden, bei der Umsetzung von Berufswünschen
oder auch bei der Freizeitgestaltung (vgl. Interview T, Z. 25-29, 97-104, 150-152).
Deutschkenntnisse ermöglichen den SchülerInnen, mit Deutschen auf Augenhöhe in
Kontakt zu treten (vgl. Interview T, Z. 101-104, 267-278). Daher ist das Erlernen der
deutschen Sprache eine große Integrationsaufgabe für alle SchülerInnen.
Spracherwerb und Sozialkontakte bedingen sich wechselseitig. Sprache wird
unbewusst und implizit durch soziale Interaktion im Alltag erworben - im Gegensatz
zum bewussten gezielten Sprachenlernen in der Schule (vgl. wikipedia 2016,
Spracherwerb).
„Ich möchte jeden Tag etwas lernen, besser was wir lernen und sprechen, aber ähm gibt es
solche, ich kann über Internet etwas lernen, aber wenn ich nicht spreche, ich spreche
falsch.“ (Interview T, Z. 93-96)
Die Verständigung in der Klasse geschieht auf Deutsch, da die meisten
SchülerInnen aus unterschiedlichen Ländern kommen (vgl. Interview P, Z. 213-219).
Dies ist für den Spracherwerb der Jugendlichen sehr hilfreich. Sie können die
deutschen Ausdrücke und Wörter in einen für sie alltagsrelevanten Zusammenhang
setzen und dadurch besser lernen. Auch im sprachsensiblen Unterricht mit
Asylbewerbern und Flüchtlingen sollen Handlungsorientierung und Alltagsrelevanz
berücksichtigt werden (ISB 2015, S. 1f.). Im Pausengespräch mit MitschülerInnen
geschieht dies natürlicherweise „nebenbei“.
Umgekehrt aber ist wie oben beschrieben die Sprache für Bildung, Vertiefung und
Pflege von Sozialkontakten unerlässlich. Kommunikation, vor allem die Sprache, ist
die Voraussetzung für eine aktive, angemessene Teilhabe an sozialen Prozessen.
Fehlende Sprachkompetenz kann zu sozialer Isolation mit einem erheblichen
psychischen Krankheitswert führen. Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist
!30
allerdings verschieden, ihr Mangel wird nicht immer gleich stark empfunden. Für
Schülerin U sind zwischenmenschliche Gespräche ein Weg, sich als Subjekt fühlen
zu können:
„(…) mein Hobbys ist (...) mit die Leute Kontakt zu haben, ja, gefällt mir. Ich will nicht zum
Beispiel wie ein Maschine bleiben. Ich will mit Leute reden.“ (Interview U, Z. 77-79)
Neben endogenen Faktoren (Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen) führen auch
exogene Faktoren zu sozialer Isolation. Hierzu zählen Flucht und Migration, da sich
die Betroffenen aufgrund der bestehenden Sprachbarriere oft in die Einsamkeit
zurückziehen, obwohl sie gerne soziale Kontakte hätten (vgl. wikipedia 2016,
soziale Isolation). Deutschkenntnisse führen die Geflüchteten aus der Isolation und
verbessern ihr seelisches Wohlbefinden, was diese auch bestätigen:
„Ähhh, wir fühlen nicht, ähh, wir fühlen uns gut als früher.“ (Interview T, Z. 103-104)
Auf der Klassenfahrt haben dieSchülerInnen besonders die Möglichkeit für viele
persönliche Gespräche geschätzt und so neue und tiefere Beziehungen innerhalb
der Klasse und darüber hinaus entwickeln können. Bemerkenswert ist auch, dass
eine Klasse offenbar eine „eigene Sprache“ miteinander entwickelt hat. Ein Schüler
erlebt dies als besonderes Zeichen der Vertrautheit und des Zusammenhalts, in
Abgrenzung zu den anderen Klassen:
„Jetzt, wir verstehen. Klassenkollegen wir haben bisschen unsere Sprache, ja, ((Lachen)),
deswegen wir alle, wir verstehen. Ich verstehe andere, andere verstehen mich
besser.“ (Interview T, Z. 98-100)
Außerhalb der Schule spielen Personen mit Migrationshintergrund,
Migrantenorganisationen oder Vereine eine wichtige Rolle bei der Integration der
Neuzuwanderer. Sie sind durch ihre Sprachkenntnisse oft die ersten, die Kontakte
knüpfen können und zu denen die jungen Geflüchteten Vertrauen aufbauen.
Verbindend wirken neben der gemeinsamen Sprache unter Umständen die Religion,
vertraute Traditionen und Essgewohnheiten oder ein gemeinsames Hobby. Schüler
T berichtet vom Fußballspiel im türkischen Verein. Mittlerweile hat er genug
Vertrauen in seine Sprachkompetenz, dass er im nächsten Schritt plant, einem
deutschen Fußballverein beizutreten (vgl. Interview T, Z. 265f., 279-282).
!31
5.4. Sozialkontakte als Stützsystem
In diesem Kapitel wird dargelegt, wie die geflüchteten Jugendlichen ihre sozialen
Beziehungen im BIJ erleben und welche Bedeutung diese für ihre
Persönlichkeitsentwicklung und ihr Wohlbefinden haben.
5.4.1. Beziehung zu Gleichaltrigen
5.4.1.1. Kontaktaufnahme
Die Kontaktaufnahme in der neuen Klasse wurde durch ein gemeinsames Frühstück
und Kennenlernspiele erleichtert (vgl. Interview P, Z. 65-74). Berührungsängste
wurden abgebaut. Einige SchülerInnen schildern, wie sie ihre Scham und
Unsicherheit angesichts der vielen fremden Menschen aus unterschiedlichen
Ländern überwinden konnten und am Ende des ersten Schultags viel entspannter
und fröhlicher waren (vgl. Interview R, Z. 63-65; Interview O, Z. 46-50, 55-57). Bei
Verunsicherung suchen Menschen nach Sicherheit und wenden sich Vertrautem zu.
Sie suchen Sicherheit in der Segregation z.B. nach Geschlecht, Hautfarbe oder
Religion. Zu sehen ist diese Phase am besten in der Sitzordnung der BIJ-V Klasse.
Männer und Frauen sitzen getrennt, SchülerInnen sitzen nach Ländern oder
Hautfarbe zusammen. Das Kennenlernen in dieser Klasse weist besondere
Schwierigkeiten auf: die Namen sind beispielsweise fremd und darum schwer zu
lernen (vgl. Interview P, Z. 78-84).
Die interkulturelle Kommunikation, d.h. Handeln und Verstehen, unterliegt oft dem
Ethnozentrismus der Gesprächspartner. Beide deuten die verbalen und nonverbalen
Mitteilungen auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kultur. Das führt leicht zu
Missverständnissen und erschwert die Verständigung (vgl. wikipedia 2016,
Probleme der interkulturellen Kommunikation). Da im BIJ vielfältige Kulturen
aufeinander treffen, benötigt das Vertrautwerden miteinander mehr Zeit und ist
anstrengender als in Schülergruppen derselben Kultur. Die geflüchteten
Jugendlichen sind zutiefst sozial verunsichert aufgrund ihrer verschiedenen
kulturellen Prägungen. Das betrifft das gesamte Alltagsverhalten, so auch die
Regeln in der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen oder das Verhalten in der Schule.
Häufig entsteht Angst davor, etwas falsch zu machen, Scham über „Fehlverhalten“
und Scheu, überhaupt in Kontakt zu treten (vgl. Shah 2015, S. 11f.). Gemeinsames
Essen und Spielen am ersten Schultag vermittelten hier etwas Sicherheit im neuen
Umfeld.
Auch wenn neue SchülerInnen in die bestehende Klasse aufgenommen werden,
scheint das nach unserer Beobachtung nicht ganz einfach zu sein: Schüler W setzt
sich sehr widerwillig neben den neuen Schüler X und nimmt keinerlei Kontakt auf,
!32
weder verbal noch durch einladende Gesten (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 26-30,
32-34, 46f, 69-71, 95f.). Es bleibt offen, ob dies auf persönlicher Abneigung oder auf
anderen Vorbehalten beruht. Möglicherweise ist W auch verärgert über häufige
Wiederholungen des Schulstoffs wegen der Neuzugänge.
Sehr eindrucksvoll war der Besuch der Nachbarklasse von
FleischereifachverkäuferInnen der BS III im Mathematik-Unterricht: die Klasse
reagierte sehr interessiert, fröhlich und lebhaft auf diese Kontaktaufnahme mit
deutschen SchülerInnen, die von Lehrerin L II als „Brückenperson“ angeleitet wurde.
Höhepunkt war die Verabschiedung von jedem/-r SchülerIn mit Blickkontakt und
Handschlag (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 136-138, 162-166).
5.4.1.2. Klassengemeinschaft
Alle befragten SchülerInnen geben an, sich in der Klasse wohl zu fühlen. Die
SchülerInnen beschreiben nach 1 ½ gemeinsamen Jahren im BIJ ein sehr gutes
Umgehen miteinander (vgl. Interview T, Z. 42-47). Sie können dort fröhlich und
entspannt sein, alle Mitschüler sind integriert (vgl. Interview O, Z. 144-145). Die
SchülerInnen haben ein starkes Zugehörigkeits- und Wir-Gefühl entwickelt.
Teilweise empfinden sie ihre Klasse als die „bessere“ im Vergleich mit anderen
Klassen, d.h. sie sind stolz auf ihre Klasse (vgl. Interview T, Z: 45-46). Die
SchülerInnen verbringen einen großen Teil des Tages gemeinsam, bis ca. 15 Uhr,
und sind daher wichtige Sozialpartner füreinander (vgl. Interview O, Z. 165-167). Sie
tauschen ihre Gedanken und Meinungen aus, oft noch nach der Schule per
Whatsapp. Sie geben einander seelische und praktische Unterstützung, z.B.
Aufmunterungen oder Hausaufgabenhilfe (vgl. Interview T, Z. 117-120; Interview P,
Z. 155-159). So fördert die Klassengemeinschaft die Selbsthilfe der Jugendlichen.
Im Gegensatz dazu berichten die Pädagoginnen auch von Konflikten zwischen den
verschiedenen ethnischen Gruppen in der Klasse, z.B. dass einige SchülerInnen
eher Einzelgänger sind (vgl. Interview S II, Z. 232-239; Interview L III, Z. 86-90) oder
dass dunkelhäutigere MitschülerInnen diskriminiert werden (vgl. Interview S I, Z.
320-323). So habe eine frühere Lehrerin die gewachsene Klasseneinheit zerstört,
indem sie die Grüppchenbildung in Christen, Muslime u.a. förderte und eine
gemeinsame Weihnachtsfeier ablehnte, berichtet Sozialarbeiterin S II. Damit hat sie
die gegenseitige Wahrnehmung von Differenz als trennendes Element gestützt und
die Abgrenzung und Identitätsbildung nach religiösen Untergruppen gestärkt (vgl.
Interview S II, Z. 220-230, 247-260; Rehberg 2001, S.64). Zur gemeinsamen
Weihnachtsfeier konnten alle ihr traditionelles Essen mitbringen. Auch hier wurden
zwar Unterschiede in Form von verschiedenen Speisen sichtbar gemacht, aber
gleichzeitig die Gruppe durch gemeinsames Einverleiben vereint. Gemeinsames
!33
Essen kann „Gefühle der Zusammengehörigkeit und des Verstehens erzeugen“ und
dadurch sehr diverse Personen verbinden (vgl. Barlösius 2011, S. 201ff.).
Bemerkenswert ist, dass Rassismus an dieser Stelle nicht nur als ein Problem der
einheimischen Gesellschaft, sondern auch als eines der neu Zugewanderten selbst
erscheint. Flüchtlinge können also nicht nur Opfer von Exklusion, sondern auch
Täter sein. Rassismus ist eine globale Erscheinung (vgl. Melter 2006, S. 18,
Frieters-Reermann 2013, S. 46f.).
