Die Hälfte aller Begabungen ist brennendes Interesse

Brief: 10/03
PHILOSOPHIE UND METHODIK DER
UNTERNEHMENS-EVOLUTION
DR. SLIWKA-FÜHRUNGSBRIEF
Die sieben Führungsfelder
des Unternehmens:
1. Führungs-Kraft
2. Zentrale Leistungsidee
3. Märkte und Produkte
4. Marketing-Kommunikation
5. Mitarbeiter-Verantwortung
6. Ertrags- u. Besitzentwicklung
7. Zeiten - Ziele - Zukunft
"Die Hälfte aller Begabungen
ist brennendes Interesse"
Das ist ein Zitat des Schriftstellers Botho Strauss. Es gehört zu den schwierigsten, aber auch zu den wichtigsten Chefentscheidungen, Menschen auszuwählen, die man in seinem Unternehmen brauchen kann. Trotz aller Verfahren, die es dafür gibt bis hin zum Accessment-Center, wie es Großunternehmen durchführen, hängt es immer zum Schluss an der Menschenkenntnis
und dem Gespür für Menschen, die man nicht durch noch so viele methodische
Verfahren ersetzen kann. Wen soll man nehmen aus einer größeren Anzahl
von Bewerbungen?
Diese Menschenkenntnis ist nicht nur wichtig für das Auswahlverfahren,
sondern überhaupt zur Beurteilung von Mitarbeitern.
Man kann es drehen und wenden wie man will, es bleiben immer zwei Faktoren,
die man berücksichtigen muss:
1. Die Begabung und die Talente, die jemand hat.
2. Und das Interesse, das er in das Unternehmen einbringt.
Dieser Satz von Botho Strauss ist deshalb höchst interessant für jeden, der
mit Menschen umgeht.
Begabung, Talent und Intelligenz allein machen es nicht, wenn nicht ein
echtes Interesse am Unternehmen und den Unternehmenszielen hinzu kommt.
1. Die Ergebnisse der Zwillingsforschung
Viele Diskussionen zu diesem Thema spitzen sich auf die Frage zu: Hat man`s
oder hat man`s nicht? Ist alles in den Genen festgelegt? Und da kann man halt
nichts dran ändern.
Ist Begabung eine feste Größe, die von Geburt an da ist? Nein!
Die beste Antwort auf diese Frage gibt die Zwillingsforschung. Man hat eineiige
Zwillinge untersucht, deren Genausstattung von Natur aus gleich ist, die aber
durch ein tragisches Schicksal nach der Geburt getrennt wurden und in zwei
verschiedenen Milieus aufgewachsen sind. Wäre immer dasselbe herausgekommen, müsste man sagen: Mit den Genen ist alles gelaufen. Das war aber
nicht so.
Die Forscher sagen heute: Das Lebensschicksal und der Lebenserfolg wird zu
etwa 50 Prozent aus den Genen bestimmt. Die anderen 50 Prozent ergeben sich
aus der Lernfähigkeit.
Ich habe einmal bei einer Tagung den Satz gehört: "Die Barriere der Gene ist
nicht zu überschreiten, aber die Spielräume, die die Gene lassen, nutzen die
meisten Menschen zu höchstens 30 Prozent aus". Wo also Interesse und
Lernwille fehlt, da verkümmert auch die stärkste Begabung.
Diese 50 Prozent-Regel entspricht übrigens auch einer Geschichte, die in der
Bibel steht - in dem Evangelium von den Talenten. Da werden drei Personen
geschildert: Der Erste hat ein Talent geerbt und vergräbt es. Der andere hat zwei
Talente geerbt und macht vier daraus. Der Dritte hat fünf Talente geerbt und
macht zehn daraus. Das entspricht genau der Verdoppelungsmöglichkeit.
Unternehmens-Evolution: Die Methode der permanenten Entwicklung der geistigen Struktur des Unternehmens in
seinen sieben Werte-Ebenen. Das Unternehmen wird klüger und stärker in einem parallelen Prozess.
2. Talent ohne Interesse nutzt nichts
Wenn Sie also Bewerbungsunterlagen durchsehen und dabei Menschen haben
mit den besten Schulzeugnissen, dann muss das noch nichts heißen.
Gute Personalchefs und gute Personalberater interessieren sich deshalb viel
mehr für Angaben im Lebenslauf oder gar im Begleitbrief zu der Bewerbung, aus
denen hervorgeht, was ein Mensch neben der Schule noch so gemacht hat.
