Ein Leben zwischen Rausch und Terror

„Star Trek Beyond“: Selbstironisch und entspannt
Jenni Zylka über Spaß an Science-Fiction-Action, Sternenflotten und Halbvulkaniern ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11075 | 29. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
FRAU­E N Fe­mi­nis­mus
ist heute nur noch Pop,
be­klagt die US-Au­to­rin
Andi Zei­sler und übt
Selbst­kri­tik ▶ SEITE 13
IS­R A­E L Pride and Pre­
judice: Har­ter Kampf
um LGBT-Rech­te ▶ SEITE 4
LINKE Wie Gre­gor Gysi
DONNERSTAG, 21. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Ausreiseverbot für
Akademiker
BOMMI BAUMANN
Ein Leben
zwischen
Rausch
und
Terror
Erdoğan verfolgt
angebliche Verschwörer
– und sperrt Wikileaks
TÜRKEI
ISTANBUL rtr/taz | Fünf Tage
nach dem Putschversuch in der
Türkei geht Präsident Recep
Tayyip Erdoğan weiter gegen
angebliche Verschwörer in der
Zivilgesellschaft vor. Akademiker dürfen seit Mittwoch nicht
mehr ausreisen. Damit solle
laut Behördenkreisen verhindert werden, dass Mitverschwörer an Universitäten ins Ausland
fliehen könnten. In Ankara wurden zudem 900 Polizisten suspendiert, weil sie in Verbindung
mit dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen stehen
sollen, der nach Erdoğans Darstellung hinter dem Aufstand
steckt. Die türkischen Behörden
sperrten den Zugang zur Enthüllungsplattform Wikileaks, nachdem diese 295.000 angebliche
E-Mails der Regierungspartei
AKP veröffentlicht hatte. Weitere Maßnahmen wurden nach
einer Kabinettssitzung erwartet.
▶ Schwerpunkt SEITE 2
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
▶ Flimmern + Rauschen SEITE 18
auch als Ex­chef überall
prä­sent bleibt ▶ SEITE 5
BERLIN Rigaer94: Die
wichtigsten Fragen und
Antworten ▶ SEITE 21
Fotos oben: A. Macrina, Paramount
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
SPD: Karriere
war erfunden
US-Präsident Barack Obama
hält trotz internationaler Warnungen an einer möglichen
Weiterführung der Todesstrafe
fest. Wenn das Volk dies wünsche und das Parlament die
entsprechenden Gesetze beibehalte, sei er dazu bereit, sagte Obama vor Anhängern in
seiner Washingtoner Residenz.
EU und UN hatten die USA vor
einer Weiterführung der Todesstrafe gewarnt. Bundesjustizminister Maas erklärte: „Ich
bin zutiefst davon überzeugt,
dass kein Staat der Welt das
Recht hat, einen Menschen als
Strafe vorsätzlich zu töten.“ So
ein Staat könne sicher nicht
68ER Haschrebell,
Terrorist, TerrorAussteiger, Punk
und Publizist:
Bommi Baumann
ist tot. Ein Nachruf
von Michael
Sontheimer ▶ SEITE 3
Mitglied der Nato bleiben.
Im Alter von 68 Jahren gestorben: Michael „Bommi“ Baumann, hier 1997 beim Ohnesorg-Kongress an der TU Berlin Foto: Wolfgang Borrs
ESSEN dpa | Die langjährige SPD-
Bundestagsabgeordnete Petra
Hinz legt ihr Mandat nieder,
teilte ihr Anwalt am Mittwoch
mit. Zuvor wurde bekannt, dass
die 54-Jährige wesentliche Teile
ihres Lebenslaufs frei erfunden
hat. Nach Angaben ihres Anwalts hat sie weder Abitur gemacht noch juristische Staatsexamen abgelegt. Nach diesem
Eingeständnis forderte ihr SPDUnterbezirk Essen Hinz auf, ihr
Mandat niederzulegen. Mit ihren falschen Angaben habe sie
Vertrauen verspielt und auch
der SPD großen Schaden zugefügt, erklärte NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD).
