Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature am Sonntag
Morgenland und Abendland
Von Jan Decker
Sendung: Sonntag, 17. Juli 2016, 14.05 Uhr
Redaktion: Walter Filz
Regie: Giuseppe Maio
Produktion: DLR Kultur 2013
Bitte beachten Sie:
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Erzähler
Ich stehe jeden Morgen auf, wasche mich und putze meine Zähne. Ich
habe 20 Termine im Kopf. Ich mache den Haushalt und frühstücke. Ich lebe im
Morgenland. Alles ist auf morgen ausgerichtet, auf die perfekte Planung der eigenen
Zukunft. Doch was war da nochmal mit der Vergangenheit? Das ist das Abendland,
außerhalb meines Sichtfelds. Und bitte, keinen Blick zurückwerfen. Ich habe 20
Termine im Kopf und muss einkaufen. Wären da nicht diese beiden
Familiengerüchte, die wir sorgfältig hüten, die wir uns manchmal verschwörerisch
zuraunen, die wir meistens aber verschweigen. Bei Feiern und Sterbefällen werden
sie hervorgeholt und kurz besichtigt. Sie existieren seit Jahrzehnten. Sie sind viel
älter als ich. Und sie werden mich überleben, wenn ich nichts unternehme.
Erzähler
Diese Gerüchte besagen, mein Urgroßvater….
Take 1
[Jochen Decker] Er selbst, Wilhelm Decker, ist also häufiger mit seiner
Familie, also auch mit Hans Decker, bei den Engels zu Besuch gewesen, und es
bestand auch ein direkter Kontakt zu den Engels-Nachkommen.
Erzähler
Und es wird geraunt, er sei….
Take 2
[Jochen Decker] Erfinder, und zwar (Pause) gilt er als Erfinder der
Annähdruckknöpfe. In dieser Zeit dort Fertigung zwar aller Art von Druckknöpfen,
aber das war das Novum, denn diese Druckknöpfe mussten nicht mehr gestanzt
werden, sondern konnten eben angenäht werden.
Comic Ansager Morgenland und Abendland. Friedrich Engels, der Erfinder des
Marxismus und mein Urgroßvater Wilhelm Decker, der Erfinder des
Annähdruckknopfs. Feature von Jan Decker. Erster Akt. Die Toten sollen
verschwinden.
Schließen eines Druckknopfs [O-Ton]
Erzähler
Ein Familiengerücht, lese ich in einem psychologischen Lehrbuch, kann
Motive der Schuld über Generationen hinweg tradieren.
Take 3
[Jochen Decker] (zeigt am Computer auf Google Maps Wilhelm
Deckers Haus) Ach, guck mal! Hier sieht man die, äh... Die Firma, ne. Stocko. Und
hier ist das Haus. Guck mal. Das ist es. Und dieses Grundstück, so wie es umrissen
ist, dieses Riesen... Gehörte ihnen.
Erzähler
Es entstehen Loyalitätsbindungen an lebende oder tote Vorfahren, die
zu Krisen führen können. Adoleszenzkrisen. Ablösungskrisen. Ehekrisen.
Take 4
[Jochen Decker] (am Computer) Und er hatte genug Geld in Goldmark
seinerzeit schon nach dem Ersten Weltkrieg.
Erzähler
Das Familiengerücht ist ein Phantasma, das in uns herumschleicht.
Manchmal ein Leben lang.
Take 5
[Jochen Decker] (am Computer) Dann hat er es versäumt, zu kaufen.
Das ganze Geld ist bei der ersten Währungsreform nach dem Ersten Weltkrieg
verfallen.
Erzähler
Bei mir ist es einfacher. Die beiden Familiengerüchte umkreisen die
große Leerstelle in meinem Leben. Von ihr wird später die Rede sein.
Take 6
[Jochen Decker] (am Computer) Jetzt hat er aber auch den Fehler
begangen... Er hatte schon wieder einiges an Geld angespart gehabt und
Vermögen... Hat nach dem Zweiten (Versprecher)... Im Zweiten oder vor dem
Zweiten Weltkrieg auch wieder nicht dieses Angebot wahrgenommen. Er wohne
doch da günstig zur Miete. Die Miete wurde nie erhöht. Anstatt dieses Haus zu
kaufen. Und ist wieder in die zweite Inflation mit seinem Geld reingefallen.
Erzähler
Zunächst bringen mich die Familiengerüchte in die Stadt, aus der die
Familie meines Vaters kommt. Ich kenne diese Stadt nicht. Eine Loyalitätsbindung
führt mich in sie. Oder: Neugier auf meine Wurzeln.
Take 7
[Jochen Decker] Die Firma existiert ja heute noch, hat allerdings heute
eine, äh, Übernahme erfahren im Jahr 94 durch die japanische YKK, einem
bekannten Reißverschlusshersteller, der weltweit tätig ist, und führt heute den
Namen Stocko YKK Fasteners.
Erzähler
Vielleicht werde ich in Wuppertal mit schillernden Fakten über die
Deckers belohnt: Verwandt mit Friedrich Engels.
Take 8
[Jochen Decker] Es waren keine geschäftlichen Gespräche, es waren
persönliche, verwandtschaftliche Kaffeerunden, in denen man sich eingefunden
hatte, und eigentlich persönliche Gespräche führte auch.
Erzähler
Belohnt, denn niemand von uns sagte klar: Wir sind mit Friedrich
Engels verwandt. Hier. Schwarz auf weiß. Also werde ich mich um die Klarstellung
kümmern. Ebenso um das zweite Familiengerücht. Der Menschheit den Druckknopf
als Segen gebracht.
Take 9
[Jochen Decker] (am Computer, Mausklick) Er hat zum Beispiel hier,
äh... Gibt’s wasserdichte Druckknöpfe, (Mausklick) dann Jeansprodukte gehören
dazu mit Hohlnieten. Zum Beispiel diese Nieten hat er entwickelt auch für die, äh...
Verschlussstücke.
Take 10
[Jochen Decker] Er hat nie seine Erfindung patentieren lassen.
Erzähler
Dazu muss ich meine 20 Termine im Kopf vergessen. Mein eigenes
Abendland betreten. Ich meine nicht das aufgeklärte Abendland, in dem wir leben.
Ich meine die eigene Familienvergangenheit. Das ganz private Abendland, das ich
meide, weil es dem Orient gleicht, den die Wuppertalerin Else Lasker-Schüler in
ihren Gedichten beschwörte. Rätselhaft, mystisch, dunkel.
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Take 11
[Jochen Decker] Man konnte also stark verfolgen, an welchen Tagen
welche Betriebe ihre farbigen Abwässer in die Wupper leiteten, und die Wupper hatte
auch noch, so ist mir schon aus meiner Kindheit noch vertraut, so einen (hebt
Stimme) intensiven Anilingeruch...
Erzähler
In unserem Selbstbild sind wir zwischen 1970 und 1980 Geborenen
Lichtgestalten. Urbane Trendsetter. Die Zielgruppe der Bionade-Werbung. Aber
möchte ich so sterben? Als Angehöriger der Generation Bionade?
Take 12
[Jochen Decker] Alles wurde ausgespuckt, zudem war das Tal
durchfahren durch seinerzeit die vielen (Pause) Dampfloks und Züge...
