SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Feature am Sonntag Morgenland und Abendland Von Jan Decker Sendung: Sonntag, 17. Juli 2016, 14.05 Uhr Redaktion: Walter Filz Regie: Giuseppe Maio Produktion: DLR Kultur 2013 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Feature am Sonntag können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Feature am Sonntag sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Bei Feiern und Sterbefällen werden sie hervorgeholt und kurz besichtigt. Sie existieren seit Jahrzehnten. Sie sind viel älter als ich. Und sie werden mich überleben, wenn ich nichts unternehme. Erzähler Diese Gerüchte besagen, mein Urgroßvater…. Take 1 [Jochen Decker] Er selbst, Wilhelm Decker, ist also häufiger mit seiner Familie, also auch mit Hans Decker, bei den Engels zu Besuch gewesen, und es bestand auch ein direkter Kontakt zu den Engels-Nachkommen. Erzähler Und es wird geraunt, er sei…. Take 2 [Jochen Decker] Erfinder, und zwar (Pause) gilt er als Erfinder der Annähdruckknöpfe. In dieser Zeit dort Fertigung zwar aller Art von Druckknöpfen, aber das war das Novum, denn diese Druckknöpfe mussten nicht mehr gestanzt werden, sondern konnten eben angenäht werden. Comic Ansager Morgenland und Abendland. Friedrich Engels, der Erfinder des Marxismus und mein Urgroßvater Wilhelm Decker, der Erfinder des Annähdruckknopfs. Feature von Jan Decker. Erster Akt. Die Toten sollen verschwinden. Schließen eines Druckknopfs [O-Ton] Erzähler Ein Familiengerücht, lese ich in einem psychologischen Lehrbuch, kann Motive der Schuld über Generationen hinweg tradieren. Take 3 [Jochen Decker] (zeigt am Computer auf Google Maps Wilhelm Deckers Haus) Ach, guck mal! Hier sieht man die, äh... Die Firma, ne. Stocko. Und hier ist das Haus. Guck mal. Das ist es. Und dieses Grundstück, so wie es umrissen ist, dieses Riesen... Gehörte ihnen. Erzähler Es entstehen Loyalitätsbindungen an lebende oder tote Vorfahren, die zu Krisen führen können. Adoleszenzkrisen. Ablösungskrisen. Ehekrisen. Take 4 [Jochen Decker] (am Computer) Und er hatte genug Geld in Goldmark seinerzeit schon nach dem Ersten Weltkrieg. Erzähler Das Familiengerücht ist ein Phantasma, das in uns herumschleicht. Manchmal ein Leben lang. Take 5 [Jochen Decker] (am Computer) Dann hat er es versäumt, zu kaufen. Das ganze Geld ist bei der ersten Währungsreform nach dem Ersten Weltkrieg verfallen. Erzähler Bei mir ist es einfacher. Die beiden Familiengerüchte umkreisen die große Leerstelle in meinem Leben. Von ihr wird später die Rede sein. Take 6 [Jochen Decker] (am Computer) Jetzt hat er aber auch den Fehler begangen... Er hatte schon wieder einiges an Geld angespart gehabt und Vermögen... Hat nach dem Zweiten (Versprecher)... Im Zweiten oder vor dem Zweiten Weltkrieg auch wieder nicht dieses Angebot wahrgenommen. Er wohne doch da günstig zur Miete. Die Miete wurde nie erhöht. Anstatt dieses Haus zu kaufen. Und ist wieder in die zweite Inflation mit seinem Geld reingefallen. Erzähler Zunächst bringen mich die Familiengerüchte in die Stadt, aus der die Familie meines Vaters kommt. Ich kenne diese Stadt nicht. Eine Loyalitätsbindung führt mich in sie. Oder: Neugier auf meine Wurzeln. Take 7 [Jochen Decker] Die Firma existiert ja heute noch, hat allerdings heute eine, äh, Übernahme erfahren im Jahr 94 durch die japanische YKK, einem bekannten Reißverschlusshersteller, der weltweit tätig ist, und führt heute den Namen Stocko YKK Fasteners. Erzähler Vielleicht werde ich in Wuppertal mit schillernden Fakten über die Deckers belohnt: Verwandt mit Friedrich Engels. Take 8 [Jochen Decker] Es waren keine geschäftlichen Gespräche, es waren persönliche, verwandtschaftliche Kaffeerunden, in denen man sich eingefunden hatte, und eigentlich persönliche Gespräche führte auch. Erzähler Belohnt, denn niemand von uns sagte klar: Wir sind mit Friedrich Engels verwandt. Hier. Schwarz auf weiß. Also werde ich mich um die Klarstellung kümmern. Ebenso um das zweite Familiengerücht. Der Menschheit den Druckknopf als Segen gebracht. Take 9 [Jochen Decker] (am Computer, Mausklick) Er hat zum Beispiel hier, äh... Gibt’s wasserdichte Druckknöpfe, (Mausklick) dann Jeansprodukte gehören dazu mit Hohlnieten. Zum Beispiel diese Nieten hat er entwickelt auch für die, äh... Verschlussstücke. Take 10 [Jochen Decker] Er hat nie seine Erfindung patentieren lassen. Erzähler Dazu muss ich meine 20 Termine im Kopf vergessen. Mein eigenes Abendland betreten. Ich meine nicht das aufgeklärte Abendland, in dem wir leben. Ich meine die eigene Familienvergangenheit. Das ganz private Abendland, das ich meide, weil es dem Orient gleicht, den die Wuppertalerin Else Lasker-Schüler in ihren Gedichten beschwörte. Rätselhaft, mystisch, dunkel. 3 Take 11 [Jochen Decker] Man konnte also stark verfolgen, an welchen Tagen welche Betriebe ihre farbigen Abwässer in die Wupper leiteten, und die Wupper hatte auch noch, so ist mir schon aus meiner Kindheit noch vertraut, so einen (hebt Stimme) intensiven Anilingeruch... Erzähler In unserem Selbstbild sind wir zwischen 1970 und 1980 Geborenen Lichtgestalten. Urbane Trendsetter. Die Zielgruppe der Bionade-Werbung. Aber möchte ich so sterben? Als Angehöriger der Generation Bionade? Take 12 [Jochen Decker] Alles wurde ausgespuckt, zudem war das Tal durchfahren durch seinerzeit die vielen (Pause) Dampfloks und Züge... Erzähler Noch kann ich im Abendland Wuppertal schwelgen. Ich fantasiere die Begegnungen zwischen Friedrich Engels und Wilhelm Decker, die mein Vater mit Motiven aus der Familiengeschichte anreichert, in akustischen Comics aus. Take 13 [Jochen Decker] Und wo ich mich gerne als Kind auf diese kleine Brücke stellte, am Kirberg, äh, am Kirchhofweg, und als Kind mich vom Dampf dieser vorbeifahrenden Lokomotiven verschlucken ließ. (gespannte Pause) War plötzlich, wenn du mit dem Auto gefahren bist... (Pause) Nichts mehr gesehen. Erzähler Ich kümmere mich nicht um die Fakten. Vermische die Zeiten und Orte. Die Lebenden und die Toten. Abendland. Träumerei. Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Erste Folge. Dampf über der Wupper. 27. März 1943. Wuppertal-Sonnborn. Zwei Dampflokomotiven hüllen alles in einen dichten Nebel ein. Allmählich tauchen die Schemen zweier Männer auf. Wilhelm Decker, 67 Jahre, langer Mantel, Borsalino-Hut mit Krempe, blank geputzte Schuhe. Friedrich Engels, 74 Jahre, groß gewachsen, langer grauer Bart, Gehstock. Sie stehen am Geländer einer Brücke am Kirchhofweg. Hinter ihnen ein Fabrikgebäude mit großen weißen Buchstaben. Stocko. Engels Sie haben mich herbestellt. Wilhelm Decker Mein Urenkel Jan Decker. Nicht ich. Engels Friedrich Engels. Das Gespenst des Kommunismus. Decker Ich muss weiter. Engels Sie könnten ein wohlhabender Mann sein. Stattdessen tüfteln Sie an einer Niete. Decker Ein neuartiger Druckknopf. Kriegswichtig. 4 Engels Sie mischen also am Endsieg des Führers mit. Decker Lassen Sie meinen Mantel los. Engels Damit Sie unsichtbar bleiben können. Ein anonymer Bürger. Das hat sich Ihr Urenkel anders vorgestellt. Decker Autsch. Sie kneifen meine Wange. Engels Sie haben den Druckknopf erfunden. Decker Ja. Und jetzt habe ich Ihren Gehstock geklaut. Engels Beweisen Sie es. Decker Ich muss ihnen gar nichts beweisen! Auf Wiedersehen, Herr Engels. Engels Halt. Mein Gehstock! Bleiben Sie hier. Erzähler Am Ende meiner Recherche wartet vielleicht nur ein Gespenst auf mich. Friedrich Engels, der mir zuflüstert: Decker, eine ganz normale deutsche Familie. Aber immerhin kann ich es meinem Sohn dann sagen. Dass ich es gewuppt habe. Die Familiengerüchte wuppen oder nicht wuppen. Das ist hier die Frage. Denn diese Geschichte spielt in Wuppertal. CD [meelman, Triggah & dezat feat. Drum Kid: Wir wuppen das] Erzähler Ich bin nach Wuppertal gereist, um unsere Familiengerüchte zu klären. Take 22 [Annemarie Knoche] (Telefongespräch) Ja, hallo. Hier ist Annemarie Knoche. Ja, leider haben wir uns gestern nicht erwischt, und ich erwisch dich jetzt auch nicht, ähm. Take 23 [Christine Knoche] (Telefongespräch) Die Oma hatte ja immer erzählt, dass ihr Vater, ähm… Er war ja Mitbegründer von Stocko, aber sein Partner hat ihn ja irgendwie verarscht. Erzähler Im real existierenden Sozialismus hätte es vielleicht feierliche Empfänge für die Familie Decker, Friedrich Engels Wuppertaler Verwandte, gegeben. Freiflüge mit der Interflug. Gratisurlaub an der jugoslawischen Adriaküste. Prunkvolle Stadtführung durch die wolgadeutsche Stadt Engels in der Sowjetunion. Take 25 [Jan Decker] (Telefongespräch) Dass die, dass unsere Urgroßmutter mit Friedrich Engels verwandt war, ja? Take 26 [Christine Knoche] (Telefongespräch) Mh mh, noch nie (Reißverschöuß). Das hab ich, äh, nee.(Knopf) 5 Erzähler Der Annähdruckknopf meines Urgroßvaters wäre massenhaft hergestellt worden, mit dem eingestanzten Konterfei von Friedrich Engels obenauf. Kopf oder Zahl. Take 27 [Christine Knoche] (Telefongespräch) Wat, wat hat der erfunden? Erzähler Noch ist die Münze nicht gefallen. Ich habe unsere Familiengerüchte lieb gewonnen, merke ich. Der schrullige Alte aus London soll ruhig zu uns gehören. Sein Name steht für den großen Anspruch, eine gerechte Welt zu erschaffen. Take 28 [Annemarie Knoche] (Telefongespräch) Aber jetzt über ne Verwandtschaft mit Friedrich Engels weiß ich gar nix, also... (mit Einatmer) Akustischer Comic Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Zweite Folge. Vertriebener. 27. März 1953. Wuppertal-Ölberg. Arbeiterviertel. Wilhelm Decker vor einer Hausruine. Strömender Regen. Sein Ausgehmantel und der Borsalino-Hut sind tropfnass. Er hält einen Gehstock in der Hand. Im einzig verbliebenen Altbau der Straße Menschen wie im Guckkasten. Zeitung lesend, sich anziehend, streitend. Die Gleisanlagen der Schwebebahn. Im Hintergrund dampfende Schornsteine. Friedrich Engels spaziert wacklig auf ihn zu. Engels Na? Kopf oder Zahl? Sie haben die Beweise nicht geliefert. Decker Aber Ihren Gehstock. Engels Her damit! Der Ölberg. Das letzte Proletarierviertel Wuppertals. Ein Ausflug ins Proletarierelend? Decker Mein Urenkel meinte, Sie hätten eine zweite Chance verdient. Schließlich gehören Sie, meint er... Engels Ihr Borsalino-Hut steht mir gut. Decker – Geben Sie den Hut zurück! – zur Verwandtschaft. Engels Die Hitlerei ist zu Ende. Und Sie verharren im klein-klein. Decker Der Philosoph vom Ölberg. Was ist klein-klein? Engels Dass dieser Hut nur Ihnen gehört. Und nicht allen. Decker Ich habe mein Vermögen nach zwei Inflationen verloren. 6 Engels Sie speisen von der Bergischen Kaffeetafel, während Ihre Arbeiter Rüben fressen. Decker Essen wie Sie es gewohnt sind, Hummersalat und Château Margaux, konnte ich mir niemals leisten! Engels Ihre Nachfahren werden Arbeitsmigranten sein. Vertriebene. Decker Was wissen Sie über meinen Urenkel? Finger weg, Engels. Engels Vorerst borge ich mir Ihren Hut. Revanche folgt. CD [Heinz Rudolf Kunze: Vertriebener] Take 29 [Annemarie Knoche – im Lied] (liest Vertriebener von Heinz Rudolf Kunze vor) Meine Mutter war so treu, dass mir schwindlig wird, mein Vater war bei der SS. Ich heiß Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel, und Rudolf wie Rudolf Heß. Engels Zweiter Akt. Die Erinnerung ist die Rakete der Utopie. Die Frage ist: Was passiert, wenn die Erinnerung abhanden kommt? Schließen eines Druckknopfs [O-Ton] Take 30 gefühlt? [Annemarie Knoche] Haben