SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden…“ Beethovens Taubheit und seine Konversationshefte (5) Von Susanne Herzog Sendung: Redaktion: Freitag, 22. Juli 2016 (Wiederholung von 2013) 9.05 – 10.00 Uhr Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Susanne Herzog „Mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden…“ Beethovens Taubheit und seine Konversationshefte (5) SWR 2, 18. Juli – 22. Juli 2016, 9h05 – 10h00 Mit Susanne Herzog. Heute die letzte Folge zu Beethovens Taubheit und seinen Konversationsheften. 0‘06 Titelmusik „Frau Beethoven: Zur Intrigue gebohren, ausgelernt in Betrug, Meisterin in allen Künsten der Verstellung“ notierte Beethoven im Frühjahr 1820 in ein Konversationsheft. Weniger als Mitteilung an einen Besucher, vielmehr eine Zusammenfassung seiner Meinung über „Frau Beethoven“ oder auch die „Königin der Nacht“ von ihm genannt. Gemeint war die Mutter seines Neffen Karl, mit der er sich jahrelang einen erbitterten Rechtsstreit über die Vormundschaft des Kindes lieferte. 1815 war sein Bruder Kaspar Karl gestorben: Beethoven als Onkel sowie die Mutter sollten gemeinschaftlich die Vormundschaft ausüben. Johanna von Beethoven war einige Jahre zuvor wegen Unterschlagung verurteilt worden: ein Dauerargument für Beethoven gegen Karls Mutter: diesem schädlichen Einfluss sollte der Junge ferngehalten werden. Stattdessen hatte der Onkel hohe Ziele für seinen Neffen: er sollte entweder Künstler oder Gelehrter werden. Und tatsächlich scheute er keine Mühen und Kosten, um Karl eine sehr gute Ausbildung zu bieten. Leider geriet der Junge nicht so, wie Beethoven erwartete: er hing an seiner - Beethovens Meinung nach „unmoralischen“ Mutter, hatte Prüfungsangst, spielte als er heranwuchs auch ganz gerne mal Billard im Gasthaus und hatte überhaupt ganz andere Ideale als der Onkel. Er wollte nämlich zum Militär… Viel ist über den „Neffenkonflikt“ geschrieben und geforscht worden: nicht alles kann heute in der SWR 2 Musikstunde erzählt werden. Deshalb nur ein paar Blicke auf einzelne Situationen, quasi durchs Schlüsselloch. Die Konversationshefte machen’s möglich. 1’35 1. Musik Ludwig van Beethoven Allegro molto. 2. Satz aus: Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110 2. <5> 2’13 Igor Levit, Klavier Titel CD: Beethoven: The late piano sonatas Sony classical, 88883703872, LC 6868 WDR 5188 940 3 Igor Levit spielte den zweiten Satz aus Beethovens Sonate in As-Dur op. 110. Nicht nur die hohen Erwartungen an Karls schulischen Erfolg werden den Jungen unter Druck gesetzt haben, sondern vermutlich auch die enge Verbindung mit Beethoven. Denn Karl wohnte immer wieder zeitweise bei seinem Onkel und half ihm ab 1823 auch vielfältig im Alltag. So fürsorglich und liebevoll Beethoven auf der einen Seite zu Karl war, so sehr kontrollierte er aber auch jeden Schritt des Neffen und beobachtete sein Handeln mit stetem Misstrauen. Es gab Phasen, in denen beide durchaus gut klar kamen, aber es gab auch immer wieder Auseinandersetzungen. Hier einige Auszüge eines Konflikts aus einem Konversationsheft aus der Zeit August/September 1823 als Beethoven und sein Neffe in Baden weilten. Ganze zehn Seiten – vor und Rückseite wohlgemerkt – rechtfertigte