Jugendliche, d.h. Personen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, müssen nach
Hurrelmann in westlichen Gesellschaften bestimmte Entwicklungsschritte
bewältigen, die einerseits der Selbstfindung und Abgrenzung und andererseits der
gesellschaftlichen Integration dienen. Dazu gehören die intellektuelle und soziale
Kompetenz, um einen Beruf zu erlernen (Existenzsicherung), die Entwicklung der
eigenen Geschlechterrolle (Grundlage einer Partnerbeziehung), eines eigenen
Wertesystems (Grundlage für Authentizität und Mündigkeit als Staatsbürger) sowie
eines eigenen Lebensstils (Handlungsmuster für ein bedürfnisgerechtes Leben,
inklusive einer angemessenen sozialen Gruppe). Da diese Entwicklungsaufgaben
nur in der alltäglichen Interaktion mit dem sozialen Umfeld bewältigt werden können,
leisten Gruppen Gleichaltriger, die sog. Peergroups5, hierbei einen wichtigen Beitrag
(vgl. Stangl 2016, Entwicklungsaufgaben im Jugendalter). Die Gruppe kann
prosoziales Verhalten einüben, z.B. freundschaftliche Unterstützung, aber auch
unsoziales Verhalten etablieren, z.B. die Ausgrenzung nicht-konformer, „fremder“
Mitglieder (vgl. Stangl 2016, Peergroup). Beide Verhaltensweisen sind in der Klasse
zu beobachten: Zugehörigkeit und Ausgrenzung.
Die geflüchteten Jugendlichen stehen vor der Herausforderung, ihre Identität und
gesellschaftliche Position im Kontext der aufnehmenden (westlichen) Gesellschaft
neu zu entwickeln. Ihre Identitätsbildung ist eng verbunden mit dem
Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft (kollektive Identität) bei gleichzeitiger
Abgrenzung von „den anderen“. Sozialisiert wurden die geflüchteten Jugendlichen
in ihren Heimatländern. Ihre Einstellungen sind geprägt von den dortigen
Vorstellungen und Traditionen, die sich von denen, die sie im Aufnahmeland
vorfinden, stark unterscheiden können. Insbesondere in interkulturellen
Begegnungsräumen wie den Flüchtlingsklassen kommt es zur vielfachen
Konfrontation mit Fremdheit. Sie kann die beteiligten Akteure zutiefst verunsichern,
5 Mit
Peergroups werden Gruppen Jugendlicher ähnlichen Alters bezeichnet, die aufgrund
gleicher Interessen für einen bestimmten Zeitraum miteinander verbunden sind. Hilfreiche
Peergroups bieten einen geschützten Raum für das Erproben und den Aufbau von Sozialverhalten, problematische Peergroups dominieren und kontrollieren ihre Mitglieder und verleiten sie zu riskanten, gewalttätigen oder gar kriminellen Verhaltensweisen (vgl. BAMF
2016, Lernangebot Freundschaft).
!34
alltägliche Deutungsmuster bis hin zur eigenen Identität werden in Frage gestellt
(Kulturschock). Differenzerfahrungen können als bereichernd oder als bedrohlich
erfahren werden und spiegeln gesellschaftliche Diskurse wieder, die Macht ausüben
und Individuen in ihrem Fühlen, ihrem Selbstverständnis und Vorstellungen
beeinflussen. (vgl. Nick 2005, S. 245f.) Das Konstruieren von Differenzen und
Fremdheit kann der Selbstvergewisserung dienen. Ein Bewältigungsversuch von
Fremdheit kann Indifferenz oder Typisierung der unvertrauten Anderen sein.
Indifferentes Verhalten zeigt zum Beispiel Schüler W im Umgang mit dem neuen
Schüler X - er scheint ihn schlicht zu ignorieren (vgl. Beobachtung BIJ, Z. 26-30,
32-34, 46f., 69-71, 95f.). Darüber hinaus haben Formen von rassistischer
Ausgrenzung individuell die Funktion, die eigene Person aufzuwerten, ein
bekanntes Muster in Phasen der verunsicherten Identität (vgl. Mecheril/ Melter
2010, S. 155).
Auf der anderen Seite suchen die SchülerInnen in der BIJ-Klasse ihre
Zugehörigkeit. Sie sind eine Interessengemeinschaft: alle wollen Deutsch lernen
und sich auf eine Berufstätigkeit in Deutschland vorbereiten. Gemeinsam ist (fast)
allen auch der Verlust ihres vertrauten sozialen Umfelds. In der Klasse wird (neues)
Sozialverhalten erprobt, ausgehandelt und gelernt. Verbunden mit der kulturell
bedingten Verunsicherung suchen die SchülerInnen nach Sicherheit, Orientierung
und Anerkennung in einem neuen sozialen Netz, um die hier gesellschaftlich
erwarteten Entwicklungsaufgaben (Berufsorientierung, Geschlechterrolle,
Wertesystem, Lebensstil) erfolgreich zu bewältigen. Die geflüchteten Jugendlichen
sind trotz großer ethnischer Unterschiede mehr als ihre deutschen
AltersgenossInnen auf ihre Klasse als Peergroup angewiesen, die ihnen Sicherheit
und Orientierung gibt. Darum wird sie von ihnen sehr geschätzt und vielleicht auch
etwas idealisiert.
5.4.1.3. Freundschaften
Viele SchülerInnen aus der Klasse gestalten auch ihre Freizeit gemeinsam: sie
unternehmen Ausflüge nach Frankfurt, spielen Billard usw. (vgl. Interview P, Z.
322-333). Das bekommt besondere Bedeutung für die Geflüchteten, da sie sonst
wenig oder keine Kontakte zu Gleichaltrigen haben (vgl. Interview V, Z. 147-148,
162-171; Interview P, Z. 301). Die SchülerInnen genießen den gemeinsamen
Zeitvertreib. Derzeit sind sie allerdings oft zu müde von der Schule, um in ihrer
Freizeit noch etwas zu unternehmen (vgl. Interview U, Z. 112-116; Interview O, Z.
165-167). Es gibt einzelne Schüler, die die Klasse schätzen, aber keine Freizeit mit
den Schulkameraden verbringen (vgl. Interview R, Z. 207-209).
!35
Die Beziehungsqualität unter den SchülerInnen ist unterschiedlich. Auch wenn die
meisten betonen, zu allen aus der Klasse eine gleich gute Beziehung zu haben und
ihre KlassenkameradInnen als „Freunde“ bezeichnen (vgl. Interview P, Z. 223-226),
berichten einige von näherstehenden Einzelkontakten. Vertrautheit ist möglich trotz
verschiedener kultureller Herkunft. So ist die Klasse ist für einige Schülerinnen ein
wichtiger Ort, um ihre Freundschaften zu pflegen und über sehr Persönliches
auszutauschen, z.B. „Frauenthemen“ (vgl. Interview U, Z. 100-106; Interview O, Z.
96-100, 145, 161-165). Nach 18 Monaten sind diese Schülerinnen erfolgreich zu
einer tragfähigen interkulturellen Gemeinschaft zusammengewachsen:
„Ich habe drei Freundinnen, eine aus Togo, eine aus dem Iran und eine aus Irak. Wir
kommen aus vier verschiedenen Ländern, aber wir gehen gut miteinander um.“ (Interview U,
Z. 103-106)
Ein Schüler verwendet die Begriffe „Leute“, „Jungs“ und „Freunde“ nebeneinander.
Die Mitschüler sind für ihn „Freunde“, mit denen er auch seine Freizeit gestaltet.
(vgl. Interview P, Z. 323-326). Manche Jugendliche sind in der Klassengemeinschaft
gut integriert, bezeichnen aber niemanden dort als Freund (vgl. Interview V, Z.
115-117). Die Vertrauensbildung im BIJ verläuft demnach unterschiedlich bei den
Mitschülern. Schüler R scheint weniger eingebunden in die Klassengemeinschaft.
Er ist sehr ehrgeizig, fixiert auf die für ihn wichtigen Fächer und seine Tagesstruktur
ist stark vom Lernen bestimmt (vgl. Interview R, Z. 70 ff., 94 f., 99-102, 207-213).
Dennoch gibt er an, sich mit den „Kollegen“ gut zu verstehen (vgl. Interview R, Z.
190-200). Die Vertrauensbildung in der Klasse vollzieht sich demnach als Prozess in
Abhängigkeit von mehreren Komponenten: vom Umfang der gemeinsam
verbrachten Zeit, von vorherigen Beziehungserfahrungen, dem externen sozialen
Netz und der Persönlichkeit (vgl. Interview R, Z. 202-206). Unter den Geflüchteten
gibt es einige, die zusammen mit ihrem Ehepartner die Schule besuchen. Sie haben
bereits eine sehr vertraute Beziehung in der Klasse (vgl. Interview T, Z. 16, 74-76,
176-177).
Ein Kennzeichen von Peergroups kann (muss aber nicht) freundschaftliche
Verbundenheit sein (vgl. Stangl 2016, Peergroup). Die unterschiedliche Beteiligung
an gemeinsamen Freizeitaktivitäten zeigt, dass die Klasse nicht für alle
SchülerInnen ein Ort für Freundschaften ist, sie sich aber trotzdem dort wohl und
zugehörig fühlen.
Zur Entwicklung eines eigenen Lebensstils gehört die passende und erfolgreiche
Gestaltung persönlicher und beruflicher Beziehungen, also auch Freundschaften
und eine Partnerschaft. Hierfür sind Kenntnisse über Beziehungsgeflechte und hierarchien wichtig, aber auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Die Begriffe für
!36
Freundschaften unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturen. In den USA
werden bspw. schon flüchtige Bekanntschaften mit „friendship“ bezeichnet.
Freundschaftliche Beziehungen fußen nach deutschem Verständnis auf einer
gemeinsamen emotionalen Ebene (abgesehen von reinen Zweckfreundschaften)
und sind von Wertvorstellungen wie Vertrauen, Verlässlichkeit und gegenseitiger
Unterstützung geprägt. Sie verändern sich mit steigendem Alter und existieren in
unterschiedlichen Qualitäten. Für Jugendliche in westlichen Industriegesellschaften
sind emotionale Beziehungen zu Gleichaltrigen im Vergleich zur Generation unserer
Großeltern wichtiger geworden für die Identitätsbildung. FreundInnen werden von
Jugendlichen heute oft als kompetente RatgeberInnen geschätzt, weil sie über
aktuelle Informationen verfügen und denselben Erfahrungshorizont teilen. Für die
Klassengemeinschaft ist es wichtig, dass die SchülerInnen
Ausgrenzungsphänomene erkennen und geeignete prosoziale Lösungswege
suchen, damit sich jede/r wohlfühlen kann (vgl. BAMF 2016, Lernangebot
Freundschaft).
Alle SchülerInnen betonen die gute, freundschaftliche Gemeinschaft auf der
Klassenfahrt. Dies ist ein Hinweis auf das große Bedürfnis nach Nähe und
Vertrautheit in den Beziehungen der SchülerInnen untereinander. Es ist zu
vermuten, dass der Grund hierfür in ihrer Entwurzelungserfahrung und jetzigen
sozialen Isolation in Deutschland liegt (vgl. Interview P, Z. 301). Die Beziehungen
haben sich über vielfältige – auch sinnliche – gemeinsame Erlebnisse vertieft, aber
vor allem auch über persönliche Gespräche. Das gemeinsame Zeit-Verbringen
sowie eine wache Verfassung waren dafür Voraussetzung, im ermüdenden
Schulalltag fehlt den SchülerInnen oft die Kraft für Beziehungsaufbau (vgl. Interview
U, Z. 214-216).
Bezogen auf die Persönlichkeitsentwicklung erleben die SchülerInnen folgende
Anregungen durch die Klassengemeinschaft: Sie setzen sich mit ihrer
Geschlechterrolle auseinander - erwähnt werden Gespräche über Frauenthemen -,
ihrem Lebensstil - sie suchen und teilen Freizeitinteressen miteinander, die in
Deutschland üblich sind, und wählen FreundInnen aus - und ihrem Wertesystem,
was z.B. an einem anderen Heiratsverständnis erkennbar wird (vgl. Interview S III,
Z. 353-370). So leistet die Peergroup im BIJ(V) einen wichtigen Beitrag zur
Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung der SchülerInnen.