Schülern, mit denen ich öfter in Gymnasien diskutiere, rate ich immer, wenn sie
sich für ein Praktikum oder eine Lehrstelle bewerben, möglichst alles anzugeben,
was sie neben der Schulleistung noch so getrieben haben: Auslandsaufenthalte,
bestimmte freiwillige Kurse, ihre Liebhabereien, was sie in ihrer Freizeit tun, ob
sie in der Schule z.B bestimmte Arbeitsgruppen leiten, an welchen Projekten sie
mitarbeiten, ob sie für die Schülerzeitschrift geschrieben haben.
Das sind alles Signale, dass es ein waches Interesse gibt über die Schulleistung
hinaus.
3. Sich nicht von vermeintlichen "Überfliegern" blenden lassen
Johann Wolfgang von Goethe war ein höchst kluger Mensch. Daran zweifelt
niemand. Von ihm stammt der Satz, Genie sei 2 Prozent Inspiration und
98 Prozent Transpiration. Inspiration sind die Ideen und Geistesblitze, die aus
der Begabung kommen. Transpiration: das ist Schweiß - Mühe und Arbeit.
Ich war und bin immer misstrauisch gegen Menschen, die so tun als ob sie alles
mit links machen und denen alles zufällt. Man kann es drehen und wenden wie
man will, es geht nicht ohne die guten alten Tugenden: Fleiß, Ausdauer, Arbeitsdisziplin, Konsequenz und Lernbereitschaft.
Werden Sie also höchst misstrauisch, wenn Ihnen jemand im Bewerbungsgespräch eloquent verkaufen will, was für ein Genie er ist. Wenn er allzu forsch
und selbstbewusst auftritt, sollte man misstrauisch sein, um nicht auf einen
"Blender" hereinzufallen.
4. Handikaps können besondere Energiequellen sein
Der Psychologe Alfred Adler - ein Schüler von dem der Urvater der Psychologie
Sigmund Freud - hat einmal gesagt: "Wer nie im Leben gestaut wurde, wem alles
zugefallen ist, der plätschert dahin wie ein Waldbach und wird nie Energie
entwickeln". Selbst der kleinste Waldbach kann erhebliche Energien entwickeln,
wenn er gestaut worden ist und wo er gestaut wird. Alfred Adler hat daraus die
Überkompensationstheorie entwickelt: Besonderen Biss gewinnt ein Mensch
dann und da, wo er Probleme überwinden muss.
Dazu gibt es viele Beispiele in der Geschichte: Der alte Grieche Demosthenes,
der ein Stotterer war und mit Kieselsteinen im Mund gegen das Meer anredete.
Er wurde ein bedeutender Redner.
Und Winston Churchill, der ebenfalls als Kind Sprachschwierigkeiten hatte und
in der Schule noch nicht zeigte, was in ihm steckte.
Deshalb sind gerade Menschen, die ein Handikap haben eher diejenigen, die
brennendes Interesse entwickeln und sich entfalten wollen - wenn sie denn Biss
haben.
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze brechen für Behinderte. Ein spastisch
gelähmter junger Mann mit Krücken sagte einmal zu mir: "Der Staat hat mich
dadurch geschädigt, dass er ein Behindertengesetz gemacht hat, uns im Arbeitsrecht Sonderprivilegien zu verschaffen, zum Beispiel bei der Kündigung. Das
verhindert ja eher, dass ich eingestellt werde. Ich kann etwas leisten. Ich kann sehr
viel leisten. Ich habe nur mit meinen Beinen ein Problem, nicht mit meinem Kopf.
Ich will mich engagieren und will zeigen, dass ich etwas kann. Und ich brauche
keine Sonderrechte".
Dieser Behinderte - und davon war ich schnell überzeugt bei diesem Gespräch leistet am richtigen Arbeitsplatz vermutlich sehr viel mehr als mancher mit gesunden Knochen, dessen Hauptinteressen sich nachher an allen möglichen Aufgaben entfalten - nur nicht in der Firma.
Jedes Unternehmen besteht aus zwei Welten:
1. Der materiellen Welt, die in den Inventuren und Bilanzen, den Gewinn- und Verlustrechnungen erfaßt ist.
2. Der geistigen Welt, der Welt der Werte und Ideen, die von Führung und Mitarbeitern gelebt und von Kunden erlebt wird.
5. Wie kommt man hinter das brennende Interesse?
Das erste Signal erfährt man schon oft aus dem Begleitbrief zu den Bewerbungsunterlagen. Ist es ein Routinebrief, vielleicht sogar aus einem Ratgeberbuch
abgeschrieben, wie man sich bewirbt, oder gibt es in dem Brief schon Zeichen
und Signale, dass man sich mit der Firma und ihren Produkten und Leistungen
beschäftigt hat?