▶ Portrait SEITE 2
TAZ MUSS SEI N
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KOMMENTAR VON ANJA MAIER ÜBER DIE GEFÄLSCHTE BIOGRAFIE EINER SPD-POLITIKERIN
D
as Leben von Petra Hinz muss sehr
einsam gewesen sein. Drei Jahrzehnte Lüge und Betrug. Und ständig diese Panikmomente: Erkennt mich
der Mann da drüben? Weiß diese Journalistin, was ich 1987 gemacht habe? Und
dann dieses Schweigenmüssen. Immer
und jedem gegenüber.
Der Fall der SPD-Bundestagsabgeordneten Petra Hinz, die ihren Lebenslauf brutal geschönt hat, taugt nicht zur
Häme. Eher zum Nachdenken. Ja, die Essenerin hat gelogen: Fachabi statt Abitur,
Ausbildung statt Jurastudium, Lücken im
Lebenslauf statt anwaltlicher Tätigkeit.
Ein Desaster, aus dem die 54-Jährige
nun Konsequenzen zieht und ihr Bun-
Hinz und Kunz
destagsmandat niederlegt. Das eigentlich Tragische ist aber die Vorstellung von
jenem Leben, das Petra Hinz geführt haben muss. Öffentlich als Abgeordnete im
Bundestag und im Wahlkreis. Privat als
Freundin und Verwandte. Dreißig Jahre
lügen – wie geht das in einer Partei wie
der SPD, die doch immer das Menschliche für sich reklamiert? Kann man bei
den Sozis zehn Jahre Fraktionsmitglied
sein, ohne je Persönliches erkennen zu
lassen? Wie funktioniert die Lüge bei Familienfeiern? Hat man da Mitwisser? Wie
ist das in Partnerschaften?
Mag sein, Petra Hinz war nicht die
planvolle Karrieristin, als die sie jetzt
im schnellen Affekt dargestellt wird. Mag
sein, sie wurde gefördert, geschoben, gebraucht. Als erfahrene Genossin (die sie
war), als Juristin (die sie nicht war). Dass
ein Mensch innerhalb seiner Gruppe an
der Wahrheit ersticken kann, zeigt aber
vor allem, wie überbewertet Examina
und Titel sind für eine politische Karriere. Selbst bei den Sozialdemokraten,
die gern ihre proletarischen Wurzeln betonen, scheint es ohne Abitur schwierig
Eine Parteikarriere ohne
Abitur scheint schwierig
zu sein. Warum eigentlich?
zu sein mit der Parteikarriere. Warum eigentlich?
Als Politikerin muss einem Petra Hinz
nicht leidtun. Wohl aber als Privatperson.
Ihre Geschichte offenbart die persönliche Katastrophe in einer Gesellschaft,
in der zu lügen einen eher weiterbringt,
als offen zu Ecken und Kanten zu stehen.
Einer Arbeitswelt, die auf Fassaden vertraut. Hier im Lebenslauf eine längst vergessene Fremdsprache als fließend angeben, dort ein als Auslandserfahrung
deklarierter Urlaub – Hinz und Kunz machen derlei auch. Weil es nützt und gerade gut ins Stellenprofil passt. Und, vor
allem, weil kaum jemand Interesse hat
am Leben, wie es wirklich spielt.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT(S)
NACH RICHTEN
ERBSCHAFTSSTEUER
FLUGLI N I EN
Vermittlungsausschuss berät im September
Lufthansa und Etihad
reden über Air Berlin
BERLIN | Ungeachtet des Drucks
Petra Hinz, Ex-SPD-Abgeordnete
mit gefälschter Vita Foto: SPD
Die Frau mit
zwei Leben
E
igentlich müssten hier zwei
Porträts stehen. Eines über
Petra Hinz, die Juristin und
Bundestagsabgeordnete
der
SPD. Das andere über Petra Hinz,
die Lügnerin.
Fangen wir mit Letzterer an.
