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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Ich bin dann mal weg
Schulverweigerer und die Ratlosigkeit des Umfeldes
AutorIn:
Ines Molfenter
Redaktion:
Petra Mallwitz
Regie:
Günter Maurer
Sendung:
Mittwoch, 27.07.2016 um 10.05 Uhr in SWR2
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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MANUSKRIPT:
Atmo: Unterschiedliche Wecker oder Weckruf aus I Phone
1. O-Ton: Vater klopft an die Tür: Bist du wach?
2. O-Ton: Vater: Klopft – „Aufstehen“.
Atmo: In die Weckmusik vom Smartphone hinein.
3. O-Ton: Josh:
Ja natürlich wacht man morgens auf und der erste Gedanke ist daran, was ist heut
für ’n Fach? Was kann ich ausfallen lassen? Wo könnte mich der Lehrer anrufen und
wo nicht. Zweiter Gedanke - wo sind die Eltern, wo ist Mama, wo ist Papa, wann
gehen die und wohin gehen die und wie lange sind die weg?
4. O-Ton: Vater:
Wir ham ne Weile geglaubt, er geht morgens in die Schule und kommt mittags nach
Hause und dann kam ein Anruf vom Lehrer. „Ihr Sohn kommt nicht mehr in die
Schule“. Da wussten wir’s plötzlich und da standen wir auch völlig konsterniert davor.
Das haben wir überhaupt nicht realisiert, weil, das passt nicht in ein Schema, dass
einer sagt, er geht in die Schule und geht dann nicht hin.
Atmo: Laufende Kaffeemaschine, Radiomusik im Hintergrund.
5.O-Ton: Josh:
Man guckt zuerst auf den Stundenplan, was für Fachstunden man hat und wenn die
Fachstunden nicht gut sind – sprich - also keine Hausis gemacht, nicht für die
Vokabelarbeit gelernt. Man könnte womöglich eins aufs Dach kriegen, … man
schreibt ne schlechte Note und das möchte man dann natürlich vermeiden.
Autorin:
Josh ist 17. Er geht auf die freie Waldorfschule in die elfte Klasse, hat sich aber weit
von dem aktuellen Stoff entfernt. Woran es liegen könnte, dass er mit dem
Schwänzen begonnen hat, kann er nicht genau sagen. Angefangen hat es in der 9.
Klasse.
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5b. O-Ton: Josh:
Am Anfang guckt man noch auf die Fächer, aber irgendwann guckt man nicht mehr
auf die Fächer, da sagt man dann Schule ist Schule und die schwänz ich einfach.
6. O-Ton: Vater:
Und jetzt wurden natürlich für uns die Gesprächsgrenzen wesentlich enger. Jetzt
konnte man nicht mehr sagen: „Wie war’s in der Schule oder so“, sondern: „Warst du
in der Schule?“ Wir haben abends mit ihm Gespräche geführt, aber wir ham plötzlich
gemerkt, dass er ganz weit entfernt ist. Urplötzlich war er eigentlich weg. Eigentlich
wäre einander in die Arme fallen wichtig gewesen: „Junge, wir können dich
verstehen“. Und irgendwie macht man das vielleicht nicht. Das passt einfach nicht ins
Schema, dass sein Kind nicht in die Schule geht. Da ist so’n altes Dilemma drin im
Kopf.
Autorin:
Die Lehrer verlieren die Geduld und wollen Josh loswerden. Als der Klassenlehrer
Joshs’ Vater am Telefon davon in Kenntnis setzt, ruft dieser umgehend seinen Sohn
an.
6a. O-Ton: Josh:
Der allererste Gedanke: „Wie soll’s jetzt weitergehen? Mein Papa hat das damals
auch nicht wirklich vorsichtig ausgedrückt - da war ich nämlich gerade in der S-Bahn,
als der Anruf kam - dass die mich nicht mehr haben wollen. Und dann ist bei mir
so’ne Art innere Verzweiflung aufgetaucht. Weil ich dann echt nicht wusste, bleib ich
jetzt oben auf der Schule, wohin werd ich kommen?
Autorin:
Die Eltern schlagen Alarm, reden mit den Lehrern und Josh bekommt noch einmal
eine Chance..
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7. O-Ton: Vater:
Also, ich muss vielleicht noch etwas beschreiben. Ich war enttäuscht, ich war sauer.