Erzähler
Noch kann ich im Abendland Wuppertal schwelgen. Ich fantasiere die
Begegnungen zwischen Friedrich Engels und Wilhelm Decker, die mein Vater mit
Motiven aus der Familiengeschichte anreichert, in akustischen Comics aus.
Take 13
[Jochen Decker] Und wo ich mich gerne als Kind auf diese kleine
Brücke stellte, am Kirberg, äh, am Kirchhofweg, und als Kind mich vom Dampf dieser
vorbeifahrenden Lokomotiven verschlucken ließ. (gespannte Pause) War plötzlich,
wenn du mit dem Auto gefahren bist... (Pause) Nichts mehr gesehen.
Erzähler
Ich kümmere mich nicht um die Fakten. Vermische die Zeiten und Orte.
Die Lebenden und die Toten. Abendland. Träumerei.
Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Erste Folge. Dampf über der
Wupper. 27. März 1943. Wuppertal-Sonnborn. Zwei Dampflokomotiven hüllen alles
in einen dichten Nebel ein. Allmählich tauchen die Schemen zweier Männer auf.
Wilhelm Decker, 67 Jahre, langer Mantel, Borsalino-Hut mit Krempe, blank geputzte
Schuhe. Friedrich Engels, 74 Jahre, groß gewachsen, langer grauer Bart, Gehstock.
Sie stehen am Geländer einer Brücke am Kirchhofweg. Hinter ihnen ein
Fabrikgebäude mit großen weißen Buchstaben. Stocko.
Engels
Sie haben mich herbestellt.
Wilhelm Decker Mein Urenkel Jan Decker. Nicht ich.
Engels
Friedrich Engels. Das Gespenst des Kommunismus.
Decker
Ich muss weiter.
Engels
Sie könnten ein wohlhabender Mann sein. Stattdessen tüfteln Sie an
einer Niete.
Decker
Ein neuartiger Druckknopf. Kriegswichtig.
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Engels
Sie mischen also am Endsieg des Führers mit.
Decker
Lassen Sie meinen Mantel los.
Engels
Damit Sie unsichtbar bleiben können. Ein anonymer Bürger. Das hat
sich Ihr Urenkel anders vorgestellt.
Decker
Autsch. Sie kneifen meine Wange.
Engels
Sie haben den Druckknopf erfunden.
Decker
Ja. Und jetzt habe ich Ihren Gehstock geklaut.
Engels
Beweisen Sie es.
Decker
Ich muss ihnen gar nichts beweisen! Auf Wiedersehen, Herr Engels.
Engels
Halt. Mein Gehstock! Bleiben Sie hier.
Erzähler
Am Ende meiner Recherche wartet vielleicht nur ein Gespenst auf
mich. Friedrich Engels, der mir zuflüstert: Decker, eine ganz normale deutsche
Familie. Aber immerhin kann ich es meinem Sohn dann sagen. Dass ich es gewuppt
habe. Die Familiengerüchte wuppen oder nicht wuppen. Das ist hier die Frage. Denn
diese Geschichte spielt in Wuppertal.
CD
[meelman, Triggah & dezat feat. Drum Kid: Wir wuppen das]
Erzähler
Ich bin nach Wuppertal gereist, um unsere Familiengerüchte zu klären.
Take 22
[Annemarie Knoche] (Telefongespräch) Ja, hallo. Hier ist Annemarie
Knoche. Ja, leider haben wir uns gestern nicht erwischt, und ich erwisch dich jetzt
auch nicht, ähm.
Take 23
[Christine Knoche] (Telefongespräch) Die Oma hatte ja immer erzählt,
dass ihr Vater, ähm… Er war ja Mitbegründer von Stocko, aber sein Partner hat ihn
ja irgendwie verarscht.
Erzähler
Im real existierenden Sozialismus hätte es vielleicht feierliche
Empfänge für die Familie Decker, Friedrich Engels Wuppertaler Verwandte,
gegeben. Freiflüge mit der Interflug. Gratisurlaub an der jugoslawischen Adriaküste.
Prunkvolle Stadtführung durch die wolgadeutsche Stadt Engels in der Sowjetunion.
Take 25
[Jan Decker] (Telefongespräch) Dass die, dass unsere Urgroßmutter
mit Friedrich Engels verwandt war, ja?
Take 26
[Christine Knoche] (Telefongespräch) Mh mh, noch nie
(Reißverschöuß). Das hab ich, äh, nee.(Knopf)
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Erzähler
Der Annähdruckknopf meines Urgroßvaters wäre massenhaft
hergestellt worden, mit dem eingestanzten Konterfei von Friedrich Engels obenauf.
Kopf oder Zahl.
Take 27
[Christine Knoche] (Telefongespräch) Wat, wat hat der erfunden?
Erzähler
Noch ist die Münze nicht gefallen. Ich habe unsere Familiengerüchte
lieb gewonnen, merke ich. Der schrullige Alte aus London soll ruhig zu uns gehören.
Sein Name steht für den großen Anspruch, eine gerechte Welt zu erschaffen.
Take 28
[Annemarie Knoche] (Telefongespräch) Aber jetzt über ne
Verwandtschaft mit Friedrich Engels weiß ich gar nix, also... (mit Einatmer)
Akustischer Comic
Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Zweite Folge. Vertriebener. 27.
März 1953. Wuppertal-Ölberg. Arbeiterviertel. Wilhelm Decker vor einer Hausruine.
Strömender Regen. Sein Ausgehmantel und der Borsalino-Hut sind tropfnass. Er hält
einen Gehstock in der Hand. Im einzig verbliebenen Altbau der Straße Menschen wie
im Guckkasten. Zeitung lesend, sich anziehend, streitend. Die Gleisanlagen der
Schwebebahn. Im Hintergrund dampfende Schornsteine. Friedrich Engels spaziert
wacklig auf ihn zu.
Engels
Na? Kopf oder Zahl? Sie haben die Beweise nicht geliefert.
Decker
Aber Ihren Gehstock.
Engels
Her damit! Der Ölberg. Das letzte Proletarierviertel Wuppertals. Ein
Ausflug ins Proletarierelend?
Decker
Mein Urenkel meinte, Sie hätten eine zweite Chance verdient.
Schließlich gehören Sie, meint er...
Engels
Ihr Borsalino-Hut steht mir gut.
Decker
– Geben Sie den Hut zurück! – zur Verwandtschaft.
Engels
Die Hitlerei ist zu Ende. Und Sie verharren im klein-klein.
Decker
Der Philosoph vom Ölberg. Was ist klein-klein?
Engels
Dass dieser Hut nur Ihnen gehört. Und nicht allen.
Decker
Ich habe mein Vermögen nach zwei Inflationen verloren.
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Engels
Sie speisen von der Bergischen Kaffeetafel, während Ihre Arbeiter
Rüben fressen.
Decker
Essen wie Sie es gewohnt sind, Hummersalat und Château Margaux,
konnte ich mir niemals leisten!
Engels
Ihre Nachfahren werden Arbeitsmigranten sein. Vertriebene.
Decker
Was wissen Sie über meinen Urenkel? Finger weg, Engels.
Engels
Vorerst borge ich mir Ihren Hut. Revanche folgt.