Am Dienstag gibt Hinz über ih­
ren Anwalt eine schriftliche Er­
klärung ab. Seine Mandantin,
steht da, habe ihren Lebenslauf
geschönt. Die SPD-Abgeordnete
habe anders als stets behauptet
„keine allgemeine Hochschul­
reife erworben. Sie hat darüber
hinaus kein Studium der Rechts­
wissenschaften absolviert und
auch keine juristischen Staats­
examina abgelegt.“ Auch die An­
gaben über eine Tätigkeit als An­
wältin in einer Kanzlei, als Ju­
ristin im Management eines
Konzerns und über freiberufli­
che Tätigkeiten – alles erfunden.
Selbst wenn der Anwalt am
Ende betont, Petra Hinz bitte
„von Herzen um Entschuldi­
gung“ – das Eingeständnis ei­
ner Lebenslüge bedeutete nichts
weniger als das Ende der Abge­
ordneten Hinz. Seit elf Jahren
sitzt sie für die SPD im Bundes­
tag. Die BürgerInnen haben sie
natürlich auch gewählt, weil Pe­
tra Hinz Juristin zu sein schien.
Eine Abgeordnete, die etwas von
Recht und Gesetz versteht, das
wirkte honorig und vertrauen­
erweckend. Ihre Fraktion wählte
sie in den Haushalts- und in den
Rechnungsprüfungsausschuss.
Aber nun ist Petra Hinz eine
andere Person. In ihrem eilig ak­
tualisierten Lebenslauf auf bun­
destag.de finden sich nur noch
dürre biografische Angaben. Ge­
boren 1962 in Essen, 1980 SPDEintritt, 1983 Fachabitur mit an­
schließendem Praktikum bei
der Sparkasse, 1985 bis 1987 Aus­
bildung zur Teammoderatorin.
Das war’s. Ein Lebenslauf voller
Lücken und Schatten, die wohl
in den kommenden Tagen aus­
geleuchtet werden.
Herausgekommen ist all das
dank der Recherche des loka­
len Netzmagazins Informer.
Ein Journalist war einem Hin­
weis aus der Essener SPD nach­
gegangen. Mit Fragen nach ih­
rem Lebenslauf konfrontiert, re­
agierte Frau Hinz unwirsch. Sie
sprach von verleumderischer
Diffamierung und forderte ihre
Partei auf, den Denunzianten hi­
nauszuschmeißen.
Es ist anders gekommen.
Am 18. Juli hat Petra Hinz ihren
Verzicht auf eine erneute Bun­
destagskandidatur erklärt, am
20. Juli hat sie ihr Abgeordneten­
mandat niedergelegt. ANJA MAIER
Der Tag
DON N ERSTAG, 21. JU LI 2016
von
Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) wird
im Streit über die Erbschaft­
steuerreform erst nach der
Sommerpause nach einer Lö­
sung gesucht. Der Vermittlungs­
ausschuss zwischen Bundestag
und Bundesrat berät erstmals
am 8. September über die Neu­
regelungen für Firmenerben.
Die Sitzung ist nicht öffentlich.
Schäuble hatte darauf ge­
drungen, dass der Vermittlungs­
ausschuss bereits in der Som­
merpause nach einem Kompro­
miss sucht. Die Zeit drängt, da
sich das Bundesverfassungsge­
richt (BVerfG) Ende September
erneut mit der Erbschaftsteuer
befassen will und dabei womög­
lich eine eigene Übergangsrege­
lung in Kraft setzen könnte.
