Rrrroaaaarrrr: Wilde Klanglandschaften Die Ausstellung zu Bernie Krauses „Großem Orchester der Tiere“ in Paris ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 11079 | 30. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DIENSTAG, 26. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Morgens in Deutschland USA Debbie Wasser- man Schultz, Chefin der D emokraten, tritt zurück. Grund: wieder eine E-Mail-Affäre ▶ SEITE 10 TANSANIA Mama Mi- linga hilft inkontinenten Frauen, die oft verstoßen werden ▶ SEITE 5 BERLIN Heute endet der Prozess gegen Silvio S. Wie tickt der mutmaß liche Kindermörder? ▶ SEITE 19 Fotos: ap; getty ANGST Die Anschlagsmeldungen häufen sich – die Letzte kam aus Ansbach. Viele Menschen sind verunsichert. Sozialpsychologe Andreas Zick rät: „Wir müssen den Umgang mit solchen Situationen einüben“ ▶ SCHWERPUNKT SEITE 3 Und: Die postredaktionelle Gesellschaft ▶ SEITE 18 Der männliche Einzelkämpfer als Vorbild ▶ SEITE 13 VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Endlich Ferien! Das Wetter stimmt auch, fehlt nur noch die passende Beschäftigung für die Kinder. Sieh da, die Polizei Hannover schmeißt eine Party. Und lädt ein zu „spannenden Besichtigungen, eindrucksvollen Vorführungen mit Wasserwerfern sowie einem Blick in das Cockpit eines Polizeihubschraubers: Das alles und noch viel mehr Überraschungen erwartet Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren.“ Sehr vorausschauend, denn in solchen Zeiten muss man früh damit anfangen, Nachwuchs zu rekrutieren. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.120 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Die Konsequenzen aus der Draufsicht aufs russische Sportsystem sind für viele auch glasklar: Die Russen dürfen nicht zu den Olympischen Spielen nach Rio, weil der Sport in Moskau oder Kasan so versifft ist. Geht doch nicht, dass diese russischen Schmuddelkinder unter den Olympischen Ringen antreten. Die gehören allesamt ausgesperrt, besser noch: weggesperrt. All das ist derzeit dutzendfach in deutschen und internationalen Blättern zu lesen. Es ist eine merkwürdige Einheitsfront, die IOC-Kritiker, Sportfunktionäre und Athletenvertreter bilden. Bei all ihrem berechtigten Brass auf die Russen und auf das in hässlichen Allianzen verfangene Internationale Olympische Komitee scheinen sie allerdings das Maß verloren zu haben. Sie argumentieren in strenger Lawand-Order-Manier und werfen westliche Rechtsstandards lieber über Bord, als den Russen eine olympische Medaille zu gönnen. Wenn es um Do- pingfragen geht, dann wird gern mit der Keule geschwungen: Macht doch nichts, heißt es dann, wenn sich ein paar Unschuldige blaue Flecken und Platzwunden einfangen, es geht schließlich um übergeordnete Ziele, um Fairness und die Integrität des Sports – was immer das sein soll. Als wolle man Jahre der Versäumnisse aufholen, wird man plötzlich entschieden rigoros. Man kann es sich aber auch weniger einfach machen und das Dopingding in 387 Fällen einzeln betrachten. So viele Sportler wollte das Russische Olympische Komitee eigentlich nach Brasilien schicken. Jetzt wird das Team kleiner. Wir wissen nicht, ob Saubere oder Gedopte nach Rio fahren. Wir wissen nur, dass sie internationale Dopingtests vorweisen müssen. Die Entscheidung des IOC, solche Athleten für die Spiele zuzulassen, ist kein schlechter Kompromiss, weil sie Sportler schützt. Sie stärkt ihre individuellen Rechte. Sie haben