taz.die tageszeitung (26.07.2016)

Rrrroaaaarrrr: Wilde Klanglandschaften
Die Ausstellung zu Bernie Krauses „Großem Orchester der Tiere“ in Paris ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11079 | 30. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DIENSTAG, 26. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Morgens in Deutschland
USA Debbie Wasser-
man Schultz, Chefin
der D
­ emokraten, tritt zurück. Grund: wieder eine
E-Mail-Affäre ▶ SEITE 10
TANSANIA Mama Mi-
linga hilft inkontinenten
Frauen, die oft verstoßen werden ▶ SEITE 5
BERLIN Heute endet der
Prozess gegen Silvio S.
Wie tickt der mutmaß­
liche Kindermörder?
▶ SEITE 19
Fotos: ap; getty
ANGST Die Anschlagsmeldungen häufen sich – die Letzte kam
aus Ansbach. Viele Menschen sind verunsichert.
Sozialpsychologe Andreas Zick rät: „Wir müssen den Umgang
mit solchen Situationen einüben“ ▶ SCHWERPUNKT SEITE 3
Und: Die postredaktionelle Gesellschaft ▶ SEITE 18
Der männliche Einzelkämpfer als Vorbild ▶ SEITE 13
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Endlich Ferien! Das Wetter
stimmt auch, fehlt nur noch
die passende Beschäftigung für
die Kinder. Sieh da, die Polizei
Hannover schmeißt eine Party.
Und lädt ein zu „spannenden
Besichtigungen, eindrucksvollen Vorführungen mit Wasserwerfern sowie einem Blick in
das Cockpit eines Polizeihubschraubers: Das alles und noch
viel mehr Überraschungen erwartet Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren.“
Sehr vorausschauend, denn in
solchen Zeiten muss man früh
damit anfangen,
Nachwuchs zu rekrutieren.
TAZ MUSS SEI N
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Kleinstadt mit Trabi und Schwerbewaffneten: Ist das der neue deutsche Alltag? Foto: Michaela Rehle/reuters
OLYMPIA MIT RUSSISCHER MANNSCHAFT
M
War die IOC-Entscheidung richtig?
an kann es sich einfach machen und das Dopingding
in Russland als einen einzigen großen Fall betrachten.
Dann entsteht ein klares Bild, denn wir
haben es mit Staatsdoping zu tun. Die
Konsequenzen aus der Draufsicht aufs
russische Sportsystem sind für viele
auch glasklar: Die Russen dürfen nicht
zu den Olympischen Spielen nach Rio,
weil der Sport in Moskau oder Kasan so
versifft ist.
Geht doch nicht,
dass diese russischen
Schmuddelkinder unter den Olympischen
Ringen antreten. Die gehören allesamt
ausgesperrt, besser noch: weggesperrt.
All das ist derzeit dutzendfach in deutschen und internationalen Blättern zu
lesen. Es ist eine merkwürdige Einheitsfront, die IOC-Kritiker, Sportfunktionäre und Athletenvertreter bilden. Bei
all ihrem berechtigten Brass auf die
Russen und auf das in hässlichen Allianzen verfangene Internationale Olympische Komitee scheinen sie allerdings
das Maß verloren zu haben.
Sie argumentieren in strenger Lawand-Order-Manier und werfen westliche Rechtsstandards lieber über Bord,
als den Russen eine olympische Medaille zu gönnen. Wenn es um Do-
pingfragen geht, dann wird gern mit der
Keule geschwungen: Macht doch nichts,
heißt es dann, wenn sich ein paar Unschuldige blaue Flecken und Platzwunden einfangen, es geht schließlich um
übergeordnete Ziele, um Fairness und
die Integrität des Sports – was immer das
sein soll. Als wolle man Jahre der Versäumnisse aufholen, wird man plötzlich
entschieden rigoros.
Man kann es sich aber auch weniger
einfach machen und das
Dopingding in 387 Fällen
einzeln betrachten. So viele
Sportler wollte das Russische Olympische Komitee
eigentlich nach Brasilien schicken. Jetzt
wird das Team kleiner. Wir wissen nicht,
ob Saubere oder Gedopte nach Rio fahren. Wir wissen nur, dass sie internationale Dopingtests vorweisen müssen.
