Psychologie aktuell: Freier (Wille) als gedacht

Psychologie aktuell: Freier (Wille) als gedacht
29-07-16
Freier (Wille) als gedacht
Wie frei sind wir in unserem Tun? Sind unsere Handlungen schon lange vor der bewussten
Entscheidung im Gehirn angelegt? Das Libet-Experiment aus dem Jahr 1984, das diese
Schlüsse nahelegt, gilt bis heute als wichtigstes Experiment zum freien Willen. Nun präsentiert
ein Team um Wissenschaftler des Universitätsklinikums Freiburg eine alternative Erklärung für
das Experiment und stellt damit klar: freier Wille und bisherige neurobiologische Experimente
widersprechen sich nicht. Ihre umfassende Erklärung, die durch mehrere Studien der letzten
Jahre gestützt ist, haben sie am 14. Juli 2016 erstmals im Fachjournal Neuroscience &
Biobehavioral Reviews vorgestellt.
Im Jahr 1984 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, das bis heute wegweisend
ist für die Hirnforschung zum freien Willen. Die Versuchspersonen sollten eine spontane
Handbewegung machen und danach den Moment angeben, in dem sie sich für die Handlung
entschieden hatten. Da die Probanden während des Experiments auf eine schnell laufende Uhr
sahen, konnten sie den Zeitpunkt der Entscheidung sehr präzise benennen. Dieser lag etwa 200
Millisekunden vor der Bewegung selbst. Die Forscher konnten aber schon eine Sekunde vor der
Handbewegung ein spezifisches Hirnsignal messen, das Bereitschaftspotenzial. Dieses begann etwa
eine bis 1,5 Sekunden vor der Bewegung, stieg dann an und erreichte mit der Bewegung seinen
Höhepunkt. Libet und viele andere interpretierten den Befund so, dass das subjektive Gefühl der
freien Willensentscheidung eine Illusion sei, da das Gehirn die Handlung schon weit früher vorbereite.
Hirnsignal erleichtert Entscheidungen, aber löst sie nicht aus
Nun legen Forscher um Prof. Dr. Stefan Schmidt, Psychologe an der Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, eine alternative Erklärung vor, die mit dem Prinzip
des freien Willens in Einklang steht. Anders als bislang sehen sie den Anstieg des
Bereitschaftspotenzials nicht als Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern als ein
Begleitphänomen.
Das frühe Bereitschaftspotential bis etwa 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn der Handlung ergibt
sich vermutlich aus sehr langsamen Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität. Schwingen
diese langsamen Hirnpotentiale in den negativen Bereich, wird das Gehirn offensichtlich reaktiver:
Reaktionszeiten verkürzen sich, die Wahrnehmung wird sensibler. In diesen negativen Phasen
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entschieden sich die Probanden auch im Libet-Experiment überdurchschnittlich häufig für eine
Spontanbewegung, wie die Forscher zeigen konnten.
Da die Versuche im Libet-Experiment in der Regel häufig wiederholt und gemittelt werden, addieren
sich diese negativen Schwankungen auf und ergeben so das Bereitschaftspotential. Wir wissen aus
den Experimenten, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber
nicht auslöst. Es ist einer von vielen Einflussfaktoren , sagt Prof. Schmidt.
Dass das Bereitschaftspotenzial und die Entscheidung weit weniger stark zusammenhängen als
bislang gedacht, wiesen die Forscher 2013 nach, indem sie selbst das Libet-Experiment durchführten.
Anders als üblich werteten sie jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt bis zu 40
Durchgänge zu mitteln. Es zeigte sich, dass das Hirnsignal in einem Drittel der Durchgänge positiv
oder neutral war statt wie erwartet negativ. Das widerspricht der gängigen Annahme, dass der
Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist , so Prof. Schmidt. All diese Erkenntnisse sind in
die von den Wissenschaftlern entwickelte Slow Cortical Potential Sampling Hypothese oder kurz
SCP-Hypothese eingeflossen.
Meditationsgeübte können Handlungsimpuls kontrollieren
Die Forscher haben auch eine Erklärung dafür, weshalb die meisten Entscheidungen gefällt werden,
während die langsamen Schwankungen im negativen Bereich sind. Das Ansteigen des
Bereitschaftspotenzials wird offensichtlich als innerer Impuls oder Bedürfnis verspürt, sich für die
Handlung zu entscheiden , sagt Prof. Schmidt.
Die Wissenschaftler führten das Experiment auch mehrfach mit meditationserfahrenen
Versuchspersonen durch. Diese sind aufgrund der Stabilisierung ihrer Aufmerksamkeit besser als
nicht Meditierende in der Lage, innere Vorgänge zu beobachten und zu berichten. Einem
Meditationsmeister gelang es, den inneren Impuls zum Handeln, also die negative Schwankung,
zuverlässig zu identifizieren. Folgte er dem Impuls, verstärkte sich das Bereitschaftspotential wie
erwartet. Handelte er ohne Impuls, wurde es schwächer. Verzögerte er die Handlung nach dem
Impuls, verschob sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend. Wir werden nicht nur nicht vom
Bereitschaftspotenzial bestimmt, wir können es sogar bewusst verändern , sagt Prof. Schmidt.
Originaltitel der Studie: Catching the Waves − Slow Cortical Potentials as Moderator of Voluntary Action. DOI:
10.1016/j.neubiorev.2016.06.023
https://idw-online.de/de/news656339
HEINZE, M., FUCHS, T., REISCHIES, F. (HRSG.): Willensfreiheit
Psychiatrie
eine Illusion? Naturalismus und
Pabst/Parodos, 256 Seiten, ISBN 978-3-89967-337-1
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