sich jahrelang auf diesen Höhepunkt vorbereitet, und für einige russische Athleten hat sich das nun gelohnt. Das ist keine Niederlage für Olympia. Die Spiele haben schon ganz andere Doper ausgehalten. Zum Beispiel Sprinter aus Jamaika oder Gewichtheber aus Kasachstan. MARKUS VÖLKER Pro D ie Entscheidung des IOC, „saubere“ russische Athleten nun doch bei den Olympischen Spielen in Rio antreten zu lassen, ist grotesk. Wie sollen denn bitte die Betroffenen in der kurzen Zeit, die ihnen noch bis zur Eröffnungsfeier bleibt, den Nachweis antreten, nicht gedopt zu haben? Einmal abgesehen davon, dass es schon von einer besonderen Chuzpe zeugt, die Verantwortung für diese Entscheidung einfach auf die jeweiligen Weltverbände abzuschieben. So liegt doch eher der Verdacht nahe, dass am Ende einfach durchgewunken wird – nach dem Motto: Dabei sein ist eben doch alles. So sehen sie also aus, die strikten Auflagen für die russischen Sportler, die verfügt zu haben sich das IOC rühmt. Man stelle sich einen Athleten vor, der eben nicht sicher sein kann, ob sein Mitkonkurrent, der zu Hochform aufläuft, sich unlauterer Mittel bedient hat. Da macht eine Teilnahme bei Olympia doch so richtig Spaß! Zu der Entscheidung des IOC passt auch, dass die russische Leichtathletin und Whistleblowerin Julia Stepanowa nicht in Rio mitlaufen darf. Gut, auch Stepanowa hat gedopt und dafür mit einer zweijährigen Sperre bezahlt. Aber an- statt sie für ihre Enthüllungen zu belohnen, wird „Russlands Staatsfeindin Nummer eins“ in Rio mit einem Platz auf den Zuschauerrängen abgespeist – Ehrentribüne, versteht sich. Der Umgang mit Stepanowa dürfte wohl kaum dazu angetan sein, Insider zu motivieren, künftig in Sachen Doping auszupacken. Was genau das IOC und allen voran dessen Präsidenten Thomas Bach zu dem Votum bewogen hat, darüber lässt sich nur mutmaßen. Dennoch bleibt es ein Kotau vor Präsident Wladimir Putin. Und der ist umso peinlicher und unerträglicher, als es nicht um das Fehlverhalten einzelner Sportler geht. Es geht – wie von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) in ihrem Bericht niedergelegt – um staatliches Doping in großem Stil, das anderswo seinesgleichen sucht. Die Konsequenzen sind fatal. So wird die olympische Idee nachhaltig diskreditiert: Warum ehrlich sein, wenn ein bisschen Blutdoping kein Hindernis für einen Start ist, mögen sich manche SportlerInnen jetzt fragen. Auch der weltweite Kampf gegen Doping wird so nicht gerade befördert. Nein, Herr Bach: Fairplay sieht anders aus! BARBARA OERTEL Schwerpunkt SEITE 4 Contra 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN STUTTGART-21-GEGN ER ASYLSUCH EN DE Schadenersatz für von Polizei Geschädigte Schweden halbiert erwartete Zahl STUTTGART | Knapp sechs Jahre In Frankfurt festgenommen: der Ruander Enoch Ruhigira Foto: privat Vom Genozid eingeholt A Der Tag DI ENSTAG, 26. JU LI 2016 nach dem rechtswidrigen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und Tränengas bei einer Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 erhalten nun 19 Opfer Schadenersatz. Wie ein Polizeisprecher am Montag in Stuttgart mitteilte, wurden kleinere Beträge von 300 Euro bereits ausbezahlt. Höhere Summen bis hin zu einem fünfstelligen Betrag, die der durch einen Wasserwerferstrahl nahezu erblindete Dietrich Wagner fordere, würden noch geprüft. Die Demonstration am 30. September 2010, dem „schwarzen Donnerstag“, war von der Polizei