CD [Heinz Rudolf Kunze: Vertriebener]
Take 29
[Annemarie Knoche – im Lied] (liest Vertriebener von Heinz Rudolf
Kunze vor) Meine Mutter war so treu, dass mir schwindlig wird, mein Vater war bei
der SS. Ich heiß Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel, und Rudolf wie Rudolf
Heß.
Engels
Zweiter Akt. Die Erinnerung ist die Rakete der Utopie. Die Frage ist:
Was passiert, wenn die Erinnerung abhanden kommt?
Schließen eines Druckknopfs [O-Ton]
Take 30
gefühlt?
[Annemarie Knoche] Haben die sich jetzt wirklich als Vertriebene
Erzähler
Meine Unruhe wächst mit jedem Gespräch. Ich möchte Papiere sehen.
Beweise. Gesichertes Abendland. Die beiden Familiengerüchte schwarz auf weiß
bestätigt. Sofort.
Take 32
[Annemarie Knoche] Wilhelm Decker war eben, ja, so ne Art
hochgearbeiteter Arbeiter, der sich zwar zu Wohlstand hochgearbeitet hat, aber dann
eben durch den Krieg dann eben wieder alles verloren hat, ne.
Erzähler
Besuch bei meiner Großcousine Annemarie Knoche, Enkelin von
Wilhelm Decker. Mit ihrer Tochter Christine letzte lebende Decker in Wuppertal.
Wenn jemand Licht in unsere Familiengerüchte bringen kann, dann sie.
Take 33
[Annemarie Knoche] Das, was ich von meiner Mutter erfahren habe, er
hat ja Werkzeugmacher gelernt, und er hat sich wohl lange den Kopf darüber
zerbrochen, äh, wie man diese, äh, Druckknöpfe, ähm, maschinell fertigen kann, und
hat also, äh, die erste Maschine, die Druckknöpfe, äh, herstellen kann, erfunden.
Gebaut. Erfunden ist so’n, so’n merkwürdiger Ausdruck, ne. Er hat die gebaut. Er hat
sich Gedanken gemacht, wie die eine Form und die andere Form, äh, (längere
Pause) so hergestellt werden kann, dass es eben nicht nur jeweils einen, einen
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Druckknopf gibt, sondern dass ganz viele in einem, in einem Arbeitsgang gemacht
werden können, ne.
Take 34
[Annemarie Knoche] Also, um die Erfindung ging’s da gar nicht. Ich hab
von meiner Mutter gehört, dass es sehr darum ging, ähm, dass er nicht auch, äh,
einen Teil der Leitung der Firma Stocko übernommen hat, weil er das Unternehmen
ja zusammen, äh, mit diesem Herrn Henkels, ähm, gegründet hatte.
Erzähler
Ich erfahre, dass Wilhelm Decker das Bild vom strahlenden Erfinder
noch weniger erfüllte, als ich dachte. Und er doch gleichzeitig ein beharrlicher
Erfinder war.
Take 35
[Annemarie Knoche] Und, ähm, meine Mutter erzählte immer, dass er
darüber immer getrauert hat, dass er da ausgebootet wären, äh, worden ist.
Take 36
[Annemarie Knoche] Weil er eben keine Ahnung vom Kaufmännischen
hatte. Er war eben der Arbeiter. Er war eben der Werkzeugmacher, der von
Maschinen jede Ahnung hatte, aber, ähm...
Erzähler
Ein Mann von unten, der Betriebsleiter der Firma Stocko wurde.
Erfinder nicht des Annähdruckknopfs, sondern einer Maschine zur seriellen Fertigung
von Druckknöpfen jeglicher Art. Das in treuen Firmendiensten.
Take 37
[Annemarie Knoche] da war ein Kollege, ähm, der lieh sich immer zwei,
drei Taler von ihm. Ein Taler war damals drei Mark. Und irgendwann nach einigen
Monaten schuldete ihm dieser Mensch, meinem Großvater immer mehr Geld, und
mein Großvater hat das Geld nie wieder gesehen. Und davor warnte dann mein
Großvater meine Mutter, sagte: Und der junge Mann ist Kommunist geworden.
Erzähler
Ein Sozialdemokrat, aber kein Sozialist. Geschätzt, aber nicht
schillernd. Ein ganz normaler Ausgebeuteter, der es sich in seinem Wohnhaus
gegenüber des Firmengeländes, dem Knusperhäuschen, wie es die Familie Decker
bis heute nennt, behaglich machte.
Take 38
[Annemarie Knoche] Man guckt auch immer danach, wenn man eben
mit der Bahn fährt, ich guck dann immer: (erstaunter Laut) Steht’s noch? Ja, steht
wirklich noch.
Erzähler
Von einer Verwandtschaft zu Friedrich Engels keine Spur.
Take 39
[Annemarie Knoche] Also, ich weiß, dass es wahnsinnig viele Engels
hier in Wuppertal gibt, und ich kenn auch einige. Aber ich wär nie auf die Idee
gekommen, oder auch die nicht, dass ich da irgendwie mit verwandt sein könnte.
Erzähler
Ich erfahre, dass unser erstes Familiengerücht haltlos ist, wenn die
Deckers und die Engels nur Bekannte oder Nachbarn waren. Kaffeerunden mit
einem Spross des weitverzweigten Engels-Clans? Noch dazu in Heckinghausen,
einem Stadtteil Wuppertals, in dem Friedrich Engels niemals lebte? Ich muss eine
Verwandtschaft nachweisen.
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Take 40
[Claudia Köhler] (öffnet Fenster im Haus von Wilhelm Decker)
Take 41
[Claudia Köhler] (mit Einatmer) Ja, mein Name ist Claudia Köhler. Ich
arbeite als Personalreferentin hier in dem Unternehmen, und möchte Ihnen das Haus
dann mal zeigen, in dem Ihr Urgroßvater gelebt hat. (schmunzelt)
Take 42
[Claudia Köhler] Ja, also hier in diesem Gebäude war von Ende der
80er, oder Mitte der 80er bis Anfang der 90er-Jahre die Personalabteilung
untergebracht. Das ist hier das sogenannte Knusperhäuschen. (lacht) So wird das
auch nach wie vor genannt, auch wenn hier niemand tätig ist. Ja, und deswegen
kenn ich mich hier auch ein bisschen aus.
Erzähler
Ortstermin Firma Stocko. Besichtigungstour im Wohnhaus meines
Urgroßvaters.
Take 43
[Claudia Köhler] Ja, also ich denke mal, bis auf diese Büroausstattung
im Sinne Teppichboden, Lampen – die Fließen hier im Flur zu finden sind, die
gedrechselten Treppenteile, das ist alles noch Original, also da kann man das alles
schon wiedererkennen.
Erzähler
Dach und Wände Bergischer Schiefer. Weiße Fensterrahmen. Grüne
Fensterläden. Ein Traumhaus für die Bionade-Generation. Im Leerstand.
Take 44
[Claudia Köhler] (mit Schritten) Hier kann man das ja n’bisschen sehen,
der gesamte Eingangsbereich, leider auch etwas kaputt, aber das ist nun im Laufe
der vielen Jahrzehnte so passiert, aber das ist alles noch original. Also gemusterte
Mosaikfließen, gibt wie gesagt gedrechselte Treppengeländer, nur eben zigmal
überstrichen. (trockenes Lachen)
Erzähler
Die schwebende Heiterkeit vor den Kriegen weht mich an. Ob Engels
oder Decker, man hatte es im Wuppertal um 1900 zu Wohlstand gebracht. Das
Arbeiterelend gab es am Ölberg, nicht hier. Auch wenn der aufstrebende Arbeiter
Wilhelm Decker nicht überdrehte. Kein Neureicher wurde.