!37
5.4.2. Beziehung zu Erwachsenen
5.4.2.1. Fürsorge und Respekt
Alle SchülerInnen schätzen die freundliche und fürsorgliche Atmosphäre der Schule.
Sie können mit allen Fragen auf die LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen zugehen,
die ihnen gerne und umfassend helfen (vgl. Interview V, Z. 132-134; vgl. Interview
R, Z. 160-163). Einige betonen, dass alle Anliegen ernstgenommen werden - auch
beispielsweise Kritik am Lehrplan. Sie erleben dies als Annahme und können sich
öffnen und Vertrauen entwickeln (vgl. Interview O, Z. 70-71; Interview U, Z. 205-211;
Interview V, Z. 77).
Ein Anliegen der Professionellen der BS I ist es, den geflüchteten SchülerInnen
auch bei der alltäglichen Lebensbewältigung Orientierung zu geben. Sie sind
Ansprechpartner für Alltagsprobleme und erklären „wie hier in Deutschland etwas
funktioniert“. Sie unterstützen die SchülerInnen u.a. bei Telefonverträgen, Bank- und
Krankenversicherungsangelegenheiten, bei der Kommunikation mit den Behörden
und Arztterminen (vgl. Interview S I, Z. 182-199; Interview S II, Z. 130-131; Interview
O, Z. 134-140).
Wie zu Anfang dieses Kapitels beschrieben sind die geflüchteten Jugendlichen aus
ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und vermissen ihre vertrauten Beziehungen,
die ihnen positive Beachtung schenken würden. Hinzu kommt das Leben in Armut
und unter diskriminierenden Lebensbedingungen (z.B. das Wohnen in
Gemeinschaftsunterkünften für AsylbewerberInnen) sowie die sprachliche und
kulturelle Verunsicherung. Die fürsorgliche und wohlwollende Atmosphäre im BIJ (V)
ist für sie vor diesem Hintergrund besonders wohltuend. Die SchülerInnen erfahren
Freundlichkeit, Annahme und Respekt - Grundbedingungen, um eine gesunde
Selbstachtung entwickeln zu können. Nach Erkenntnis des amerikanischen
Psychologen Abraham Maslow gehört Anerkennung zu den Grundbedürfnissen des
Menschen (vgl. Stangl 2016, Bedürfnis-Pyramide Maslow).
5.4.2.2. Die Helfer – Elternersatz oder Freunde?
Fünf der sechs SchülerInnen sind auf sich allein gestellt, d.h. ohne Familie bzw.
Eltern in Deutschland. Sie müssen ihre Entscheidungen eigenverantwortlich treffen,
ihren Alltag selbständig bewältigen und sich ein eigenes soziales
Unterstützungsnetzwerk aufbauen, welches ihnen anstelle ihrer Familie Beratung,
Halt und Orientierung geben kann.
„Manchmal wir nehmen Empfehlungen von unserer Familie und Freunden, aber in
Deutschland nicht so viel.“ (Interview V, Z. 121-128)
!38
Dies gilt auch für die verheirateten SchülerInnen des BIJ. Obwohl sie sich selbst
eine kleine Familieneinheit geschaffen haben, fehlt ihnen der familiäre Rückhalt.
Schüler T - bereits Vater zweier Kleinkinder und im täglichen Gespräch mit seiner
Frau (auch Schülerin des BIJ) über die Vereinbarkeit von Familie und Schule/
Ausbildung (vgl. Interview T, Z. 33-35, 47-51, 163-221) – formuliert das so:
„Wissen Sie, wir haben auch Probleme. Wir haben keine Familie und Verwandten
hier.“ (Datenblatt T)
Schüler T hat gelernt, andere Menschen um Hilfe zu bitten, z.B. für die
Kinderbetreuung (vgl. Interview T, Z. 204-212). Das geschieht im Wohnumfeld, aber
auch in der Schule. Vor diesem Hintergrund kommt der Beziehung der SchülerInnen
zu den PädagogInnen an der BS I eine besondere Bedeutung zu.
Die LehrerInnen werden durchgängig als sehr nett, humorvoll und sehr gut
empfunden, aber auch teilweise als streng, was als Einschränkung des Nett-Seins
erlebt wird (vgl. Interview O, Z. 69-70, 73, Interview V, Z. 44-48). Lehrerin VII wird
für ihr großes Verständnis für alle SchülerInnen gelobt (vgl. Interview U, Z.
167-171). Sie habe sich den SchülerInnen gegenüber auf der Klassenfahrt sehr
fürsorglich verhalten, was für sie sehr wohltuend war: Lehrerin VII habe die
SchülerInnen ermahnt, warme Kleidung mitzunehmen für den Abend, und die
SchülerInnen hätten dagegen teilweise rebelliert oder gehorcht wie gegenüber einer
Mutter (vgl. Interview U, Z. 175-182).
„Und danach wir sind gegangen, und wir haben gesagt: ´Oh danke, wir haben jetzt keine
Mutter, aber Sie sind wie unsere Mutter. Sie haben uns gesagt und wir haben gehört, weil (.)
´ ähm, das war ((leise)) schön. (...) Das war, dass ich liebe sie sehr.“
(Interview U, Z.
179-182)
Die Sozialarbeiterinnen unterstützen die SchülerInnen bei
Behördenangelegenheiten, indem sie Formulare und Briefe übersetzen und erklären
sowie stellvertretend für sie telefonieren (vgl. Interview O, Z. 134-136; Interview R,
Z. 181-187; Interview P, Z. 242-245; Interview S I, Z. 180-210). Bei der
Berufsorientierung erfüllen LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen eine
Brückenfunktion zur deutschen (Arbeits-) Kultur. Sie machen die Geflüchteten mit
der Arbeitswelt und ihren Regeln vertraut, z.B. welche Leistungsanforderungen an
einen Beruf gestellt werden, den sie erlernen möchten. Die SchülerInnen erleben
diese Realitätskonfrontation teilweise als Enttäuschung, weil sie ihre Träume
aufgeben, zurückstellen oder anpassen müssen (vgl. Interview T, Z. 153-157).
Sozialarbeiterin S I wird einhellig als besonders weitherzig und wohlwollend erlebt
(vgl. Interview O, Z. 140; Interview U, Z. 198). Sie bietet den SchülerInnen große
!39
Verlässlichkeit, die teilweise sogar über die gemeinsame Zeit in der Schule hinaus
reicht (vgl. Interview U, Z. 205-211, 289-291).
„Sie sagt, ich bin nur für da Euch.“ (Interview U, Z. 211)
Sozialarbeiterin S I wird von allen Schülern geduzt und mit ihrem Kosenamen
angesprochen (vgl. Interview V, Z. 95-97, Interview T, Z. 83-85; Interview P, Z.
286-289). Sie ist eine Vertrauensperson für die SchülerInnen (vgl. Interview O, Z.
139-140; Interview S I, Z. 210-218).
Ein Schüler beschreibt, dass er in der Schule ausschließlich als „Hilfeempfänger“
Kontakt mit den Sozialarbeiteinnen hat (vgl. Interview V, Z. 107-109). Auf der
Klassenfahrt dagegen führte er mit ihnen Gespräche auf Augenhöhe, einen
gleichwertigen Gedankenaustausch. Der Jugendliche empfand dies als sehr
wertschätzend und erlebte es persönliche Aufwertung. Hierbei wird die Beziehung
zu Sozialarbeiterin S I von den SchülerInnen als herausragend unter den
PädagogInnen beschrieben. Sie legte auf der Klassenfahrt ihre professionelle
Distanz ab und öffnete sich für einen gegenseitigen Austausch (vgl. Interview V, Z.
95-97). Denkbar ist, dass sie hier mit den Geflüchteten u.a. über ihr eigenes
Interessengebiet, die politischen Verhältnisse in den Herkunftsländern, gesprochen
hat (vgl. Interview S I, Z. 384-397). Von den SchülerInnen wurde sie dort als
Freundin erlebt.
Diese Ergänzung von Strenge und Wohlwollen erinnert an die Rolle von Eltern
gegenüber heranwachsenden Kindern: Die Kinder reiben sich an den Eltern, deren
Regeln, und Grenzziehungen sowie dem Machtgefälle, aber sie schätzen auch die
Unterstützung und den Erfahrungsvorsprung. Die Geflüchteten sind zwar alle schon
volljährig, brauchen dennoch aufgrund ihrer Kulturfremdheit Vorbilder und Anleitung
in deutscher Lebensführung. Sie sind herausgefordert, sich in Deutschland ein
soziales Stützsystem aufzubauen. Diese Aufgabe, die üblicherweise die
Erziehungsberechtigten erfüllen, übernehmen an der BS I die LehrerInnen und
Sozialarbeiterinnen. Hinzu kommt ein Rahmen persönlicher Geborgenheit im BIJ.
Die Anrede von Sozialarbeiterin S I mit ihrem Kosenamen als Ausdruck drückt diese
familiäre Nähe aus. Die elternähnliche Nähe hat für die PädagogInnen auch
Grenzen. Die Grenzziehung zum Schutz ihrer Privatsphäre und psychischen
Belastungsgrenze wird von den PädagogInnen unterschiedlich gehandhabt. So
geben Sozialarbeiterin S II und Lehrerin L III ihre Handy-Nummern nicht (mehr)
heraus, sind also nicht immer erreichbar (vgl. Interview L III, Z. 197-202; Interview S
II, Z. 293-301). Auch ist das BIJ grundsätzlich zeitlich begrenzt auf zwei bis
zweieinhalb Jahre. Dann ist der pädagogische Auftrag beendet. Aber auch hier gibt
!40
es Verhandlungsspielräume oder zumindest Wünsche der SchülerInnen nach
Verlängerung (vgl. Interview U, Z. 289-291).
Das Unwohlsein von Schüler V bei seinem Erleben als Hilfeempfänger in der Schule
im Gegensatz zu dem als ebenbürtiger Freund auf der Klassenfahrt wirkt signifikant
und wegweisend für die Art der Hilfestellung: Sie ist und muss ein Übergang sein zu
selbständigem und selbstbestimmtem Leben, mit dem Fokus auf Befähigung zur
Selbsthilfe, Stärkung von Selbstvertrauen und Zuversicht. Hilfebedürftigkeit kann als
kränkend empfunden werden und darf nur auf das Notwendige beschränkt sein. Die
Geflüchteten in Deutschland benötigen ebenbürtige Begegnungen für ihr
Würdeempfinden. Die Pädagogen erfüllen nur eine vorübergehende – allerdings
sehr prägende – Aufgabe, eine Brückenfunktion. Oder wie Sozialarbeiterin S III
ausgedrückt hat: sie haben eine Funktion als Tür auf dem Weg in eine neue Zukunft
(vgl. Interview S III, Z. 504-508). Zuverlässige Bezugspersonen bilden nach Shah
die wichtigste Ressource für die seelische Gesundheit geflüchteter Jugendlicher
(vgl. Shah 2015, S. 14). Persönliche Fürsorge, Respekt und Sicherheit bilden
außerdem die Basis für ein günstiges, effektives Lernklima im BIJ.
In der Untersuchung, wie die SchülerInnen des BIJ ihre sozialen Beziehungen an
der Schule erleben, konnte gezeigt werden, dass ihre Grundbedürfnisse nach
Maslow weitreichend erfüllt werden. Dies findet Ausdruck in ihrer großen
Zufriedenheit mit dem BIJ. Nach Maslows Konzept der Bedürfnispyramide sind die
Grundbedürfnisse des Menschen hierarchisch strukturiert: die befriedigende
Erfüllung der niederen Bedürfnisse ist Voraussetzung für das Streben nach höheren
Bedürfnissen. Physiologische Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf),
Sicherheitsbedürfnisse
Zugehörigkeitsbedürfnisse
(Stabilität,
(Familie,
Freunde)
Angstfreiheit,
und
Struktur),
Anerkennungsbedürfnisse
(Wertschätzung, Respekt) gehen der Selbstverwirklichung des Menschen voraus.