mit Gewalt aufgelöst worden. Nach offiziellen Angaben wurden dabei etwa 160 Menschen durch Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfereinsätze verletzt. Das Verwaltungsgericht Stuttgart bezeichnete den Einsatz in einem Urteil vom November als rechtswidrig. Die Demo sei vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt gewesen und hätte nicht durch Platzverweise aufgelöst werden dürfen. Die Richter rügten vor allem den Wasserwerfer einsatz und intensive Wasserstöße auf Demonstranten. (afp) STOCKHOLM | Strengere Grenz- kontrollen in der EU und das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei wirken sich stark auf Schwedens Schätzungen der Zahl neuer Asylbewerber aus. Nun rechnet das Land mit 30.000 bis 50.000 Menschen, die 2016 Schutz suchen werden. Im April erwartete die Migrationsagentur noch bis zu 100.000. Seit letzter Woche schränkt ein neues Gesetz vorübergehend die Möglichkeit ein, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Auch dies könnte die Schätzungen beeinflusst haben. (dpa) TH EM EN-SCHWERP U N KT E Nachrichten ändern sich jeden Tag, einige Themen bleiben. Die taz bleibt dran, und auf taz.de finden Sie in unseren dossierarti gen Schwerpunkten alle Texte zu einem Thema gesammelt, über sichtlich und ausführlich. Nachrichten Analysen Übersicht www.taz.de REUTLI NGEN Machetenangriff galt Arbeitskollegin REUTLINGEN | Der tödliche Ma- chetenangriff eines 21-jährigen Syrers in Reutlingen (Ba-Wü) am Sonntagnachmittag galt einer Arbeitskollegin. Die 45-jährige Polin und der vermutlich psychisch kranke Mann arbeiteten nach Angaben der Polizei beide in einem Dönerlokal. Der 21-Jährige habe nach einem Streit die Tatwaffe, ein langes, stabiles Dönermesser, vom Arbeitsplatz geholt und die Frau damit tödlich am Kopf verletzt. Auf seiner Flucht verletzte der inzwischen festgenommene Syrer insgesamt fünf Menschen. (afp) ls eine Rakete am Abend des 6. April 1994 über Kigali das Flugzeug traf, in dem Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana gerade von einem Gipfel zurückkehrte, stand sein Kabinettschef Enoch Ruhigira empfangsbereit am Flughafen. In der Tasche hatte er schon Anweisungen, das vereinbarte TÜRKEI Bisher 42 Haftbefehle und 5 Festnahmen. Sozialdemokratisch-kemalistische Opposition demonstriert Übergangskabinett zu bilden, troffen. Eine Fahndung rund ren Gülen-Publikationen inneAm Nachmittag traf sich un- tion wieder dort demonstriedas die damals in Ruanda kämp- AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH fenden Tutsi-Rebellen in die Reum ihr Feriendomizil in Bod- hatten. Zudem wurden auch terdessen Präsident Erdoğan ren durfte. „Schließlich haben gierung einbinden sollten. Ra- In der Türkei werden nun auch rum brachte auch kein Ergebnis. etliche Professoren der Staats- mit den Parteivorsitzenden der wir“, rief Kılıçdaroğlu, „im ParEin weiterer nun gesuchter anwaltschaft vorgeführt, die Opposition, um über ein ge- lament alle gemeinsam in der dikale Hutu bekämpften die- einzelne Journalisten verhafsen Plan. Die Friedensregelung tet. Wie die Istanbuler Staatsan- Journalist ist Bülent Mumay, als Gülen-nah gelten, weil sie meinsames Vorgehen zu bera- Nacht vom 15. auf den 16. Juli unging mit dem Präsidentenflug- waltschaft mitteilte, wurden am bis Herbst letzten Jahres Chef an Universitäten unterrichtet ten. Nicht dabei war die kur- sere Demokratie gerettet.