Die Entscheidung des IOC, solche Athleten für die Spiele zuzulassen, ist kein
schlechter Kompromiss, weil sie Sportler schützt. Sie stärkt ihre individuellen
Rechte. Sie haben sich jahrelang auf diesen Höhepunkt vorbereitet, und für einige russische Athleten hat sich das nun
gelohnt. Das ist keine Niederlage für
Olympia. Die Spiele haben schon ganz
andere Doper ausgehalten. Zum Beispiel
Sprinter aus Jamaika oder Gewichtheber
aus Kasachstan.
MARKUS VÖLKER
Pro
D
ie Entscheidung des IOC, „saubere“ russische Athleten nun
doch bei den Olympischen Spielen in Rio antreten zu lassen, ist
grotesk. Wie sollen denn bitte die Betroffenen in der kurzen Zeit, die ihnen noch
bis zur Eröffnungsfeier bleibt, den Nachweis antreten, nicht gedopt zu haben?
Einmal abgesehen davon, dass es
schon von einer besonderen Chuzpe
zeugt, die Verantwortung für diese Entscheidung einfach auf die
jeweiligen Weltverbände
abzuschieben. So liegt
doch eher der Verdacht
nahe, dass am Ende einfach durchgewunken wird – nach dem
Motto: Dabei sein ist eben doch alles.
So sehen sie also aus, die strikten Auflagen für die russischen Sportler, die verfügt zu haben sich das IOC rühmt. Man
stelle sich einen Athleten vor, der eben
nicht sicher sein kann, ob sein Mitkonkurrent, der zu Hochform aufläuft, sich
unlauterer Mittel bedient hat. Da macht
eine Teilnahme bei Olympia doch so
richtig Spaß!
Zu der Entscheidung des IOC passt
auch, dass die russische Leichtathletin
und Whistleblowerin Julia Stepanowa
nicht in Rio mitlaufen darf. Gut, auch Stepanowa hat gedopt und dafür mit einer
zweijährigen Sperre bezahlt. Aber an-
statt sie für ihre Enthüllungen zu belohnen, wird „Russlands Staatsfeindin Nummer eins“ in Rio mit einem Platz auf den
Zuschauerrängen abgespeist – Ehrentribüne, versteht sich. Der Umgang mit Stepanowa dürfte wohl kaum dazu angetan
sein, Insider zu motivieren, künftig in Sachen Doping auszupacken.
Was genau das IOC und allen voran
dessen Präsidenten Thomas Bach zu dem
Votum bewogen hat, darüber lässt sich
nur mutmaßen. Dennoch
bleibt es ein Kotau vor Präsident Wladimir Putin.
Und der ist umso peinlicher und unerträglicher,
als es nicht um das Fehlverhalten einzelner Sportler geht. Es geht – wie von
der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) in
ihrem Bericht niedergelegt – um staatliches Doping in großem Stil, das anderswo seinesgleichen sucht.
Die Konsequenzen sind fatal. So wird
die olympische Idee nachhaltig diskreditiert: Warum ehrlich sein, wenn ein bisschen Blutdoping kein Hindernis für einen Start ist, mögen sich manche SportlerInnen jetzt fragen. Auch der weltweite
Kampf gegen Doping wird so nicht gerade befördert.
Nein, Herr Bach: Fairplay sieht anders
aus!
BARBARA OERTEL
Schwerpunkt SEITE 4
Contra
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
STUTTGART-21-GEGN ER
ASYLSUCH EN DE
Schadenersatz für von Polizei Geschädigte
Schweden halbiert
erwartete Zahl
STUTTGART | Knapp sechs Jahre
In Frankfurt festgenommen: der
Ruander Enoch Ruhigira Foto: privat
Vom Genozid
eingeholt
A
Der Tag
DI ENSTAG, 26. JU LI 2016
nach dem rechtswidrigen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern
und Tränengas bei einer Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 erhalten
nun 19 Opfer Schadenersatz. Wie
ein Polizeisprecher am Montag
in Stuttgart mitteilte, wurden
kleinere Beträge von 300 Euro
bereits ausbezahlt. Höhere Summen bis hin zu einem fünfstelligen Betrag, die der durch einen
Wasserwerferstrahl nahezu erblindete Dietrich Wagner fordere, würden noch geprüft.