sich Karl gegenüber dem Onkel. Offensichtlich war er – damals ja schon siebzehn Jahre alt - allein nach Wien gefahren, um einige Besorgungen zu machen. Beethoven machte ihm Vorwürfe: zu spät nach Hause gekommen? Vielleicht seine Mutter getroffen? Was auch immer… Trotz aller Vorhaltungen erklärte Karl: „Ich habe nie daran gezweifelt, u zweifle noch nicht, daß wir glücklich zusammen leben können; […] nur glaube ich nicht, daß es möglich ist, wenn du nicht aufhörst, mißtrauisch gegen mich zu seyn […];“ Außerdem lässt sich Karls Worten entnehmen, dass er das Gefühl hatte, er könne es seinem Onkel ohnehin nicht Recht machen: „Ich streite nicht, und werde gleich schweigen, sobald es dir mißfällt; ich glaubte aber den rechten Weg zu gehn, wenn ich nicht, wie sonst, im Stillen schwieg, wenn du von so etwas sprachst, u. was du für Trotz gehalten hast. […]“ Wenn er schwieg, warf Beethoven ihm Trotz vor, wenn er antwortete, wollte der Junge wohl streiten! Der Neffe zeigte sich ratlos: „Ich weiß nicht, wie ich Dir antworten soll, um dir zu gefallen; doch kann ich unmöglich gleichgültig bleiben, wenn du schon sagst, ich solle mir einen Andern Ort suchen.“ Da schien Beethoven zu drohen, dass er dann eben nicht mehr bei ihm bleiben könne. Im nächsten Moment war er schon wieder um die Gefühle des Neffen besorgt, wie man der Antwort Karls entnehmen kann: „[…] Von Beleidigt seyn ist hier keine Rede. Ich habe gleich anfangs geschwiegen und nur auf deine Aufforderung geredet.“ Ein zermürbender Streit, der sein Ende darin fand, dass man – mal wieder – gemeinsam über die Haushälterin lästerte: Karl: „Sie ist leichtsinnig, als wenn sie ein Kind wäre.“ Die Haushälterin musste als Feindbild herhalten, damit Neffe und Onkel sich wieder verstehen konnten. 2‘26 4 2. Musik Ludwig van Beethoven Scherzo. Allegro molto, 2. Satz aus: Sonate für Klavier und Violoncello A-Dur op. 69 <2> 5‘02 Mischa Maisky, Violoncello Martha Argerich, Klavier Titel CD: Maisky! DG, 471 510-2, LC 00173 WDR 5083 862 Mischa Maisky und Martha Argerich mit dem Scherzo aus der Cellosonate in ADur op. 69 von Ludwig van Beethoven. Auch wenn sich Onkel und Neffe wieder zusammen gerauft hatten, die Stimmung blieb angespannt. Und natürlich bleibt zu bedenken, dass Beethovens fortschreitende Schwerhörigkeit, sein Misstrauen und sein Kontrollbedürfnis gegenüber Karl noch verstärkte. Schließlich muss sich Beethoven gegen Ende seines Lebens – als er kaum noch hören konnte - immer einsamer gefühlt haben und da war die Beziehung zu Karl natürlich besonders wichtig. Beim nächsten Streit in Baden 1823, da griff Beethoven selbst zum Stift, um keine ungewollten Zuhörer zu haben. Karl hatte sich mit einem Mitschüler namens Niemetz angefreundet und der war Beethoven ein Dorn im Auge. Hier einige Gesprächsausschnitte: Beethoven: „Ich bin mit der wahl dieses deines Freundes sehr übel zufrieden. […] ich möchte ihm nicht gern unrecht thun, aber er ist mir ein lästiger Gast“ und am Ende seiner Ausführungen fand er dann den Grund für die – seiner Meinung nach – ungeeignete Freundschaft: „[…] du bist noch sehr schwachen Karakters.