Das BVerfG hatte Ende 2014
wesentliche Teile der bislang
gültigen Steuervergünstigun­
gen für Firmenerben gekippt
und dem Gesetzgeber für eine
Neuregelung eine Frist bis Ende
Juni 2016 gesetzt. Die Koalition
hatte zwar einen Kompromiss
erzielt, den der Bundestag we­
nig später beschloss. Der Bun­
desrat rief vor knapp zwei Wo­
chen jedoch den Vermittlungs­
ausschuss an. (dpa)
FRANKFURT/BERLIN | Die kri­
selnde Fluggesellschaft Air Ber­
lin kann Insidern zufolge auf
eine indirekte Rettung durch
die Lufthansa hoffen. Air Berlins
Großaktionärin Etihad spricht
demnach mit Europas größter
Fluggesellschaft über den Ver­
kauf wesentlicher Geschäfts­
teile der zweitgrößten deut­
schen Fluglinie. Rund 40 Flug­
zeuge, die vor allem touristische
Strecken abseits der Drehkreuze
Düsseldorf und Berlin bedie­
nen, könnten bei einer Einigung
der Lufthansa-Billigmarke Euro­
wings zufallen. (dpa)
GROS­SES KI NO
I RAK
Große Ki­no­strei­fen, klei­ne Per­len,
Flops und Os­car­kan­di­da­ten sowie
In­ter­views mit Re­gis­seu­ren und
Schau­spie­lern:
Alles nach­zu­le­sen auf taz.de/film
Re­zen­sio­nen
Film­tipps
In­ter­views
www.taz.de
Sommer in Bagdad:
51 Grad im Schatten
BAGDAD | Die Iraker haben am
Mittwoch den bislang heißes­
ten Tag des Jahres erlebt. In der
Hauptstadt Bagdad stiegen die
Temperaturen auf 51 Grad Cel­
sius, im Süden des Landes sogar
auf 53 Grad. Die Regierung gab
ihren Angestellten frei. Die ira­
kischen Sommer sind für ihre
Hitze bekannt. Chefmeteoro­
loge Hassan Abdul-Karim sagte
aber, die jüngsten Werte lägen
für diese Jahreszeit deutlich
über dem Durchschnitt. Wüs­
tenbildung in den vergangenen
fünf Jahren habe die Temperatu­
ren in die Höhe getrieben. (ap)
Die Verfolgungswelle rollt
TÜRKEI I Nun nimmt die Regierung verstärkt Lehrer und Hochschuldozenten ins Visier. Universitätsangestellte
dürfen nicht mehr ausreisen. Die deutsche Bundesregierung äußert sich zunehmend kritisch
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Was folgt aus dem misslunge­
nen Umsturzversuch? Darü­
ber hat Staatspräsident Recep
Tayyip Erdoğan am Mittwoch
mit dem Nationalen Sicher­
heitsrat und dem Kabinett den
ganzen Tag bis nach Redak­
tionsschluss beraten. Erdoğan
hatte eine „wichtige Entschei­
dung“ angekündigt, Vizepre­
mier Nuret­tin Canikli sagte am
Rande der Sitzung, es werde
keinen Ausnahmezustand ge­
ben, sondern ein ganzes Bündel
von Maßnahmen, um den Staat
noch „effektiver von Gülen-An­
hängern säubern zu können“.
Die deutsche Regierung kri­
tisierte das Vorgehen des tür­
kischen Präsidenten derweil
scharf. „Fast täglich kommen
neue Maßnahmen hinzu, die
Die „Säuberungsmaßnahmen“ sind
für die Republik
ohne Beispiel
einem rechtsstaatlichen Vorge­
hen widersprechen“, sagte Re­
gierungssprecher Steffen Sei­
bert in Berlin.
In der Türkei debattierten die
Politiker unter anderem über
die Frage, wieso die Putschis­
ten überhaupt die Gelegenheit
bekamen, zuzuschlagen. Nach
jetzt veröffentlichten Protokol­
len soll der Geheimdienst MIT
am Freitag um 16 Uhr erstmals
von dem Putschversuch erfah­
ren haben. Es habe aber bis
20 Uhr gedauert, bis Erdoğan
in seinem Feriendomizil infor­
Anhänger von Präsident Erdoğan auf dem Taksimplatz in Istanbul am Dienstag Foto: Emilio Morenatti/ap
Showtime auf dem Taksimplatz
TÜRKEI II
miert wurde, da man sich vorher
erst Klarheit verschaffen wollte.