Die
Demonstration
am
30. September 2010, dem
„schwarzen Donnerstag“, war
von der Polizei mit Gewalt aufgelöst worden. Nach offiziellen
Angaben wurden dabei etwa 160
Menschen durch Schlagstöcke,
Tränengas und Wasserwerfereinsätze verletzt. Das Verwaltungsgericht Stuttgart bezeichnete den Einsatz in einem Urteil
vom November als rechtswidrig.
Die Demo sei vom Grundrecht
auf Versammlungsfreiheit gedeckt gewesen und hätte nicht
durch Platzverweise aufgelöst
werden dürfen. Die Richter rügten vor allem den Wasserwerfer­
einsatz und intensive Wasserstöße auf Demonstranten. (afp)
STOCKHOLM | Strengere Grenz-
kontrollen in der EU und das
Flüchtlingsabkommen
mit
der Türkei wirken sich stark
auf Schwedens Schätzungen
der Zahl neuer Asylbewerber
aus. Nun rechnet das Land mit
30.000 bis 50.000 Menschen,
die 2016 Schutz suchen werden.
Im April erwartete die Migrationsagentur noch bis zu 100.000.
Seit letzter Woche schränkt ein
neues Gesetz vorübergehend
die Möglichkeit ein, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Auch
dies könnte die Schätzungen beeinflusst haben. (dpa)
TH E­M EN-SCHWER­P U N K­T E
Nach­rich­ten än­dern sich jeden
Tag, ei­ni­ge The­men blei­ben. Die
taz bleibt dran, und auf taz.de
fin­den Sie in un­se­ren dos­sier­ar­ti­
gen Schwer­punk­ten alle Texte zu
einem Thema ge­sam­melt, über­
sicht­lich und aus­führ­lich.
Nach­rich­ten
Ana­ly­sen
Über­sicht
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REUTLI NGEN
Machetenangriff
galt Arbeitskollegin
REUTLINGEN | Der tödliche Ma-
chetenangriff eines 21-jährigen
Syrers in Reutlingen (Ba-Wü) am
Sonntagnachmittag galt einer
Arbeitskollegin. Die 45-jährige
Polin und der vermutlich psychisch kranke Mann arbeiteten
nach Angaben der Polizei beide
in einem Dönerlokal. Der 21-Jährige habe nach einem Streit die
Tatwaffe, ein langes, stabiles Dönermesser, vom Arbeitsplatz geholt und die Frau damit tödlich
am Kopf verletzt. Auf seiner
Flucht verletzte der inzwischen
festgenommene Syrer insgesamt fünf Menschen. (afp)
ls eine Rakete am Abend
des 6. April 1994 über Kigali das Flugzeug traf, in
dem Ruandas Präsident Juvénal
Habyarimana gerade von einem
Gipfel zurückkehrte, stand sein
Kabinettschef Enoch Ruhigira
empfangsbereit am Flughafen.
In der Tasche hatte er schon
Anweisungen, das vereinbarte TÜRKEI Bisher 42 Haftbefehle und 5 Festnahmen. Sozialdemokratisch-kemalistische Opposition demonstriert
Übergangskabinett zu bilden,
troffen. Eine Fahndung rund ren Gülen-Publikationen inneAm Nachmittag traf sich un- tion wieder dort demonstriedas die damals in Ruanda kämp- AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
fenden Tutsi-Rebellen in die Reum ihr Feriendomizil in Bod- hatten. Zudem wurden auch terdessen Präsident Erdoğan ren durfte. „Schließlich haben
gierung einbinden sollten. Ra- In der Türkei werden nun auch rum brachte auch kein Ergebnis. etliche Professoren der Staats- mit den Parteivorsitzenden der wir“, rief Kılıçdaroğlu, „im ParEin weiterer nun gesuchter anwaltschaft vorgeführt, die Opposition, um über ein ge- lament alle gemeinsam in der
dikale Hutu bekämpften die- einzelne Journalisten verhafsen Plan. Die Friedensregelung tet. Wie die Istanbuler Staatsan- Journalist ist Bülent Mumay, als Gülen-nah gelten, weil sie meinsames Vorgehen zu bera- Nacht vom 15. auf den 16. Juli unging mit dem Präsidentenflug- waltschaft mitteilte, wurden am bis Herbst letzten Jahres Chef an Universitäten unterrichtet ten. Nicht dabei war die kur- sere Demokratie gerettet.“ Doch
zeug in Flammen auf.