Auch wenn dieses Hierarchiemodell in seiner Starrheit kritisiert wird, zeigt Maslow
mit ihm eine grundlegende Struktur der menschlichen Ideale auf. Nach dem
Begründer der kritischen Psychologie Klaus Holzkamp (1985) ist das wichtigste
menschliche Lebensbedürfnis die personale Handlungsfähigkeit. Sie ermöglicht,
gestaltend auf die Umwelt Einfluss nehmen zu können, sowohl auf die eigenen
Lebensbedingungen als auch auf gesellschaftliche Prozesse. Hier schließt sich der
Kreis zu den in 5.4.1. genannten Entwicklungsaufgaben, die auf Selbstfindung und
gesellschaftliche Integration abzielen. Das BIJ erfüllt den umfassenden Auftrag, die
personale Handlungsfähigkeit der jungen Menschen in unserer Kultur zu entwickeln
und zu stärken – trotz aller asylrechtlichen Ungewissheiten. Das geht über die
Vermittlung der Sprachkenntnis und eines Berufspraktikums weit hinaus und wird
darum von den SchülerInnen mit großer Dankbarkeit und Wertschätzung
angenommen.
!41
5.5. Psychische Herausforderungen und Hilfen
Ausdrücklich berichtet keine/r der SchülerInnen von psychischen Problemen wie
aktuellen Ängsten oder traumatischen Erlebnissen. Die InterviewerInnen haben sich
bemüht, belastende Fragestellungen zu vermeiden, um die SchülerInnen durch die
Forschungsarbeit möglichst wenig zusätzlich zu belasten. Hinweise auf die
Bedeutung von Traumata, Ängsten und anderen psychischen Belastungen lassen
sich aber in dem finden, was nicht angesprochen wurde. Auch in übersprachlichen
Äußerungen wie Lachen, lautes Schlucken, leise werdender oder schneller
Sprechweise werden Gefühle erfahrbar (vgl. Interview U, Z. 184-192). Expliziert
werden traumatische Erfahrungen in den Interviews mit den Professionellen. Meist
als belastende Erlebnisse für sie selbst:
„Es war kein schöner Moment. (…) Wir hatten einen Schüler aus [Land] (…) und letztes Jahr
war ein Massaker an der Schule in [seiner Heimat]. (…) und das hat uns, hat mich so sehr
mitgenommen, weil seine Familie nämlich in [der Heimat] ist und sein kleiner Bruder. (…)
Dem ging´s so schlecht. Und ich konnte dann auch nicht, also ich konnte auch den Druck
nicht aushalten, und dann habe ich mitgeweint (…) er hat so einen Schmerz gehabt (…) Ich
war eigentlich ohnmächtig da. Und deswegen habe ich diese Erinnerung auch.“ (Interview S
II, Z. 152-177)
Abschiebung und Behördengänge sind die größten Angstauslöser für die
geflüchteten Jugendlichen – und ihre professionellen UnterstützerInnen (vgl.
Interview S I, Z. 205-218; 233-289; S II, Z. 143-148). Sorge um die Familie in der
Heimat, das Zurechtkommen im alltäglichen Leben ohne familiären Halt, die
Unsicherheit ihrer eigenen Lebenssituation und ein hoher Erfolgsdruck belasten
demnach die geflüchteten SchülerInnen der BS I. Die Jugendlichen sind entwurzelt
und müssen sich in ein völlig neues soziales und kulturelles Umfeld einfügen (vgl.
Shah 2015, S. 10f., 15). Angst und/ oder Trauma beeinträchtigen zumindest
periodisch die Bildungs- und Integrationsbemühungen der Jugendlichen. Sie führen
zu Unzuverlässigkeit, Leistungseinbrüchen oder Konzentrationsschwierigkeiten, in
Extremfällen zu Ausfällen durch Psychiatrieaufenthalte. Schulische Anforderungen
können dann nur schwer bewältigt werden (vgl. Interview SI, Z. 233-262, 453-460;
Interview LIII, Z. 92-95, 99-109). Eine Schwierigkeit im Raum Aschaffenburg ist der
Mangel an geeigneten Therapiemöglichkeiten für die geflüchteten Jugendlichen
(vgl. Interview SI, Z. 453-460).
In den folgenden Unterkapiteln ist aufgeführt, welche Maßnahmen zur psychischen
Stabilisierung das Konzept der BIJ (V) Klassen bietet und wie sie von den
geflüchteten SchülerInnen sowie Lehrkräften und Sozialarbeiterinnen
wahrgenommen werden.
!42
5.5.1. Schule als sicherer Ort
Geflüchtete Kinder und Jugendliche werden als eine „besondere
Schülergruppe“ (ISB 2014, S. 5) bezeichnet. Gemeint ist, dass die SchülerInnen
sich in einer Ausnahmesituation befinden, die mit dem Verlust von Sicherheit und
Halt gebenden Strukturen einhergeht. Psychische Instabilität hindert die
SchülerInnen daran, sich auf Lernprozesse in der Schule einzulassen (vgl. Interview
S I, Z. 253-256). Die Schule soll den SchülerInnen einen geschützten Raum
anbieten, der ihnen wieder Halt, Orientierung und Vertrauen in die eigene
Handlungsfähigkeit gibt sowie ein angstfreies Miteinander ermöglicht, damit sie
psychisch stabiler werden (vgl. ISB 2014, S.5f.).
Die BS I bietet denSchülerInnen über die LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen ein
umfassendes Unterstützungsangebot an, das den Geflüchteten Sicherheit gibt und
ihnen gut tut (vgl. Interview T, Z. 83-85; Interview R, Z. 160-163). Geflüchtete
Jugendliche haben in Deutschland nur wenige persönliche Fürsorgebeziehungen.
Die MitarbeiterInnen der Schule sind daher für deren emotionale Sicherheit von
herausragender Bedeutung. Eine Schülerin schildert, dass allein die gedankliche
Vorstellung ihrer UnterstützerInnen ein innerer sicherer Ort für sie ist:
„Ich finde, wenn ich mir die vorstelle, (.) ich weiß nicht ((Lachen)), ich fühle mich gut, ((leise))
ja.“ (Interview U, Z. 231-235)
Die SchülerInnen sind dankbar für die berufliche Orientierung und Vorbereitung
durch LehrerInnen und Sozialarbeiterinnen. Sie erhalten dadurch ein Ziel für diese
Lebensphase und eine Perspektive in die Zukunft. Sie bekommen Zuversicht und
ein Gefühl der (Planungs-) Sicherheit (vgl. Interview V, Z. 44-48).
Aufgrund ihrer Fluchterfahrungen und aktuellen Lebenssituation haben die
geflüchteten Jugendlichen ein höheres Bedürfnis nach Sicherheit als ihre deutschen
AltersgenossInnen. Die BS I kommt dem im BIJ (V) auf vielerlei Weise nach: Die
SchülerInnen werden in die alltäglichen und bürokratischen Abläufe in Deutschland
eingeführt, ebenso ins deutsche System beruflicher Bildung und in die
Gepflogenheiten der Arbeitswelt. Die berufliche Perspektive vermittelt ein Gefühl der
Planbarkeit und Handhabbarkeit ihres Lebens. Klarheit und Schulregeln, die für alle
sichtbar in der Klasse hängen, sollen Halt geben, auch wenn sie manchmal Anstoß
erregen (vgl. Interview. V, Z. 45-46; Interview L III, Z. 228-231; Interview S III, Z.
330-345; Beobachtung BIJ-V Anhang). Vor Abschiebung kann die Schule allerdings
nicht schützen (vgl. Experteninterview, Z. 51-52). Darüber sprechen die
SchülerInnen nicht mit uns.
!43
Beim Gestalten von Schule als sicheren Ort sind die Kompetenzen der
Sozialarbeiterinnen gefragt. Sie selbst schätzen ihre Arbeit an dieser Stelle als sehr
wichtig ein. Sie haben ein feines Gespür für belastete SchülerInnen und bieten
ihnen ein offenes Ohr. In vertrauensvollen Gesprächen geben sie den SchülerInnen
Sicherheit und thematisieren in den Interviews, dass sie häufig helfen müssen,
Ängste abzubauen (vgl. Interview S I, Z. 193-230, Interview S III, Z. 386-387). Den
LehrerInnen wird empfohlen, Themen, die für die SchülerInnen evtl.
problembehaftet, beängstigend oder retraumatisierend sein könnten, nicht
abzublocken, sie aber auch nicht herauszufordern. In diesem Sinne versuchen die
LehrerInnen, den SchülerInnen einen neutralen, sicheren Ort zum Lernen zu
schaffen (vgl. ISB 2014, S. 9f.; Interview L III, Z. 92-95, 125-130).
Halt und Zuversicht bekommen die SchülerInnen auch dadurch, dass sie gut
informiert sind über den Ablauf dieses Modellprojektes. Sie wissen, dass sie als
Grundlage für eine Berufsausbildung hier in Deutschland mindestens einen
Mittelschulabschluss haben sollten und dass sie diesen am Ende des BIJ erreichen
können. Sie wissen, dass die Fächer Deutsch und Mathematik von besonderer
Wichtigkeit hierfür sind, und dass ein Ziel während des BIJ ist, das B1-Niveau im
Deutschen zu erreichen. Das B1-Zertifikat könnten sie auch mit Sprachkursen an
der Volkshochschule (VHS) erwerben, aber sie schätzen die Option, während der
Schulzeit zusätzlich Berufspraktika absolvieren zu können und damit ihre Chancen
auf einen Ausbildungsplatz zu erhöhen. Sie wertschätzen das große Maß an
Unterstützung, welches die MitarbeiterInnen an der BS I ihnen anbieten. Dass in
Deutschland die Ausbildungsmöglichkeiten vielfältig sind und lebenslanges Lernen
möglich ist, wird als sehr positiv bewertet (vgl. Interview R, Z. 135, 154-161,
277-284; Interview O, Z. 5-18, 61-69; Interview T, Z. 104-116; Interview U, Z. 61-64;
Interview S II, Z. 267-271).
5.5.2. Halt durch Tagesstruktur
Regelmäßiger Schulbesuch strukturiert das Leben, den Alltag. Eine Struktur bietet
Halt und Orientierung. So bietet Schule ein Stück Normalität für die Jugendlichen
(vgl. Deutscher Caritasverband e. V., S. 137). Durch die Flucht aus ihrer Heimat ist
ihre Ordnung der alltäglichen Lebensführung dekonstruiert worden. Mit dem
soziologischen Konzept der „Alltäglichen Lebensführung“ ist gemeint, was
Menschen jeden Tag auf welche Art und Weise tun und wie sie die Routinen ihrer
einzelnen Tätigkeiten, die bestimmt werden von „Zeit, Ort, Netz, Normen, Sinn,
Emotionen und Ressourcen“, zu einem für sie stimmigen Gesamtwerk arrangieren.
Dazu setzt sich das Subjekt mit der Umwelt auseinander und konstruiert aktiv seine
Lebensführung, somit auch seine Identität, und beeinflusst mit seiner
Lebensführung auch wieder seine Umwelt. Dieses Konstrukt wird zur Routine, zur
!44
„Lebensführung“, die oft un-hinterfragt bleibt, aber für das Subjekt und das Umfeld
eine verlässliche Struktur bietet. Jedoch ist sie auch von äußeren Bedingungen
abhängig und somit auch ver-änderbar, indem sich das Subjekt mit den veränderten
Bedingungen auseinander-setzt und sich ihnen anpasst (vgl. Täubig 2009, S. 60 ff.).