Ich war - sagen wir mal stinksauer. Denn ich hatte Gespräche mit ihm geführt und
hatte auch gesagt: „Hör mal zu. Was meinst du, was du mal später in deiner Zukunft
machst?“ Hab ihm auch paar belämmerte Berufe vorgeführt, bei denen man sehr früh
aufsteht, sehr dreckig wird und sehr spät nach Hause kommt, weil ich dachte: Es
schreckt ihn vielleicht ab - nix da.
Autorin:
Kein Wunder, dass alle Argumente des Vaters den Sohn nicht erreichen. Der Drang,
dem schulischen Druck zu entgehen, ist stärker als jedes Pflichtgefühl. Doch wie ist
es so weit gekommen? Auf der Homepage des Rather-Modells, einer Einrichtung für
Schulverweigerer, findet man ein paar Antworten auf die Frage, was sich hinter
chronischem Schwänzen verbergen könnte:
Zitator/in:
Persönliche Lebenskrisen, oft ausgelöst durch außergewöhnliche Situationen (z.B.
Tod eines Familienangehörigen, Mobbing, Umzug, Trennung), Krisen in den
Familien, Angst davor, nicht genügend Leistung in Schule und Beruf zu bringen,
Beziehungsstörungen mit den Lehrern. Probleme mit dem Selbstwertgefühl.
Ungünstige Lebensumstände oder ein sozial schwieriges Wohnumfeld.
Autorin:
Viele Schulverweigerer beschreiben es im Rückblick so, dass sie im Unterricht mit
ihren Gedanken ganz woanders waren. Mit ihren eigenen Problemen beschäftigt,
zieht der Schulstoff vorüber, ohne in der Erinnerung haften zu bleiben – Bei Josh
kommt einiges zusammen, Freundschaften gehen in die Brüche, seine Eltern trennen
sich, haben beide neue Lebenspartner.
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8. O-Ton: Vater:
Wenn ich zurückblicke, dann weiß ich, dass das mit dem Schwänzen genau zur der
Zeit angefangen hat, als meine Frau und ich uns getrennt haben. Josh hat
ungeheuer viel mitgetragen, war immer verständnisvoll, hat sich nie auf eine Seite
geschlagen, sondern immer versucht, beide zu verstehen, mehr als seine
Geschwister. Obwohl sich meine Frau und ich immer noch gut verstehen und wir
immer versucht haben, konstruktiv miteinander umzugehen, haben wir gerade Josh
zu wenig Beachtung geschenkt, an zu vielem vorbeigeschaut, aus Überlastung, aber
auch falsch verstandenes Laisser-faire gehört immer dazu.
9a. O-Ton:Luis:
Und zwar fing das da ab der sechsten Klasse dann an mit dem erhöhten Druck im
Unterricht, wo ich dann Sachen alleine machen musste, die ich gar nicht konnte, die
ich nicht hatte in dem Fach.
Autorin:
Luis ist 16 Jahre alt und hat manches ganz ähnlich erlebt wie Josh.
9a. O-Ton:Luis:
Wo Schüler drüber geredet haben, über’s Schwänzen, da hab ich mir gedacht: „Ok,
machst mal mit“ und dann hat’s mir hinterher gefallen, weil ich mich einfach ganz
alleine und frei gefühlt hab. Weil ich einfach der eigene Herr im Wald draußen sein
konnte und in der Stadt sein konnte. Weil ich mich einfach nur noch frei gefühlt hab
von dem ganzen Unterrichtsdruck.(( Ich mein, ich wurde schon des Öfteren erwischt
beim Schwänzen vom Ordnungsamt, aber wirklich daraus gelernt, hab ich noch nicht
daraus weil das einfach für mich so ein Punkt war, dass ich gesagt hab, es geht nicht
anders.))
Autorin:
Für Luis gehört die Schulverweigerung inzwischen der Vergangenheit an. Doch er
erinnert sich noch gut daran, wie er damals mit dem Schwänzen angefangen hat.
10. O-Ton: Luis:
Ich hab dann meistens gesagt, ich geh zur Schule und hab dann meine Schultasche
gepackt und bin dann irgendwie nach Köln, nach Dortmund, was weiß ich wohin
gefahren. Ich hatte ja das Ticket, das von der Schule bezahlt wird und dann fährst du
erst mal ne Runde und schwänzt die Schule.
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Autorin:
Doch gleichgültig wie weit Luis auch fährt, er weiß: seiner Angst vor den
Konsequenzen, kann er nicht entfliehen.