Montagmorgen Haftbefehle ge- der Onlineredaktion von Hür- hatten, die letzte Woche unter disch-linke HDP, deren beide die Schlussfolgerung daraus ist
Der Kabinettschef bat den gen 42 Medienschaffende aus- riyet und seitdem als zu regie- dem Vorwurf geschlossen wur- Vorsitzende sich wegen des Vor- für die CHP eine andere als für
französischen Botschafter so- gestellt, die Beziehungen zur rungskritisch beurlaubt. Er be- den, sie gehörten zu Gülen. Au- wurfs der Mitgliedschaft in der Erdoğan: „Die parlamentarische
wie den UN-Chef in Kigali um Gülen-Bewegung haben sollen. tonte gestern über Twitter, die ßerdem kündigte Außenminis- terroristischen PKK vor Gericht Demokratie muss gestärkt werden und darf nicht durch ein auHilfe. Doch weder Frankreich
Die bekannteste unter ihnen einzige Organisation, der er an- ter Mevlüt Çavuşoğlu an, auch verantworten sollen.
noch die UNO griff ein, als die ist die „Grand Dame“ der na­ gehöre, sei der türkische Journa- Mitarbeiter des diplomatischen
Die neue Nähe zwischen toritäres Präsidialsystem ersetzt
Radikalen begannen, Gegner tio­
nalistischen Rechten, Nazlı listenverband. Er kündigte an, Dienstes würden nun auf Gülen- Erdoğan und dem sozialdemo- werden.“
kratisch-kemalistischen OpposiObwohl es im Vorfeld der Deder Hutu-Regierung sowie alle Ilıcak, die sich zuletzt Gülen-na- zur Staatsanwaltschaft zu gehen Nähe überprüft.
tionsführer Kemal Kılıçdaroğlu monstration Gerüchte über ProTutsi Ruandas abzuschlach- hen Publikationen zugewandt um die Vorwürfe aufzuklären.
hatte sich schon am Sonntag an- vokationen oder gar Bombenten – ein Völkermord, der über hatte, nachdem sie 2013 von
Fünf weitere Journalisten
gedeutet, als der Präsident eine attentate gegeben hatte, ließen
800.000 Tote fordern sollte.
der regierungsnahen Sabah ge- wurden bereits verhaftet, elf solgroße CHP-Demonstration auf sich die Leute nicht abhalten,
Als Mitwisser der Planung feuert worden war, weil sie nach len außer Landes sein, nach den Verhaftete dürfen
dem Istanbuler Taksim-Platz auf den Taksim-Platz zu strödieses Völkermordes wird der einem Korruptionsskandal den anderen wird gefahndet – da­ nun statt 48 Stunden
damalige Kabinettschef seit- Rücktritt von Ministern gefor- runter Erkan Acar, Erkan Akkuş 30 Tage in Polizeihaft genehmigte. Es war das erste men. „Es tut gut, zu sehen, dass
dem von Ruanda gesucht. Dort dert hatte. In ihrer Istanbuler und Hanım Büşra Erdal, die alle
Mal seit dem Gezi-Aufstand im man nicht allein ist“, sagte eine
herrschen seit Juli 1994 die eins- Villa wurde Ilıcak nicht ange- führende Positionen in frühe- gehalten werden
Sommer 2013, dass die Opposi- ältere Frau. „Wir machen uns
tigen Tutsi-Rebellen unter Prägegenseitig Hoffnung, dass aus
den schlimmen Ereignissen vor
sident Paul Kagame. Ruhigira
zehn Tagen vielleicht doch noch
setzte sich damals nach Beletwas Gutes entstehen könnte.“
gien ab und landete in Neuseeland, dessen Staatsbürgerschaft
Die HDP hatte bereits am
er annahm.
Samstagnachmittag in einem
Der 1951 im Distrikt Kibuye Vorort von Istanbul eine ebenfalls genehmigte Demonstrageborene Ruhigira wurde 1991
tion abgehalten, während der
„Präsidialminister“ Habyarimanas und dann KabinettsdiKovorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş, den Ausnaherektor. Er war einer der engsten
zustand scharf verurteilte. InsMitarbeiter des Präsidenten,
besondere die Regelung, dass
aber auch einer der diskretesten. Das UN-Ruanda-VölkerVerhaftete nun statt 48 Stunden 30 Tage in Polizeihaft gehalmord-Tribunal klagte ihn weten werden dürfen, ohne einem
der an, noch lud es ihn je als
Haftrichter vorgeführt werden
Zeugen. Erst 2011, nach langem
Schweigen im Exil, meldete sich
zu müssen, sei „geradezu eine
Ruhigira mit seinen Memoiren
Einladung zur Folter“.
zu Wort.