Die alltägliche Lebensführung der SchülerInnen ist dahingehend dekonstruiert, als
dass sie durch die Flucht den Heimatort mitsamt sozialem Netz, der Kultur mit
Normen und Werten und mit den sonstigen alltäglichen Routinen, sei es
Schulbesuch oder Arbeitsverhältnis, verlassen haben. Sie sind entwurzelt. In
Deutschland müssen sie sich dann zunächst mit sehr fremdbestimmten
Lebensbedingungen auseinandersetzen. Sie können sich beispielsweise nicht
aussuchen, wo und mit wem sie wohnen, werden in Sammelunterkünften
untergebracht auf beengtem Wohnraum, häufig am Ortsrand oder sogar außerhalb
der Ortschaft. Sie dürfen in den ersten 3 Monaten ihres Aufenthalts keine Arbeit
aufnehmen und selbst danach ist eine Arbeitsaufnahme mit großen Hürden
verbunden, wie der Genehmigung durch das Ausländeramt und der Agentur für
Arbeit (vgl. AsylVfG §§ 46-53; BAMF: FAQ Arbeitsmarktzugang 2015; Interview U,
Z. 244-250; Interview V, Z. 33-35).
In einer Studie über die alltägliche Lebensführung in der „totalen Institution Asyl“
wird beschrieben, dass die BewohnerInnen einer Gemeinschaftsunterkunft das
„Nichts-Zutun-Haben“ arrangieren müssen. Das Nichts-Zutun-Haben und die meist
im Heim verbrachte Zeit werden sehr stark thematisiert. Das, was sie tun können,
wird dem entgegengesetzt. Es sind dann Grundbedürfnisse wie essen, schlafen und
Körperpflege, die dem Tag Struktur geben und helfen, die Zeit zu „füllen“ (vgl.
Täubig 2009, S. 75 ff.).
Auch die hier befragten SchülerInnen sprechen davon.
„Wir waren dort eineinhalb Jahre in einer Wohnung, in einem Zimmer. 16 qm und wir hatten
nichts zu tun.“ (Interview V, Z. 33-34)
„…in Deutschland, ich bin immer zu Hause, wenn gibt es keine Arbeit oder (.) wirklich sehr,
sehr langweilig. Ich hab in den ersten vier oder fünf Monaten, ich hab immer zu Hause
bleiben.“ (Interview T, Z. 85-88)
Der allein lebende Schüler thematisiert „Zeitfüller“ für die Zeit nach der Schule:
„Schön essen, bisschen duschen und dann entweder schlafen eine Stunde oder
weiterlernen und dann schlafen.“ (Interview R, Z. 208-210; vgl. Datenblatt R)
Auf die im Interview gestellte Frage, wie der Schulbesuch das Leben der Befragten
verändert hat, berichten sie, dass sie nach teilweise mehreren Monaten ohne Arbeit
!45
und mit sehr, sehr viel Langeweile endlich „beschäftigt“ sind, das ist die
„Hauptsache“ für sie, es gibt ihnen Sinn (vgl. Interview R, Z. 73-83, 126-127).
„…von morgen von acht Uhr bis um eins Uhr aber jetzt ist …mehr zwei Stunden…drei
Stunden ja, ja zwei Stunden und äh ja das macht mich beschäftigt ….“ (Interview R, Z.
80-82)
Endlich, so scheint es, muss der junge Mann nur noch die Zeit zwischen 15 Uhr und
dem Abend „füllen“:
„Manchmal ist mir langweilig, aber ja also wie gesagt, ich lerne gerne und damit konnte ich
bisschen lesen …oder bisschen Gitarre spielen oder irgendwas machen. Ja und jetzt die
Schule ist bis um drei Uhr, dann es geht schon bei mir. Is alles gut.“ (Interview, R, Z. 92-96)
Die befragten SchülerInnen empfinden es als überaus positiv und sinnvoll, als junge
Menschen nicht länger untätig zuhause zu sein, endlich auch wieder etwas zu
lernen, vor allem Deutsch, Kontakt mit anderen Menschen zu bekommen und auch
endlich einen anderen Sozialraum zu erfahren. Denn den ganzen Tag zu zweit in
einem 16 qm großen Zimmer zu verbringen, ohne Aufgaben, macht „verrückt“ (vgl.
Interview T, Z. 85-88; Interview V, Z. 33-41).
„…ich finde die Schule ist sehr sehr gut für die junge Leute weil sie bleiben nicht zu Hause,
sie kommen zur Schule und das ist wirklich eine gute, eine gute Idee…“ (Interview O, Z.
241-243)
5.6. Asylrecht
Geflüchtete Jugendliche sind junge MigrantInnen, die in unsicheren repressiven
Aufenthaltsverhältnissen leben. Sie unterscheiden sich von anderen Migranten
durch ihren Rechtsstatus. Ihr Recht auf Asyl leitet sich aus dem Grundgesetz Art.
16a GG ab und wird durch das Asylgesetz (AsylG)6 konkretisiert. Weitere spezielle
Gesetze wie das
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und das
Aufenthaltsgesetz (AufenthG) regeln ihren Aufenthalt in Deutschland und schränken
ihre Entfaltungsmöglichkeiten in vielen Lebensbereichen ein. Auch das Recht auf
Bildung und Ausbildung der geflüchteten Kinder und Jugendlichen wird
ordnungspolitischen Zielen – dem Asylrecht – untergeordnet. Bildung und
Aufenthaltsrecht sind somit eng miteinander verflochten (vgl. Müller/ Nägele 2014,
S. 328). Das Asylrecht ist ein unkalkulierbarer Unsicherheitsfaktor, das aufgrund der
aktuellen politischen Debatte ständiger Veränderung unterliegt.
6Bis
2015 hieß das Asylgesetz (AsylG) Asylverfahrensgesetz (AsylVfG).
!46
Auch die von uns befragten SchülerInnen haben durch rechtliche Regeln
verschiedene Aufenthaltsstatus und unterliegen damit sehr unterschiedlichen
Begrenzungen, die ihre Integrations- und Bildungsmöglichkeiten mehr oder weniger
stark eingrenzen: O und R haben eine Anerkennung als Flüchtling, welche ihnen
eine sichere Perspektive für die nächsten drei Jahre bietet. SchülerInnen U, V, T
und P haben lediglich eine Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung des
Asylverfahrens, die mit großer Unsicherheit verbunden ist, zumal zumindest U und
V aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen (vgl. Datenblätter).
Die Sozialarbeiterin S I hat eine große Expertise im Asylrecht, dennoch ist es ein
hoher Aufwand für sie, auf dem aktuellen Stand zu bleiben. (vgl. Interview S I, Z.
14-24, 53-57) Selbst die Mitarbeiter der zuständigen Behörde wissen oft nicht über
geltendes Recht Bescheid. (vgl. Interview S II, Z. 200-207) Bei asylrechtlichen
Fragen kommt S I auch wegen der rechtlichen Komplexität an ihre Grenzen ihrer
Beratungskompetenz, „weil das sich jetzt alles gewandelt hat und ich bin auch kein
Rechtsanwalt und das Asylrecht ist so komplex, dass sogar einige Rechtsanwälte
nicht alles wissen“. (Interview S I, Z. 450-453)
Im November 2015 kam es mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz
(AsylVfBeschlG) und diversen anderen Änderungen zu einer erneuten Verschärfung
d e s A s y l r e c h t s . Vo r a l l e m g e f l ü c h t e t e M e n s c h e n a u s „ s i c h e r e n
Herkunftsländern“ (Kosovo, Albanien, Montenegro, Ghana, Senegal, Serbien,
Mazedonien, Bosnien-Herzegowina) 7 sind durch Zwangsverbleib in der
Erstaufnahme bis zur Abschiebung (§ 47 Abs.1a AsylG) und Arbeitsverbot (§ 61
Abs. 2 Satz 4 AsylVfG) noch weiter zu geflüchteten Menschen zweiter Klasse
degradiert worden. Strukturell (per Gesetz) werden pauschal nach dem Kriterium
der Staatsangehörigkeit große Unterschiede zwischen Flüchtlingsgruppen gemacht.
Das Asylrecht wurde dadurch weiter verkompliziert. Für geflüchtete Menschen
erscheint es noch beängstigender und für Helfer schwierig, den Überblick zu
behalten.
In den folgenden Ausführungen werden einige Neuerungen des Asylrechts mit
Relevanz für die Bildungs- und Integrationschancen junger Geflüchteter erläutert.
Die meisten Einschränkungen betreffen Geflüchtete aus „sicheren
Herkunftsländern“:
Die Berufsausbildung wurde als Abschiebungsverbot in § 60a Abs.2 AufenthG
aufgenommen. Das erscheint zunächst positiv, ist aber systemwidrig, weil eine
Berufsausbildung in der Regel mehr als 18 Monate dauert und damit eigentlich ein
7Sichere
Herkunftsstaaten sind Staaten, bei denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse
die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder
erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet (§ 29a AsylG)
!47
Regelfall des § 25 Abs. 5 AufenthG ist. Voraussetzung ist auch hier wieder, dass
der/ die Auszubildende nicht aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt und die
Berufsausbildung vor Vollendung des 21. Lebensjahres begonnen wurde. Dann folgt
eine Duldung für ein Jahr und – bei Fortdauern des Ausbildungsverhältnisses und
Aussicht auf erfolgreichen Abschluss - weitere Duldungen für jeweils ein Jahr.
Problematisch ist das Akquirieren von Ausbildungsbetrieben, die sich auf solch
unsichere Ausbildungsverhältnisse einlassen. Im Übrigen bleiben Altfälle ungeklärt,
in denen geflüchtete Jugendliche aus „sicheren Herkunftsländern“ (§ 29 a AsylVfG)
bereits eine Ausbildung begonnen haben (vgl. Kabis 2015, S.35).
Den SchülerInnen der BS I, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen, wird auch
der neue § 60a Abs.6 AufenthG zum Verhängnis. Er untersagt geduldeten
Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten nach Ablehnung ihres Asylantrags eine
Erwerbstätigkeit. Auch die Aufnahme oder Fortführung einer Bildungsmaßnahme,
die nicht der allgemeinen Schulpflicht unterliegt, könnte davon betroffen sein.
Mit einer Verordnung zum AsylVfBeschlG ist mit Wirkung zum 1. November 2015 für
Staatsangehörige der Balkanstaaten ein „Anreiz“ geschaffen worden, „freiwillig“
auszureisen, sofern sie eine Arbeitsaufnahme beabsichtigen. Der Zugang zu Visum
und Arbeitsmarkt nach Ausreise ist allerdings äußerst voraussetzungsreich, er
unterliegt unter anderem der Vorrangprüfung. Deutschsprachenförderung wird per
Gesetz (§ 45 a AsylG) ausgeschlossen für alle, für die kein Aufenthaltstitel zu
erwarten ist, ausdrücklich für Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“.
Eine Chance für Jugendliche und Heranwachsende bietet der neue § 25 a AufenthG
in Form einer verbesserten Bleiberechtsregelung für langfristig geduldete, gut
integrierte Geflüchtete. Allerdings müssen sie sich seit vier Jahren legal in
Deutschland aufhalten und entweder seitdem erfolgreich die Schule besucht haben
oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben haben. Der Antrag
muss vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt werden. § 60a AufenthG
verbietet die Abschiebung während der Berufsausbildung, wenn diese vor dem 21.
Lebensjahr begonnen wird und der/ die Auszubildende nicht aus einem „sicheren
Herkunftsland“ kommt (vgl. Kabis 2015, S.35).
Analog haben mit der Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration (§25 b
AufenthG) auch langjährig geduldete Erwachsene nach acht bzw. sechs Jahren
(wenn Minderjährige im Haus leben) neue Bleiberechtsperspektiven, wenn sie ihren
Lebensunterhalt überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit sichern können, die
Kinder ein Schule besuchen und mündliche Deutschkenntnisse auf Niveau A2
vorliegen. Vorübergehender Bezug von Sozialleistungen ist aufenthaltsrechtlich
unschädlich bei Studierenden, Auszubildenden oder in staatlich geförderten
!48
Berufsförderungsmaßnahmen. Ausnahmen gelten auch für Familien, Kranke, Alte
oder Behinderte. Problematisch ist die Ausschlussregelung nach § 25b Abs. 2
AufenthG bei Verhinderung oder Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung durch
Täuschung usw. oder Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 u. 2.
Nach Niedrig lassen sich drei Kategorien von besonders restriktiven rechtlichen
Vorgaben unterscheiden: räumliche, zeitliche und persönliche Beschränkungen. Die
Residenzpflicht (§ 56 AsylG) begrenzt den Bewegungsraum von Asylbewerbern und
geduldeten Flüchtlingen. Aktuell wird über eine Wohnortpflicht für anerkannte
Flüchtlinge sowie über eine Verschärfung der Residenzpflicht diskutiert. (vgl. Welt
online 2016; Zeit-online 2015 b) Die jungen Flüchtlinge unterliegen wegen
regelmäßiger Behördengänge und hohen bürokratischen Hürden ihrer
Alltagsorganisation (z.B. Arztbesuch, Schulweg) zeitlichen Begrenzungen.