11.O-Ton: Luis:
Ja, da war auch so’n Gefühl, das hat man immer bei sich, dass man sich gedacht
hat: „Von wegen, meine Zukunft wird dadurch ziemlich kaputt gehen, weil man eben
schwänzt, aber trotzdem hat man immer dieses Gefühl frei zu sein, ein freier Mensch
zu sein.
Autorin:
Schwänzen ist für Luis bald nicht das einzige Problem. Anfangs, sagt er, hat er sich
von Mitschülern zu Schlägereien anstiften lassen, doch bald werden sie ein Ventil für
ihn, um Druck abzubauen. Er wird zu einem schulbekannten Schläger.
18. O-Ton: Luis:
Das war so’n Gefühl, das kann man eigentlich gar nicht beschreiben. Man hat sich
halt stark gefühlt, weil man jemand das Gesicht eingetreten hat oder sonst was. Und
dann hat man sich halt stark gefühlt und dachte, man ist unverwundbar, einfach so
drauf zuzuschlagen.
Autorin:
Nachdem er an einer Gesamt- und einer Förderschule gescheitert ist, hat er das
große Glück auf einen Berater vom Jugendamt zu treffen, der ihm hilft, sich an einer
besonderen Schule anzumelden.
Atmo: Hammondorgel (Rather-Modell-Thema)
Autorin:
So fröhlich klingt die Erkennungsmelodie des Rather Modells. Sie soll Weckruf und
Mutmacher für schulmüde Schüler sein. Die Halle 14 des Rather Modells ist ein
Kooperationsprojekt mit der Jugendberufshilfe - für junge Leute, die die Schule
verweigern. Viele erleben hier, dass Schule sogar Spaß machen kann. Luis fällt hier
das Lernen plötzlich leicht. Mit anderen geschlagen, hat er sich in den letzten 20
Monaten auch noch nicht.
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Atmo: Gemeinsames Frühstück (Schon langsam unter der nächsten Szene)
12. O-Ton: Sonja:
Ich finde das so schön. Ich hab das auch einmal gesagt: Das ist so’n bisschen wie
zusammen leben. Wir kochen ja auch zusammen und wir frühstücken zusammen.
Autorin:
Das Schulgebäude liegt versteckt in einem Hinterhof. Eine pittoreske Romantik liegt
über der ehemaligen Gewerbehalle mit der Eisentreppe und dem Grün, das im
Sommer den Eingangsbereich bekränzt. Über eine Steintreppe betritt man einen
großen Raum – die Wände sonnenblumengelb.
Atmo: Gemeinsames Frühstück (liegt unter der nächsten Szene)
Autorin:
Schüler und Lehrer sitzen gemeinsam um einen großen Tisch. Bei Kaffee, Saft,
Butter, Marmelade und Brötchen wird über das gemeinsame Mittagessen
gefachsimpelt. Die Stimmung erinnert an eine Großfamilie am Frühstückstisch.
Gegenüber von Luis sitzt Sonja Eck. Sie ist seit 13 Jahren dabei und erzählt, wie ihr
damaliger Schulleiter sie als junge Lehrerin überraschend ins Rather-Modell gesteckt
hat:
13. O-Ton: Sonja Eck:
14–18jährige Schulschwänzer. Oh, hab ich gedacht, drei Nächte nicht gut
geschlafen. Weil das war ne Altersklasse, die ich nie wollte und dann auch noch
Schulschwänzer, ob du das schaffst? Und dann kam ich hier an und hab mich sofort
in die Arbeit verliebt, fand das wundervoll und hab sofort n Aufbaustudium begonnen.
Bin seit 13 Jahren hier mit zwei Pausen, ….und finde diese Arbeit, ganz, ganz, ganz,
ganz, ganz toll.
14. O-Ton: Luis:
Wir machen Kunst, wir nähen zusammen, dann machen wir oben mit Ton Teller und
Aschenbecher. Im Catering außerhalb der Schulzeit verdienen wir Geld und wenn
wir’n Cateringauftrag bekommen, das ist so was wie ne Schülerfirma und Kunst
machen wir dann auch noch, zeichnen, wir machen halt viele, große Bilder für
Schulen, also wir machen so gut wie alles hier.
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Autorin:
In der Catering-Firma, die sich aus der Koch AG entwickelt hat, arbeiten sechs von
25 Schülern.
Atmo: Im Essensraum (nicht ) Küche – Kochanweisungen, also derselbe Raum, wie
beim Frühstück.