Die „Säuberungsmaßnah­
men“ sind für die Republik
ohne Beispiel: Allein im Mili­
tär wurden mittlerweile knapp
10.000 Putschverdächtige ver­
haftet, unter ihnen 118 hohe und
höchste Generäle und Admiräle.
Unmittelbar betroffen von der
Verfolgungswelle ist auch die
Justiz. Schon am Wochenende
wurden rund 3.000 Richter und
Staatsanwälte ihrer Position ent­
hoben oder verhaftet, darunter
zwei Verfassungsrichter, die ei­
gentlich unantastbar sind. Am
Dienstag hatte das Bildungs­
ministerium gemeldet, es habe
15.200 Lehrer an staatlichen
Schulen entlassen. Am gestri­
gen Mittwoch entzog es dazu
noch 21.000 Lehrern von Pri­
vatschulen die Unterrichtser­
laubnis.
Diese Aktion richtet sich teil­
weise gegen Bildungseinrich­
tungen, die der Gülen-Bewe­
gung nahestehen, aber auch
gegen das gesamte existie­
rende Schulsystem. Schon lange
drängt die AKP-Regierung da­
rauf, die „normalen“ säkularen
Schulen durch religiöse ImamHatip-Schulen zu ersetzen. Da­
für wird nun der Weg weiter ge­
ebnet. Im Visier sind auch die
Universitäten: Alle Hochschul­
rektoren wurden zusammen­
gerufen. Sie bekamen eine Liste
von rund 1.600 Dekanen vorge­
legt, die von ihren Lehrstellen
entfernt werden sollen.
Universitätsangestellte dür­
fen nicht mehr ausreisen. Tür­
kische Akademiker, die im Aus­
land arbeiten, sollen zurück­
kommen. Wer nicht heimkehrt,
macht sich verdächtig und kann
gleich im Ausland bleiben. Es
solle verhindert werden, dass
sich Gülen-Sympathisanten ins
Ausland absetzen, heißt es.
Derweil hat die Armee ihre
Luftangriffe gegen angebliche
Stellungen der PKK im Nord­
irak wieder aufgenommen. Al­
lerdings wurde der komman­
dierende General der 2. Armee,
die im Osten des Landes statio­
niert ist, neben anderen Offizie­
ren dort als Putschverdächtiger
verhaftet.
Meinung SEITE 12
Medien SEITE 18
THEMA
DES
TAGES
Auf dem Istanbuler Platz, einst Symbol des Widerstands, feiern AKP-Fans. Erdoğan will ihm seinen Stempel aufdrücken
ISTANBUL taz | Es ist 22 Uhr,
und es ist Showtime. Seit Stun­
den dröhnen Wahlkampfsongs
der regierenden AKP über den
Platz, jetzt klettert der Bürger­
meister von Istanbul, Kadir Top­
baş, auf die Bühne. Als Überra­
schungsgäste hat er die Tochter
des Präsidenten, Sümeyye Er­
do­ğan, und ihren Bruder Bilal
mitgebracht. Die Stimmung ist
prächtig, es könnte gar nicht
besser laufen.
Aus den von Präsident Recep
Tayyip Er­do­ğan ausgerufenen
„Bürgerwachen“ – die auf den
öffentlichen Plätzen und Stra­
ßen des Landes dafür sorgen
sollen, dass kein Putschist mehr
sein Haupt erhebt – sind heute,
am Tag fünf nach dem Putsch­
versuch, Volksfeste der Regie­
rungsfans geworden.
Schaufenster der Republik
Besondere Bedeutung kommt
dabei dem Istanbuler Taksim­
platz zu. Dieser größte Platz
der Metropole war bislang das
Schaufenster der Republik, der
Treffpunkt der modernen Tür­
kei. Moderne Hotels auf der ei­
nen Seite, der berühmte Gezi­
park auf der anderen und am
Kopfende das Atatürk-Kultur­
zentrum, früher mit Oper, The­
ater und weiteren Veranstal­
tungsräumen.