Rechtliche Vorgaben wie sie oben beschrieben sind, beschränken aber
insbesondere die persönlichen Entfaltungsräume der Jugendlichen. Haben sie
lediglich eine Duldung oder Aufenthaltsgestattung, erhalten sie nicht immer eine
Arbeitserlaubnis für eine betriebliche Ausbildung. Wenn sie einen BAföG-fähigen
Ausbildungsgang belegen, verlieren sie ihren Anspruch auf Hilfen zum
Lebensunterhalt nach dem AsylbLG und haben auch keinen Anspruch auf BAföG,
solange sie nicht anerkannt sind. Jederzeit sind Auflagen nach § 60 AsylG möglich
und auch die Erwerbstätigkeit kann eingeschränkt werden (vgl. Niedrig 2005, S. 263
ff.).
Eine Chance bietet das Asylgesetz für die geflüchteten Jugendlichen, wenn sie
einen erfolgreichen Schul- und Ausbildungsweg nachweisen: Bildungserfolg ist eine
Möglichkeit auf ein gesichertes Bleiberecht für gut integrierte, bereits längerfristig
Geduldete (siehe oben). Eine solche Option könnte für U, V und T bestehen und
setzt sie gleichzeitig unter enormen Erfolgsdruck. Unter diesem Gesichtspunkt ist
eventuell ihre große Ungeduld und Angst des verlangsamten Fortschritts in der
Schule zu verstehen. O und R haben eine Anerkennung als Flüchtling.
Eine gute Rechtsberatung ist für die Bildungs- und Lebenschancen der geflüchteten
SchülerInnen von existenzieller Bedeutung und wird durch das Fachwissen der
Sozialarbeiterinnen gewährleistet. Sie bringen ihre fundierten Kenntnisse des
Asylrechts zugunsten der SchülerInnen ein, vermitteln an Anwälte weiter und bilden
sich regelmäßig fort (vgl. Interview S I, Z. 15-34, 42-60, 450-453; Interview S II, Z.
63-67, 143-148, 200-207).
!49
5.7. Kompetenzen und Zukunftswünsche
Auf Grund ihrer schwierigen Ausgangssituation entwickeln geflüchtete Jugendliche
ihre eigenen Lösungsstrategien, die Seukwa „Habitus der Überlebenskunst“ nennt.
Damit identifiziert er ein Bündel an Kompetenzen, die es den Jugendlichen trotz
aller Barrieren ermöglichen, Bildungs- und Lebensziele zu verwirklichen. (vgl.
Seukwa 2006, S. 228-242). Im nachfolgenden Kapitel werden wir einige dieser
Kompetenzen beleuchten. Des Weiteren werden wir auch auf die Zukunftswünsche
und Ziele der interviewten Jugendlichen eingehen.
5.7.1. Kompetenzen
Beharrlichkeit
Am Beispiel des Schülers T zeigt sich, dass die Bildungs- und Lebensräume der
Jugendlichen transnational geprägt sind, d.h. formale und non-formale Bildung wird
während der Flucht mit zum Teil längeren Aufenthalten in verschiedenen Ländern
angeeignet. Die Lebensperspektive ist nicht nur auf ein Land gerichtet. Mit
unsicherer Perspektive wird die Zukunft Schritt für Schritt gestaltet, auch wenn die
SchülerInnen nicht wissen, in welchem Land sie sie verbringen werden. Das hält sie
nicht davon ab, ihre Bildungsziele beharrlich weiter zu verfolgen. Seukwa nennt das
„die Kunst trotz ungewissen Ausgangs weiterzumachen“ (vgl. Seukwa 2006, S.
231ff.). Der Bildungsraum geflüchteter Jugendliche „entwickelt sich im
Spannungsfeld zwischen transnationalen Dimensionen und asylrechtlichen
Begrenzungen“. Auf der einen Seite als ein grenzüberschreitender Raum mit daran
angepassten sozialen und kulturellen Ressourcen, der auf der anderen Seite durch
das Asylrecht stark eingegrenzt und kontrolliert wird (vgl. Niedrig 2005, S. 257f.).
Dankbarkeit
Die Dankbarkeit der geflüchteten Jugendlichen wird als eine der sehr deutlich
hervortretenden Kompetenzen von den Personen wahrgenommen, die täglich mit
ihnen zusammen arbeiten. S II drückt dies folgendermaßen aus:
„Dankbarkeit! Ja, die sind so dankbar ja, verstehen Sie, sie sind so menschlich! Also ich
weiß es nicht, diese Wärme ja diese Dankbarkeit und wenn die reinkommen, ja: „Wie geht
es ihnen?“ Ja, das ist die erste Frage wenn sie reinkommen: „Wie geht es ihnen?“ Ja, die
machen es ja nicht so distanziert. Es muss nicht unbedingt diese Distanz sein ja, diese
Wärme, diese Nähe. Das ist es, das ist schön.“ (Interview S II, Z. 210/216)
Auch Lehrerin L III empfindet sehr ähnlich und berichtet davon, dass sie immer
wieder überrascht und erfreut ist, wieviel Dankbarkeit und vor allem auch Respekt
ihnen von den Jugendlichen entgegengebracht wird. Sie führt dafür gleich mehrere
!50
konkrete Situationen aus ihrem Schulalltag auf. Zum einen erzählt sie von der
letzten Abschlussfeier und welch liebe und dankbare Worte die Schüler dort gesagt
haben. Zum anderen legt sie dar, wie hilfsbereit die Jugendlichen reagieren, wenn
man selber einmal Hilfe braucht. Auch ein sehr respektvolles Miteinander stellt sie
bei den Jugendlichen fest, vor allem den Lehrenden gegenüber. Diese Beobachtung
führt sie auf die Herkunft der SchülerInnen zurück und darauf, dass eine lehrende
Person in den Herkunftsländern der Jugendlichen oft noch eine angesehenere
Stellung hat (vgl. Interview L III, Z. 179-193).
Schüler T formuliert seine Dankbarkeit sehr anschaulich, in dem er davon berichtet,
dass er sich wie neu geboren fühlt, weil er nun durch die neuen
Bildungsmöglichkeiten ganz von Neuem beginnen kann (vgl. Interview T, Z. 73-79).
Zielstrebigkeit und Flexibilität
Sozialarbeiterin S I erlebt die SchülerInnen als „neugierig, flexibel und energetisch“
und führt das darauf zurück, dass alles um sie herum neu und spannend ist. Vor
allem Durchhaltevermögen und die Wissbegierde beobachtet sie bei ihren Schülern
(vgl. Interview S I, Z. 405-431).
Jedoch gehören auch Scheitern und Umwege zu ihren Erfahrungen dazu und
werden als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, auf die aufbauend die nächsten
Schritte folgen. Dabei zeigen die SchülerInnen eine hohe Flexibilität, sowohl
räumlich, als auch in ihrer Zukunftsgestaltung.
„Einen Beruf lernen, ja das ist nicht einfach, aber wenn ich Beruf habe, ich kann nicht nur in
Deutschland, ich kann andere Länder auch arbeiten.“ (Interview T, Z. 122ff.)
Auch die „Kunst, die Gelegenheit zu ergreifen“ und die Bildungszeit für sich
individuell optimal auszugestalten (vgl. Seukwa 2006, S. 230) beherrschen die
befragten geflüchteten Jugendlichen. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel im
Bericht von Schüler R, der sehr zielstrebig und sehr bewusst die schnellste
Möglichkeit zu einem Abschluss wählt. Dabei versteht er es, sein soziales
Stützsystem so einzusetzen, dass er sein Ziel erreicht. Sich Hilfe zu holen, wo man
sie braucht, ist eine weitere hilfreiche Stärke auf dem Weg zum Bildungsziel (vgl.
Interview R, Z. 4-24, 57-61).
Manchmal ist es jedoch auch nötig, „die eigenen Träume den Plänen
unterzuordnen“ und zu einer realistischeren Zielsetzung zu gelangen. (vgl. Seukwa
2005, S. 238f.) Im Interview formuliert Schüler T ein wenig desillusioniert:
„Wegen Deutsch wir können nicht unsere Wünsche machen. (…) Wir sagen zum Beispiel S
III: „Das ist mein Traumberuf.“ Sie sagt: „Das ist Traum. Aber dort musst du perfekt Deutsch
!51
sprechen und dann musst du sehr gut Mathe wissen (…) und mit Computer gut umgehen.“
So so. (…) Wegen meinen Kindern ich kann nicht auch einfach etwas wählen. (…) Meine
Frau auch hat Wünsche.“ (Interview T, Z. 150-158)
Schülerin U stellt ihren Studienwunsch ebenfalls zugunsten einer Ausbildung
zurück, bis sie sicher ist, einem Studium in deutscher Sprache gewachsen zu sein
(vgl. Interview U, Z. 61-64).
Die mitgebrachte Fähigkeit, z. B. Fußball zu spielen (vgl. Interview T, Z. 64f.) oder
Reiten (vgl. Interview R, Z. 221-230), können Schüler T und R zum Aufbau eines
neuen Freundeskreises nutzen, über die sie Anerkennung und Halt in der neuen
Heimat bekommen. Das gelingt allerdings nur, wenn die mitgebrachten
Kompetenzen mit dem Angebot am Aufenthaltsort kompatibel sind. So kann Schüler
P das Kricketspiel aus Mangel an Angebot in Deutschland nicht fortführen und hat
mit Billard spielen ein neues Hobby gefunden, mit dem er sich an die Freizeitstruktur
seiner neuen Umgebung angepasst hat und Kontakte knüpfen kann (vgl. Interview
P, Z. 315-320). Die Anpassungsleistung der geflüchteten Jugendlichen und
integrative Funktion von Hobbys zeigt sich auch in unserer Beobachtung des
Besuchs einer Nachbarklasse von FleischereifachverkäuferInnen der Berufsschule
III: Die Jugendlichen stellen sich mit ihren jeweiligen Hobbys vor und die Lehrerin
stellt fest, dass Interessen und Musikgeschmäcker der heimischen und der
geflüchteten Jugendlichen nicht weit voneinander entfernt sind. (vgl. Beobachtung
BIJ, Z. 116-166) Gemeinsame Freizeitgestaltung wie Grillen, Bowling, Kino oder
Sport ist ein wichtiger Weg, um Kontakt zu gleichaltrigen Peers zu bekommen und
wird sehr motiviert wahrgenommen (vgl. Beobachtung BIJ-V, Z. 136-139, 150-155;
Interview P, Z. 378-388; Interview U, Z. 112-116). Als einen „kreativen Prozess der
Identitätsarbeit“ bezeichnet Frieters-Reermann (Frieters-Reermann 2003, S. 106f.)
die „Herstellung der Kohärenz von Kompetenzen, Erfahrungen beziehungsweise
Interessen im Herkunftsland mit jenen im Ankunftsland “und meint damit, dass die
geflüchteten Jugendlichen in diversen sozialen Zusammenhängen gelernt haben,
„sich selbst auf unterschiedliche Arten zu konzipieren und in die Sozialbeziehungen
dieser Kontexte einzuspinnen“ (Frieters-Reermann 2003, S. 106f.).
!52
5.7.2. Zukunftswünsche und Ziele
Die geflüchteten SchülerInnen bringen nicht nur eine Vielzahl von Kompetenzen mit,
sondern natürlich auch ihre ganz eigenen Zukunftswünsche und Ziele. Im
nachfolgenden werden wir diese Ziele genauer betrachten.
Bildung und Ausbildung
Bei den angegebenen Wünschen überwiegt der Wunsch nach Bildung und
Ausbildung. Fast alle der Schüler formulierten diese Wünsche. Schüler T berichtet
uns, dass es sein Wunsch und Ziel ist, jeden Tag mehr zu lernen (vgl. Interview T, Z.