Autorin:
Jugendliche, die teilweise schon vor Jahren aus der Schule ausgestiegen sind,
können dieses Muster der Verweigerung nicht von heute auf morgen ablegen. Sie
brauchen intensive Begleitung. Bei sehr belasteten Jugendlichen, denen an einem
Tag plötzlich alles zu viel ist, kommen die Lehrer auch manchmal nach Hause um zu
sehen, was los ist. Sie helfen beim Nacharbeiten eines nicht verstandenen
Lehrstoffes, manchmal steht ein Gespräch mit der Familie an oder es geht einfach
nur um das Zeichen: Wir schauen nach dir.
15. O-Ton: Sonja:
Das Schöne ist hier, dass ich hier ganz viel Beziehungsarbeit machen kann. Also, ich
kann auf jeden hier wirklich speziell zugehen, kann versuchen ihn da abzuholen, wo
er steht und das ist meiner Erfahrung nach auch das einzige, was wirkt.
Atmo 2: Musik - Probengeräusche, sehr dezent anfänglich und fängt auch soft an…..!
Autorin:
Begegnung zwischen Lehrern und Schülern findet auch beim Musik machen statt.
Der Probenraum liegt zwischen dem Lehrerzimmer und den Unterrichtsräumen.
Gleichgültig, ob es um Kochen, Malen oder Musik machen geht. Jeder kann hier
seine Stärken kennen lernen, verschüttete Interessen wieder beleben – Vertrauen
gewinnen, dass er seine Zukunft selbst gestalten kann.
16. O-Ton: Sonja:
Ich guck mir auch niemals die Akte an, sondern ich lass die Menschen erstmal
kommen und guck mal wie der ist, und was denn da ist. Dann lese ich manchmal
Wochen, Monate später die Akte und denke, huch, so ist der beschrieben worden
oder sie beschrieben worden, und stelle fest, total anders.
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Autorin:
Doch bei all den Freiheiten und Aktivitäten, steht der Schulabschluss im Fordergrund.
17. O-Ton: Sonja Eck:
Wenn ich unterrichte, dann bin ich die Lehrerin. Das ist ja ganz klar, dann versuche
ich mein Wissen an die weiterzugeben, die müssen’s ja auch lernen. Die zentralen
Abschlussprüfungen und die sind ja egal wo gleich. Also vorbereiten müssen wir die
schon dahin.
Atmo: Küche – Koch AG, brutzeln…oder noch einen Teil aus Atmo: Koch AG Essensraum
17. a O-Ton Sonja:
Aber so Situationen, miteinander in der Küche stehen und Kartoffeln schnippeln,
dann erzählen die einem alles. Die erzählen einem, warum es so schlecht geht, was
zu Hause abging - in Situationen, wenn man oben werkt, wenn man mit Ton arbeitet
und so, dann sitzt man nebeneinander und die öffnen sich. So, und weil wir hier ja
diese Möglichkeiten haben, Catering, Werkstatt, Musik machen, dass die dann
zusammen da sitzen und plötzlich in ner Pause oder ne Musikpause machen und
dann sprudelt das einfach.
Atmo: 2 oder 3 Musik aus dem Probenraum. Schlagzeug/laut…langsam in
Sprechertext ausblenden oder hart raus, weil Szenenwechsel.
Autorin:
Während Luis durch das Rather Modell wieder Hoffnung für seine Zukunft hat,
kämpft Josh noch immer gegen den Druck. Da bleibt er lieber gleich zu Hause, chillt
und hört Musik, als sich all den besserwisserischen Ratschlägen und Bewertungen
von Mitschülern und Lehrern auszusetzen:
20. O-Ton: Josh:
Vor allem die Lehrer denken, sie machen das Richtige, nur sie machen’s einfach
nicht. Weil sie nämlich nur das tun, was sie können- und zwar heißt das: unterrichten.
Aber sie kennen uns ja gar nicht. Die Lehrer kennen uns ja nicht. Bei mir kam zum
Beispiel nie die Frage hoch, von den Lehrern persönlich: „Ja, hey wie geht’s dir?“
„Warum schwänzt du Schule?“ „Was ist los?“ „Was ist bei dir schief gelaufen?“
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Autorin:
Die Wünsche von Josh könnten aus einem Lehrbuch sein. Was Pädagogen in dem
Programm „Schulverweigerung - Die zweite Chance“, in ihrem Ratgeber formulieren,
klingt ganz ähnlich. Die Initiative, finanziert vom Bundesministerium, gibt den Lehrern
konkrete Fragen an die Hand, die sie dem Schüler stellen können, bevor er droht,
ganz verloren zu gehen.