“ Doch zeug in Flammen auf. Montagmorgen Haftbefehle ge- der Onlineredaktion von Hür- hatten, die letzte Woche unter disch-linke HDP, deren beide die Schlussfolgerung daraus ist Der Kabinettschef bat den gen 42 Medienschaffende aus- riyet und seitdem als zu regie- dem Vorwurf geschlossen wur- Vorsitzende sich wegen des Vor- für die CHP eine andere als für französischen Botschafter so- gestellt, die Beziehungen zur rungskritisch beurlaubt. Er be- den, sie gehörten zu Gülen. Au- wurfs der Mitgliedschaft in der Erdoğan: „Die parlamentarische wie den UN-Chef in Kigali um Gülen-Bewegung haben sollen. tonte gestern über Twitter, die ßerdem kündigte Außenminis- terroristischen PKK vor Gericht Demokratie muss gestärkt werden und darf nicht durch ein auHilfe. Doch weder Frankreich Die bekannteste unter ihnen einzige Organisation, der er an- ter Mevlüt Çavuşoğlu an, auch verantworten sollen. noch die UNO griff ein, als die ist die „Grand Dame“ der na gehöre, sei der türkische Journa- Mitarbeiter des diplomatischen Die neue Nähe zwischen toritäres Präsidialsystem ersetzt Radikalen begannen, Gegner tio nalistischen Rechten, Nazlı listenverband. Er kündigte an, Dienstes würden nun auf Gülen- Erdoğan und dem sozialdemo- werden.“ kratisch-kemalistischen OpposiObwohl es im Vorfeld der Deder Hutu-Regierung sowie alle Ilıcak, die sich zuletzt Gülen-na- zur Staatsanwaltschaft zu gehen Nähe überprüft. tionsführer Kemal Kılıçdaroğlu monstration Gerüchte über ProTutsi Ruandas abzuschlach- hen Publikationen zugewandt um die Vorwürfe aufzuklären. hatte sich schon am Sonntag an- vokationen oder gar Bombenten – ein Völkermord, der über hatte, nachdem sie 2013 von Fünf weitere Journalisten gedeutet, als der Präsident eine attentate gegeben hatte, ließen 800.000 Tote fordern sollte. der regierungsnahen Sabah ge- wurden bereits verhaftet, elf solgroße CHP-Demonstration auf sich die Leute nicht abhalten, Als Mitwisser der Planung feuert worden war, weil sie nach len außer Landes sein, nach den Verhaftete dürfen dem Istanbuler Taksim-Platz auf den Taksim-Platz zu strödieses Völkermordes wird der einem Korruptionsskandal den anderen wird gefahndet – da nun statt 48 Stunden damalige Kabinettschef seit- Rücktritt von Ministern gefor- runter Erkan Acar, Erkan Akkuş 30 Tage in Polizeihaft genehmigte. Es war das erste men. „Es tut gut, zu sehen, dass dem von Ruanda gesucht. Dort dert hatte. In ihrer Istanbuler und Hanım Büşra Erdal, die alle Mal seit dem Gezi-Aufstand im man nicht allein ist“, sagte eine herrschen seit Juli 1994 die eins- Villa wurde Ilıcak nicht ange- führende Positionen in frühe- gehalten werden Sommer 2013, dass die Opposi- ältere Frau. „Wir machen uns tigen Tutsi-Rebellen unter Prägegenseitig Hoffnung, dass aus den schlimmen Ereignissen vor sident Paul Kagame. Ruhigira zehn Tagen vielleicht doch noch setzte sich damals nach Beletwas Gutes entstehen könnte.“ gien ab und landete in Neuseeland, dessen Staatsbürgerschaft Die HDP hatte bereits am er annahm. Samstagnachmittag in einem Der 1951 im Distrikt Kibuye Vorort von Istanbul eine ebenfalls genehmigte Demonstrageborene Ruhigira wurde 1991 tion abgehalten, während der „Präsidialminister“ Habyarimanas und dann KabinettsdiKovorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş, den Ausnaherektor. Er war einer der engsten zustand scharf verurteilte. InsMitarbeiter des Präsidenten, besondere die Regelung, dass aber auch einer der diskretesten. Das UN-Ruanda-VölkerVerhaftete