Take 47
runter.
[Claudia Köhler] (geht Treppenstufen runter, öffnet Tür) Geht es hier
Erzähler
Im Keller der Familiengerüchte ist es gespenstisch. Eine vom Staub
weiß gepuderte Spinne hängt erstarrt im Netz. Seit Urgroßvater hier war?
Take 48
[Claudia Köhler] Hier ist noch so uralte Elektrik. Die ganzen alten
Sicherungskästen sind hier noch. (atmet länger durch) Ich denke, da ist im Endeffekt
in den letzten Jahren... Betriebsjahren für uns gar nicht mehr viel gemacht worden.
Das sind ja solche alten Porzellansicherungen, wie Sie sehen. (lacht)
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Erzähler
Jetzt wäre ich gern neureich, um das Knusperhäuschen zu kaufen. Es
gehört immer noch der Firma Stocko, die seit zwanzig Jahren ein japanisches
Konzernunternehmen ist.
Die Gretchenfrage. Die Frage nach dem Druckknopf.
Take 52
[Claudia Köhler] Es gibt in irgendwelchen alten Unterlagen ja die
Behauptung, dass, dass jemand das erfunden hat, aber es war niemand, der bei uns
gearbeitet hat, wenn ich ehrlich bin. Soweit ich das mal gelesen hat, kommt der
sogar aus England ursprünglich. Aber das ist ne Sache, da werden viele Leute
sagen, das ist bei uns gewesen, und ich hab’s getan, und... Also, ich kann dazu
nichts sagen, dass das hier wirklich von Ihrem Urgroßvater entwickelt worden ist, das
weiß ich nicht.
Erzähler
Unsere Familiengerüchte schmelzen in den ersten Frühlingstagen in
Wuppertal dahin. Am liebsten hätte ich eine der alten Porzellansicherungen im
Knusperhäuschen herausgeschraubt. Als Beweis, dass es uns gab. Die Deckers in
Wuppertal. Lieber die Porzellansicherung in der Hand als die Erfinder auf dem Dach.
Akustischer Comic
Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Dritte Folge. Krach an der
Adriaküste. 27. März 1957. Novigrad. Wilhelm Decker liegt am Strand des
kroatischen Badeorts in einem Klappstuhl. Er döst mit einer Zeitung im Gesicht.
Friedrich Engels kommt auf das Meer zugelaufen. Anzug, langer Bart, Gehstock. Er
stellt sich neben Wilhelm Decker in den Sand.
Engels
Übrigens ist Ihr Urenkel Schriftsteller. Das wollten Sie doch wissen. Es
war ganz einfach herauszufinden. Nur ein wenig Recherche.
Ich habe die Papiere gefunden. Sie sind der Konstrukteur einer Maschine für
Druckknöpfe.
Decker
Sie sind ein Plagegeist, Engels. Aber was können Sie mir, einem alten
Mann, noch rauben?
Engels
Ihre Aufstiegsgeschichte. Ihre Aufstiegslegende.
Decker
Geben Sie die Zeitung zurück. Warum zerknüllen Sie das Papier? Sind
Sie toll geworden?
Engels
Lügen. Sie erleben die schleichende Verelendung der deutschen
Bourgeoisie am eigenen Leib. Und Sie lassen sich einlullen.
Decker
Ich gehe ins Hotel zurück.
Engels
Eine Verwandtschaft zwischen uns wird sich nicht finden.
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Decker
Ich bestehe auch nicht mehr darauf. Es ist gut, dass mein Urenkel mir
die Möglichkeit bot, den berühmtesten Sohn Wuppertals kennenzu...
Engels
Ihren Klappstuhl.
Decker
Wie bitte?
Engels
Ich enteigne ihn. Weil Sie ein Sozialdemokrat der ersten Stunde waren.
Ein Kämpfer für die Rechte der Arbeiter. Und heute? Bourgeoisie.
Decker
Hier. Ich schmeiße Ihnen den Klappstuhl und Ihre ganze Sucht nach
Prominenz vor die Füße. Wir wuppen das auch ohne dich. Richtig, Jan?
CD [meelman, Triggah & dezat feat. Drum Kid: Wir wuppen das]
Take 53
[Christine Knoche] Ja, das Bild muss entstanden sein, als er so um die
40 war, ähm. Kleine Fältchen schon um die Augen, ähm, und lichteres Haar schon.
Take 54
[Christine Knoche] Man würde sagen, relativ markantes Gesicht, denke
ich. Sehr ausdrucksstark, was den Charakter... Also, es spiegelte glaub ich ein
bisschen seinen Charakter wieder. Ein nettes, ähm, offenes Gesicht, aber irgendwie
auch so, ähm, ja, ähm...
Erzähler
In einer Bar in Elberfeld gehe ich mit..ähm..der Tochter der
Großcousine ein Feierabendbier trinken. Auch wenn Familiengerüchte keinen
Feierabend machen.
Take 55
[Christine Knoche] Ja, es ist schwierig in großen Familien, is ja, gibt’s
viele Reibereien und oft viele Hinterhältigkeiten, der eine spielt den anderen aus, und
ich bin eigentlich schon froh, dass es von mir nicht mehr so viele gibt, ähm.
Andererseits ist es natürlich an Geburtstagen sehr schade, dass nur fünf Leute am
Tisch sitzen anstatt vielleicht zehn.
Erzähler
Zeit zum Innehalten. Vor der großen Gespensterjagd im Wuppertaler
Stadtarchiv.
Take 56
[Jan Decker und Christine Knoche] Und was müsste ich jetzt tun, was
wären die nächsten Schritte, um Wuppertaler zu werden? In welcher Reihenfolge
und welche Schritte wären da notwendig? – Das geht nicht. Du bist nicht hier
aufgewachsen.
Erzähler
In 24 Stunden werde ich die Papiere sehen, die unsere Verwandtschaft
mit Friedrich Engels belegen oder widerlegen.
Take 57
[Christine Knoche] für mich macht das mich stolz, aber ich denke nicht,
dass es irgendjemandem etwas sagen würde, oder es irgendjemanden interessieren
11
würde, wenn ich sage: Mein Urgroßvater hat die Maschine für die Druckknöpfe
erfunden.
Erzähler
Christine Knoche. 24 Jahre alt. Urenkelin von Wilhelm Decker.
Take 58
[Christine Knoche] Also, damit kann man auf keinen Fall
irgendjemandem imponieren. (lacht) Das ist so. Deshalb erzähl ich das nicht. Aber so
für mich denk ich schon: Mein Urgroßvater war ja doch schon ein wichtigerer
Mensch, ne. Also, er hat was geleistet, was ein Stück weit verändert hat, ne.
Erzähler
Gesprächsbedarf über Wilhelm Decker. Wir updaten die beiden
Familiengerüchte. Unser Urgroßvater war der Erfinder einer Maschine zur
Herstellung von Druckknöpfen. Und dadurch mindestens imaginär mit Friedrich
Engels verbunden.