Zitator/in (abwechselnd):
Ich mach mir Sorgen um dich. Was ist los mit dir, dass du nicht in der Schule bist?
Wo/in welchem Fach ist besonders spürbar, dass du fehlst?
Wie kann ich dich darin unterstützen, dass du wieder regelmäßig die Schule
besuchst?
Wie können dich die Mitschüler darin unterstützen, dass du wieder regelmäßig
in die Schule kommst?
Wie können dich deine Eltern darin unterstützen, dass du wieder regelmäßig
die Schule besuchst?
21. O-Ton: Vater:
Die Lehrer haben leider Gottes genauso wie ich reagiert. Enttäuscht, kalt, kommt
nicht zur Schule. Und dann kam noch was ganz Schlimmes dazu. Es ist ja so, wenn
einer nicht zur Schule geht, dann macht der ja irgendwas anderes. Man hat gesagt,
der Junge dealt, hat irgendetwas mit der Drogenszene zu tun - würde völlig
abgestürzt sein, und das war natürlich für meinen Sohn das absolute Aus. Weil
urplötzlich hat ihn nicht nur keiner verstanden in seiner Verzweiflung. Die ham ihn in
eine Ecke geschoben, wo er nie rein wollte. Das ist keine Hilfe, das ist keine Brücke
für das Kind, weil das Kind steht ja plötzlich vor verschlossenen Türen.
Autorin:
Weitere Fragen für Lehrer:
Zitator/in abwechselnd:
Angenommen, du wärst wieder in der Schule, was wäre ein guter Tag für dich?
Mit wem sollten wir zusammen sprechen, dass es dir wieder möglich ist, die
Schule zu besuchen?
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Wen sollten wir über Inhalte des Gesprächs informieren?
Autorin:
Oder verschiedene Maßnamen:
Zitator/in:
Mitschüler, der vorab schon für Hausaufgaben bestimmt war, Hausaufgaben
vorbeibringen lassen
Brief aus der Klasse an den Schüler schicken
Einzelne Mitschüler bitten, ihn zu kontaktieren
Schüler bitten, morgens bei ihm zu klingeln, um ihn abzuholen
Selbst einen Hausbesuch machen
22. O-Ton: Josh:
Eine Situation gab‘s zum Beispiel auch, da hab ich unten in der Cafeteria gesessen
mit der Hälfte der Klasse und ((an diesem Tag, es war der letzte Tag vor den
Osterferien, es war der Freitag, da war dieses Gespräch mit meinen Eltern am
Abend. Ich war aber noch mittags in der Schule und)) mein Klassenbetreuer kommt
rein und fragt, wer denn Schürzen über die Herbstferien waschen könnte, weil die
noch von einem Fest übrig gewesen sind. Niemand hat sich gemeldet und da hab ich
mich gemeldet. Mein Klassenbetreuer kommt wirklich zu einem 16jährigen Jungen
hin und fragt: Traust du dir das wirklich zu? Und ich erst mal völlig baff, dass er mich
das gefragt hat, so ajaja klar, wieso nicht. Mein Klassenlehrer sagt dann ganz
plötzlich: Nicht, dass du die Schürzen noch an irgendjemand anderen vertickst. Also
war ich praktisch schon ab diesem Moment als Drogendealer und Drogenabhängiger
abgestempelt, so dass sich das genialerweise in der Schule rumgesprochen hat, so
dass ich praktisch an jeder Ecke angesprochen wurde, na, hm…? Ham wir heute
wieder dein Gras gekauft? Oder haun wir das ganze Geld für Gras raus?
Autorin:
Die wenigsten Lehrer, gleichgültig ob an Regel- oder Waldorfschulen, kennen die
Fragen, die Karlheinz Thimm den Pädagogen im Umgang mit Schulverweigerern ans
Herz legt. Josh jedenfalls hat das Gefühl, dass seine Lehrer mit Unverständnis und
Wut auf ihn reagieren.
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23. O-Ton: Sonja:
Ich glaube, das liegt ja an der Rolle des Lehrers, wie sich der Lehrer selber sieht.