nun statt 48 Stunden 30 Tage in Polizeihaft gehalmord-Tribunal klagte ihn weten werden dürfen, ohne einem der an, noch lud es ihn je als Haftrichter vorgeführt werden Zeugen. Erst 2011, nach langem Schweigen im Exil, meldete sich zu müssen, sei „geradezu eine Ruhigira mit seinen Memoiren Einladung zur Folter“. zu Wort. Diese Befürchtung erwies Die Folge: Er kam in seiner sich bereits gestern laut Amnesty International als berechWahlheimat am anderen Ende tigt. „Uns liegen glaubwürdige der Welt in juristische Bedrängnis, zumal Ruanda auf seine Zeugenaussagen vor, dass angebliche Putschisten in UnterAuslieferung drängte: Auf der suchungshaft gefoltert wurden“, aktuellen Liste der ruandischen gab die Organisation bekannt. Generalstaatsanwaltschaft mit Als Reaktion auf den Bericht gesuchten Völkermordverantwortlichen steht Ruhigira auf forderte die Bundesregierung, Platz 126. unabhängige Beobachter in die Den Haftbefehl bestätigten Türkei zu entsenden. Ruandas Behörden erst vor KurInterview mit Bülent zem. Am 20. Juli ging der Poli- Anhänger der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP demonstrieren auf dem Taskim-Platz Foto: Petros Kardjias/ap Mumay auf taz.de THEMA zei am Frankfurter Flughafen DES ein 65-jähriger von Ruanda geTAGES suchter Neuseeländer ins Netz: Es konnte nur Ruhigira sein. Das Auslieferungsverfahren läuft. DOMINIC JOHNSON Inland SEITE 6 REISEWARNUNG Die Türkei betrachtet Deutschtürken vor allem als Türken. Deutsche Konsulatsbeamte können dagegen wenig tun Erdoğan lässt Journalisten verhaften Kein deutscher Schutz für Doppelstaatler FREIBURG taz | Deutschtürken mit doppelter Staatsbürgerschaft sollten bei Reisen in die Türkei besonders vorsichtig sein. Sie können nämlich nicht mit deutschem konsularischen Schutz gegen „hoheitliche“ Maßnahmen des Staats rechnen. Darauf macht das Auswärtige Amt (AA) in einem „aktuellen Hinweis“ auf seiner Webseite aufmerksam. Als mögliche Maßnahme werden derzeit nur „Reisebeschränkungen bei der Ausreise“ genannt. Der frühere Hinweis auf die sofortige Einziehung zum Militärdienst wurde gestrichen. Eine mögliche Verhaftung von (vermeintlichen) Aktivisten der Gülen-Bewegung wird vom AA nicht angesprochen, dürfte aber eine reale Gefahr sein. Wenn ein deutscher Staatsbürger im Ausland inhaftiert wird, kann er verlangen, dass die deutsche Botschaft oder ein deutsches Konsulat benachrichtigt werden. Das ergibt sich aus völkerrechtlichen Verträ- gen. Die Diplomaten können den Deutschen dann besuchen und ihm schreiben. Sie können sich für ordentliche Haftbedingungen einsetzen, den Kontakt zu Angehörigen herstellen und einen geeigneten Anwalt empfehlen. Konsulatsbeamte können freilich nicht auf das Strafverfahren selbst einwirken oder gar die Entlassung bewirken. Diesen konsularischen Schutz gewährt die Bundesrepublik auch Doppelstaatlern. Nur im Land der anderen Staatsan- gehörigkeit – also zum Beispiel in der Türkei – ist dies meist nicht möglich. Denn der türkische Staat sieht Deutschtürken zunächst als Türken und nicht als Deutsche. Sie verbittet sich daher die konsularische Einmischung Deutschlands. Das ist international üblich. Bei Notlagen, die nicht aus hoheitlichen Maßnahmen des türkischen Staates resultieren, können natürlich auch Doppelstaatler in der Türkei deutsche konsularische Hilfe bekommen, etwa bei Krankheiten, Unfällen oder wenn einer der Reisenden unterwegs verstirbt. Nach dem Zensus 2011 hatten in Deutschland 4,3 Millionen Menschen eine doppelte Staatsangehörigkeit. Davon besaßen rund 530.000 Personen neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit. Die Deutschtürken waren nach Deutschpolen (690.000) und Deutschrussen (570.000) die drittgrößte Gruppe unter den Doppelstaatlern. CHRISTIAN RATH Schwerpunkt Bombe in Ansbach DI ENSTAG, 26. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Die Explosion am Sonntag ist die dritte Gewalttat in Bayern in wenigen Tagen. Die folgende Unsicherheit ist Nährboden für Populismus Das nächste Drama TERROR Im bayerischen Ansbach zündet ein Flüchtling eine Rucksackbombe. Vier Menschen werden schwer verletzt. Bayerns Innenminister sieht eine islamistische Tat – es wäre der erste hiesige Selbstmordanschlag VON KONRAD LITSCHKO „Traumhafte Künstler, traumhaftes Wetter, traumhaftes Publikum.“ So posten es die Veranstalter des Ansbach Open am Sonntagabend kurz nach 21 Uhr auf Facebook. Dazu stellen sie ein Video: eine ausgelassene Menschenmenge, die zum Auftritt des Songwriters Joris die Arme in der Luft schwenkt. Eine Stunde später explodiert eine Bombe. Nun also Ansbach. Die Amoktat von München mit zehn Toten lag gerade erst 48 Stunden zurück, das Axt-Attentat von Würzburg mit vier Schwerverletzten sechs Tage, jetzt trifft es Ansbach. Die Motive der Taten sind unterschiedlich, aber wieder wird Bayern von einer schweren Gewalttat erschüttert. In Ansbach war der Täter laut Ermittlern Mohammad D., ein 27-jähriger Flüchtling aus Syrien. Am Abend läuft er vor dem Festivalgelände, das 2.000 Menschen besuchten, auf und ab. Der Einlass war ihm verwehrt worden, da er keine Eintrittskarte hatte. Vor einem Weinlokal dann beugt er sich laut Zeugen nach vorne, in seinem Rucksack explodiert eine Bombe. Der Mann stirbt, fünfzehn weitere Menschen werden verletzt, vier von ihnen schwer. Und wieder beginnt das Rätseln. Was war das Motiv? Hätte sich die Tat verhindern lassen? Noch in der Nacht reist Bayerns CSU-Innenminister Joa- Am Tag nach der Bombenexplosion: Auf dem Pflaster im Hof der Ansbacher Residenz liegt noch zerrissenes Absperrband Foto: Karl-Josef Hildenbrand/ dpa chim Herrmann nach Ansbach, um drei Uhr tritt er vor die Journalisten. Eine Woche wie diese habe er noch nicht erlebt, sagt er. Und Herrmann legt sich fest. Es sei „naheliegend“, dass es ein islamistischer Anschlag war. Die Rucksackbombe war mit scharfkantigen kleinen Metallblechen gespickt, die offenbar viele verletzen sollten. Später wird auch CSU-Justizminister Wienfried Bausback kundtun: Würzburg und Ansbach zeigten, „dass der islamistische Terror Deutschland erreicht hat“. Die Ermittler bleiben zunächst vage: Die Motivlage sei noch ungeklärt. Dann aber stoßen Beamte im Zimmer von Mohammad D. im Ansbacher Flüchtlingsheim auf weiteres Material zum Bombenbau: einen Benzinkanister mit Diesel, Salzsäure, Alkoholreiniger, Lötkolben, Drähte, Batterien. Auf Facebookseiten von Mo- hammad D. finden sie islamistische Beiträge, auf seinem Handy schließlich ein Video. Darin bekennt sich der 27-Jährige zu ISAnführer Abu Bakr al-Bagdadi. Er kündigt eine Vergeltungstat gegen Deutsche an, weil diese Muslime umbrächten. Eine ISnahe Agentur erklärt darauf am Nachmittag, D. sei „Soldat des ‚Islamischen Staates‘“ gewesen. Eine direkte Verbindung des Syrers zu der Terrormiliz sehen Ermittler nicht. Mit dem Video, sagt Herrmann am Montag, sei dennoch „unzweifelhaft“, dass es sich