“ Karl reagierte besonnen und erklärte dem Onkel: „Was die Wahl betrifft, so glaub‘ ich, daß ein vierjähriger genauer Umgang wohl genügt, einen Menschen von allen Seiten kennen zu lernen, […]“ Im Folgenden begründete er die Freundschaft mit einer Ähnlichkeit des Charakters und der Interessen. Beethoven daraufhin kurz und knapp: „Ich finde ihn roh und gemein. – Das sind keine Freunde für dich.“ Schwingt da vielleicht eine Spur Eifersucht mit? Karl jedenfalls blieb wesentlich sachlicher als Beethoven: „Wenn du ihn roh findest, irrst du dich; […] Auch bin ich nicht Willens, ihn mit einem Andern zu vertauschen, welches gerade ein Zeichen der Characterschwäche wäre, die du mir gewiß mit Unrecht vorwirfst; […]“ Da Beethovens Argument der Charakterschwäche vom Neffen ausgehebelt worden war, brachte der Onkel nun dessen Unreife ins Spiel: „Du bist noch nicht im Stande zu sichten“ Will sagen: Du kannst Situationen nicht überblicken, Menschen nicht einschätzen. Aber Karl blieb bei seiner Meinung: „Es ist wohl 5 unnütz, über einen Gegenstand, zumahl über einen Character zu streiten, worüber ich meine Überzeugung nie aufgeben werde, […]“ 2’07 3. Musik Ludwig van Beethoven Wonne der Wehmut op. 83 Nr. 1 <14> 2‘32 Stephan Genz, Bariton Roger Vignoles, Klavier Titel CD: Beethoven songs Hyperion, CDA 67055, LC 7533 WDR 5035 262 „Wonne der Wehmut“ op. 83 Nr. 1, dieses Lied von Beethoven sang Stephan Genz begleitet von Roger Vignoles. Schon beim Stöbern in den Konversationsheften und dem Lesen verschiedener Streitereien zwischen Onkel und Neffe wird klar, wie quälend diese Diskussionen für beide gewesen sein mussten. Im Sommer 1826 spitzte sich die Situation zu: am 6. August versuchte Karl, sich das Leben zu nehmen. Als Beethoven davon erfuhr, begann eine fieberhafte Suche, bei der ihm Karl Holz zur Seite stand. Der war im Hauptberuf Beamter, nebenberuflich zweiter Geiger im Quartett von Ignaz Schuppanzigh und erledigte für Beethoven diverse Alltagsangelegenheiten. „Ich hohle die Polizey“ schrieb Karl Holz ins Konversationsheft. Dann wurde aber erst einmal Mathias Schlemmer herbei zitiert, bei dem Karl zu dieser Zeit wohnte. Der berichtete: „[…] ich fand in seinen Kasten richtig ein geladene Bistole, samt noch übrigen Bley u. Pulver, […]“ Insgesamt spürte Schlemmer zwei Pistolen auf, die er beide in Gewahrsam nahm. Deshalb befürchtete Beethoven: „Er ersauft sich“. Eine erfolglose Suche begann, erst am nächsten Tag fand man Karl bei seiner Mutter. Er hatte seinen Selbstmordversuch überlebt: Neffe: „Jetzt ists geschehen. Nur einen verschwiegenen Wundarzt. […]“ Man glaubte offenbar noch die Tat verheimlichen zu können, denn Selbstmord galt seinerzeit als eine sogenannte „schwere Polizei-Übertretung“. Offenbar war der Tathergang noch nicht rekonstruiert, als Beethoven bereits mit Vorwürfen anfing. Neffe: „Quäle mich jetzt nicht mit Vorwürfen u. Klagen; es ist vorbey. […]! Man stelle sich vor: Beethoven saß am Bett des verletzten Neffen im Hause der „Königin der Nacht“, wie er dessen Mutter gehässig nannte: der Frau, mit der er unter normalen Bedingungen kein Wort wechseln wollte. Beethoven: „Wann ist es geschehen?“ und Johanna van Beethoven antwortete: „Er ist eben gekommen der Fuhrmann hat ihn in Baaden von einem Felsen herunter getragen, und ist eben zu Ihnen hinaus gefahren.