Und da ist, glaub ich, ganz viel im Argen, würde ich sagen. Ich denke einfach, dass
Lehrer der Regelschule sich als Wissensvermittler sehen und. Die interessiert es
nicht, warum einer zu spät kommt, was da Zuhause abgegangen ist und ich glaube
auch, so ist es mir gegangen, als ich meine erste Schülerin hatte und habe die Akte
durchgelesen, ich war fix und alle. Das kann man sich nicht vorstellen, was da zu
Hause passiert ist. Alles, was ich am Ende des Tages sage – ja, Schule ist da so was
von nebensächlich. Also wenn ich so was in meinen jungen Jahren in meinem Leben
erlebt habe, dann brauch ich keine Schule mehr. Hab ich schon so viel durch. Das
interessiert halt Regelschullehrer nicht. Du hast zu performen, du hast deine Leistung
zu erbringen, erbringst du sie nicht, bist du raus.
Autorin:
Dabei gibt es Möglichkeiten, die Schüler wieder in die Schule einzubinden. Das sollte
jedoch so schnell wie möglich geschehen, da das Schule schwänzen chronisch
werden kann. Zentral für den ersten Schritt ist:
Zitator/in: …
eine Haltung des Willkommenheißens und eines neuen Beziehungsaufbaus.
Verabschieden Sie sich von dem Druck, in diesem ersten Gespräch schon zu
erreichen, dass der Schüler am Folgetag wieder am Unterricht teilnehmen wird.
Vermitteln Sie dem Schüler, dass er für die Klasse und für die Schulgemeinschaft
wichtig ist und er auch Ihnen als Lehrkraft fehlt.
Autorin:
Also ein Netz aufzubauen, das den Schüler versucht, wertschätzend und positiv zu
erreichen.
24. O-Ton: Josh:
Ich verbinde Schule im Moment mit Verzweiflung und Aggression. Zum Beispiel, hab
ich meinem Klassenbetreuer guten Morgen gesagt und es ist niemand im Gang
außer wir beide und wir sind wirklich nur 50 cm voneinander weg.
Ich sag „Guten Morgen“ er läuft an mir vorbei, als ob ich nur Luft wäre.
Wenn die Lehrer dich anfangen zu ignorieren und du dann heimkommst, dann bist
du mehr oder weniger überhaupt nicht mehr fähig, irgendwas zu machen. (Rest bitte
wegschneiden)
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Autorin:
Der zweite Schritt der Lehrer sollte sein, sich mit den Eltern auszutauschen,
Sozialpädagogen, Schulpsychologen mit einzubeziehen. Wenn diese hilfreiche
Vernetzung fehlt und negative Bewertungen an dessen Stelle treten, wird die Not des
Kindes vergrößert.
25. O-Ton: Vater:
Das heißt, ich hab so‘n bisschen den Eindruck, dass er wie in einem dunklen Raum
war, dass er mit seiner Hand die Wände abgesucht hat nach einer Klinke, nach einer
Tür, nach irgendwas und nichts gefunden hat. Und so kam es, dass er sich sehr
hilflos fühlte und wir uns, ich vor allem, sehr hilflos fühlten, weil wir gar nicht wussten,
wie wir ihm helfen können.
Autorin:
Sagt Josh Vater. Und auch Luiss Eltern kamen an ihre Grenzen. Sie beschwörten
Luis, drohten ihm mit dem Heim – am Ende holten sie das Jugendamt ins Boot:
26. O-Ton: Luis:
Die haben sich totale Sorgen gemacht, die haben sogar geweint, wo ich auf der
Regelschule war, ich war auch schon öfters dabei, wo die dann im Schlafzimmer die
Tränen fließen lassen haben. Die ham gesagt, so kann das nicht weitergehen. Weil
in der Zeit hatte ich auch nur sechsen aufm Zeugnis, bin zweimal sitzen
geblieben….(bitte sauber schneiden) und irgendwann bin ich dann mit meinem
Jugendamtbetreuer hab ich mich dann zusammengesetzt und wir haben diese
Schule hier rausgesucht. Seitdem klappt alles perfekt.
Atmo oder Musik von Probenraum im O-Ton einblenden und weiter laufen lassen.