Take 59
[Christine Knoche und Jan Decker] Aber mehr, also, dass da (zögernd)
mit dem Friedrich Engels in irgendeine Verbindung besteht, das ist nie an mein Ohr
gedrungen, wirklich. – Für mich ist das sehr märchenhaft. Es gibt ja auch Else
Lasker-Schüler, ne Wuppertaler Dichterin... – Ja. – Die sehr märchenhafte Gedichte
geschrieben hat, oder die immer im Orient sein wollte. Und märchenhaft finde ich
auch, dass mein Großvater behauptet hat, er war mit seinem Vater, also mit deinem
Urgroßvater, als er Kind war, regelmäßig bei der Familie Engels. Sonntags zum
Kaffeetrinken. Das klingt doch märchenhaft, oder?
Take 60
[Christine Knoche] Ähm, wenn es wirklich so war, dass der Urgroßvater
diese Maschine erfunden hat, war er sicherlich zu seiner Zeit ein sehr angesehener
Mann in Wuppertal.
Erzähler
Die beiden jüngsten Deckers versuchen, Morgenland und Abendland
zusammenzudenken. Fakten und Gerüchte.
Take 61
[Christine Knoche] Und da der Friedrich Engels ja auch ne relativ große
Persönlichkeit dann zu seiner Zeit war, denk ich, dass diese beiden schon irgendwo
was verbunden hat dann.
Take 62
[Christine Knoche] Die Gesellschaftsschicht, in der die beiden verkehrt
haben, denk ich muss die gleiche gewesen sein.
Erzähler
Ich frage mich längst etwas anderes. Wie konnten sich die Lebenswege
zweier Menschen eines Milieus so verzweigen?
Take 63
Stadt.
[Reiner Rhefus] Also, sie gehörten zu den reichsten Familien hier in der
Take 64
[Reiner Rhefus] Er war ja selbst ein Unternehmer. Er hat selbst an der
Börse gehandelt und handeln müssen, das hat er sozusagen nicht jetzt moralisch
verurteilt.
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Erzähler
Den Großbürger Engels und den hochgearbeiteten Arbeiter Wilhelm
Decker trennten Welten.
Take 65
[Reiner Rhefus] Das ist das, was ihm eigentlich vorbestimmt war von
der Familie her, und was sozusagen auch er sehr souverän hätte bedienen können.
Er wär nämlich n’sehr sehr kluger Kopf. Der hätte auch in bürgerlichen Kreisen sich
wunderbar entwickeln können, mit seinen Fähigkeiten. Aber er hat sich in den Dienst
der unteren Klassen gestellt.
Erzähler
Bei Engels war das Leben auf großem Fuß mit im Familiengepäck.
Take 66
[Reiner Rhefus] Also, er war zeitweise sicherlich bekannter als der Karl
Marx, in seinen Lebzeiten. Weil er einfach die populäreren Schriften verfasst hat, ne.
Während Karl Marx die philosophisch tiefschürfenderen, sicherlich auch letztlich
bedeutenderen Werke verfasst hat, waren seine Werke einfach populärer und
wurden (mit Versprecher) mehr gelesen.
Erzähler
Letzte Erkundigungen über den berühmtesten Sohn der Stadt. Bei
Reiner Rhefus im Historischen Zentrum Wuppertal.
Take 68
[Reiner Rhefus] Er war zum Ende seines Lebens ein europaweit
bekannter Mann. Also, wenn man das jetzt einfach zum Kriterium nimmt, und nicht
die materielle Situation, dann war das sicherlich eine große Karriere, die er quasi als
Politiker, Wissenschaftler, Philosoph, weniger als Kaufmann oder Unternehmer, aber
eben in dieser intellektuellen Hinsicht gemacht. Und genau das war ja das, was er
Zeit seines Lebens wollte.
Erzähler
25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat der linke Kopf auf
dem berühmten Konterfei der beiden Erfinder des Marxismus den Sieg
davongetragen. Friedrich Engels wird als zweite Violine in diesem Konzert abgetan,
für die Auswüchse des real existierenden Sozialismus verantwortlich gemacht.
Schrankenlose Aufrüstung, aufgeblähte Geheimdienste, Indoktrination von
Kindesbeinen an. Ein Apparatschik und Pseudowissenschaftler aus dem Wuppertal.
Einer, den man kaum zu seiner Verwandtschaft schlagen möchte.
Zwischenansage
Engels
Zwischenspiel. Die Familienrecherche.
Erzähler
Wechsel auf die andere Seite der Friedrich-Engels-Allee.
Georg Braun übernimmt die Recherche.
Take 72
[Georg Braun] Mein Name ist Braun. Ich bin Mitarbeiter des
Stadtarchivs und hier zuständig für Personenstandsermittlungen.
Erzähler
Sherlock Holmes, übernehmen Sie!
13
Take 73
[Georg Braun] Die Ida Emilie, 10.10.78 geboren, die finden wir dann
unter der Registernummer 3282 in Barmen in 78, und da würd ich vorschlagen, dass
wir die Urkunde jetzt holen.
Erzähler
Meine Urgroßmutter Ida Emilie Decker, geborene Klapp. Sie soll
unserem ersten Familiengerücht zufolge mit Friedrich Engels verwandt sein. Von ihr
aus werden wir Generation für Generation zurückgehen, bis wir auf Friedrich Engels
stoßen.
Take 74
[Georg Braun] (blättert in Register) So, das ist die Geburt der Ida
Emilie. Hier sehen Sie den... Hier können Sie den Beruf tatsächlich auch richtig
lesen. Tatsächlich Schreiner, Friedrich Klapp. Leider in dem Fall ohne Altersangabe.
Take 75
[Georg Braun und Jan Decker] Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten. Wir
gehen in Barmen einfach die Heiratsregister zurück. – Hm. – Und gucken mal so nen
Zeitraum, ich sag mal zehn Jahre erst mal, ob wir da ne Heirat zwischen Friedrich
Klapp und der Emilie Schreiber finden. Äh, ne zweite Möglichkeit wäre, wir gucken
mal in den alten Adressbüchern, ob wir da... Ab wann wir da den Friedrich Klapp
finden, weil der... Im Allgemeinen haben die damals ne eigene Adresse erst nach der
Heirat gehabt. Also, das wären so die zwei Wege, die wir im Moment hätten.
Take 76
[Georg Braun] (betritt neuen Raum) So, hier ist einmal das Magazin mit
sämtlichen Registerbänden.
Take 77
[Georg Braun] (holt Register aus Schrank)
Take 78
[Georg Braun und Jan Decker] Äh, so das ist jetzt das HeiratsNamensverzeichnis von 76 an bis 80. Wenn wir Glück haben, dann haben die kurz
vor der Heirat von der Emilie geheiratet, dann würden wir sie hier finden. (sucht in
Register) – Super. – Da haben wir wirklich Glück gehabt. Emilie Schreiber. Emilie
Lisette. 77. Prima. So, das ist die Registernummer 710 aus 77, Barmen. Wie gesagt,
et gehört immer auch Glück dabei. (stellt Register in Schrank zurück) So, dann
müssen wir jetzt in den Keller. (lacht) – Mhm. Das ist spannend. – (im Gehen) Ja,
also Personenstandssuche ist wie Sherlock Holmes. (betritt neuen Raum) Ich bin ein
großer Liebhaber von Sherlock-Holmes-Geschichten, und Sie müssen manchmal
wirklich, wirklich kombinieren.