“ 6 Langsam klärten sich die Umstände etwas auf. Holz: „Er ging gestern von mir weg gerade in die Stadt, kaufte sich neue Pistolen, und fuhr nach Baden.“ Und eben dort schoss er sich zweimal in den Kopf, wurde jedoch nur von der zweiten Kugel an der Knochenhaut verletzt. 2’12 4. Musik Ludwig van Beethoven Ouvertüre „Coriolan“ op. 62 <5> 7‘32 Le Concert des Nations Jordi Savall, Ltg. Titel CD: Beethoven Sinfonia Eroica Nr. 3, Coriolan ouvertüre Astrée, naive, ES 9959, LC 7496 WDR 5059 612 Le Concert des Nations unter der Leitung von Jordi Savall mit Beethovens Ouvertüre „Coriolan“ op. 62. Viel ist über die Gründe für Karls Selbstmordversuch spekuliert worden: Spielschulden wurden genannt und Prüfungsangst. Beides mag mit zu Karls Entschluss beigetragen haben, die Konversationshefte jedoch zeugen ganz klar von der extrem angespannten Situation zwischen Onkel und Neffe. Holz wusste Beethoven über die Beweggründe seines Neffen zu berichten: „Er gibt keine andere Ursache an, als die Gefangenschaft bey Ihnen.“ Weiter erklärte Holz: „Nicht Ihr Mißtrauen, sondern Ihre Schranken für seine sinnlichen Begierden.“ Offensichtlich fühlte sich der Neffe von seinem dauernd kontrollierenden Onkel in die Enge gedrängt. Bei einem Verhör jedenfalls soll der Neffe geäußert haben: „Ich bin schlechter geworden, weil mich mein Onkel besser haben wollte.“ Andererseits schien er durchaus in der Lage, eigene Wege zu gehen, wie Holz berichtete: „Karl sagte auch allenthalben, daß er Sie um den Finger wickeln könne, er dürfe machen, was er wolle, er könne sich doch auf Sie verlassen.“ Ja, denn bei aller Kritik an Beethoven, kümmerte er sich doch stets um das Wohlergehen Karls und stellte alle finanziellen Mittel zur Verfügung. Definitiv hatte Karl Beethoven mit seinem Selbstmordversuch einen ziemlichen Schlag versetzt. Natürlich sprach ganz Wien hinter vorgehaltener Hand über die Dinge, die sich da im Hause Beethoven abspielten! Der Komponist musste erkennen, dass seine hohen Erziehungsideale sich nicht so erfüllt hatten, wie er sich das vorgestellt hatte. Schließlich gab er Karls Berufswunsch nach und erlaubte ihm, zum Militär zu gehen. 1‘44 7 5. Musik Ludwig van Beethoven Allegro, Finale aus: Streichquartett in cis-moll op. 131 1 <11> 6‘27 Tokyo String Quartet Titel CD: Beethoven. The late string quartets RCA Victor Red Seal, RD 60975, LC 0316 WDR 5011 127 Das Tokyo String Quartet spielte den letzten Satz aus dem Streichquartett in cismoll op. 131. Ein Quartett, das Beethoven Joseph von Stutterheim, Karls Regimentskommandeur, gewidmet hatte. So weit ging die Unterstützung des Onkels also. Die späten Streichquartette Beethovens sind mit dem Namen von seinem Freund Ignaz Schuppanzigh verbunden: dessen Quartett „probierte“ sozusagen die neuen Werke Beethovens stets aus. Allerdings ging das nicht immer gut: für das Es-Dur Quartett op. 127 etwa hatte Schuppanzigh nur zehn Tage Probenzeit veranschlagt. Beethoven selbst war bei dem Konzert nicht anwesend, aber als sein Neffe und auch sein Bruder sich abwertend über die Aufführung von Schuppanzigh geäußert hatten, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Beethoven und dem Geiger. Dessen Gesprächsanteil kann man in einem Konversationsheft aus dem Frühjahr 1825 nachlesen. Hier einige Ausschnitte: „Sein Bruder ist ein rechter Hans […] Es ist wahr, daß wir es zu bald gemacht haben, und es nicht so gegangen ist, wie es seyn sollte, jedoch hat es nicht nur allein an mir gefehlt, sondern an uns allen 4.