Diese Befürchtung erwies
Die Folge: Er kam in seiner
sich bereits gestern laut Amnesty International als berechWahlheimat am anderen Ende
tigt. „Uns liegen glaubwürdige
der Welt in juristische Bedrängnis, zumal Ruanda auf seine
Zeugenaussagen vor, dass angebliche Putschisten in UnterAuslieferung drängte: Auf der
suchungshaft gefoltert wurden“,
aktuellen Liste der ruandischen
gab die Organisation bekannt.
Generalstaatsanwaltschaft mit
Als Reaktion auf den Bericht
gesuchten Völkermordverantwortlichen steht Ruhigira auf
forderte die Bundesregierung,
Platz 126.
unabhängige Beobachter in die
Den Haftbefehl bestätigten
Türkei zu entsenden.
Ruandas Behörden erst vor KurInterview mit Bülent
zem. Am 20. Juli ging der Poli- Anhänger der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP demonstrieren auf dem Taskim-Platz Foto: Petros Kardjias/ap
­Mumay auf taz.de
THEMA
zei am Frankfurter Flughafen
DES
ein 65-jähriger von Ruanda geTAGES
suchter Neuseeländer ins Netz:
Es konnte nur Ruhigira sein. Das
Auslieferungsverfahren läuft.
DOMINIC JOHNSON
Inland SEITE 6
REISEWARNUNG Die Türkei betrachtet Deutschtürken vor allem als Türken. Deutsche Konsulatsbeamte können dagegen wenig tun
Erdoğan lässt Journalisten verhaften
Kein deutscher Schutz für Doppelstaatler
FREIBURG taz | ­
Deutschtürken
mit doppelter Staatsbürgerschaft sollten bei Reisen in die
Türkei besonders vorsichtig
sein. Sie können nämlich nicht
mit deutschem konsularischen
Schutz gegen „hoheitliche“
Maßnahmen des Staats rechnen. Darauf macht das Auswärtige Amt (AA) in einem „aktuellen Hinweis“ auf seiner Webseite
aufmerksam.
Als mögliche Maßnahme
werden derzeit nur „Reisebeschränkungen bei der Ausreise“
genannt. Der frühere Hinweis
auf die sofortige Einziehung
zum Militärdienst wurde gestrichen. Eine mögliche Verhaftung
von (vermeintlichen) Aktivisten
der Gülen-Bewegung wird vom
AA nicht angesprochen, dürfte
aber eine reale Gefahr sein.
Wenn ein deutscher Staatsbürger im Ausland inhaftiert
wird, kann er verlangen, dass
die deutsche Botschaft oder ein
deutsches Konsulat benachrichtigt werden. Das ergibt sich
aus völkerrechtlichen Verträ-
gen. Die Diplomaten können
den Deutschen dann besuchen
und ihm schreiben. Sie können
sich für ordentliche Haftbedingungen einsetzen, den Kontakt
zu Angehörigen herstellen und
einen geeigneten Anwalt empfehlen. Konsulatsbeamte können freilich nicht auf das Strafverfahren selbst einwirken oder
gar die Entlassung bewirken.
Diesen
konsularischen
Schutz gewährt die Bundesrepublik auch Doppelstaatlern. Nur
im Land der anderen Staatsan-
gehörigkeit – also zum Beispiel
in der Türkei – ist dies meist
nicht möglich. Denn der türkische Staat sieht Deutschtürken
zunächst als Türken und nicht
als Deutsche. Sie verbittet sich
daher die konsularische Einmischung Deutschlands. Das ist international üblich.
Bei Notlagen, die nicht aus
hoheitlichen Maßnahmen des
türkischen Staates resultieren,
können natürlich auch Doppelstaatler in der Türkei deutsche
konsularische Hilfe bekommen,
etwa bei Krankheiten, Unfällen
oder wenn einer der Reisenden
unterwegs verstirbt.