Erzähler
Erste Generation zurück. Lisette Emilie Schreiber. Meine
Ururgroßmutter.
Take 79
[Georg Braun] Äh, 710 aus 77. (sucht Register, blättert, flüstert, lange
Sequenz) So, dann haben wir jetzt die Heirat von dem Friedrich Wilhelm Klapp und
der Lisette Emilie Schreiber und haben jetzt hier zum Glück auch einen Hinweis auf
die Eltern der, der Lisette Emilie Schreiber, nämlich der Christian Schreiber und
dessen Ehefrau (stockend), oh, Anna Helene, schlechte Schrift, Anna Helene
Elisabeth, geborene...
14
Erzähler
Zweite Generation zurück. Anna Helene Elisabeth Flocke. Meine
Urururgroßmutter.
Take 80
[Georg Braun] Also, im Moment... Wir wissen nicht, auf welche Spuren
wir noch treffen. Es kann immer sein, dass, dass als Trauzeugen plötzlich en sehr
bekannter Name auftaucht. Dat wäre natürlich ein Haupttreffer, da den Namen
Engels irgendwo auf ner Heiratsurkunde zu finden, ne.
Take 81
[Georg Braun] wir sind im Moment in den, Anfang der 70er, 1870er
Jahre, wir gehen jetzt erst mal nochmal ne Generation zurück, so 1840, 1850, und
dann müssten wir mal sehen, ob da, äh, ob wir da noch, ob es Sinn macht, da noch
ne Generation weiter zurückzugehen, oder ob wir dann vielleicht erst mal ne Quer,
Querverbindung suchen.
Take 82
[Georg Braun] Also, ich bin im Moment am Neugierigsten auf die
Geburt von der Lisette Emilie, weil der Name uns eben schon ein paar Mal über den
Weg gelaufen ist. Die ist äh 1849 geboren. Die suchen wir jetzt.
Take 83
[Georg Braun] (sucht Register, murmelt Zahlen) So, dann gucken wir
mal nach der Lisette. (blättert) Das ist die Lisette, die Geburt der Lisette Emilie
Schreiber vom 25. Juli 1849. Jetzt bin ich mal gespannt, wer die Eltern gewesen
sind. (Pause, lacht) Christian, Christian Schreiber, das überrascht mich jetzt doch ein
bisschen, aber gut. Äh, der Christian Schreiber war 1849 32 Jahre alt. (notiert)
Erzähler
Dritte Generation zurück. Christian Schreiber. Mein Ururururgroßvater.
Take 84
[Georg Braun] Dat müssen wer, dat, das müssen wir noch rauskriegen.
Det kann sein, dass dieser Christian Schreiber der Vater des anderen Christian
Schreiber gewesen ist. Das finde ich jetzt gerade mal ziemlich spannend. (notiert)
Äh, 32. Und die Frau von dem Christian Schrei... Von unserem, von dem hier, von
diesem Christian Schreiber, ist die, aha, Anna Helene, auch Lisette, Flocke
wahrscheinlich.
Erzähler
Wir sind im Jahr 1817 in den Registerbänden. Ein Gefühl wie das
Tauchen in sehr großer Tiefe. Ich bin der erste Decker, der so weit in das eigene
Abendland vordringt.
Take 87
[Georg Braun] Ach, da ist er. Registernummer 27.
Take 88
[Georg Braun] So, das ist die Heirat. Das ist der Christian Schreiber.
Aha, der ist nicht in Barmen geboren. Dann haben wir ihn auch nicht finden können.
Im Regierungsdepartement Magdeburg.
Take 89
[Georg Braun] Der war der Sohn eines Wilhelm Schreiber, und einer
Dorothea Fricke, auch beide wohnhaft zu Wittenberg.
Erzähler
Vierte Generation zurück.
15
Take 90
[Georg Braun] Und der hat geheiratet die Lisette Helene, Helene
Flocke, 25 Jahre alt. Die ist geboren in Barmen. Ja, dann ist der zur Heirat nach
Barmen gekommen. Fabrikarbeiterin.
Erzähler
Die Gespensterjagd ist an diesem Punkt beendet.
Take 91
[Georg Braun] Weil da seh ich jetzt erst mal keinen Zusammenhang.
Weil der, äh, weil der aus Magdeburg kommt, und da denk ich eher, is ne andere,
andere Schreiber-Linie.
Erzähler
Wir sind in der Goethezeit gelandet. Bei meinem Urururururgroßvater
Wilhelm Schreiber aus Wittenberg. Und bei einem Fazit.
Take 92
[Georg Braun] Also, ich sehe bei der Familie Klapp jetzt nicht, auch
nicht wirklich ne Verbindung, weil die offensichtlich aus dem Waldeckischen
gekommen sind. Nach Barmen.
Erzähler
Meine Urgroßmutter Ida Emilie Klapp, Ehefrau von Wilhelm Decker, ist
entgegen unserem ersten Familiengerücht nicht mit Friedrich Engels verwandt. Auch
das zweite Familiengerücht hat sich nicht bestätigt. Mein Urgroßvater ist nicht der
Erfinder des Annähdruckknopfs. Beide Familiengerüchte stimmen nicht. Negatives
Gepäck, eine luftleere Gewissheit, die ich aus Wuppertal zum zweiten Besuch bei
meinem Vater mitnehme.
Akustischer Comic
Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Vierte Folge. Knöstern verboten.
27. März 1995. Wuppertal-Sonnborn. Friedrich Engels steht am Geländer der Brücke
am Kirchhofweg. Er blickt auf die Leuchtbuchstaben der Firma Stocko. Wilhelm
Decker gesellt sich zu ihm. Nadelstreifenanzug, marineblau. Krawattenschleife am
Hemdkragen. Elegant, aber etwas altmodisch. Ein D-Zug fährt durch.
Engels
Seit 1994 gehört Stocko einem japanischen Unternehmen.
Decker
Der Prophet vom Ölberg.
Engels
Nehmen Sie meinen Gehstock. Verschwinden Sie aus der Bildfläche.
Ich möchte Ihrem Urenkel ein paar Botschaften mitteilen.
Decker
Ein paar Botschaften? Die kann er sich selbst denken. Ihre Erfindung ist
die Luftnummer eines verwöhnten Sohns. Und Ihr Gehstock... Liegt jetzt auf den
Eisenbahngleisen.
Engels
Immerhin besitze ich die Patentrechte auf den Marxismus. Und jetzt...
Ihre Krawattenschleife.
Decker
Sie hätten mich fast erwürgt.
16
Engels
Verwandtschaft kann man nicht kaufen. Los, zu den Toten zurück.
Decker
Mein Urenkel weiß, dass Blut dicker als Wasser ist.
Engels
Ein schönes letztes Wort. Goodbye.
Decker
Am Ende sind wir beide Knösterer. Tüftler aus dem Wuppertal.
Engels
Ihre Krawattenschleife. Jetzt segelt sie auf den Bahndamm herunter.
Decker
Reichen wir uns die Hand. Von Knösterer zu Knösterer.