die sich jetzt wirklich als Vertriebene Erzähler Meine Unruhe wächst mit jedem Gespräch. Ich möchte Papiere sehen. Beweise. Gesichertes Abendland. Die beiden Familiengerüchte schwarz auf weiß bestätigt. Sofort. Take 32 [Annemarie Knoche] Wilhelm Decker war eben, ja, so ne Art hochgearbeiteter Arbeiter, der sich zwar zu Wohlstand hochgearbeitet hat, aber dann eben durch den Krieg dann eben wieder alles verloren hat, ne. Erzähler Besuch bei meiner Großcousine Annemarie Knoche, Enkelin von Wilhelm Decker. Mit ihrer Tochter Christine letzte lebende Decker in Wuppertal. Wenn jemand Licht in unsere Familiengerüchte bringen kann, dann sie. Take 33 [Annemarie Knoche] Das, was ich von meiner Mutter erfahren habe, er hat ja Werkzeugmacher gelernt, und er hat sich wohl lange den Kopf darüber zerbrochen, äh, wie man diese, äh, Druckknöpfe, ähm, maschinell fertigen kann, und hat also, äh, die erste Maschine, die Druckknöpfe, äh, herstellen kann, erfunden. Gebaut. Erfunden ist so’n, so’n merkwürdiger Ausdruck, ne. Er hat die gebaut. Er hat sich Gedanken gemacht, wie die eine Form und die andere Form, äh, (längere Pause) so hergestellt werden kann, dass es eben nicht nur jeweils einen, einen 7 Druckknopf gibt, sondern dass ganz viele in einem, in einem Arbeitsgang gemacht werden können, ne. Take 34 [Annemarie Knoche] Also, um die Erfindung ging’s da gar nicht. Ich hab von meiner Mutter gehört, dass es sehr darum ging, ähm, dass er nicht auch, äh, einen Teil der Leitung der Firma Stocko übernommen hat, weil er das Unternehmen ja zusammen, äh, mit diesem Herrn Henkels, ähm, gegründet hatte. Erzähler Ich erfahre, dass Wilhelm Decker das Bild vom strahlenden Erfinder noch weniger erfüllte, als ich dachte. Und er doch gleichzeitig ein beharrlicher Erfinder war. Take 35 [Annemarie Knoche] Und, ähm, meine Mutter erzählte immer, dass er darüber immer getrauert hat, dass er da ausgebootet wären, äh, worden ist. Take 36 [Annemarie Knoche] Weil er eben keine Ahnung vom Kaufmännischen hatte. Er war eben der Arbeiter. Er war eben der Werkzeugmacher, der von Maschinen jede Ahnung hatte, aber, ähm... Erzähler Ein Mann von unten, der Betriebsleiter der Firma Stocko wurde. Erfinder nicht des Annähdruckknopfs, sondern einer Maschine zur seriellen Fertigung von Druckknöpfen jeglicher Art. Das in treuen Firmendiensten. Take 37 [Annemarie Knoche] da war ein Kollege, ähm, der lieh sich immer zwei, drei Taler von ihm. Ein Taler war damals drei Mark. Und irgendwann nach einigen Monaten schuldete ihm dieser Mensch, meinem Großvater immer mehr Geld, und mein Großvater hat das Geld nie wieder gesehen. Und davor warnte dann mein Großvater meine Mutter, sagte: Und der junge Mann ist Kommunist geworden. Erzähler Ein Sozialdemokrat, aber kein Sozialist. Geschätzt, aber nicht schillernd. Ein ganz normaler Ausgebeuteter, der es sich in seinem Wohnhaus gegenüber des Firmengeländes, dem Knusperhäuschen, wie es die Familie Decker bis heute nennt, behaglich machte. Take 38 [Annemarie Knoche] Man guckt auch immer danach, wenn man eben mit der Bahn fährt, ich guck dann immer: (erstaunter Laut) Steht’s noch? Ja, steht wirklich noch. Erzähler Von einer Verwandtschaft zu Friedrich Engels keine Spur. Take 39 [Annemarie Knoche] Also, ich weiß, dass es wahnsinnig viele Engels hier in Wuppertal gibt, und ich kenn auch einige. Aber ich wär nie auf die Idee gekommen, oder auch die nicht, dass ich da irgendwie mit verwandt sein könnte. Erzähler Ich erfahre, dass unser erstes Familiengerücht haltlos ist, wenn die Deckers und die Engels nur Bekannte oder Nachbarn waren. Kaffeerunden mit einem Spross des weitverzweigten Engels-Clans? Noch dazu in Heckinghausen, einem Stadtteil Wuppertals, in dem Friedrich Engels niemals lebte? Ich muss eine Verwandtschaft nachweisen. 8 Take 40 [Claudia Köhler] (öffnet Fenster im Haus von Wilhelm Decker) Take 41 [Claudia Köhler] (mit Einatmer) Ja, mein Name ist Claudia Köhler. Ich arbeite als Personalreferentin hier in dem Unternehmen, und möchte Ihnen das Haus dann mal zeigen, in dem Ihr Urgroßvater gelebt hat. (schmunzelt) Take 42 [Claudia Köhler] Ja, also hier in diesem Gebäude war von Ende der 80er, oder Mitte der 80er bis Anfang der 90er-Jahre die Personalabteilung untergebracht. Das ist hier das sogenannte Knusperhäuschen. (lacht) So wird das auch nach wie vor genannt, auch wenn hier niemand tätig ist. Ja, und deswegen kenn ich mich hier auch ein bisschen aus. Erzähler Ortstermin Firma Stocko. Besichtigungstour im Wohnhaus meines Urgroßvaters. Take 43 [Claudia Köhler] Ja, also ich denke mal, bis auf diese Büroausstattung im Sinne Teppichboden, Lampen – die Fließen hier im Flur zu finden sind, die gedrechselten Treppenteile, das ist alles noch Original, also da kann man das alles schon wiedererkennen. Erzähler Dach und Wände Bergischer Schiefer. Weiße Fensterrahmen. Grüne Fensterläden. Ein Traumhaus für die Bionade-Generation. Im Leerstand. Take 44 [Claudia Köhler] (mit Schritten) Hier kann man das ja n’bisschen sehen, der gesamte Eingangsbereich, leider auch etwas kaputt, aber das ist nun im Laufe der vielen Jahrzehnte so passiert, aber das ist alles noch original. Also gemusterte Mosaikfließen, gibt wie gesagt gedrechselte Treppengeländer, nur eben zigmal überstrichen. (trockenes Lachen) Erzähler Die schwebende Heiterkeit vor den Kriegen weht mich an. Ob Engels oder Decker, man hatte es im Wuppertal um 1900 zu Wohlstand gebracht. Das Arbeiterelend gab es am Ölberg, nicht hier. Auch wenn der aufstrebende Arbeiter Wilhelm Decker nicht überdrehte. Kein Neureicher wurde. Take 47 runter. [Claudia Köhler] (geht Treppenstufen runter, öffnet Tür) Geht es hier Erzähler Im Keller der Familiengerüchte ist es