r 69 Das Drama der Klassik Johann Wolfgang von Goethe: Faust I Die Autoren der Klassik wollen sich mit ihren Werken von den zufälligen Gegebenheiten des Alltags lösen. In ihnen soll vielmehr das Typische, Gesetzmäßige, modellhaft Vorbildliche gestaltet werden. So ist auch ihr Menschenbild auf Ausgleich angelegt. Maß und Würde sind die idealen Zielpunkte der von ihnen propagierten Humanität; ausgewogen und harmonisch sollen sich die Kräfte der Menschen entfalten. Für die Wendung zur Klassik in der deutschen Literatur wird meist Goethes italienische Reise in den Jahren 1786 bis 1788 als auslösendes Ereignis betrachtet, die ihn mit der römischen Antike in Berührung brachte. Hier fand er das Vorbild eines reifen, aufgeklärten Menschentums, ein zeitlich entferntes Idealbild, das modellhaft der eigenen Gegenwart gegenübergestellt werden konnte. Faust. Der Tragödie Erster Teil in einer Inszenierung von Michael Thalheimer am Deutschen Theater Berlin aus dem Jahre 2004. Ingo Huelsmann als Faust und Regine Zimmermann als Gretchen © Iko Fresse / DRAMA Kunst erscheint Goethe und Schiller in den Jahren ihrer künstlerischen Reife als ein zweckfreier, autonomer Spielraum des Geistes, in dem der Mensch sich der Enge seiner Lebenswirklichkeit entziehen kann. Das ist nicht etwa mit einem Fluchtversuch vor den trüben politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gleichzusetzen, die die beiden Häupter der Weimarer Klassik umgaben – Absolutismus, Kleinstaaterei und Ständegesellschaft sowie die Wirren von Terrorherrschaft und Krieg in den Jahren nach der Französischen Revolution von 1789. Die Werke der Klassik weisen vielmehr eine vorwärtsgewandte 70 r Das Drama der Klassik Utopie auf. In erster Linie dienen sie der Absicht, den einzelnen Menschen zu vervollkommnen. Das erscheint den Autoren der Klassik als notwendige Voraussetzung, um dann auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern zu können. Daher steht nun nicht mehr der große Einzelne im Mittelpunkt, der willkürlich gegen den Druck der politischen Misere aufbegehrt. An seine Stelle treten Protagonisten, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden. Dieser ethische Akzent findet auch in der Sprache und Form der klassischen Literatur seine Entsprechung. Strenge und Perfektion der künstlerischen Gestaltung haben Vorrang vor Individualität und Expressivität. Im Drama herrschen gebundene, regelmäßige und geschlossene Formen vor. Wie Goethes „Faust“ zeigt, erlaubt aber auch die gebundene Sprache ein vielfältiges Spiel mit unterschiedlichen metrischen und strophischen Formen. Dieses reicht von freien Rhythmen über den Knittelvers bis hin zu Madrigal- und Blankvers. Goethe geht recht freizügig mit diesen Formen um und passt die Sprache seiner Figuren der jeweiligen Stimmung, der Situation oder Sphäre, in der sie sich bewegen, an. Er erreicht damit, dass der Klang lebendig bleibt und sich keine ermüdende Gewöhnung einstellt. Das gilt auch für die Strophenformen, die in diesem Drama eingesetzt werden. So ist die Zueignung ein aus vier Stanzen (achtzeiligen Strophen, die im Deutschen meist aus jambischen Fünfhebern mit abwechselnd betontem und unbetontem Versausgang bestehen) gebautes Gedicht; der aus dem Heilschlaf des Vergessens genesene Faust spricht in Terzinen (einer Gedichtform mit dreizeiligen Strophen und dem Reimschema: a b a b c b c d c und so fort), Gretchen singt ihre Ballade vom „König in Thule“ als Volksliedstrophe (im Allgemeinen eine vierzeilige, kreuzgereimte Strophe mit kurzen – dreihebigen oder vierhebigen – metrisch oft unregelmäßigen Verszeilen), ihr letztes Lied aus dem Märchen vom Machandelboom verdeutlicht ihre Panik und Verrücktheit in freien Rhythmen; lediglich die Endreime erinnern noch an ein Volkslied. Goethe hat sich über einen Zeitraum von sechzig Jahren mit dem Faust-Thema beschäftigt. Erste Überlegungen reichen zurück in seine Sturm-und-DrangPhase der Jahre 1773 bis 1775. Erst 1831 schloss er die Arbeit am zweiten Teil des Dramas ab, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Der lange Schaffensprozess hat auch zur Folge, dass der Text nicht immer einheitlich wirkt, die Zusammenhänge zwischen den Szenen und die Motive der Handelnden nicht immer offen zutage liegen. Das zeigt sich etwa in der Verknüpfung der „Kerker“-Szene mit der vorhergehenden Handlung oder in der Prosasprache der Szene „Trüber Tag. Feld“. Das Drama der Klassik r 71 Drama der Klassik Dramenauszug 4 Autoren Friedrich Schiller (1759 –1805) Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832) Grundverständnis Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ Themen • Harmonie zwischen Pflicht und Neigung • ästhetische Erziehung • Humanität, Charakterschönheit, Anmut Merkmale des Dramas • stilisierte Kunstsprache • Struktur: geschlossene Form, Einzelteile untergeordnet • Orientierung an antiken Themen und Formen Werke • Schiller Wallenstein (1798/99), Maria Stuart (1800) • Goethe Iphigenie auf Tauris (1787), Faust I/II (1790 – 1831) Johann Wolfgang von Goethe Faust I (Szene „Kerker“) 1 5 10 15 20 Kerker FAUST (mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe, vor einem eisernen Türchen). Mich fasst ein längst entwohnter Schauer, Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer, Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn! Du zauderst zu ihr zu gehen! Du fürchtest sie wieder zu sehen! Fort! Dein Zagen zögert den Tod heran. (Er ergreift das Schloss. Es singt inwendig.) Meine Mutter, die Hur, Die mich umgebracht hat! Mein Vater, der Schelm, Der mich gessen hat! Mein Schwesterlein klein Hub auf die Bein’, An einem kühlen Ort; Da ward ich ein schönes Waldvögelein; Fliege fort, fliege fort! FAUST (aufschließend). Sie ahnet nicht, dass der Geliebte lauscht, Die Ketten klirren hört, das Stroh das rauscht. (Er tritt ein.)
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