Ein Betriebswirtschaftsstudent hatte den Traum in der Organisationsabteilung
von VW in Wolfsburg eine Praktikumsstelle zu bekommen. Das war die Zeit, als
bei VW die Organisation umgekrempelt wurde und es in den Wirtschaftsteilen
der großen Zeitungen Artikel darüber gab. Er hatte sie gesammelt, hatte sich
seine Gedanken gemacht und einige dieser Ideen in dem Begleitbrief zu seinem
Bewerbungsschreiben genannt. Sie waren selbstverständlich unausgegoren,
aber sie zeigten sein ehrliches Interesse an Organisationsfragen bei VW. Nach
wenigen Tagen kam der Anruf aus Wolfsburg, er solle sich vorstellen. Er konnte
sein Traumpraktikum bei VW machen.
Gibt es also Signale in den Bewerbungsunterlagen, aus denen zu sehen ist, dass
der Bewerber sich für Ihre Firma interessiert und schon einiges von ihr weiß?
6. Lassen Sie den Bewerber Fragen stellen
Bei den meisten Bewerbungsgesprächen ist es üblich, dass der Personalchef
dem Bewerber Fragen stellt, wenn er noch Hintergrundinformationen haben will
über das hinaus, was in den Bewerbungsunterlagen steht.
Drehen Sie doch einmal den Spieß um. Sagen Sie dem Bewerber: "Was wir über
Sie wissen wollen, steht in Ihrer Bewerbungsmappe. Deshalb stellen wir Ihnen
keine Fragen. Stellen Sie uns Fragen über unser Unternehmen und die Stelle, für
die Sie sich hier beworben haben". Der Bewerber wird perplex sein. Darauf ist
er oft nicht vorbereitet. Aber dann wird es interessant. Stellt er nur Fragen, um
auszuloten, wie gut es ihm hier in dem Unternehmen gehen wird, also egoistische Fragen oder stellt er Fragen, um auszuloten, wie er sich hier entfalten kann,
was er leisten kann und wie viel Spielräume der Gestaltung er haben wird. Hier
scheiden sich die Geister.
Ich habe einmal bei Anwendung dieser Methoden das Verhalten von zwei
Bewerbern erlebt, die sich für die Stelle eines Direktionsassistenten beworben
haben. Der eine stellte nur Fragen über Arbeitszeiten, Urlaubsregelungen, über
das, was er hier rausholen könnte. Der andere hatte wohl eine panische Angst,
dass er nur der "Kofferträger" des Chefs werden könnte. Er stellte Fragen,
welche Aufgaben er denn hier kreativ selber mit anpacken darf, wie viel Verantwortung er bekommt und wie viel eigenen Gestaltungsspielraum. Dieser Zweite
bekam die Stelle.
7. Auf das Wertesystem kommt es an
Die Intelligenz und das Wissen ist die eine Dimension der Persönlichkeit. Das
Wertesystem und die Philosophie ist die andere. Das Wissen und die Intelligenz
eines Menschen kann man an seinen Zeugnissen und Bewerbungsunterlagen
meist ganz gut erkennen. Anders ist es mit dem persönlichen Wertesystem. Und
es ist die Hauptaufgabe eines Bewerbungsgespräches, dieses Wertesystem zu
durchschauen.
Sucht er nur einen Job und will möglichst billig seine Brötchen verdienen, aber
das "Abenteuer seines Lebens" lebt er in seiner Freizeit? Oder: Ist berufliche
Leistung, berufliche Entfaltung und die Entwicklung seines Könnens ein wichtiger Gipfel in seiner persönlichen Wertelanschaft: Herausforderungen annehmen, Probleme lösen, sich engagieren und Kreativität entwickeln?
Wenn ich es mit solchen Auswahlverfahren zu tun habe und habe zwei Bewerber in der engeren Wahl, der eine ist nach seinen Zeugnissen "schulintelligenter",
der zweite hat schlechtere Schulzeugnisse, aber sein Wertesystem ist in Ordnung, er will lernen und leisten und will sich in einer beruflichen Aufgabe
engagieren und entfalten, dann werde ich jedem Chef raten: Nehmen Sie den
zweiten!