Nach dem Zensus 2011 hatten in Deutschland 4,3 Millionen Menschen eine doppelte
Staatsangehörigkeit. Davon besaßen rund 530.000 Personen
neben der deutschen auch die
türkische Staatsangehörigkeit.
Die Deutschtürken waren nach
Deutschpolen (690.000) und
Deutschrussen (570.000) die
drittgrößte Gruppe unter den
Doppelstaatlern. CHRISTIAN RATH
Schwerpunkt
Bombe in Ansbach
DI ENSTAG, 26. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Die Explosion am Sonntag ist die dritte Gewalttat in Bayern in wenigen Tagen. Die folgende Unsicherheit ist Nährboden für Populismus
Das nächste Drama
TERROR Im
bayerischen
Ansbach zündet
ein Flüchtling eine
Rucksackbombe.
Vier Menschen
werden schwer
verletzt. Bayerns
Innenminister sieht
eine islamistische
Tat – es wäre der
erste hiesige
Selbstmordanschlag
VON KONRAD LITSCHKO
„Traumhafte Künstler, traumhaftes Wetter, traumhaftes Publikum.“ So posten es die Veranstalter des Ansbach Open
am Sonntagabend kurz nach
21 Uhr auf Facebook. Dazu stellen sie ein Video: eine ausgelassene Menschenmenge, die zum
Auftritt des Songwriters Joris
die Arme in der Luft schwenkt.
Eine Stunde später explodiert
eine Bombe.
Nun also Ansbach. Die Amoktat von München mit zehn Toten lag gerade erst 48 Stunden
zurück, das Axt-Attentat von
Würzburg mit vier Schwerverletzten sechs Tage, jetzt trifft
es Ansbach. Die Motive der Taten sind unterschiedlich, aber
wieder wird Bayern von einer
schweren Gewalttat erschüttert.
In Ansbach war der Täter laut
Ermittlern Mohammad D., ein
27-jähriger Flüchtling aus Syrien. Am Abend läuft er vor dem
Festivalgelände, das 2.000 Menschen besuchten, auf und ab.
Der Einlass war ihm verwehrt
worden, da er keine Eintrittskarte hatte. Vor einem Weinlokal dann beugt er sich laut Zeugen nach vorne, in seinem Rucksack explodiert eine Bombe. Der
Mann stirbt, fünfzehn weitere
Menschen werden verletzt, vier
von ihnen schwer.
Und wieder beginnt das Rätseln. Was war das Motiv? Hätte
sich die Tat verhindern lassen?
Noch in der Nacht reist Bayerns CSU-Innenminister Joa-
Am Tag nach der Bombenexplosion: Auf dem Pflaster im Hof der Ansbacher Residenz liegt noch zerrissenes Absperrband Foto: Karl-Josef Hildenbrand/ dpa
chim Herrmann nach Ansbach,
um drei Uhr tritt er vor die Journalisten. Eine Woche wie diese
habe er noch nicht erlebt, sagt
er. Und Herrmann legt sich fest.
Es sei „naheliegend“, dass es ein
islamistischer Anschlag war. Die
Rucksackbombe war mit scharfkantigen kleinen Metallblechen
gespickt, die offenbar viele verletzen sollten. Später wird auch
CSU-Justizminister Wienfried
Bausback kundtun: Würzburg
und Ansbach zeigten, „dass der
islamistische Terror Deutschland erreicht hat“.
Die Ermittler bleiben zunächst vage: Die Motivlage sei
noch ungeklärt. Dann aber stoßen Beamte im Zimmer von
Mohammad D. im Ansbacher
Flüchtlingsheim auf weiteres
Material zum Bombenbau: einen Benzinkanister mit Diesel, Salzsäure, Alkoholreiniger,
Lötkolben, Drähte, Batterien.
Auf Facebookseiten von Mo-
hammad D. finden sie islamistische Beiträge, auf seinem Handy
schließlich ein Video. Darin bekennt sich der 27-Jährige zu ISAnführer Abu Bakr al-Bagdadi.
Er kündigt eine Vergeltungstat
gegen Deutsche an, weil diese
Muslime umbrächten. Eine ISnahe Agentur erklärt darauf am
Nachmittag, D. sei „Soldat des
‚Islamischen Staates‘“ gewesen.
