1. Leseprobe - STARK Verlag

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Das Drama der Klassik
Johann Wolfgang von Goethe: Faust I
Die Autoren der Klassik wollen sich mit ihren Werken von den zufälligen
Gegebenheiten des Alltags lösen. In ihnen soll vielmehr das Typische, Gesetzmäßige, modellhaft Vorbildliche gestaltet werden. So ist auch ihr Menschenbild auf Ausgleich angelegt. Maß und Würde sind die idealen Zielpunkte der
von ihnen propagierten Humanität; ausgewogen und harmonisch sollen sich
die Kräfte der Menschen entfalten.
Für die Wendung zur Klassik in der deutschen Literatur wird meist Goethes
italienische Reise in den Jahren 1786 bis 1788 als auslösendes Ereignis betrachtet, die ihn mit der römischen Antike in Berührung brachte. Hier fand er
das Vorbild eines reifen, aufgeklärten Menschentums, ein zeitlich entferntes
Idealbild, das modellhaft der eigenen Gegenwart gegenübergestellt werden
konnte.
Faust. Der Tragödie Erster Teil
in einer Inszenierung von
Michael Thalheimer am
Deutschen Theater Berlin
aus dem Jahre 2004.
Ingo Huelsmann als Faust
und Regine Zimmermann
als Gretchen
© Iko Fresse / DRAMA
Kunst erscheint Goethe und Schiller in den Jahren ihrer künstlerischen Reife
als ein zweckfreier, autonomer Spielraum des Geistes, in dem der Mensch sich
der Enge seiner Lebenswirklichkeit entziehen kann. Das ist nicht etwa mit
einem Fluchtversuch vor den trüben politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gleichzusetzen, die die beiden Häupter der Weimarer Klassik umgaben – Absolutismus, Kleinstaaterei und Ständegesellschaft sowie die Wirren
von Terrorherrschaft und Krieg in den Jahren nach der Französischen Revolution von 1789. Die Werke der Klassik weisen vielmehr eine vorwärtsgewandte
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Utopie auf. In erster Linie dienen sie der Absicht, den einzelnen Menschen zu
vervollkommnen. Das erscheint den Autoren der Klassik als notwendige
Voraussetzung, um dann auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern zu
können.
Daher steht nun nicht mehr der große Einzelne im Mittelpunkt, der willkürlich gegen den Druck der politischen Misere aufbegehrt. An seine Stelle treten
Protagonisten, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden. Dieser
ethische Akzent findet auch in der Sprache und Form der klassischen Literatur
seine Entsprechung. Strenge und Perfektion der künstlerischen Gestaltung haben Vorrang vor Individualität und Expressivität. Im Drama herrschen gebundene, regelmäßige und geschlossene Formen vor.
Wie Goethes „Faust“ zeigt, erlaubt aber auch die gebundene Sprache ein vielfältiges Spiel mit unterschiedlichen metrischen und strophischen Formen. Dieses reicht von freien Rhythmen über den Knittelvers bis hin zu Madrigal- und
Blankvers. Goethe geht recht freizügig mit diesen Formen um und passt die
Sprache seiner Figuren der jeweiligen Stimmung, der Situation oder Sphäre, in
der sie sich bewegen, an. Er erreicht damit, dass der Klang lebendig bleibt und
sich keine ermüdende Gewöhnung einstellt. Das gilt auch für die Strophenformen, die in diesem Drama eingesetzt werden. So ist die Zueignung ein aus
vier Stanzen (achtzeiligen Strophen, die im Deutschen meist aus jambischen
Fünfhebern mit abwechselnd betontem und unbetontem Versausgang bestehen) gebautes Gedicht; der aus dem Heilschlaf des Vergessens genesene Faust
spricht in Terzinen (einer Gedichtform mit dreizeiligen Strophen und dem
Reimschema: a b a b c b c d c und so fort), Gretchen singt ihre Ballade vom „König in Thule“ als Volksliedstrophe (im Allgemeinen eine vierzeilige, kreuzgereimte Strophe mit kurzen – dreihebigen oder vierhebigen – metrisch oft
unregelmäßigen Verszeilen), ihr letztes Lied aus dem Märchen vom Machandelboom verdeutlicht ihre Panik und Verrücktheit in freien Rhythmen;
lediglich die Endreime erinnern noch an ein Volkslied.
Goethe hat sich über einen Zeitraum von sechzig Jahren mit dem Faust-Thema
beschäftigt. Erste Überlegungen reichen zurück in seine Sturm-und-DrangPhase der Jahre 1773 bis 1775. Erst 1831 schloss er die Arbeit am zweiten Teil
des Dramas ab, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Der lange
Schaffensprozess hat auch zur Folge, dass der Text nicht immer einheitlich
wirkt, die Zusammenhänge zwischen den Szenen und die Motive der Handelnden nicht immer offen zutage liegen. Das zeigt sich etwa in der Verknüpfung der „Kerker“-Szene mit der vorhergehenden Handlung oder in der Prosasprache der Szene „Trüber Tag. Feld“.
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Drama der Klassik
Dramenauszug 4
Autoren
Friedrich Schiller (1759 –1805)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832)
Grundverständnis
Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“
Themen
• Harmonie zwischen Pflicht und Neigung
• ästhetische Erziehung
• Humanität, Charakterschönheit, Anmut
Merkmale des Dramas
• stilisierte Kunstsprache
• Struktur: geschlossene Form, Einzelteile untergeordnet
• Orientierung an antiken Themen und Formen
Werke
• Schiller
Wallenstein (1798/99), Maria Stuart (1800)
• Goethe
Iphigenie auf Tauris (1787), Faust I/II (1790 – 1831)
Johann Wolfgang von Goethe
Faust I (Szene „Kerker“)
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Kerker
FAUST (mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe, vor einem eisernen Türchen).
Mich fasst ein längst entwohnter Schauer,
Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an.
Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer,
Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn!
Du zauderst zu ihr zu gehen!
Du fürchtest sie wieder zu sehen!
Fort! Dein Zagen zögert den Tod heran.
(Er ergreift das Schloss. Es singt inwendig.)
Meine Mutter, die Hur,
Die mich umgebracht hat!
Mein Vater, der Schelm,
Der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein’,
An einem kühlen Ort;
Da ward ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort, fliege fort!
FAUST (aufschließend).
Sie ahnet nicht, dass der Geliebte lauscht,
Die Ketten klirren hört, das Stroh das rauscht. (Er tritt ein.)