Die wahre Stärke eines Unternehmens liegt nicht in seinem materiellen Besitz, sondern in seinem Wertesystem und seiner
Intelligenz.
Nicht Jobsucher sind gefragt, sondern Gestaltungskräfte
Die Motivationsfrage wird immer dringender. Die lockere Freizeitmentalität ist
fast schon charakteristisch für unsere Gesellschaft. Es ist ja verrückt, die gefährlichen Sportarten nehmen zu: Bungeejumping, Paragliding, Freiklettern und was
es da alles gibt. Und da riskiert man Kopf und Kragen, investiert viel Geld,
engagiert sich und ist höchst kreativ.
Aber im Beruf sucht man ein gesichertes, geregeltes Leben: geregelte Arbeitszeiten, geregelten Urlaub, geregeltes Einkommen. Hier will man nicht die Bohne
eines Risikos eingehen.
Der Philosoph Ernst Bloch hat einmal gesagt: Es gibt zwei Glücke. Das Glück
der wilden verwegenen Jagd - das ist das Glück der Herausforderung im Beruf und das Glück des Genießens. Aber bitte in dieser Reihenfolge: Erst muss die
Beute erjagt worden sein - der Erfolg. Und dann kann man sich auf die Bärenhaut
legen und den Braten verzehren.
Diese Reihenfolge haben heute viele vergessen.
Die Quintessenz:
1. Die Persönlichkeit eines Menschen ist nur zum Teil, etwa zu 50%, durch die Begabung und die Gene
bestimmt. Die andere Hälfte entwickelt sich nur durch brennendes Interesse.
2. Ein Mensch entwickelt dann besonderen Biss, wenn ihm nicht immer alles zugefallen ist. Wenn er
persönliche Handikaps und Widerstände überwinden muss, wird er stark.
3. Versuchen Sie schon bei Sichtung von Bewerbungsunterlagen herauszubekommen, ob der Bewerber
sich vorher wirklich für Ihre Firma und deren Leistungen interessiert hat. Wenn er das hat, wird er
schon interessanter.
4. Lassen Sie ihn im Bewerbungsgespräch Fragen stellen und beurteilen Sie: Lotet er aus, was man
hier an Vorteilen rausholen kann oder was man hier leisten und wie man sich entfalten kann?
5. Viel wichter als Intelligenz und Begabung ist das richtige Wertesystem. Sind Leistung, Engagement
und Lernen ein hoher Wert oder lebt er das "Abenteuer seines Lebens" in der Freizeit und der Job
ist nur da, um seine Brötchen zu verdienen?
copyright: Dr. oec. Manfred Sliwka
Zu guter Letzt - Die Story zum Thema
Über die Frage Begabung und Interesse habe ich zum ersten Mal als kleiner
Junge nachgedacht und mit meinem Vater darüber ein Gespräch geführt. Mein
Vater war Lehrer in einem Moseldorf. Eine seiner Schülerinnen hieß Erika, ein
gut aussehendes Mädchen, aber - wie mein Vater meinte, um es vorsichtig
auszudrücken - nicht die Klügste.
1945, etwa drei bis vier Wochen, nachdem die Amerikaner unser Moseldorf
besetzt hatten, stand diese Erika vor unserem Haus. Sie hatte mit einem "Ami"
angebändelt und kauderwelschte mit ihm in Englisch. Erika hatte als
Volksschülerin in der Schule nie Englisch gelernt - im Gegensatz zu mir als
Schüler des Gymnasiums in Traben-Trarbach. Es war nicht sehr anständig,
aber ich hörte hinter der Tür dem Gespräch zu und wurde glühend neidisch.
Ich hätte mir nicht zugetraut, so mit dem Amerikaner zu reden.
Da ging ich wütend zu meinem Vater und sagte: "Mit euren Unterrichtsmethoden
in der Schule kann es wohl doch nicht stimmen. Hör dir die Erika an, wie
locker sie mit dem Ami plaudert. Sie kann das ja besser als ich mit meinem
Englischunterricht". Da gab mein Vater die Antwort, die ich nie vergessen
habe: "Die Erika hat ein Motiv, Englisch zu lernen. Und du hast nie eines
gehabt".
Evolution ist Erkenntnis- und Ertragsgewinn in Rückkopplung: Die Zahlen folgen den Ideen - die Ideen den Werten.
DR.
OEC
MANFRED SLIWKA
WIESENHAUS . D-54533 N-SCHEIDWEILER . VULKANEIFEL
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