93-98). Schüler V geht es ähnlich und er pflichtet ihm bei:
„Wir haben jetzt erreicht, wir wollen etwas mehr erreichen. Und dann hat was (erzielt) zu
erreichen, arbeiten wir in diese Richtung. Aber was lernen wir jetzt ist nicht besser, ich
glaube. Wir wollen besser lernen. Wir wollen mehr lernen.“ (Interview V, Z. 81-84)
Wie oben bereits erwähnt, verfolgen die SchülerInnen ihre Wünsche und Träume
auch wenn Widerstände auftreten. R sagt, dass sie Freude am Lernen haben,
selbst wenn es ihnen nicht immer leicht fällt (vgl. Interview R, Z. 72-74, 84-85). Die
befragten SchülerInnen formulieren meist sehr präzise die eigenen Bildungsziele.
„Zuerst will ich eine Ausbildung im Einzelhandel, danach will ich studieren etwas mit
Wirtschaft und so, was habe ich gelernt, was weiß ich.“ (Interview U, Z. 67-69)
„Ich habe auch verschiedene Praktikum gemacht: Garten, Schneiderei, Maler und von der
Schule her Elektriker, aber da …(I: Aber das war´s nicht.) Nee, nur die Erfahrung. (…) Ja, ich
hab vor, Kfz-Mechaniker will ich.“ (Interview P, Z. 169-179)
Schülerin U verknüpft den Wunsch nach Bildung direkt mit dem Wunsch eine
(bessere) Zukunft zu haben. „Wenn man will ein, eine gute Zukunft haben, man
muss (…) ehrlich in Schule gehen oder studieren.“ (Interview U, Z. 49-50) Sie
verbindet die Möglichkeit Schulbildung zu erfahren mit der Möglichkeit der Inklusion,
denn Bildung gilt als ein „wesentlicher Inklusionskontext in modernen
Gesellschaften“ (Ottersbach 2015, S. 100). Der Flüchtlingsstatus, mit allen
gesetzlichen Restriktionen, ist hingegen mit Inklusion kaum vereinbar. Dennoch
existieren Schulkonzepte wie das des BIJ, die auf Integration von geflüchteten
Jugendlichen abzielen. Grundvoraussetzung für Inklusion ist es, die Perspektive der
geflüchteten Jugendlichen sowie ihre Vorstellungen von Inklusion und die damit
verbundenen Probleme einzubinden. Han-Broich definiert Inklusion als ein durch
Stabilität und Wohlbefinden gekennzeichnetes Gleichgewicht eines Geflüchteten,
das drei Dimensionen umfasst: Die seelisch-emotionale Inklusion zeigt sich als
gefühltes Nähe-Distanz-Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft, die kognitiv-kulturelle
!53
Inklusion bemisst sich anhand von Sprachkompetenz und gesellschaftlich
adäquaten Wissen und Verhalten und die sozial-kulturelle Inklusion bezeichnet die
soziale Position in der Gesellschaft. Diese drei Dimensionen der Inklusion finden
sich auch in den Zukunftswünschen und Zielen der Jugendlichen (vgl. Han-Broich
2014, S. 351-356).
Kontakt
Han-Broich belegt in ihrer Studie, dass Ehrenamtliche wesentlich zur seelischemotionalen Integration beitragen, obwohl ihr Aufgabenbereich meist die konkrete
praktische Hilfestellung im Alltag ist. Der Aufbau persönlicher Beziehungen hilft den
geflüchteten Menschen bei der Überwindung ihrer seelisch belastenden
Vergangenheits- und Gegenwartsprobleme. Erst die Wiederherstellung des
seelischen Gleichgewichts ermöglicht weitere Integrationsschritte kognitiver oder
sozio-kultureller Art (vgl. Han-Broich 2014, S. 351-356).
Auch unsere Forschungsarbeit zeigt, dass die empathische Beziehung zu
Ehrenamtlichen, Professionellen oder Bekannten von den geflüchteten
Jugendlichen als große Hilfestellung und Motivation erlebt wird. Dieser Wunsch
nach Kontakt schlägt sich auch in den Zielen nieder. Einige der SchülerInnen
formulieren ganz konkret, dass sie gerne in der Gegend bleiben würden, in der sie
zurzeit wohnen. Denn hier haben sie bereits gute Kontakte geknüpft, was ihnen
Sicherheit und Halt gibt.
„Ist auch eine wichtige, weil wir haben hier viele Bekannte, wir haben schon hier Bekannten,
dann Nachbarn. Wenn wir ein andere Stadt umziehen, müssen wir wieder anfangen: Neue
Bekannte neue Kontakt. Ähm, muss kennenlernen, wo liegt das, wo liegt das..., aber in
Aschaffenburg, Nähe Aschaffenburg, Sulzbach oder bei der Stadt haben, ich habe viele
Kontakt.“ (Interview T, Z. 260-266)
T gibt als weiteren Grund nicht umziehen zu wollen an, dass ihm ein Umzug in die
größere Stadt zu unsicher sei. Er möchte nicht, dass seine Kinder in einer großen
Stadt aufwachsen, denn man höre ja viele Geschichten in den Nachrichten, dass es
dort viel mehr Gefahren gäbe (vgl. Interview T, Z. 48-58).
Ein weiteres Ziel der SchülerInnen zeigt sich darin, dass viele der Befragten äußern,
mehr Kontakt in Deutschland haben zu wollen. Vor allem auch außerhalb ihres
bereits bestehenden Systems zu Deutschen. Schüler P spricht explizit davon, dass
er gerne in einem Betrieb mit Deutschen zusammen arbeiten würde, um so Kontakt
zu ihnen zu bekommen:
„Mit Deutsch? (I: Mmh.) Ja, wenn wir (.) zum Beispiel gehen in (.) in Betrieb, in die Firma zusammenarbeiten mit Deutsch. (I: Ja, ja.) Wir, wir können die kennenlernen. (…) Ja. (I: Ja.)
!54
Dort gibt auch Deutsche, und wir sind zusam-, arbeiten zusammen.“ (Interview P, Z.
206-311)
Schüler T erzählt von seinen Erfahrungen aus dem Praktikum. Auch hier wird
deutlich, wie wichtig ihm der Kontakt ist.
„Als wir, äh, im Praktikum wir haben viele neue Worte gelernt. Und auch wir machen
Praktikum, jeden Tag, äh, wir lernen neue Worte (.) im Kontakt, denn wir wollen machen
Kontakt. Aber ich hab viele Worte schon vergessen, weil ich schon nicht benutze. Aber wenn
ich Kontakt mache, ich wieder erinnere diese Worte. (I: Hmhm.) (...).“ (Interview T, Z.
142-145)
In seiner Aussage spiegeln sich die Wichtigkeit und der Wunsch nach Sprache
wider.
Sprache
Eine große Integrationsaufgabe für alle SchülerInnen ist das Erlernen der deutschen
Sprache. Mangelnde Sprachkenntnisse werden als größte Hürde empfunden und
verunsichern sie z.B. beim Arztbesuch oder im Kontakt mit Behörden. Berufe
bleiben ihnen versagt, weil ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen. Auch Kontakte
auf Augenhöhe mit Deutschen finden nicht statt ohne eine gemeinsame Sprache.
Schülerin U drückt es sehr bildlich aus, indem sie sagt, „Ich will nicht zum Beispiel
wie eine Maschine bleiben. Ich will mit Leuten reden.“ (Interview U, Z. 79)
Ein großer Vorteil ist, dass die meisten der befragten SchülerInnen bereits über gute
Sprachkenntnisse in verschiedensten Sprachen verfügen (vgl. Datenblätter). Sie
erleben ihre Kenntnisse als hilfreiche Ressource beim Spracherwerb des
Deutschen.
„Aber Gott sei Dank wir haben gut verstanden und unsere Buchstaben sind gleiche wie
Deutsch. (…) Auch Englisch ist nicht so ein Unterschied mit Deutsch. Das hat uns gut
geholfen uns zu verstehen auch. Viele Worte sind oder in meine Muttersprache oder in
Englisch sind simmular.“ (Interview V, Z. 18-24)
In einem Fall führten Türkischkenntnisse auch zum Aufbau eines sozialen
Netzwerkes –zunächst mit türkischstämmigen Deutschen.
„Ich habe viele Kontakt. Auch Türken. Weil ich kann türkisch sprechen. (…) Früher, ich habe
nicht viele Kontakte, deswegen ich hab nur türkische Leute gefunden und dort Fußball
gespielt. Aber mein Bekannter sagt, es gibt viele deutsche Mannschaften. Du kannst
hingehen und spielen.“ (Interview T, Z. 265 f, 279-282)
!55
Migranten der letzten Generation, sowie die von ihnen gegründeten Vereine und
Organisationen, können eine Rolle bei der Integration der Neuzuwanderer spielen.
Aus eigener Erfahrung wissen Menschen mit Migrationshintergrund, wie schwer der
Anfang ist und mit welchen Hürden und psychischen Herausforderungen Integration
und Identitätsfindung in der Fremde sind (vgl. Interview S II, Z.42-49). Sie sind
durch ihre Sprachkenntnisse oft die ersten, die Kontakte knüpfen können und zu
denen die jungen Geflüchteten Vertrauen aufbauen. Verbindend wirken neben der
gemeinsamen Sprache unter Umständen die Religion, vertraute Traditionen und
Essgewohnheiten oder ein gemeinsames Hobby. Schüler T berichtet vom
Fußballspiel im türkischen Verein (siehe oben). Sein Wunsch ist es jedoch, in einem
deutschen Verein mit deutschen Mitspielern zu spielen. Er sieht dies als eine
weitere wichtige Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und sich heimischer zu fühlen.
Mittlerweile hat er genug Vertrauen in seine Sprachkompetenz, dass er diesen
nächsten Schritt bald wagen möchte (vgl. Interview T, Z. 265f, 279-282).
Partizipation
Auch der Wunsch nach Partizipation und Mitbestimmung spielt eine Rolle im Leben
der Jugendlichen. Schülerin U ist Mitglied in der Schülermitverwaltung (SMV) der
BS I. Damit sind die Interessen der geflüchteten SchülerInnen an der Berufsschule
formell auch schulpolitisch vertreten. Die Teilhabe in Form von Mitbestimmung ist
ein bedeutender Inklusionsfaktor und zugleich ein persönliches Ziel dieser
engagierten Schülerin.
Familie
Neben den oben angeführten Themen spielt auch das Thema Familie eine wichtige
Rolle. So wünscht sich zum Beispiel der Familienvater T eine gute Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, und betont in diesem Zuge gleich, wie wichtig ihm Familie ist. Mit
einer Familie sei einfach alles ein bisschen besser (vgl. Interview T, Z. 160-221,
228-237). Schülerin O wünscht sich, in der Zukunft mit ihrer Familie zusammen
wohnen zu können und vielleicht sogar einen Freund zu haben (vgl. Interview O, Z.
230-232). Auch ihre Klassenkameradin U sagt, dass sie sich neben der Möglichkeit
eine Ausbildung machen zu können, als allererstes ein Kind wünscht (vgl. Interview
U, Z. 279-280).
!56
5.8. Theoretische Schlussbetrachtung: Bildungs- und Teilhabechancen
nach Bourdieu
Im Modell des französischen Soziologen Pierre Bourdieu lassen sich die in den
vorigen Kapiteln empirisch herausgearbeiteten Herausforderungen für die
geflüchteten SchülerInnen subsummieren und ihre soziale Benachteiligung
anschaulich darstellen. Unabhängig vom Fluchtkontext hat er die gesellschaftliche
Position eines Menschen anhand der Konfiguration der Kapitalsorten
veranschaulicht. Er unterscheidet ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital
und setzt das Kapitalvolumen, welches einem Individuum zur Verfügung steht, in
Korrelation zu seinen Bildungschancen und in Folge zu seinen gesellschaftlichen
Teilhabechancen (vgl. Bourdieu 1983). Im Fluchtkontext erweitert Joachim
Schroeder das Modell um juridisches Kapital. Durch die vier Kapitalarten lassen sich
die Bildungsbarrieren junger Flüchtlinge kategorisieren und ihre gesellschaftliche
Benachteiligung erklären (vgl. Schroeder 2003, S. 411-426; Schroeder/ Seukwa
2007, S. 24-27, Frieters-Reermann 2013; S. 99-107).