gespenstisch. Eine vom Staub weiß gepuderte Spinne hängt erstarrt im Netz. Seit Urgroßvater hier war? Take 48 [Claudia Köhler] Hier ist noch so uralte Elektrik. Die ganzen alten Sicherungskästen sind hier noch. (atmet länger durch) Ich denke, da ist im Endeffekt in den letzten Jahren... Betriebsjahren für uns gar nicht mehr viel gemacht worden. Das sind ja solche alten Porzellansicherungen, wie Sie sehen. (lacht) 9 Erzähler Jetzt wäre ich gern neureich, um das Knusperhäuschen zu kaufen. Es gehört immer noch der Firma Stocko, die seit zwanzig Jahren ein japanisches Konzernunternehmen ist. Die Gretchenfrage. Die Frage nach dem Druckknopf. Take 52 [Claudia Köhler] Es gibt in irgendwelchen alten Unterlagen ja die Behauptung, dass, dass jemand das erfunden hat, aber es war niemand, der bei uns gearbeitet hat, wenn ich ehrlich bin. Soweit ich das mal gelesen hat, kommt der sogar aus England ursprünglich. Aber das ist ne Sache, da werden viele Leute sagen, das ist bei uns gewesen, und ich hab’s getan, und... Also, ich kann dazu nichts sagen, dass das hier wirklich von Ihrem Urgroßvater entwickelt worden ist, das weiß ich nicht. Erzähler Unsere Familiengerüchte schmelzen in den ersten Frühlingstagen in Wuppertal dahin. Am liebsten hätte ich eine der alten Porzellansicherungen im Knusperhäuschen herausgeschraubt. Als Beweis, dass es uns gab. Die Deckers in Wuppertal. Lieber die Porzellansicherung in der Hand als die Erfinder auf dem Dach. Akustischer Comic Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Dritte Folge. Krach an der Adriaküste. 27. März 1957. Novigrad. Wilhelm Decker liegt am Strand des kroatischen Badeorts in einem Klappstuhl. Er döst mit einer Zeitung im Gesicht. Friedrich Engels kommt auf das Meer zugelaufen. Anzug, langer Bart, Gehstock. Er stellt sich neben Wilhelm Decker in den Sand. Engels Übrigens ist Ihr Urenkel Schriftsteller. Das wollten Sie doch wissen. Es war ganz einfach herauszufinden. Nur ein wenig Recherche. Ich habe die Papiere gefunden. Sie sind der Konstrukteur einer Maschine für Druckknöpfe. Decker Sie sind ein Plagegeist, Engels. Aber was können Sie mir, einem alten Mann, noch rauben? Engels Ihre Aufstiegsgeschichte. Ihre Aufstiegslegende. Decker Geben Sie die Zeitung zurück. Warum zerknüllen Sie das Papier? Sind Sie toll geworden? Engels Lügen. Sie erleben die schleichende Verelendung der deutschen Bourgeoisie am eigenen Leib. Und Sie lassen sich einlullen. Decker Ich gehe ins Hotel zurück. Engels Eine Verwandtschaft zwischen uns wird sich nicht finden. 10 Decker Ich bestehe auch nicht mehr darauf. Es ist gut, dass mein Urenkel mir die Möglichkeit bot, den berühmtesten Sohn Wuppertals kennenzu... Engels Ihren Klappstuhl. Decker Wie bitte? Engels Ich enteigne ihn. Weil Sie ein Sozialdemokrat der ersten Stunde waren. Ein Kämpfer für die Rechte der Arbeiter. Und heute? Bourgeoisie. Decker Hier. Ich schmeiße Ihnen den Klappstuhl und Ihre ganze Sucht nach Prominenz vor die Füße. Wir wuppen das auch ohne dich. Richtig, Jan? CD [meelman, Triggah & dezat feat. Drum Kid: Wir wuppen das] Take 53 [Christine Knoche] Ja, das Bild muss entstanden sein, als er so um die 40 war, ähm. Kleine Fältchen schon um die Augen, ähm, und lichteres Haar schon. Take 54 [Christine Knoche] Man würde sagen, relativ markantes Gesicht, denke ich. Sehr ausdrucksstark, was den Charakter... Also, es spiegelte glaub ich ein bisschen seinen Charakter wieder. Ein nettes, ähm, offenes Gesicht, aber irgendwie auch so, ähm, ja, ähm... Erzähler In einer Bar in Elberfeld gehe ich mit..ähm..der Tochter der Großcousine ein Feierabendbier trinken. Auch wenn Familiengerüchte keinen Feierabend machen. Take 55 [Christine Knoche] Ja, es ist schwierig in großen Familien, is ja, gibt’s viele Reibereien und oft viele Hinterhältigkeiten, der eine spielt den anderen aus, und ich bin eigentlich schon froh, dass es von mir nicht mehr so viele gibt, ähm. Andererseits ist es natürlich an Geburtstagen sehr schade, dass nur fünf Leute am Tisch sitzen anstatt vielleicht zehn. Erzähler Zeit zum Innehalten. Vor der großen Gespensterjagd im Wuppertaler Stadtarchiv. Take 56 [Jan Decker und Christine Knoche] Und was müsste ich jetzt tun, was wären die nächsten Schritte, um Wuppertaler zu werden? In welcher Reihenfolge und welche Schritte wären da notwendig? – Das geht nicht. Du bist nicht hier aufgewachsen. Erzähler In 24 Stunden werde ich die Papiere sehen, die unsere Verwandtschaft mit Friedrich Engels belegen oder widerlegen. Take 57 [Christine Knoche] für mich macht das mich stolz, aber ich denke nicht, dass es irgendjemandem etwas sagen würde, oder es irgendjemanden interessieren 11 würde, wenn ich sage: Mein Urgroßvater hat die Maschine für die Druckknöpfe erfunden. Erzähler Christine Knoche. 24 Jahre alt. Urenkelin von Wilhelm Decker. Take 58 [Christine Knoche] Also, damit kann man auf keinen Fall irgendjemandem imponieren. (lacht) Das ist so. Deshalb erzähl ich das nicht. Aber so für mich denk ich schon: Mein Urgroßvater war ja doch schon ein wichtigerer Mensch, ne. Also, er hat was geleistet, was ein Stück weit verändert hat, ne. Erzähler Gesprächsbedarf über Wilhelm Decker. Wir updaten die beiden Familiengerüchte. Unser Urgroßvater war der Erfinder einer Maschine zur Herstellung von Druckknöpfen. Und dadurch mindestens imaginär mit Friedrich Engels verbunden. Take 59 [Christine Knoche und Jan Decker] Aber mehr, also, dass da (zögernd) mit dem Friedrich Engels in irgendeine Verbindung besteht, das ist nie an mein Ohr gedrungen, wirklich. – Für mich ist das sehr märchenhaft. Es gibt ja auch Else Lasker-Schüler, ne Wuppertaler Dichterin... – Ja. – Die sehr märchenhafte Gedichte geschrieben hat, oder die