leserbriefe POLITIK Überall verbrannte Erde Wie die Schließung der Sterzinger Geburtenabteilung immer mehr zu einem Dokument der Pannen und Peinlichkeiten wird. W ie eine stramme, steinerne Eiche steht der Zwölferturm inmitten von Sterzing. Heller Ziegel, 46 Meter hoch und von hervorstechenden Zinnengiebeln gekrönt. Aus dem Mittelalter stammt er, einst diente er als oberstes Stadttor und als Feuerwehrsitz. Heute ist er bloß noch Kulisse. Längst hat ein Brand der ganz anderen Art die Wipptaler Stadt heimgesucht. Ein riesiges Transparent umwickelt den Turm – „Für unsere Geburtenabteilung“ steht darauf und: „Das Krankenhaus Sterzing muss offen bleiben“. Man sieht es schon von Weitem, drum herum rankt sich eine Lichterkette und leuchtet friedlich still vor sich hin. Einige Meter vom Turm entfernt geht es weniger still zu. Da hat sich eine wütende Menschenmasse zum Protest versammelt, eingepackt in Fleece- und Windjacken, in den Händen Plakate, die in die Höhe gehalten werden: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, haben die Wipptaler draufgeschrieben, andere sind noch klarer: „Was die Väter einst erbaut, das die Stocker uns versaut!“. Buben haben Trommeln mitgebracht, die im Laufe der nächsten Stunde zum Einsatz kommen. Mädchen haben „#stockerexit“-Plakate um den Hals gebunden. Wir platzieren uns inmitten der Menge und notieren die ersten Feststellungen: 1. Die Julikälte macht es nicht gerade gemütlich, aber es geht heiß her im Norden des Landes. 2. Die größten Kritiker von Landesrätin Martha Stocker müssen Kinder sein. Oder warum sonst lassen die Demonstranten die meisten Plakate von diesen tragen? Es ist Donnerstagabend und 20.20 Uhr, als die ersten Protestler zum Mikrofon greifen. „Jetzt geht es auf“, sagt eine Frau in der Masse und applaudiert schon mal im Voraus. Fritz Karl Messner, der Bürgermeister von Sterzing, lobt die altehrwürdigen Herrn Primare und Politiker, die einst das Sterzinger Krankenhaus aufgebaut haben. „Und jetzt haben wir eine Landesrätin, die alles ignoriert. Jetzt soll alles nichts mehr sein“, wettert er. Beim Gedanken an die Landesrätin gibt es Buhrufe und Pfiffe, aber kräftigen Applaus für den Bürgermeister. „Ich weiß nicht, ob es noch Wunder gibt. Aber mit Sturheit macht man keine Politik“, sagt Messner abschließend. „Politiker, die etwas schließen, sind noch nie in die Geschichte eingegangen.“ Aufbrausender Beifall und laute Bravo-Rufe. Martha Stocker ist an diesem Abend nicht in Sterzing. Warum auch. Sie hat sich vor zwei Jahren hier schon einmal be- 16 schimpfen lassen – es endete damals in Tohuwabohu. Seitdem wiederholt sie wie ein Mantra ihren Antrieb: Dass sie in der Verantwortung für die Gesamtheit entscheide. Zwei Tage vor dem Sterzinger Protest hatte die Landesregierung dann auch endlich entschieden: Die Geburtenstation von Sterzing wird mit 31. Oktober geschlossen. Einzig Bildungslandesrat und SVP-Parteiobmann Philipp Achammer hatte sich in der Regierung der Stimme enthalten. „Uns ist klar, dass das eine unpopuläre Entscheidung war“, sagt Landeshauptmann Arno Kompatscher nur wenige Stunden vor dem Wipptaler Aufmarsch im Plenum des Südtiroler Landtages. Die Regierung habe die Lage nüchtern betrachtet, sich an die Fakten gehalten und nicht von Stimmungen leiten lassen. „Wir haben nicht salopp entschieden. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Warum wohl haben wir zwei Jahre lang diskutiert?