Geflüchtete Kinder- und Jugendliche leben durch die Leistungen, die ihnen laut
Asylgesetzen zustehen, häufig unterhalb des Existenzminimums. Einige leben
besonders sparsam, um von ihrem kleinen Budget noch Geld in ihre Heimat zu
schicken (vgl. Interview S III; Z. 310-316). Häufig unterliegen sie einem
Arbeitsverbot oder -hindernis, welches eine reguläre Beschäftigung erschwert oder
verbietet. Ihr ökonomisches Kapital reicht damit nicht für Investitionen in ihr
kulturelles Kapital – sei es objektiviert (z.B. Bücher, Schulmaterial), inkorporiert (z.B.
Nachhilfe, Weiterbildung, Museumsbesuch) oder institutionell (z.B. Bildungstitel, B1Prüfung). Durch die Flucht haben die SchülerInnen mit ihren familiären Netzwerken
und Freundeskreisen zunächst ihr gesamtes soziales Kapital verloren. Eine der
größten Herausforderungen bedeutet der Wiederaufbau eines sozialen
Stützsystems aus (Ersatz-)Familie, neuen Freunden, Ehrenamtlichen und
Professionellen. Die am meisten beeinträchtigende und stigmatisierende Kapitalart
ist für die jungen Flüchtlinge das fehlende juridische Kapital: Weil Aufenthaltstitel,
Arbeitserlaubnis und Bildungsrechte fehlen bzw. einschränken, wird der Zugang zu
anderen Kapitalsorten behindert. Die soziale Lebenslage der Jugendlichen, definiert
durch materielle Lebensverhältnisse, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit,
Wohnsituation und soziales Netzwerk, bleibt hinter den eigentlichen Möglichkeiten
zurück. Die Selbstverwirklichungs- und Teilhabechancen der Geflüchteten an der
Gesellschaft sind eingeschränkt (vgl. Schroeder/ Seukwa, S. 25). Junge Geflüchtete
sind besonders benachteiligt, „weil ihnen gesellschaftlich anerkanntes
Bildungskapital fehlt, rechtliche Einschränkungen ihre Lebensentwürfe behindern
!57
und sie durch die Struktur des Bildungssystems nicht in ausreichendem Maß
gefördert werden.“ (Frieters-Reermann 2013, S. 105)
6. Fazit: Schulalltag als Chance?
Um unsere Forschungsfrage beantworten zu können, nämlich wie das Erleben der
geflüchteten Jugendlichen im BIJ ist, greifen wir auf die Ziele der Jugendlichen
zurück und stellen sie den Zielen von Schule und Gesellschaft gegenüber.
Das Schulkonzept sieht den mittleren Bildungsabschluss, die Ausbildungsreife und
das Erlernen der deutschen Sprache als wesentliche Ziele des
Berufsintegrationsjahres vor und bereitet damit eine gesellschaftliche Integration der
Geflüchteten vor. Die Gesellschaft steht wie in der Einleitung erläutert in der
Ambivalenz, den geflüchteten Jugendlichen aus ökonomischen Interessen Bildung
und Inklusion zu gewähren und das Recht auf Bildung gemäß der AEMR
umzusetzen. Andererseits ist der Flüchtlingsstatus mit den zughörigen gesetzlichen
Restriktionen mit Inklusion kaum vereinbar, führen sie doch zu erheblicher sozialer
Benachteiligung und erschweren die gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten.
Vor diesem Spannungsfeld bewältigen die Jugendlichen hoch motiviert und
beharrlich das BIJ. Ein Teil der SchülerInnen nutzt die Möglichkeit zu
Schulabschluss und Berufsausbildung, die mittelfristig Halt und Perspektive bieten.
Längerfristige Ziele sind für diese SchülerInnen aufgrund ihres unsicheren
Aufenthaltsstatus schwer formulierbar:
„In diese Zeit ist schwer zu denken darüber. Weil wir sind nicht so sicher auch hier in
Deutschland. Wir haben keine Aufenthaltserlaubnis oder so etwas. Und kann man nicht
wissen ob, oder kann man nicht sagen, ob ich eine Zukunft hier oder in Heimat. Deswegen
denke ich nicht so viel nach! Was mach ich nach fünf Jahre. Ich versuche immer am besten
machen für morgen. Und dann morgen, wenn es ist gut, ich mache noch für übermorgen.
Immer ein Schritt. Nicht so Längen bis jetzt. Und dann, wenn man hat was konkret, kann
man auch mehr denken.“ (Interview V, Z. 184-193)
Der andere Teil könnte das BIJ als Weg zum Bleiberecht in Deutschland nach § 25
AufenthG nutzen, verbunden mit großem Erfolgsdruck. Diese SchülerInnen haben
längerfristige Perspektiven, z.B. Familiengründung und aufbauende Bildungsziele.
Beiden Gruppen der SchülerInnen gibt das BIJ einen haltgebenden,
wertschätzenden Rahmen und ein soziales Stützsystem in der für sie fremden
Kultur. Sie können ihre Persönlichkeit entwickeln, d.h. ihre Identität (neu) bilden, in
und trotz unsicherer Aufenthaltsverhältnisse. Diese Stabilisierung und Anleitung
stärkt die Handlungskompetenzen der SchülerInnen, die in Deutschland bleiben,
aber auch derjenigen, die nicht bleiben können. Die SchülerInnen beschreiben das
!58
Schulklima der BS I einhellig als sehr wohltuend. Alle PädagogInnen –
einschließlich des Schulleiters – prägen Werte wie Toleranz und Respekt, Teilhabe
und Mitbestimmung.
Durch die Flucht haben die meisten Jugendlichen ihre unmittelbaren
Bezugspersonen verloren. Sie sind gezwungen, sich ein neues soziales Netzwerk
aufzubauen. Das BIJ gibt den SchülerInnen die Möglichkeit, neue soziale Kontakte
zu schließen – sowohl zu Gleichaltrigen als auch zu den PädagogInnen in der
Funktion elternähnlicher Fürsorgebeziehungen. Ihre Zukunftschancen hängen
wesentlich davon ab, inwieweit es ihnen gelingt, das nötige soziale Kapital
(Bourdieu) aufzubauen. Zuhause können sie sich nur da fühlen, wo Familie (nersatz) und Freunde erreichbar sind. So entwickeln viele SchülerInnen im BIJ eine
Art „Zuhause-Gefühl“.
Die SchülerInnen empfinden große Dankbarkeit für diese Unterstützung der Schule
und die Chance für einen Neuanfang.
„Aber Zukunft Schritt für Schritt und ich glaube für uns alles besser sein.“ (Interview T, Z. 244
f.)
Die Chance auf eine sichere, tragfähige, realistische Zukunftsperspektive ist allerdings von den politischen und gesetzlichen Rahmenbedingen abhängig und kann
weder von der Institution Schule noch von den SchülerInnen selbst beeinflusst werden. So werden vermutlich manche SchülerInnen nach Beendigung des BIJ in Bezug auf den gewünschten Neuanfang enttäuscht werden, wie es auch schon in Bezug auf unrealistische Berufswünsche geschehen ist.
Für die SchülerInnen birgt des BIJ außerdem die Chance, Interkulturalität zu lernen.
Die SchülerInnen berichten von den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind,
aber auch von gelingenden interkulturellen Freundschaften in der Klasse. Es ist
anzunehmen, dass diese Kompetenz im Zuge der Globalisierung weiter an
Bedeutung gewinnen wird. Hier wäre es interessant zu untersuchen, in wieweit sich
die erworbene Interkulturalität positiv auf die berufliche Laufbahn der jetzigen
SchülerInnen auswirkt.
Das Projekt des Berufsintegrationsjahres wurde als sicherer Ort für die
SchülerInnen konzipiert. Das bedeutet nicht nur Schutz vor traumatischen
Erlebnissen, sondern auch Schutz vor Überforderung im Regelschulsystem. Damit
geht allerdings eine gewisse Abschottung von der Normalität der
Mehrheitsgesellschaft einher, eine Form von Exklusion. Für die Inklusion
geflüchteter Jugendlicher ist es bedeutsam, danach den Übergang in die
Erwerbsarbeit zu schaffen. Nach Korntheuer ist Erwerbsarbeit eine der drei
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Dimensionen von Inklusion (vgl. Korntheuer 2014, S. 321). Hier wäre interessant zu
untersuchen, wie erfolgreich und nachhaltig die SchülerInnends BIJ in der
Arbeitswelt Fuß fassen können. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit könnten
außerdem eine Grundlage dafür sein, bundesweit Schulmodelle zu entwickeln, die
geflüchteten Jugendlichen einen Zugang zu Erwerbsarbeit verschaffen.
Kritisch ist aus unserer Sicht die Instrumentalisierung der Institution Schule im Sinne
der ökonomischen Verwertbarkeit. Dies widerspricht dem Gebot von Bildung als
Menschenrecht, dem sich Deutschland verpflichtet hat.
„Wenn man will eine gute Zukunft haben, man muss in die Schule gehen oder
studieren.“ (Interview U, Z. 49f.)
Im Laufe unserer Forschungsarbeit tauchten im Kontext Flucht und Bildung immer
mehr interessante Aspekte auf, die wir in der Forschungsarbeit nicht weiter
thematisieren konnten, da sie von der Forschungsfrage zu sehr abwichen. Am Ende
wollen wir sie dennoch nennen, um zu zeigen, an welcher Stelle Forschungslücken
weiter erkundet werden könnten.
Die befragten Jugendlichen berichteten zwar kaum von Zugangsbarrieren in die
Schule, tatsächlich aber kennen nicht alle geflüchteten Jugendlichen das
Bildungsangebot, nicht jede/r besteht den Aufnahmetest und es gibt nicht für alle
16-21-jährigen geflüchteten Jugendlichen aus der Stadt und dem Landkreis
Aschaffenburg einen Schulplatz. Vermutlich erhöhen eine lange und qualitativ
hochwertige Bildungsbiographie, glücklicher Zufall und eine günstige soziale
Vernetzung mit einem professionellen oder erfahrenen Helfersystem die Chance,
vom Modellprojekt zu erfahren und die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Hier könnte
weiter geforscht werden z.B. nach Kriterien, die den Jugendlichen den Einstieg
ermöglichen oder den Erfolg wahrscheinlicher machen. Ebenso könnten daraus
Forderungen gestellt werden nach einem standardisierten Zugangsverfahren und
der Anpassung von Angebot an Nachfrage.
Ein weiterer kritischer Punkt ist das Thema Inklusion und exklusive Schulbildung.
Die Empfehlung einer Sozialarbeiterin, das BIJ (V) um ein drittes Jahr zu
verlängern, klingt plausibel, wenn es darum geht, leistungsschwächeren
SchülerInnen mit wenig Bildungserfahrung zum mittleren Bildungsabschluss zu
verhelfen. Nachteilig ist aber der Verbleib der Jugendlichen in einer exklusiven
Bildungsmaßnahme. Interessant wäre an dieser Stelle z.B. eine
Langzeitbeobachtung der Entwicklung geflüchteter Jugendlicher mit exklusiver und
mit inklusiver Ausbildung.
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Vielfach äußerten die Interviewten den Wunsch nach mehr Differenzierung, sei es
durch Hausaufgabenhilfe am Nachmittag, Kleingruppenarbeit oder individueller
Förderung. Vorstellbar ist eine Erforschung der Differenzierungsmodelle und
Möglichkeiten und deren Auswirkungen auf die Zielerreichung der geflüchteten
Jugendlichen. Mehr Differenzierung im Unterricht wäre an der BS I nur möglich,
wenn zusätzlicheLehrerInnen eingestellt würden.
Ein näherer Blick lohnt sich auf jeden Fall auf die Auswirkungen des aktuellen
Asylrechts auf die Bildungschancen geflüchteter junger Menschen. Auch unter
diesem Aspekt wäre die BS I ein geeignetes Forschungsfeld. Ein Coaching der
Jugendlichen über die Schulzeit hinaus könnte an dieser Stelle den schwierigen
Schritt in die Ausbildung abfedern.
!61
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