Eine direkte Verbindung des
Syrers zu der Terrormiliz sehen
Ermittler nicht. Mit dem Video,
sagt Herrmann am Montag, sei
dennoch „unzweifelhaft“, dass
es sich um eine islamistische
Tat handele. Es wäre der erste
Selbstmordanschlag in Deutschland. Parallel äußert sich Bundesinnenminister Thomas de
Maizière (CDU) in Berlin – merklich zurückhaltender. Ein islamistischer Anschlag sei ebenso
möglich wie eine Tat aufgrund
einer psychischer Störung oder
eine Kombination aus beidem.
Auf dem Handy des
27-Jährigen finden
Ermittler ein Droh­
video: Er werde einen
Racheakt begehen
Denn: Mohammad D. soll
schon zweimal versucht haben sich umzubringen. Er war
in psychiatrischer Behandlung.
Bei der Polizei war er wegen Nötigungen und eines kleineren
Drogendelikts bekannt.
D. kam im Juli 2014 nach
Deutschland. Im Dezember erhielt er eine Abschiebeandrohung nach Bulgarien: Dort
wurde er zuerst registriert und
erhielt bereits 2013 eine Anerkennung als Flüchtling. Die Ausweisung wurde ausgesetzt wegen D.s psychischer Probleme.
Vor zwei Wochen allerdings er-
hielt der 27-Jährige eine erneute
Ausreiseaufforderung. Seine radikalen Ansichten wurden offensichtlich nicht bemerkt, für
die Sicherheitsbehörden war
Mohammad D. ein unbeschriebenes Blatt. Reinhold Eschenbacher, Leiter des Ansbacher Sozialamtes, sagt, Mitarbeiter hätten ihn als „unauffällig, nett,
freundlich“ beschrieben. Am
Montag nimmt die Polizei kurzzeitig einen Dolmetscher fest,
der mit D. zusammenarbeitete.
Er wird später freigelassen.
Für die Stadt ist die Tat ein
Drama. 600 Asylbewerber leben
in Ansbach. Erst im März hatte
die Stadt das Projekt „Ankommen in Ansbach“ gestartet. In
sieben Sessions werden Flüchtlinge über das Ansbacher Leben
informiert, über die Gesetzeslage oder das Arbeitsleben. Referenten waren der Landgerichtspräsident, der Polizeidirektor
oder der örtliche Imam. Ein
Versagen in der Flüchtlingsbetreuung könne sie nicht sehen,
sagt Bürgermeisterin Carda Seidel (parteilos). Die Stadt unternehme alles, um „möglichst nah
an den Menschen zu kommen“.
An D. kam man offenbar
nicht sehr nah heran. Und die
politische Debatte steuert in
eine andere Richtung. Herrmann drängt auf eine Verschärfung des Straf- und Aufenthaltsrechts und schnellere
Abschiebungen. Selbst LinkenFraktionschefin Sahra Wagenknecht fordert, der Staat müsste
jetzt alles tun, „damit die Menschen wieder sicher sind“.
Die Bundesregierung warnt,
Flüchtlinge nicht pauschal unter Terrorverdacht zu stellen.
59 Ermittlungen gegen Flüchtlinge gibt es aktuell wegen Terrorverdachts. Die allermeisten
Hinweise hätten sich aber als
unwahr herausgestellt, betont
Innenminister de Maizière.
„Bei Terrorgefahr wollen die Leute Diskriminierung“
REAKTION
Nach den Anschlägen ist die Gesellschaft extrem verunsichert, sagt Gewaltforscher Andreas Zick. Wir müssen lernen, damit umzugehen
taz: Herr Zick, derzeit haben
wir fast täglich furchtbare Gewaltverbrechen:
Würzburg,
München, Reutlingen, jetzt
Ansbach. Was macht das mit
einer Gesellschaft?
Andreas Zick: Die Konsequenz
ist eine massive Verunsicherung. Das sieht man nicht nur
vor Ort, sondern auch, wenn
man sich die Medien und die
sozialen Netzwerke anschaut.
Diese Verunsicherung ist für
viele schwer auszuhalten, man
sucht nach Sicherheit. Unsere
Daten zeigen: Nach Anschlägen wird der Ruf nach öffentlicher Kontrolle und Sicherheit
lauter und der nach Prävention
und Sozialarbeit für die Gruppen, die ein Problempotenzial
auf sich ziehen, leiser. Dabei
ist Letzteres sehr wichtig. Die
­Daten zeigen auch, dass nach
is­
lamistischem Terror oder
der Kölner Sil­
vesternacht die
Distanzierung von Muslimen
­
und die Islamfeindlichkeit steigen.