immer im Orient sein wollte. Und märchenhaft finde ich auch, dass mein Großvater behauptet hat, er war mit seinem Vater, also mit deinem Urgroßvater, als er Kind war, regelmäßig bei der Familie Engels. Sonntags zum Kaffeetrinken. Das klingt doch märchenhaft, oder? Take 60 [Christine Knoche] Ähm, wenn es wirklich so war, dass der Urgroßvater diese Maschine erfunden hat, war er sicherlich zu seiner Zeit ein sehr angesehener Mann in Wuppertal. Erzähler Die beiden jüngsten Deckers versuchen, Morgenland und Abendland zusammenzudenken. Fakten und Gerüchte. Take 61 [Christine Knoche] Und da der Friedrich Engels ja auch ne relativ große Persönlichkeit dann zu seiner Zeit war, denk ich, dass diese beiden schon irgendwo was verbunden hat dann. Take 62 [Christine Knoche] Die Gesellschaftsschicht, in der die beiden verkehrt haben, denk ich muss die gleiche gewesen sein. Erzähler Ich frage mich längst etwas anderes. Wie konnten sich die Lebenswege zweier Menschen eines Milieus so verzweigen? Take 63 Stadt. [Reiner Rhefus] Also, sie gehörten zu den reichsten Familien hier in der Take 64 [Reiner Rhefus] Er war ja selbst ein Unternehmer. Er hat selbst an der Börse gehandelt und handeln müssen, das hat er sozusagen nicht jetzt moralisch verurteilt. 12 Erzähler Den Großbürger Engels und den hochgearbeiteten Arbeiter Wilhelm Decker trennten Welten. Take 65 [Reiner Rhefus] Das ist das, was ihm eigentlich vorbestimmt war von der Familie her, und was sozusagen auch er sehr souverän hätte bedienen können. Er wär nämlich n’sehr sehr kluger Kopf. Der hätte auch in bürgerlichen Kreisen sich wunderbar entwickeln können, mit seinen Fähigkeiten. Aber er hat sich in den Dienst der unteren Klassen gestellt. Erzähler Bei Engels war das Leben auf großem Fuß mit im Familiengepäck. Take 66 [Reiner Rhefus] Also, er war zeitweise sicherlich bekannter als der Karl Marx, in seinen Lebzeiten. Weil er einfach die populäreren Schriften verfasst hat, ne. Während Karl Marx die philosophisch tiefschürfenderen, sicherlich auch letztlich bedeutenderen Werke verfasst hat, waren seine Werke einfach populärer und wurden (mit Versprecher) mehr gelesen. Erzähler Letzte Erkundigungen über den berühmtesten Sohn der Stadt. Bei Reiner Rhefus im Historischen Zentrum Wuppertal. Take 68 [Reiner Rhefus] Er war zum Ende seines Lebens ein europaweit bekannter Mann. Also, wenn man das jetzt einfach zum Kriterium nimmt, und nicht die materielle Situation, dann war das sicherlich eine große Karriere, die er quasi als Politiker, Wissenschaftler, Philosoph, weniger als Kaufmann oder Unternehmer, aber eben in dieser intellektuellen Hinsicht gemacht. Und genau das war ja das, was er Zeit seines Lebens wollte. Erzähler 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat der linke Kopf auf dem berühmten Konterfei der beiden Erfinder des Marxismus den Sieg davongetragen. Friedrich Engels wird als zweite Violine in diesem Konzert abgetan, für die Auswüchse des real existierenden Sozialismus verantwortlich gemacht. Schrankenlose Aufrüstung, aufgeblähte Geheimdienste, Indoktrination von Kindesbeinen an. Ein Apparatschik und Pseudowissenschaftler aus dem Wuppertal. Einer, den man kaum zu seiner Verwandtschaft schlagen möchte. Zwischenansage Engels Zwischenspiel. Die Familienrecherche. Erzähler Wechsel auf die andere Seite der Friedrich-Engels-Allee. Georg Braun übernimmt die Recherche. Take 72 [Georg Braun] Mein Name ist Braun. Ich bin Mitarbeiter des Stadtarchivs und hier zuständig für Personenstandsermittlungen. Erzähler Sherlock Holmes, übernehmen Sie! 13 Take 73 [Georg Braun] Die Ida Emilie, 10.10.78 geboren, die finden wir dann unter der Registernummer 3282 in Barmen in 78, und da würd ich vorschlagen, dass wir die Urkunde jetzt holen. Erzähler Meine Urgroßmutter Ida Emilie Decker, geborene Klapp. Sie soll unserem ersten Familiengerücht zufolge mit Friedrich Engels verwandt sein. Von ihr aus werden wir Generation für Generation zurückgehen, bis wir auf Friedrich Engels stoßen. Take 74 [Georg Braun] (blättert in Register) So, das ist die Geburt der Ida Emilie. Hier sehen Sie den... Hier können Sie den Beruf tatsächlich auch richtig lesen. Tatsächlich Schreiner, Friedrich Klapp. Leider in dem Fall ohne Altersangabe. Take 75 [Georg Braun und Jan Decker] Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten. Wir gehen in Barmen einfach die Heiratsregister zurück. – Hm. – Und gucken mal so nen Zeitraum, ich sag mal zehn Jahre erst mal, ob wir da ne Heirat zwischen Friedrich Klapp und der Emilie Schreiber finden. Äh, ne zweite Möglichkeit wäre, wir gucken mal in den alten Adressbüchern, ob wir da... Ab wann wir da den Friedrich Klapp finden, weil der... Im Allgemeinen haben die damals ne eigene Adresse erst nach der Heirat gehabt. Also, das wären so die zwei Wege, die wir im Moment hätten. Take 76 [Georg Braun] (betritt neuen Raum) So, hier ist einmal das Magazin mit sämtlichen Registerbänden. Take 77 [Georg Braun] (holt Register aus Schrank) Take 78 [Georg Braun und Jan Decker] Äh, so das ist jetzt das HeiratsNamensverzeichnis von 76 an bis 80. Wenn wir Glück haben, dann haben die kurz vor der Heirat von der Emilie geheiratet, dann würden wir sie hier finden. (sucht in Register) – Super. – Da haben wir wirklich Glück gehabt. Emilie Schreiber. Emilie Lisette. 