“ Beethoven schien dann etwas wiederzugeben, was Schuppanzigh angeblich gesagt haben sollte und der antwortete: „Das ist doch ein dummes Geschwätz, ich kann ja so etwas nicht sagen.“ Und weiter: „Wer bethet ihn [gemeint ist Beethoven] denn mehr an als ich?“ Offensichtlich aber schenkte Beethoven den Berichten über die misslungene Aufführung doch Glauben, denn er ließ Schuppanzigh austauschen und für die nächsten Aufführungen den Geiger Joseph Böhm als Primarius spielen. Das kommentierte Schuppanzigh natürlich höchst verärgert: „Böhm ist nicht im Stande ein Quartet vom ihm ordentlich zu spielen, das behaupte ich.“ Und erklärte dann weiter, warum seine Aufführung nicht optimal verlaufen sei: „Mechanische Schwirigkeiten sind ja nicht darin, nur die Originalität macht es schwer, welche man im ersten Augenblik nicht fassen kann.“ Trotz aller Streitigkeiten schienen sich beide am Ende wieder zusammen zu raufen. Der Buhmann blieb Beethovens Bruder. Schuppanzigh schrieb ins 8 Konversationsheft: „Ich habe gleich gesagt, daß ich auf ihm [also Beethoven selbst] nicht böse seyn kann, daß diese Sauräu ein dummes Gewäsch von seinem Bruder ist.“ 2‘10 6. Musik Ludwig van Beethoven Ausschnitt aus Scherzo - Vivace aus: Streichquartett in Es-Dur op. 127 <3> einblenden bei 3‘20 bis Ende [frei 3‘36] Emerson String Quartet Titel CD: Beethoven: String quartets DG, 447 081-2, LC 00173 WDR 5055 895 Ein Ausschnitt aus dem dritten Satz von Beethoven Streichquartett in Es-Dur op. 127. Es spielte das Emerson String Quartet. Vielleicht sollte die Nachwelt dankbar sein, dass der Geiger Joseph Böhm das Quartett auch spielen durfte. Denn er hat später die Proben in Beethovens Anwesenheit beschrieben. Folgende Anekdote über die Probenarbeit mit dem vermutlich quasi tauben Beethoven ist überliefert: „[…] Mit gespannter Aufmerksamkeit folgten seine Augen dem Bogen und darnach wußte er die kleinsten Schwankungen im Tempo oder Rhythmus zu beurteilen und selbe auch gleich abzustellen.“ Über dem letzten Satz hatte Beethoven die Tempoanweisung: „meno vivace“ notiert. Böhm sagte den Musiker aber, sie sollten das nicht machen. Und so ging‘s laut Böhms Bericht bei der Probe dann weiter: „Beethoven kauerte in einer Ecke, hörte nichts davon, sah aber mit gespannter Aufmerksamkeit zu. – Nach dem letzten Bogenstrich sagte er lakonisch: ‚Kann so bleiben‘ – ging zu den Pulten und strich das ‚meno vivace‘ in den vier Stimmen aus. […]“ Auch bei einer Probeaufführung seines Quartetts in a-moll op. 132 im Gasthof „Zum Wilden Mann“ war Beethoven dabei. Dort hatte sich der Verleger Maurice Schlesinger bei seinem Wiener Besuch einquartiert: er wollte neue Quartette von Beethoven veröffentlichen. Deshalb spielte das Schuppanzigh Quartett – Schuppanzigh saß nun eben doch wieder an der ersten Geige - das besagte amoll Quartett am 9. September 1825 in der Unterkunft von Schlesinger. Per Konversationsheft sitzt der Leser mitten im Gasthof, lauscht den Neckereien zwischen Schuppanzigh und dem zweiten Geiger Holz und erfährt aber auch indirekt von Beethovens Eingreifen bei der Probe. Holz sagte nämlich: „Es freut mich, jetzt sagen zu können, ich habe von Beethoven eine Geigenlection erhalten.