“ Hört man sich in diesen Tagen bei Kompatschers Partei- und Landtagskollegen um, dann heißt es immer wieder: Man habe viel zu lange mit dieser Entscheidung gewartet. Man hätte viel früher alle Fakten auf den Tisch legen sollen. Und: Man wisse mittlerweile nicht mehr, wem man in der Partei glauben und vertrauen könne. Das Vertrauen in die Landesrätin, so sagen viele SVPler, sei auch „nicht mehr im Ansatz“ vorhanden. Feststellung Nummer 3: Im Südtirol des 21. Jahrhunderts grassiert das Misstrauen: gegenüber Landesregierung und Regierungspartei, contra SVP-Parteikollegen und Reformvorhaben der Landesrätin. „Diese Konzeptlosigkeit ist ein Wahnsinn“, sagt ein Eisacktaler Chirurg gegenüber diesem Magazin. Seit rund vierzig Jahren arbeitet er im öffentlichen Südtiroler Gesundheitssystem, jetzt geht er bald in Rente, seinen Namen möchte er aber lieber nicht in der Zeitung sehen. Dieses sanitätspolitische „Kuddelmuddel“, sagt er, sei politischer Selbstmord für die SVP. Während sich derzeit alle und jeder über die Geburtenabteilung Sterzing streiten, erzählt der Arzt über „katastrophale Zustände“, die auf vielen anderen Abteilungen anderer Krankenhäuser im Land herrschen: kompetente Fachärzte, die dem öffentlichen System den Rücken kehren; Spezialambulanzen, die nicht aufrechterhalten werden können; gekürzte Dienste; Abteilungen, die personell auf absoluter Sparflamme arbeiten; der immense Druck, unter dem Ärzte und Pfleger arbeiten. „Viele kündigen, weil sie keine Per- No. 29 / 2016 ® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl Ein-Spruch: „Wenn Volksschüler einen saudummen und beleidigenden Satz in die Kamera schreien dürfen, dann hat das nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun.“ Robert Lösch, Ulten ger, wunderbarer, herrlicher, grandioser, phantastischer, zauberhafter, fabelhafter, mä andrischer, er ist ein himm lischer, ein göttlicher maler, zeichner, mehr; weiter nichts. Ich danke ihm, ich danke ihm für sein werk. Ich zeichne, also bin ich ff 28/2016 über den unterschätzten Künstler Markus Vallazza Überall verbrannte Erde Damit es einmal gesagt ist: Markus Vallazza („Der zu Unrecht unterschätzte Zeich ner“; und warum denke ich, noch vor dem gewaltigen, un serem größten Dichter, dem Wolkensteiner, warum denk ich (mit Kafka, mit Hölder lin) jetzt Walser (Robert) und Büchner und Kleist, wenn ich Vallazza denk? Und Pound? Und dann erst Dante und Cervantes und Nietzsche und Ovid und Villon und May röcker und?) kann nicht überschätzt werden. Da mit es einmal gesagt ist: Mar kus Vallazza ist ein großarti Mittagsmagazin Das Radio-Magazin mit aktuellen Tagesthemen aus Politik, Chronik, Gesellschaft und Kultur. Von Montag bis Samstag täglich ab 12.10 Uhr auf Südtirol 1, Radio Tirol, Radio Holiday, Teleradio Vinschgau, Radio Grüne Welle, Stadtradio Meran, Radio Gherdeina, Radio Gherdeina2 und Radio Nord. www.nachrichten.it No. 30 / 2016 Josef Oberhollenzer, Bruneck ff 29/2016 über Pannen und Peinlichkeiten rund um die Schließung der Sterzinger Geburtenabteilung Trotz allem Verständnis für den Unmut der Wipptaler Bevölkerung über die bevor stehende Schließung der Ge burtenstation in Sterzing: Die Form, in der Landesrä zin Martha Stocker angegrif fen wurde, ist entwürdigend. Besonders unverantwortlich finde ich, dass man Kinder als Sprachrohr benutzt, in dem man ihnen solche Worte in den Mund legt: „Wir pro testieren auf allen Vieren, weil wir wissen, die Stocker ist be schissen“ (gehört im Mittags magazin der Rai Südtirol am 15.07.). Abgesehen von der Banalität und Absurdität der Aussage, trägt diese Art sicher nicht zur Problemlösung bei – eher fängt so Radikalisie rung an! Kritik und gegenteilige Mei nungen können und sol len in halbwegs fairer Wei se vorgetragen werden, und auch Politiker/-innen haben ein Recht auf Menschenwür de. Wer nach einem Eldorado der Verschwendung zu Spar samkeit aufrufen muss, hat es sonst schon schwer genug. Die Online-Umfrage auf www.ff-online.com 55 % „Braucht Südtirol neue Schnell straßen?