Engels
Nur zu. Erlauben Sie, dass ich... Fest zudrücke... Und während Sie sich
vor Schmerz winden, ansage. Dritter Akt. Alltag lässt sich nur über sein Gegenteil
umreißen. In den Alltag bricht etwas hinein.
Schließen eines Druckknopfs [O-Ton]
CD [Bosse: Schönste Zeit]
Take 93
[Jan Decker] (liest aus Krankenakte seiner Mutter vor) Psychiatrisches
Krankenhaus Merxhausen bei Kassel. 15. Januar 1978. Kurzer psychischer Eindruck
bei Aufnahme: Patientin verweigert alles. Versorgt das kleine Kind nicht. Kümmert
sich um nichts. Essen und Trinken nur, wenn es ihr gebracht wird.
Erzähler
Die zwischen 1970 und 1980 Geborenen gelten als Meister der leisen
Ironie. Schwache Träumer. So bezeichne ich meine Generation in einem Telefonat
mit einer Freundin, Jahrgang 1979. Pures Morgenland. Deshalb ist die Bionade
unser Markenzeichen. Jene Fruchtlimonade, die auch nach dem Genuss großer
Mengen nicht berauscht.
Take 94
[Jan Decker] (Fortsetzung) Patientin wurde in Einzelzimmer isoliert.
Einweisung auf polizeiliche Anordnung. Äußerte dauernd, sie wolle sterben.
Erzähler
Heute sind wir zwischen 30 und 40 Jahre alt. Wir könnten diese
Gesellschaft verändern. Aber unser Aufbruch bleibt verzagt. Bitte ein Manifest,
schreibt eine Journalistin in Richtung Piratenpartei. Doch es kommt kein Manifest.
Stattdessen kommen fruchtlose Streitigkeiten um die Sandalen des
Parteivorsitzenden.
Take 95
[Jan Decker] (Fortsetzung) 30. Juni 1978. Es besteht kein Zweifel mehr
an der hypomanen Symptomatik. Sie redet ununterbrochen, lacht.
Erzähler
Werden wir Kinder der Posthistorie es sogar schaffen, die Toten
verstummen zu lassen, auf dass wir ewig Bionade trinken können?
17
Take 96
[Jan Decker] (Fortsetzung) Zuhause hat es große Schwierigkeiten
gegeben, sie sprach in Reimen, sagte zum Beispiel zu ihrem Sohn: Janilein, du
kleines Schwein.
Erzähler
Die Patientin, zu der diese Krankenakte gehört, ist meine Mutter. Maria
Gschösser, verheiratete Decker. 1946 in Brixlegg, Tirol, geboren.
Take 97
[Jan Decker] (Fortsetzung) Diagnose: Schizophrener Defekt.
Erzähler
Ich glaube, ich schaue in mein eigenes Abendland, weil ich seit kurzem
älter als sie bin. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, älter als meine Mutter zu sein.
Take 98
[Jan Decker] (Fortsetzung) Am 20. April 1981 unter den Zug gegangen.
Erzähler
Weil nun ein unwirklicher Schleier über allen Terminen im Kopf liegt.
Das Ambrosia, das ihr Freitod mir schenkte, ist verbraucht. Der selige Zustand der
Familienlosigkeit. Das Leben im Morgenland.
Take 99
[Computer-Ansagestimme] (liest Bearbeitungsmaske des WikipediaEintrags von Jan Decker vor) Sortierung: Decker, Jan. Kategorie: Autor. Kategorie:
Deutscher. Kategorie:
Erzähler
Heute sind wir 30- bis 40jährigen selbst Eltern. Davonlaufen ist keine
Lösung mehr. Zumal mit Kindern am Rockzipfel.
Take 100
[Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) Geboren 1977. Kategorie:
Mann. Personendaten: Name ist gleich Decker.
Erzähler
Als Kind las ich Kinderbücher aus der DDR. Freunde aus Rostock
schickten sie mir. Was hätte Friedrich Engels von ihnen gehalten? Eines der Bücher
erzählt von dem Dorf Kautokeino in Lappland. Heute liest es mein Sohn. Schwacher
Beginn einer Familientradition?
Take 101
[Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) Jan. Alternativnamen ist
gleich. Kurzbeschreibung ist gleich deutscher Schriftsteller. Geburtsdatum gleich
neun.
Erzähler
Was bleibt sonst von mir? Auf der Liste der berühmten Persönlichkeiten
der Stadt Kassel. Tod durch Wikipedia.
Take 102
[Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) November 1977. Geburtsort
ist gleich Kassel. Sterbedatum ist gleich. Sterbeort ist gleich.
Take 103
[Jochen Decker] Ja, und hier befinden wir uns an meinem Elternhaus.
Erzähler
Zweiter Besuch bei dem Vater. Die Konfrontation.
18
Erzähler
Bad Arolsen, Jahnstraße 42a. Hierhin zog Hans Decker, der Sohn von
Wilhelm Decker, nachdem seine Wuppertaler Wohnungen im Zweiten Weltkrieg
ausgebombt wurden.
Take 105
[Jochen Decker] Es war schon gewohnheitsbedürftig, denn er hatte sich
ja nicht mehr in die ursprüngliche Situation mit einem doch Hausbesitz und
Grundbesitz zurückführen können, und das war für ihn dann schon etwas
beengender.
Erzähler
Die Deckers aus dem Erfinderparadies vertrieben.
Take 106
[O-Ton] (Stereoaufnahme, Jochen Decker schließt Haustür seiner
Arolser Wohnung auf)
Erzähler
Wir besuchen das Grab von Hans und Gertrud Decker. Das
Schwimmbad im Thieletal, das im Dritten Reich für eine SS-Garnison erbaut wurde,
und in dem mein Vater und ich das Schwimmen lernten.
Take 107
[Jochen Decker] Ja, jetzt befinden wir uns also hier in unserer kleinen
Wohnung in Arolsen, und die Wohnung, die ist auch zu sehen unter einer Wohnstätte
der Rückkehr in die, ja, die Vergangenheit nicht, sondern in die Umgebung, in der
man sich doch auch jahrzehntelang wohlgefühlt hat.
Erzähler
Dann spiele ich ihm die Aufnahmen aus Wuppertal vor.
Take 108
[Claudia Köhler] (als O-Ton über Laptop im Arolser Wohnzimmer, kann
nicht bestätigen, dass Wilhelm Decker den Druckknopf erfunden hat)
Take 52
[Claudia Köhler] Es gibt in irgendwelchen alten Unterlagen ja die
Behauptung, dass, dass jemand das erfunden hat, aber es war niemand, der bei uns
gearbeitet hat, wenn ich ehrlich bin. Soweit ich das mal gelesen hat, kommt der
sogar aus England ursprünglich. Aber das ist ne Sache, da werden viele Leute
sagen, das ist bei uns gewesen, und ich hab’s getan, und... Also, ich kann dazu
nichts sagen, dass das hier wirklich von Ihrem Urgroßvater entwickelt worden ist, das
weiß ich nicht.
Take 109
[Jochen Decker] Eigentlich bin ich nicht überrascht, weil im Grunde
genommen, ohne ne nachgewiesene Patentanmeldung ist mit Sicherheit so eine
technologische Entwicklung in verschiedenen Händen unter Umständen, man
erinnert sich dabei an den Bau des ersten Automobils oder an den Dieselmotor oder
an die Glühbirne, wo ja auch verschiedene Entwickler den Ansatz gemacht haben.