77. Prima. So, das ist die Registernummer 710 aus 77, Barmen. Wie gesagt, et gehört immer auch Glück dabei. (stellt Register in Schrank zurück) So, dann müssen wir jetzt in den Keller. (lacht) – Mhm. Das ist spannend. – (im Gehen) Ja, also Personenstandssuche ist wie Sherlock Holmes. (betritt neuen Raum) Ich bin ein großer Liebhaber von Sherlock-Holmes-Geschichten, und Sie müssen manchmal wirklich, wirklich kombinieren. Erzähler Erste Generation zurück. Lisette Emilie Schreiber. Meine Ururgroßmutter. Take 79 [Georg Braun] Äh, 710 aus 77. (sucht Register, blättert, flüstert, lange Sequenz) So, dann haben wir jetzt die Heirat von dem Friedrich Wilhelm Klapp und der Lisette Emilie Schreiber und haben jetzt hier zum Glück auch einen Hinweis auf die Eltern der, der Lisette Emilie Schreiber, nämlich der Christian Schreiber und dessen Ehefrau (stockend), oh, Anna Helene, schlechte Schrift, Anna Helene Elisabeth, geborene... 14 Erzähler Zweite Generation zurück. Anna Helene Elisabeth Flocke. Meine Urururgroßmutter. Take 80 [Georg Braun] Also, im Moment... Wir wissen nicht, auf welche Spuren wir noch treffen. Es kann immer sein, dass, dass als Trauzeugen plötzlich en sehr bekannter Name auftaucht. Dat wäre natürlich ein Haupttreffer, da den Namen Engels irgendwo auf ner Heiratsurkunde zu finden, ne. Take 81 [Georg Braun] wir sind im Moment in den, Anfang der 70er, 1870er Jahre, wir gehen jetzt erst mal nochmal ne Generation zurück, so 1840, 1850, und dann müssten wir mal sehen, ob da, äh, ob wir da noch, ob es Sinn macht, da noch ne Generation weiter zurückzugehen, oder ob wir dann vielleicht erst mal ne Quer, Querverbindung suchen. Take 82 [Georg Braun] Also, ich bin im Moment am Neugierigsten auf die Geburt von der Lisette Emilie, weil der Name uns eben schon ein paar Mal über den Weg gelaufen ist. Die ist äh 1849 geboren. Die suchen wir jetzt. Take 83 [Georg Braun] (sucht Register, murmelt Zahlen) So, dann gucken wir mal nach der Lisette. (blättert) Das ist die Lisette, die Geburt der Lisette Emilie Schreiber vom 25. Juli 1849. Jetzt bin ich mal gespannt, wer die Eltern gewesen sind. (Pause, lacht) Christian, Christian Schreiber, das überrascht mich jetzt doch ein bisschen, aber gut. Äh, der Christian Schreiber war 1849 32 Jahre alt. (notiert) Erzähler Dritte Generation zurück. Christian Schreiber. Mein Ururururgroßvater. Take 84 [Georg Braun] Dat müssen wer, dat, das müssen wir noch rauskriegen. Det kann sein, dass dieser Christian Schreiber der Vater des anderen Christian Schreiber gewesen ist. Das finde ich jetzt gerade mal ziemlich spannend. (notiert) Äh, 32. Und die Frau von dem Christian Schrei... Von unserem, von dem hier, von diesem Christian Schreiber, ist die, aha, Anna Helene, auch Lisette, Flocke wahrscheinlich. Erzähler Wir sind im Jahr 1817 in den Registerbänden. Ein Gefühl wie das Tauchen in sehr großer Tiefe. Ich bin der erste Decker, der so weit in das eigene Abendland vordringt. Take 87 [Georg Braun] Ach, da ist er. Registernummer 27. Take 88 [Georg Braun] So, das ist die Heirat. Das ist der Christian Schreiber. Aha, der ist nicht in Barmen geboren. Dann haben wir ihn auch nicht finden können. Im Regierungsdepartement Magdeburg. Take 89 [Georg Braun] Der war der Sohn eines Wilhelm Schreiber, und einer Dorothea Fricke, auch beide wohnhaft zu Wittenberg. Erzähler Vierte Generation zurück. 15 Take 90 [Georg Braun] Und der hat geheiratet die Lisette Helene, Helene Flocke, 25 Jahre alt. Die ist geboren in Barmen. Ja, dann ist der zur Heirat nach Barmen gekommen. Fabrikarbeiterin. Erzähler Die Gespensterjagd ist an diesem Punkt beendet. Take 91 [Georg Braun] Weil da seh ich jetzt erst mal keinen Zusammenhang. Weil der, äh, weil der aus Magdeburg kommt, und da denk ich eher, is ne andere, andere Schreiber-Linie. Erzähler Wir sind in der Goethezeit gelandet. Bei meinem Urururururgroßvater Wilhelm Schreiber aus Wittenberg. Und bei einem Fazit. Take 92 [Georg Braun] Also, ich sehe bei der Familie Klapp jetzt nicht, auch nicht wirklich ne Verbindung, weil die offensichtlich aus dem Waldeckischen gekommen sind. Nach Barmen. Erzähler Meine Urgroßmutter Ida Emilie Klapp, Ehefrau von Wilhelm Decker, ist entgegen unserem ersten Familiengerücht nicht mit Friedrich Engels verwandt. Auch das zweite Familiengerücht hat sich nicht bestätigt. Mein Urgroßvater ist nicht der Erfinder des Annähdruckknopfs. Beide Familiengerüchte stimmen nicht. Negatives Gepäck, eine luftleere Gewissheit, die ich aus Wuppertal zum zweiten Besuch bei meinem Vater mitnehme. Akustischer Comic Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Vierte Folge. Knöstern verboten. 27. März 1995. Wuppertal-Sonnborn. Friedrich Engels steht am Geländer der Brücke am Kirchhofweg. Er blickt auf die Leuchtbuchstaben der Firma Stocko. Wilhelm Decker gesellt sich zu ihm. Nadelstreifenanzug, marineblau. Krawattenschleife am Hemdkragen. Elegant, aber etwas altmodisch. Ein D-Zug fährt durch. Engels Seit 1994 gehört Stocko einem japanischen Unternehmen. Decker Der Prophet vom Ölberg. Engels Nehmen Sie meinen Gehstock. Verschwinden Sie aus der Bildfläche. Ich möchte Ihrem Urenkel ein paar Botschaften mitteilen. Decker Ein paar Botschaften? Die kann er sich selbst denken. Ihre Erfindung ist die Luftnummer eines verwöhnten Sohns. Und Ihr Gehstock... Liegt jetzt auf den Eisenbahngleisen. Engels Immerhin besitze ich die Patentrechte auf den Marxismus. Und jetzt... Ihre Krawattenschleife. Decker Sie hätten mich fast erwürgt. 16 Engels Verwandtschaft kann man nicht kaufen. Los, zu den Toten zurück. Decker Mein Urenkel weiß, dass Blut dicker als Wasser ist. Engels Ein schönes letztes Wort. Goodbye. Decker Am Ende sind wir beide Knösterer. Tüftler aus dem Wuppertal. Engels Ihre Krawattenschleife. Jetzt segelt sie auf den Bahndamm herunter. Decker Reichen wir uns die Hand. Von Knösterer zu Knösterer. Engels Nur zu. Erlauben Sie, dass ich... Fest zudrücke... Und während Sie sich vor Schmerz winden, ansage. Dritter Akt. Alltag lässt sich nur über sein Gegenteil umreißen. In den Alltag bricht etwas hinein. Schließen eines Druckknopfs [O-Ton] CD [Bosse: Schönste Zeit] Take 93 [Jan Decker] (liest aus Krankenakte seiner Mutter vor) Psychiatrisches Krankenhaus Merxhausen bei Kassel. 