“ Ja Maria Forer, Percha Wenn vier Volksschüler den saudummen und beleidi genden Satz „Wir protestie ren auf allen Vieren, denn wir wissen, die Stocker ist beschissen!“ in die Kamera schreien dürfen, dann ist für sie das wahrscheinlich cool und ein Erlebnis. Ganz sicher haben sie aber nicht die nöti ge Reife, um zu überschauen, was sie da eigentlich tun. Das hat nichts mit freier Mei nungsäußerung oder poli tischen Statements zu tun, sondern ist einfach nur frech. Von solchen Kindern erwar tet man dann, dass sie Autori tätspersonen, zum Beispiel in der Schule, mit Respekt ge genübertreten sollen? Auch die Medien haben hier ein gerüttelt Maß an Ver antwortung. Liebe Rai, man muss nicht jeden Unsinn über den Äther schicken. Und Oppositionsvertreter sollten sich von solchen Ak tionen ebenfalls deutlich dis tanzieren, anstatt politisches Kapital daraus schlagen zu wollen, denn einige von ih 45 % Nein nen werden wohl nie in die Verlegenheit kommen, ein mal Verantwortung zu übernehmen. Robert Lösch, Ulten Was bisher in der Argumen tation zu kurz gekommen ist oder bewusst vermieden wur de, ist das in den vergangenen Jahren im Krankenhaus Ster zing eingetretene höhere Ri siko – und dies trotz eines bereits bereinigten Patienten gutes. So müssen drohende Frühgeburten und Schwan gere mit bereits bekannten, schweren Risiken a priori ins Krankenhaus Bozen geschickt werden. Dennoch ist das Ri siko eines Neugeborenen mit bleibenden Hirnschäden für die Mutter im Krankenhaus Sterzing 2,6-fach höher als für jene in Bozen. Nichtsdesto trotz hat sich die Geburtshilfe Sterzing in den letzten Jahren medial zur besten Geburtshil fe Italiens hochstilisiert. Paul Zanon, Brixen. ® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl „Brecht das Monopol“ Den milliardenschweren Markt Cannabis teilen sich Pharmaindustrie und Drogenmafia. Peter Grünfelder fordert: Illegale Geschäfte stoppen, Cannabis legalisieren! B is Mitte des vergangenen Jahrhunderts war Cannabis eine Kulturpflanze, die für ihre vielen Verwertungs möglichkeiten hoch geschätzt war. Sie lieferte äußerst nährreiche Samen, Fasern und Stängelwerk wurden zu Texti lien verarbeitet oder am Bau verwendet, und die Blüten ganz besonderer Züchtungen wurden medizinisch genutzt. „Wie kommt es, dass eine derart viel genutzte Kulturpflan ze völlig verschwunden ist? Schlimmer noch, verboten ist?“ Das ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Prohibitionspoli tik, mit der gigantische Monopole geschaffen wurden. Die Schäden von Cannabis werden haushoch überbewer tet und die Vorteile einfach ausgeblendet. Für die richtige Stimmung im Volk sorgt die institutionalisierte Propaganda maschine, finanziert von Profiteuren der Monopole. Wer sind nun die Profiteure des Verbots? Kriminelle Or ganisationen bedienen den Schwarzmarkt mit allem, was nicht legal ist! Waffen, Drogen, Sex. Ein gigantischer Markt, der bereits Jahrzehnte neben unserer offiziellen Wirtschaft koexistiert. Trotz des strikten Verbots und der drückenden Diskrimi nierung existieren immer noch ausreichend Konsumenten, die allen Gefahren trotzen und, das Wichtigste, einen anstän digen Preis bezahlen. Der Cannabismarkt als Genussmittel in Italien beträgt viele Milliarden Euro. Auch