um eine islamistische Tat handele. Es wäre der erste Selbstmordanschlag in Deutschland. Parallel äußert sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Berlin – merklich zurückhaltender. Ein islamistischer Anschlag sei ebenso möglich wie eine Tat aufgrund einer psychischer Störung oder eine Kombination aus beidem. Auf dem Handy des 27-Jährigen finden Ermittler ein Droh video: Er werde einen Racheakt begehen Denn: Mohammad D. soll schon zweimal versucht haben sich umzubringen. Er war in psychiatrischer Behandlung. Bei der Polizei war er wegen Nötigungen und eines kleineren Drogendelikts bekannt. D. kam im Juli 2014 nach Deutschland. Im Dezember erhielt er eine Abschiebeandrohung nach Bulgarien: Dort wurde er zuerst registriert und erhielt bereits 2013 eine Anerkennung als Flüchtling. Die Ausweisung wurde ausgesetzt wegen D.s psychischer Probleme. Vor zwei Wochen allerdings er- hielt der 27-Jährige eine erneute Ausreiseaufforderung. Seine radikalen Ansichten wurden offensichtlich nicht bemerkt, für die Sicherheitsbehörden war Mohammad D. ein unbeschriebenes Blatt. Reinhold Eschenbacher, Leiter des Ansbacher Sozialamtes, sagt, Mitarbeiter hätten ihn als „unauffällig, nett, freundlich“ beschrieben. Am Montag nimmt die Polizei kurzzeitig einen Dolmetscher fest, der mit D. zusammenarbeitete. Er wird später freigelassen. Für die Stadt ist die Tat ein Drama. 600 Asylbewerber leben in Ansbach. Erst im März hatte die Stadt das Projekt „Ankommen in Ansbach“ gestartet. In sieben Sessions werden Flüchtlinge über das Ansbacher Leben informiert, über die Gesetzeslage oder das Arbeitsleben. Referenten waren der Landgerichtspräsident, der Polizeidirektor oder der örtliche Imam. Ein Versagen in der Flüchtlingsbetreuung könne sie nicht sehen, sagt Bürgermeisterin Carda Seidel (parteilos). Die Stadt unternehme alles, um „möglichst nah an den Menschen zu kommen“. An D. kam man offenbar nicht sehr nah heran. Und die politische Debatte steuert in eine andere Richtung. Herrmann drängt auf eine Verschärfung des Straf- und Aufenthaltsrechts und schnellere Abschiebungen. Selbst LinkenFraktionschefin Sahra Wagenknecht fordert, der Staat müsste jetzt alles tun, „damit die Menschen wieder sicher sind“. Die Bundesregierung warnt, Flüchtlinge nicht pauschal unter Terrorverdacht zu stellen. 59 Ermittlungen gegen Flüchtlinge gibt es aktuell wegen Terrorverdachts. Die allermeisten Hinweise hätten sich aber als unwahr herausgestellt, betont Innenminister de Maizière. „Bei Terrorgefahr wollen die Leute Diskriminierung“ REAKTION Nach den Anschlägen ist die Gesellschaft extrem verunsichert, sagt Gewaltforscher Andreas Zick. Wir müssen lernen, damit umzugehen taz: Herr Zick, derzeit haben wir fast täglich furchtbare Gewaltverbrechen: Würzburg, München, Reutlingen, jetzt Ansbach. Was macht das mit einer Gesellschaft? Andreas Zick: Die Konsequenz ist eine massive Verunsicherung. Das sieht man nicht nur vor Ort, sondern auch, wenn man sich die Medien und die sozialen Netzwerke anschaut. Diese Verunsicherung ist für viele schwer auszuhalten, man sucht nach Sicherheit. Unsere Daten zeigen: Nach Anschlägen wird der Ruf nach öffentlicher Kontrolle und Sicherheit lauter und der nach Prävention und Sozialarbeit für die Gruppen, die ein Problempotenzial auf sich ziehen, leiser. Dabei ist Letzteres sehr wichtig. Die Daten zeigen auch, dass nach is lamistischem Terror oder der Kölner Sil vesternacht die