15. Januar 1978. Kurzer psychischer Eindruck bei Aufnahme: Patientin verweigert alles. Versorgt das kleine Kind nicht. Kümmert sich um nichts. Essen und Trinken nur, wenn es ihr gebracht wird. Erzähler Die zwischen 1970 und 1980 Geborenen gelten als Meister der leisen Ironie. Schwache Träumer. So bezeichne ich meine Generation in einem Telefonat mit einer Freundin, Jahrgang 1979. Pures Morgenland. Deshalb ist die Bionade unser Markenzeichen. Jene Fruchtlimonade, die auch nach dem Genuss großer Mengen nicht berauscht. Take 94 [Jan Decker] (Fortsetzung) Patientin wurde in Einzelzimmer isoliert. Einweisung auf polizeiliche Anordnung. Äußerte dauernd, sie wolle sterben. Erzähler Heute sind wir zwischen 30 und 40 Jahre alt. Wir könnten diese Gesellschaft verändern. Aber unser Aufbruch bleibt verzagt. Bitte ein Manifest, schreibt eine Journalistin in Richtung Piratenpartei. Doch es kommt kein Manifest. Stattdessen kommen fruchtlose Streitigkeiten um die Sandalen des Parteivorsitzenden. Take 95 [Jan Decker] (Fortsetzung) 30. Juni 1978. Es besteht kein Zweifel mehr an der hypomanen Symptomatik. Sie redet ununterbrochen, lacht. Erzähler Werden wir Kinder der Posthistorie es sogar schaffen, die Toten verstummen zu lassen, auf dass wir ewig Bionade trinken können? 17 Take 96 [Jan Decker] (Fortsetzung) Zuhause hat es große Schwierigkeiten gegeben, sie sprach in Reimen, sagte zum Beispiel zu ihrem Sohn: Janilein, du kleines Schwein. Erzähler Die Patientin, zu der diese Krankenakte gehört, ist meine Mutter. Maria Gschösser, verheiratete Decker. 1946 in Brixlegg, Tirol, geboren. Take 97 [Jan Decker] (Fortsetzung) Diagnose: Schizophrener Defekt. Erzähler Ich glaube, ich schaue in mein eigenes Abendland, weil ich seit kurzem älter als sie bin. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, älter als meine Mutter zu sein. Take 98 [Jan Decker] (Fortsetzung) Am 20. April 1981 unter den Zug gegangen. Erzähler Weil nun ein unwirklicher Schleier über allen Terminen im Kopf liegt. Das Ambrosia, das ihr Freitod mir schenkte, ist verbraucht. Der selige Zustand der Familienlosigkeit. Das Leben im Morgenland. Take 99 [Computer-Ansagestimme] (liest Bearbeitungsmaske des WikipediaEintrags von Jan Decker vor) Sortierung: Decker, Jan. Kategorie: Autor. Kategorie: Deutscher. Kategorie: Erzähler Heute sind wir 30- bis 40jährigen selbst Eltern. Davonlaufen ist keine Lösung mehr. Zumal mit Kindern am Rockzipfel. Take 100 [Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) Geboren 1977. Kategorie: Mann. Personendaten: Name ist gleich Decker. Erzähler Als Kind las ich Kinderbücher aus der DDR. Freunde aus Rostock schickten sie mir. Was hätte Friedrich Engels von ihnen gehalten? Eines der Bücher erzählt von dem Dorf Kautokeino in Lappland. Heute liest es mein Sohn. Schwacher Beginn einer Familientradition? Take 101 [Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) Jan. Alternativnamen ist gleich. Kurzbeschreibung ist gleich deutscher Schriftsteller. Geburtsdatum gleich neun. Erzähler Was bleibt sonst von mir? Auf der Liste der berühmten Persönlichkeiten der Stadt Kassel. Tod durch Wikipedia. Take 102 [Computer-Ansagestimme] (Fortsetzung) November 1977. Geburtsort ist gleich Kassel. Sterbedatum ist gleich. Sterbeort ist gleich. Take 103 [Jochen Decker] Ja, und hier befinden wir uns an meinem Elternhaus. Erzähler Zweiter Besuch bei dem Vater. Die Konfrontation. 18 Erzähler Bad Arolsen, Jahnstraße 42a. Hierhin zog Hans Decker, der Sohn von Wilhelm Decker, nachdem seine Wuppertaler Wohnungen im Zweiten Weltkrieg ausgebombt wurden. Take 105 [Jochen Decker] Es war schon gewohnheitsbedürftig, denn er hatte sich ja nicht mehr in die ursprüngliche Situation mit einem doch Hausbesitz und Grundbesitz zurückführen können, und das war für ihn dann schon etwas beengender. Erzähler Die Deckers aus dem Erfinderparadies vertrieben. Take 106 [O-Ton] (Stereoaufnahme, Jochen Decker schließt Haustür seiner Arolser Wohnung auf) Erzähler Wir besuchen das Grab von Hans und Gertrud Decker. Das Schwimmbad im Thieletal, das im Dritten Reich für eine SS-Garnison erbaut wurde, und in dem mein Vater und ich das Schwimmen lernten. Take 107 [Jochen Decker] Ja, jetzt befinden wir uns also hier in unserer kleinen Wohnung in Arolsen, und die Wohnung, die ist auch zu sehen unter einer Wohnstätte der Rückkehr in die, ja, die Vergangenheit nicht, sondern in die Umgebung, in der man sich doch auch jahrzehntelang wohlgefühlt hat. Erzähler Dann spiele ich ihm die Aufnahmen aus Wuppertal vor. Take 108 [Claudia Köhler] (als O-Ton über Laptop im Arolser Wohnzimmer, kann nicht bestätigen, dass Wilhelm Decker den Druckknopf erfunden hat) Take 52 [Claudia Köhler] Es gibt in irgendwelchen alten Unterlagen ja die Behauptung, dass, dass jemand das erfunden hat, aber es war niemand, der bei uns gearbeitet hat, wenn ich ehrlich bin. Soweit ich das mal gelesen hat, kommt der sogar aus England ursprünglich. Aber das ist ne Sache, da werden viele Leute sagen, das ist bei uns gewesen, und ich hab’s getan, und... Also, ich kann dazu nichts sagen, dass das hier wirklich von Ihrem Urgroßvater entwickelt worden ist, das weiß ich nicht. Take 109 [Jochen Decker] Eigentlich bin ich nicht überrascht, weil im Grunde genommen, ohne ne nachgewiesene Patentanmeldung ist mit Sicherheit so eine technologische Entwicklung in verschiedenen Händen unter Umständen, man erinnert sich dabei an den Bau des ersten Automobils oder an den Dieselmotor oder an die Glühbirne, wo ja auch verschiedene Entwickler den