die Pharmaindustrie verdient Milliarden in einem extrem komplexen Sanitätssystem. Es ist durch Gesetze, Bü rokratie und Sicherheitsnormen für Normalbürger zu einem unüberwindbaren Dschungel mutiert. Da braucht es schon Millionen, um Medikamente überhaupt in das System ein zuführen. Medizinisches Cannabis kann bei vielen Erkrankungen und Beschwerden eingesetzt werden – mit äußerst geringen Nebenwirkungen. Die Anwendung ist aber durch viele Hin dernisse gehemmt. Überall dort, wo in jüngster Zeit medizinisches Cannabis legalisiert und ins Sanitätssystem integriert wurde, sanken die Ausgaben für Medikamente. Auch hier reden wir von einen milliardenschweres Budget. Die Liste der Profiteure ist noch lange nicht zu Ende, be gnügen wir uns aber mit diesen beiden. Das ganze schöne Geld! Es geht nicht um das Geld, das dem Staat verloren geht – er hat seine Einnahmequellen –, es geht vielmehr um einen Milliardenmarkt, der uns Bürgern vorent halten wird! Es stellen sich Fragen, was möglich wäre: „Wie viele Arbeitsplätze? Wie viele tolle Produkte? Wie viele Ein sparungen ohne Drogenkriminalität?“ ® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl Doch leider, die Politik spielt nicht mit, stellt sich dumm. Beatrice Lorenzin, die italienische Ministerin für Gesundheit, sagte kürzlich: „Io sono contraria alla legalizzazione e non è una novità. Tutto il tema della liberalizzazione della mariju ana è un business perché il mercato della criminalità resta in piedi. La legalizzazione è assolutamente negativa, perché oggi queste sostanze si assumono a 11 anni, quando sei un bambi no. Sulla droga se non passa un messaggio chiaro da parte de gli adulti, ‚fa male o fa bene?‘, non si va da nessuna parte.“ Sagt die Ministerin wirklich, Marihuana ist ein Business, deswegen überlassen wir es kriminellen Organisationen? Verdreht sie da nicht Tatsachen, denn eigentlich ist es die restriktive Drogenpolitik, die bereits 11-jährige Kinder zu Drogenkonsumenten macht? Will sie uns täuschen: Geht es um die Legalisierung oder um den Drogenmissbrauch? Zwei Sachen, die unterschiedlich zu beantworten sind. Legalisierung: JA! Drogenmissbrauch: NEIN! Ich bin kein Wissenschaftler. Aber um das zu verstehen, reicht der normale Hausverstand! Sogar die „Direzione Nazionale Antimafia“ beurteilt die aktuelle Drogenpolitik in ihrem Jahresbericht 2015 als komplett gescheitert. Dabei liegt die Lösung so nah: Ich zeige Flagge, ich spre che darüber, ich informiere, und ich unterschreibe den Geset zesvorschlag für die Legalisierung von Cannabis! Denn: • Ich will kriminellen Organisationen einen milliarden schweren Markt entziehen. • Ich will den Patienten den Zugang zu medizinischem Cannabis erleichtern. • Ich will der Wirtschaft die uneingeschränkte Nutzung einer Kulturpflanze zurückgeben. • Ich will der Gesellschaft die Kontrolle über Cannabis geben, damit ein effizienter Schutz vor Missbrauch überhaupt erst entstehen kann. Also: Stoppen wir die illegalen Geschäfte und legalisie ren wir Cannabis. Dabei geht es nicht um die Freiheit von ein paar Kiffern, sondern um den Zugang zu einem gesamn ten Wirtschaftszweig. Peter Grünfelder ist Präsident des Cannabis Social Club Bozen. Der Verein wurde 2015 gegründet, er wird von einem Ärztekomitee bestehend aus Hausärzten und spezialisierten privaten und öffentlichen Ärzten unterstützt. Für die Legalisierung von Cannabis sammelt der Verein noch bis Mitte September Unterschriften. Mehr Informationen unter: www.cannabissocial.eu No. 30 / 2016
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