Aber soviel mir eben bekannt war, ist die grundsätzliche Entwicklung in der (betont)
Serienfertigung, industriell und ausgelegt auf diesen Sektor war die Firma, indem sie
sich von vorneherein ausgestattet hat mit besten Werkzeugmachern, und die
brachten erst die Voraussetzungen, zumindest um eine Serien- und
Massenherstellung zu bewirken, und diese Massenherstellung soll nun mal von dort
aus gegangen sein.
19
Take 92
[Georg Braun] Also, ich sehe bei der Familie Klapp jetzt nicht, auch
nicht wirklich ne Verbindung, weil die offensichtlich aus dem Waldeckischen
gekommen sind. Nach Barmen.
Take 110
[Georg Braun und Jochen Decker]– Klapp? Was?
Take ??
(Jan Decker) Wie geht’s Dir jetzt damit. Ist das für Dich jetzt eine
Enttäuschung, daß die Verwandschaft zu Friedrich Engels nicht bestand, dass das
eher ein Kontakt war unter Nachbarn oder unter gewissen Kreisen….
Take 111
[Jochen Decker] Enttäuschung ist es nicht, aber ne Überraschung. Weil
ich nach den Darstellungen immer wieder davon ausgegangen wäre, bin, dass die
Verbindungen enger gewesen sein mussten. So wie es mir dargestellt worden ist.
Erzähler
Mein Vater freut sich sogar, dass ich Licht in unsere beiden
Familiengerüchte gebracht habe
Erzähler
Es erleichtert ihn sichtlich, nun alles auf dem Tisch liegen zu haben.
Das Nichterfindertum meines Urgroßvaters. Die Nichtverwandtschaft mit Friedrich
Engels.
Take 113
[Jochen Decker] Und irgendwie eigenwillig ist, dass leider nicht mit
meinem Vater Hans Decker darüber zu Lebzeiten mehr oder detaillierter gesprochen
worden ist.
Erzähler
Am Ende präsentiert er mir mit großem dramatischem Gespür unser
drittes Familiengerücht, das ich zum ersten Mal höre.
Take 114
[Jochen Decker] Und mein Vater hat ja, dein Opa, erfunden den
Maschinengewehrgurt für den Einsatz in Sand und Dreck und so weiter in Afrika und
so weiter.
Erzähler
Natürlich, es ist wie mit den russischen Matroschka-Puppen. Im ersten
Familiengerücht steckt das zweite, und so weiter bis unendlich. Ich lasse meinen
Vater das Gerücht zu Ende sprechen.
Take 115
[Jochen Decker] Also diese Glieder, die, wenn du den Patronengurt
reinwerfen konntest irgendwo in Metall, praktisch trotzdem noch funktionierten.
(Klacklaut)
Erzähler
Und schalte das Aufnahmegerät aus.
CD [Heinz Rudolf Kunze: Vertriebener]
Akustischer Comic
20
Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Fünfte Folge. Eine neue
Erfindung. 27. März 1981. Arolsen. Freibad im Thieletal. Gertrud Decker geht mit
ihrem Enkel Jan zum Schwimmbecken. Sie hält eine Metallstange mit einem Ring in
der Hand. In einiger Entfernung stehen zwei altmodisch gekleidete Herren unter
einer Pappel. Friedrich Engels und Wilhelm Decker. Sie reichen sich einen Walkman
mit Kopfhörer.
Engels
Transportable Musik. Fast so nützlich wie mein Marxismus. Möchten
Sie auch hören?
Decker
Meine Schwiegertochter bringt meinem Urenkel Jan das Schwimmen
bei. Schauen Sie zu, oder verschwinden Sie.
Engels
Vergessen Sie nicht unseren Auftrag.
Decker
Wollen Sie mir wieder die Hand brechen?
Engels
ausreden.
Sie wehren sich nicht gegen Ihren Abstieg. Und ich soll Ihnen das
Decker
Sagt er? Der kleine Mann dort? Ihre Mittel sind kriminell, Engels. Ich
verabscheue Gewalt.
Engels
Ein Krimineller? Das sagen Sie, weil sich Ihr erstes Familiengerücht im
Wind zerstäubt hat.
Decker
Den Walkman. Sofort hergeben. Er gehört meinem Urenkel.
Engels
Solange Sie im Kreislauf von Besitz und Ausbeutung verharren, gebe
ich Ihnen gar nichts her.
Decker
mich.
Sie wollen an mir Ihren Kommunismus exorzieren. Aber ich wehre
Engels
Ja, wehren Sie sich. Darauf wartet Ihr Urenkel doch. Nur zu.
Decker
Nun gut, ich nehme Sie... Und schleife Sie über diese Wiese bis
hierhin... An den Rand des Schwimmbeckens... Und ich frage Sie noch einmal:
Wollen Sie die Abschaffung des Kapitals?
Engels
Natürlich. Und den Walkman Ihres Urenkels nehme ich mit.
Decker
Viel Spaß! Ja, schwimmen Sie nur. Die Arme gleichmäßig nach vorne
stoßen. Nicht untergehen, Engels. Darum geht es doch. Nicht untergehen.
CD [Johannes Kiehl: Calle melancolia]
Evtl. O-Ton Collage La Gomera (O-Töne aus Archiv)
21
Erzähler
Ortswechsel. Eine Veranda, die auf ein lichtdurchflutetes Tal zeigt. Ich
höre und rieche das Meer. La Gomera. Mekka glücklicher Deutschland-Vergesser.
Ich habe Friedrich Engels und Wilhelm Decker, die beiden Knösterer aus Wuppertal,
hinter mir gelassen. Unter der kanarischen Sonne denke ich an den Mann, den ich
eben am Müllcontainer in der Gemeinde Hermigua traf, und der seine Abfälle in
Säcke gepackt und ordentlich verknotet hatte. Er sagte mit rheinischem Dialekt zu
mir: Klasse Wetter erwischt, was? Ich möchte ihm sagen, dass ich etwas anderes
erwischt habe. Eine neue Sicht auf Familiengerüchte. Ich glaube nicht mehr, dass die
Familie uns an verdrängte Motive der Schuld bindet. Uns binden harte soziologische
und ökonomische Faktoren, das Morgenland. Das haben Friedrich Engels und die
Generation Bionade in erstaunlicher Eintracht bewiesen. Vom Abendland, von den
Familien, müssen wir erzählen. Warum nicht gleich hier, im Schatten einer Veranda
auf La Gomera?
Take 116
[Kolja Decker] Papa, wer war mein Ururopa?
Comic Ansager
Morgenland und Abendland. Friedrich Engels, der Erfinder des
Marxismus und mein Urgroßvater Wilhelm Decker, der Erfinder des
Annähdruckknopfs. Feature von Jan Decker.
Es sprachen: Ole Lagerpusch als Erzähler
Friedhelm Ptok als Wilhelm Decker und Matthias Habich als Friedrich Engels;
Die Comics hat angesagt: Barbara Phillip
Ton: Hermann Leppich; Regieassistenz: Lydia Ziemke
Regie: Giuseppe Maio.
Reißverschluß
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013.
Ende
22