Ansatz gemacht haben. Aber soviel mir eben bekannt war, ist die grundsätzliche Entwicklung in der (betont) Serienfertigung, industriell und ausgelegt auf diesen Sektor war die Firma, indem sie sich von vorneherein ausgestattet hat mit besten Werkzeugmachern, und die brachten erst die Voraussetzungen, zumindest um eine Serien- und Massenherstellung zu bewirken, und diese Massenherstellung soll nun mal von dort aus gegangen sein. 19 Take 92 [Georg Braun] Also, ich sehe bei der Familie Klapp jetzt nicht, auch nicht wirklich ne Verbindung, weil die offensichtlich aus dem Waldeckischen gekommen sind. Nach Barmen. Take 110 [Georg Braun und Jochen Decker]– Klapp? Was? Take ?? (Jan Decker) Wie geht’s Dir jetzt damit. Ist das für Dich jetzt eine Enttäuschung, daß die Verwandschaft zu Friedrich Engels nicht bestand, dass das eher ein Kontakt war unter Nachbarn oder unter gewissen Kreisen…. Take 111 [Jochen Decker] Enttäuschung ist es nicht, aber ne Überraschung. Weil ich nach den Darstellungen immer wieder davon ausgegangen wäre, bin, dass die Verbindungen enger gewesen sein mussten. So wie es mir dargestellt worden ist. Erzähler Mein Vater freut sich sogar, dass ich Licht in unsere beiden Familiengerüchte gebracht habe Erzähler Es erleichtert ihn sichtlich, nun alles auf dem Tisch liegen zu haben. Das Nichterfindertum meines Urgroßvaters. Die Nichtverwandtschaft mit Friedrich Engels. Take 113 [Jochen Decker] Und irgendwie eigenwillig ist, dass leider nicht mit meinem Vater Hans Decker darüber zu Lebzeiten mehr oder detaillierter gesprochen worden ist. Erzähler Am Ende präsentiert er mir mit großem dramatischem Gespür unser drittes Familiengerücht, das ich zum ersten Mal höre. Take 114 [Jochen Decker] Und mein Vater hat ja, dein Opa, erfunden den Maschinengewehrgurt für den Einsatz in Sand und Dreck und so weiter in Afrika und so weiter. Erzähler Natürlich, es ist wie mit den russischen Matroschka-Puppen. Im ersten Familiengerücht steckt das zweite, und so weiter bis unendlich. Ich lasse meinen Vater das Gerücht zu Ende sprechen. Take 115 [Jochen Decker] Also diese Glieder, die, wenn du den Patronengurt reinwerfen konntest irgendwo in Metall, praktisch trotzdem noch funktionierten. (Klacklaut) Erzähler Und schalte das Aufnahmegerät aus. CD [Heinz Rudolf Kunze: Vertriebener] Akustischer Comic 20 Comic-Ansager Zwei kluge Köpfe und ein Knopf. Fünfte Folge. Eine neue Erfindung. 27. März 1981. Arolsen. Freibad im Thieletal. Gertrud Decker geht mit ihrem Enkel Jan zum Schwimmbecken. Sie hält eine Metallstange mit einem Ring in der Hand. In einiger Entfernung stehen zwei altmodisch gekleidete Herren unter einer Pappel. Friedrich Engels und Wilhelm Decker. Sie reichen sich einen Walkman mit Kopfhörer. Engels Transportable Musik. Fast so nützlich wie mein Marxismus. Möchten Sie auch hören? Decker Meine Schwiegertochter bringt meinem Urenkel Jan das Schwimmen bei. Schauen Sie zu, oder verschwinden Sie. Engels Vergessen Sie nicht unseren Auftrag. Decker Wollen Sie mir wieder die Hand brechen? Engels ausreden. Sie wehren sich nicht gegen Ihren Abstieg. Und ich soll Ihnen das Decker Sagt er? Der kleine Mann dort? Ihre Mittel sind kriminell, Engels. Ich verabscheue Gewalt. Engels Ein Krimineller? Das sagen Sie, weil sich Ihr erstes Familiengerücht im Wind zerstäubt hat. Decker Den Walkman. Sofort hergeben. Er gehört meinem Urenkel. Engels Solange Sie im Kreislauf von Besitz und Ausbeutung verharren, gebe ich Ihnen gar nichts her. Decker mich. Sie wollen an mir Ihren Kommunismus exorzieren. Aber ich wehre Engels Ja, wehren Sie sich. Darauf wartet Ihr Urenkel doch. Nur zu. Decker Nun gut, ich nehme Sie... Und schleife Sie über diese Wiese bis hierhin... An den Rand des Schwimmbeckens... Und ich frage Sie noch einmal: Wollen Sie die Abschaffung des Kapitals? Engels Natürlich. Und den Walkman Ihres Urenkels nehme ich mit. Decker Viel Spaß! Ja, schwimmen Sie nur. Die Arme gleichmäßig nach vorne stoßen. Nicht untergehen, Engels. Darum geht es doch. Nicht untergehen. CD [Johannes Kiehl: Calle melancolia] Evtl. O-Ton Collage La Gomera (O-Töne aus Archiv) 21 Erzähler Ortswechsel. Eine Veranda, die auf ein lichtdurchflutetes Tal zeigt. Ich höre und rieche das Meer. La Gomera. Mekka glücklicher Deutschland-Vergesser. Ich habe Friedrich Engels und Wilhelm Decker, die beiden Knösterer aus Wuppertal, hinter mir gelassen. Unter der kanarischen Sonne denke ich an den Mann, den ich eben am Müllcontainer in der Gemeinde Hermigua traf, und der seine Abfälle in Säcke gepackt und ordentlich verknotet hatte. Er sagte mit rheinischem Dialekt zu mir: Klasse Wetter erwischt, was? Ich möchte ihm sagen, dass ich etwas anderes erwischt habe. Eine neue Sicht auf Familiengerüchte. Ich glaube nicht mehr, dass die Familie uns an verdrängte Motive der Schuld bindet. Uns binden harte soziologische und ökonomische Faktoren, das Morgenland. Das haben Friedrich Engels und die Generation Bionade in erstaunlicher Eintracht bewiesen. Vom Abendland, von den Familien, müssen wir erzählen. Warum nicht gleich hier, im Schatten einer Veranda auf La Gomera? Take 116 [Kolja Decker] Papa, wer war mein Ururopa? Comic Ansager Morgenland und Abendland. Friedrich Engels, der Erfinder des Marxismus und mein Urgroßvater Wilhelm Decker, der Erfinder des Annähdruckknopfs. Feature von Jan Decker. Es sprachen: Ole Lagerpusch als Erzähler Friedhelm Ptok als Wilhelm Decker und Matthias Habich als Friedrich Engels; Die Comics hat angesagt: Barbara Phillip Ton: Hermann Leppich; Regieassistenz: Lydia Ziemke Regie: Giuseppe Maio. Reißverschluß Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013. Ende 22
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