“ Sir George Thomas Smart, ein englischer Dirigent, Organist und Komponist, der ebenfalls anwesend war, erklärte das in seinem Tagebuch 9 folgendermaßen: eine staccato Passage hatte Beethovens Augen nicht gefallen. Er schnappte sich also kurzerhand die Geige von Holz und spielte die Passage selbst. Allerdings einen Viertelton zu tief. Das hörte er natürlich nicht. 2‘00 7. Musik Ludwig van Beethoven Allegro appassionato, Finale aus: Streichquartett in a-moll op. 132 <5> 6’43 Artemis Quartett WDR Kompilation (Eigenproduktion) WDR 5035 253 Das Artemis Quartett mit dem Finale aus dem Streichquartett in a-moll op. 132 von Ludwig van Beethoven. Und damit sind wir fast schon am Ende der Musikstundenwoche über Beethovens Taubheit und seine Konversationshefte. Ein schweres Schicksal für den Komponisten: bei aller Verzweiflung aber blieb Beethoven ungeheuer produktiv: Wenn man bedenkt, dass er den Großteil seiner Werke schwerhörig und später sogar taub komponiert hat! Regelrechte Produktionsschübe hatte Beethoven nachdem er in Heiligenstadt 1802 seine Schwerhörigkeit als wahrscheinlich unheilbar erkannt hatte. Erstens vielleicht mit dem Gedanken, möglichst viel zu schreiben, so lange noch Hörfähigkeit vorhanden war, zweitens sicherlich auch deshalb, weil seine Kunst ihn psychisch aufbaute. Inwiefern Beethovens spätere Taubheit seine Werke beeinflusst hat, ist schwer zu beantworten: denn wir wissen ja nicht, wie er mit voller Hörfähigkeit geschrieben hätte. Trotzdem ist darüber natürlich viel nachgedacht und spekuliert worden: die Extreme der späten Quartette und Klaviersonaten, sind die auf seine Taubheit zurück zu führen oder nicht? Schwer zu entscheiden. Eine Sache haben vor zwei Jahren aber Forscher eines niederländischen Instituts herausgefunden: sie haben nämlich Beethovens Streichquartette untersucht, indem sie alle Töne, die über dem dreigestrichenen g liegen, zählten. Das Ergebnis: die hohen Töne hat Beethoven mit fortschreitender Schwerhörigkeit immer weniger verwendet, weil er sie offensichtlich schlechter hören konnte. Als er taub war, und sich auf seine „inneren Ohren“ verlassen musste, schrieb er wieder hohe Töne. 1‘35 10 8. Musik Ludwig van Beethoven Prestissimo aus: Nr. 30 in E-Dur op. 109 4. <8> 2‘40 Daniel Barenboim, Klavier Titel CD: Beethoven, Barenboim DG, 413 770-2, LC 00173 WDR 5027 813 Der zweite Satz aus Beethovens Sonate in E-Dur op. 109 gespielt von Daniel Barenboim. Das war die SWR 2 Musikstundenwoche über Beethovens Taubheit und seine Konversationshefte. Mein Name ist Susanne Herzog. Wenn Sie Musiktitel recherchieren oder das Manuskript der Musikstunde nachlesen möchten, dann besuchen Sie doch einfach unsere Internetseiten unter swr2.de/Musikstunde. Dort finden Sie die Sendung auch eine Woche lang zum Nachhören. Für einen CD-Mitschnitt einer der Musikstunden rufen Sie bitte die SWR Media GmbH unter der Service-Nummer: 07221/929-26030 an. 0‘45
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