27. O-Ton: Sonja:
Wenn die hier sind, müssen die nicht so aggressiv sein, die müssen nicht `n
Vokabular benutzen, was sie vielleicht sonst benutzt haben, weil hier sich fallen
lassen können, mein ich also, sie können sie selber sein. Seiten von sich zeigen, die
sie vielleicht inner anderen Schule gar nicht zeigen konnten, weil man da performen
muss, weil man da cool sein muss und hier kann man einfach mal `n schlechten Tag
haben, kann mal so sein, wie man ist.
13
Autorin:
Doch wer finanziert Schulaussteigerprojekte wie das Rather-Modell? In diesem Fall
ist der Träger die Jugendberufshilfe Düsseldorf. Die Jugendlichen werden hier von 3
sonderpädagogischen Lehrkräften und einem Sozialpädagogen gefördert und
betreut. Auf die 25 Jugendlichen hier kommen also 4 Fachkräfte. In einer Klasse sind
höchstens acht Schüler.
Atmo: Pingpongspielen, unspezifische Geräusche vieler Schüler
28. O-Ton: Sonja:
Ist natürlich traumhaft, aber eigentlich entspräche das ja genau der Theorie, was ich
damals an der Uni gelernt hab. Eigentlich hieß es damals noch, dass du Schüler mit
sozial-emotionalen Schwierigkeiten, sechs bis acht und zu zweit unterrichten solltest.
Aber das wäre natürlich nicht zu bezahlen.
29. O-Ton: Luis:
Das ist hier wie ’ne normale Schule, sag ich mal so, nur dass der Unterricht da viel
lockerer ist, die Lehrer sind viel lockerer, vor allem, man kann mit den Lehrern viel
mehr Spaß machen, hier wird niemand unter Druck gesetzt. Die Lehrer geben einem
Zeit für Unterricht an, sobald die Lehrer wissen, was geschehen ist, warum man
geschwänzt hat, setzen sie sich auch intensiv miteinander zusammen und klären die
Sache. Also, ich sag mal so, es fühlt sich schon besser an, weil wir können
untereinander reden, was passiert ist und gemeinsam gegen unsere Probleme dann
kämpfen. Und so bekommt man ein besseres Gefühl davon, dass man sich ändern
muss.
30. O-Ton: Sonja:
Aber auch im Catering ist der wunderbar. Also der packt mit an, der kocht, der kann
sehr charmant dann mit Gästen umgehen. Super Seite, die hier rausgekommen ist,
wie wir finden.
Autorin:
Luis wird im nächsten Jahr seinen 10te Klasse – Abschluss machen. Bei Josh ist
noch nicht so klar, wie es weiter geht. Aber auch bei ihm hat sich was getan. Er
erzählt, dass es ihm, seit ein Teil der Lehrerschaft mehr Verständnis für seine
Situation zeigt, wieder leichter fällt, die Schule zu besuchen. Seine Mutter hat
Kontakt zu Helfern der zweiten Chance aufgenommen, einer bundesweiten Initiative
für Schulverweigerer. Finanziert wird die zweite Chance vom Bundesministerium.
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Josh hat jetzt einen Sozialpädagogen an seiner Seite, der zwischen ihm und den
Lehrern vermittelt. Ob Josh sich wieder völlig in den Schulalltag integrieren kann,
kann er selbst nicht mit Sicherheit sagen, auch, wenn er es klar als Wunsch
formuliert.
31. O-Ton: Vater:
Er sagt, ich weiß nicht, ob ich es schaffe, obwohl er es wirklich will, aber es ist
vielleicht so, wenn man zu lange in einer solchen Diaspora lebt, in einem für sich
selbst so anscheinendem Verstoßen sein, von Schülern, von Lehrern ….dann hat
man Ziele verloren, denn die Zeit des Aussetzens war einfach viel zu lang.
32. O-Ton: Josh:
Wenn du ungefähr drei Jahre lang Schule schwänzt, kann man so sagen, also nicht
drei Jahre hintereinander, sondern wirklich in der Woche zwei-, drei Mal, dann ist das
einfach so, dass man dann einfach auch die Kraft verliert und einem fehlen dann
auch einfach die Grundlagen.
Autorin:
Bei Luis klingt das ganz anders.
33. O-Ton: Luis:
Seitdem das hier mit den Lehrern intensiver wurde, so dass ich wirklich stärker
unterrichtet wurde ((und mir wurde alles perfekt erklärt)), man saß nebeneinander,
man hat sich gegenseitig geholfen - seitdem geh ich einfach nur noch gerne zur
Schule, ich hab keinen anderen Gedanken als zur Schule zu gehen.
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