Distanzierung von Muslimen und die Islamfeindlichkeit steigen. Welche Rolle spielen Vorurteile beim Umgang mit dieser Unsicherheit? Wer für Vorurteile anfällig ist – zum Beispiel gegen Flüchtlinge und Muslime –, findet hier eine Erklärung für das Geschehen. Populismus hat da leichtes Spiel. In München hat man gesehen, dass die Menschen sehr viele Informationen aufsaugen – und da sind eben auch falsche dabei. Durch die Modernisierung der Medien werden solche Informationen unfassbar schnell ausgetauscht, interpretiert und kommentiert. Das Fernsehen hat diesen Ausnahmezustand übernommen, weil es wie der erste große Terroranschlag aussah. Die Polizei hat besonnen reagiert, hat die Medien schneller, umfänglicher informiert. Das ist gut. Menschen, die maximal verunsichert sind und keine Informationen haben, neigen dazu, sich fehlzuverhalten. Aber insgesamt ging das alles zu schnell, weil Sicherheit Besonnenheit erzwingt. Wie kann man Geschwindigkeit rausnehmen? Es hört sich zynisch an, aber wir müssen einüben, wie man mit solchen Situationen umgeht. In Ländern, die Erfahrung mit Terroranschlägen haben, wie etwa Israel, hat man solche Abläufe gelernt. Wir kennen das zum Teil. In Schulen wird zum Beispiel trainiert, was bei Amokverdacht zu tun ist. Der Ablauf in München weist darauf hin, dass Menschen lernen sollten, wie man zum Beispiel mit dem Handy umgeht. Stellt man Filme ein? Leitet man sie an die Polizei weiter oder legt man besser das Handy zur Seite und schreit den Täter an? Da stehen wir noch ganz am Anfang, obgleich nun allen klar ist, wie einfach Regeln sein können: keine Fehlinformationen oder Gerüchte ins Netz stellen. Insgesamt müsste man die Bevölkerung viel stärker darüber aufklären, wie man Terror, Radikalisierung und Amok erkennt, was man tun kann und wie man Verdächtigungen zurückhält. Die Täter aus Würzburg und Ansbach sind Flüchtlinge. Was bedeutet das für die gesellschaftliche Debatte? Wir sehen in unseren Daten aus den vergangenen zwei Jahren deutlich, dass die Zahl derjenigen, die junge Migranten ablehnen, massiv angestiegen ist. In unserer letzten Umfrage zwi- schen Dezember 2015 und Februar 2016 stimmten 49 Prozent der Befragten der Meinung zu: „Je mehr Flüchtlinge Deutschland aufnimmt, desto größer ist die Gefahr von Terrorismus.“ Bei Vorurteilen bleibt es nicht. Auf europäischer Ebene haben wir gesehen: Wenn es eine subjektiv erlebte Terrorgefahr gibt, wollen die Leute Diskriminierung, man will, dass etwas mit der Gruppe, die verdächtigt wird, geschieht. So mancher Politiker der AfD wirft alles in einen Topf und versucht, daraus politischen Profit zu ziehen. Wir hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren viele Hate Crimes und Angriffe auf Asyl unterkünfte. Populisten haben die öffentliche Debatte bestimmt. Viele haben erschreckt bemerkt, dass sich die Gesellschaft polarisiert. Bei der Kom- mentierung der Münchener Amoktat hat sich die AfD, weil sie die Dinge so extrem vorurteilsbeladen kommentiert hat, keinen Gefallen getan. Sie hat eine Grenze überschritten. Da war die Reaktion doch weitgehend ablehnend. Das ist auch die Chance einer offenen, medialen Gesellschaft, die begreift, dass Vorurteile schädigen. INTERVIEW SABINE AM ORDE Andreas Zick ■■54, ist Sozialpsychologe und leitet das Institut für interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Foto: Elena Berz/Uni Bielefeld
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