Welche Rolle spielen Vorurteile
beim Umgang mit dieser Unsicherheit?
Wer für Vorurteile anfällig ist
– zum Beispiel gegen Flüchtlinge und Muslime –, findet hier
eine Erklärung für das Geschehen. Populismus hat da leichtes
Spiel. In München hat man gesehen, dass die Menschen sehr
viele Informationen aufsaugen
– und da sind eben auch falsche dabei. Durch die Modernisierung der Medien werden
solche Informationen unfassbar schnell ausgetauscht, interpretiert und kommentiert. Das
Fernsehen hat diesen Ausnahmezustand übernommen, weil
es wie der erste große Terroranschlag aussah. Die Polizei hat
besonnen reagiert, hat die Medien schneller, umfänglicher informiert. Das ist gut. Menschen,
die maximal verunsichert sind
und keine Informationen haben, neigen dazu, sich fehlzuverhalten. Aber insgesamt ging
das alles zu schnell, weil Sicherheit Besonnenheit erzwingt.
Wie kann man Geschwindigkeit rausnehmen?
Es hört sich zynisch an, aber wir
müssen einüben, wie man mit
solchen Situationen umgeht. In
Ländern, die Erfahrung mit Terroranschlägen haben, wie etwa
Israel, hat man solche Abläufe
gelernt. Wir kennen das zum
Teil. In Schulen wird zum Beispiel trainiert, was bei Amokverdacht zu tun ist. Der Ablauf
in München weist darauf hin,
dass Menschen lernen sollten,
wie man zum Beispiel mit dem
Handy umgeht. Stellt man Filme
ein? Leitet man sie an die Polizei
weiter oder legt man besser das
Handy zur Seite und schreit den
Täter an? Da stehen wir noch
ganz am Anfang, obgleich nun
allen klar ist, wie einfach Regeln sein können: keine Fehlinformationen oder Gerüchte ins
Netz stellen. Insgesamt müsste
man die Bevölkerung viel stärker darüber aufklären, wie man
Terror, Radikalisierung und
Amok erkennt, was man tun
kann und wie man Verdächtigungen zurückhält.
Die Täter aus Würzburg und
Ansbach sind Flüchtlinge.
Was bedeutet das für die gesellschaftliche Debatte?
Wir sehen in unseren Daten
aus den vergangenen zwei Jahren deutlich, dass die Zahl derjenigen, die junge Migranten ablehnen, massiv angestiegen ist.
In unserer letzten Umfrage zwi-
schen Dezember 2015 und Februar 2016 stimmten 49 Prozent
der Befragten der Meinung zu:
„Je mehr Flüchtlinge Deutschland aufnimmt, desto größer ist
die Gefahr von Terrorismus.“ Bei
Vorurteilen bleibt es nicht. Auf
europäischer Ebene haben wir
gesehen: Wenn es eine subjektiv
erlebte Terrorgefahr gibt, wollen
die Leute Diskriminierung, man
will, dass etwas mit der Gruppe,
die verdächtigt wird, geschieht.
So mancher Politiker der AfD
wirft alles in einen Topf und
versucht, daraus politischen
Profit zu ziehen.
Wir hatten in den vergangenen
zweieinhalb Jahren viele Hate
Crimes und Angriffe auf Asyl­
unterkünfte. Populisten haben die öffentliche Debatte bestimmt. Viele haben erschreckt
bemerkt, dass sich die Gesellschaft polarisiert. Bei der Kom-
mentierung der Münchener
Amoktat hat sich die AfD, weil
sie die Dinge so extrem vorurteilsbeladen kommentiert hat,
keinen Gefallen getan. Sie hat
eine Grenze überschritten. Da
war die Reaktion doch weitgehend ablehnend. Das ist auch
die Chance einer offenen, medialen Gesellschaft, die begreift,
dass Vorurteile schädigen.
INTERVIEW SABINE AM ORDE
Andreas Zick
■■54, ist Sozialpsychologe und
leitet das Institut für interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung
(IKG) an der
Universität
Bielefeld.
Foto: Elena Berz/Uni Bielefeld