Diese Visitenkarte der Repu­
blik ist Er­do­ğan schon lange ein
Dorn im Auge. Er will dem Platz
seinen islamischen Stempel auf­
drücken. Das war auch der Hin­
tergrund des Gezi-Aufstands
war, wo die Leute zunächst da­
gegen protestierten, dass Er­do­
ğan eine osmanische Kaserne
an der Stelle wiederaufbauen
wollte, wo heute noch der Park
ist. Schon vor drei Jahren ging
es um die Deutungshoheit über
die Verfasstheit der Türkei: sä­
kulare Republik versus islami­
scher Staat.
Am Dienstagabend konnte
man darauf eine Antwort fin­
den. Unter die roten Fahnen
der Türkei mischen sich immer
mehr grüne Fahnen mit der ara­
bischen Signatur des Propheten.
Auch das zugereiste Publikum
hat sich im Vergleich zu dem,
das bei den Gezi-Protesten da­
bei war, dramatisch gewandelt.
Waren es damals Freunde und
Verwandte aus Europa, die den
Gezi-Protestierern zu Hilfe eil­
ten, sind es heute verschleierte
arabische Touristinnen und sy­
rische Flüchtlinge, die den AKPRednern zuklatschen.
Geht man vom Publikum auf
dem Taksimplatz aus, hat sich
die Verortung der Türkei von Eu­
ropa nach Arabien bereits voll­
zogen. Während westliche Tou­
risten die Türkei meiden, kom­
men Besucher aus dem Nahen
Osten in Scharen. Syrische
Flüchtlinge bekommen Wasser­
flaschen und Snacks und
schwenken selbstbemalte Papp­
schilder, auf denen etwas unge­
lenk steht: „Wir lieben Er­do­ğan“.
Das Atatürk-Kulturzentrum,
während der Gezi-Proteste mit
unterschiedlichen Transparen­
ten voll linker Parolen zuge­
hängt, ist heute mit Er­do­ğanPorträts geschmückt. Dahinter
rottet das Kulturzentrum lang­
sam vor sich. In ein paar Jahren
wird sich dort wohl eine neue
Moschee erheben.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
Schwerpunkt
Nachruf
DON N ERSTAG, 21. JU LI 2016
Wie alles endete
Auffälliger konnte man kaum
aussehen, als es der weltweit als
Terrorist gesuchte Bommi Baumann im Spätsommer 1980 in
Rom tat. Ananasfarbene, blondierte Haare, weißes löchriges TShirt, schwer benietete schwarze
Lederjacke, ein Punk, dessen
Klamotten aussahen, als hätte
die Modeschöpferin Vi­
vienne
Westwood sie entworfen. Seine
Taktik: so sehr auffallen, dass
niemand auf die Idee kommen
könnte, er wolle sich verstecken
und sei auf der Flucht.
Er trank Weißwein und erzählte mir zwei Tage lang seine
Geschichte. Dabei sprach er mit
einem Akzent, wie man ihn nur
auf den Straßen Berlins lernt.
Und er hatte einen wunderbaren Humor, der human und zynisch zugleich war. Sein Fazit
war allerdings traurig: „Es gibt
kein Happy End in Deutschland.“
Sein Vater war Nazi gewesen,
angeblich hatte er dem Berliner Gauleiter Joseph Goebbels
die erste schwarze Lederjacke
gekauft. Seine Mutter war eher
unpolitisch, eine Berliner Kleinbürgerin; Michael Baumann
wurde am 25. August 1947 in
Berlin-Lichtenberg im sowjetischen Sektor Berlins geboren.
Als er zwölf war, wechselte die
Familie in den britischen Sektor über.
Bommi, wie er seit Schulzeiten hieß, gehörte zu den ersten
„Gammlern“, die auf den Stufen
der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der Westberliner City
die Lambrusco-Flaschen kreisen ließen und Captagon oder
Romilar nahmen, bald folgten
die ersten Joints. Er hatte Betonbauer gelernt, doch er liebte
Rock ’n’ Roll und wollte „kein
nützliches Mitglied dieser Gesellschaft werden“.
Wie für die meisten Achtundsechziger war der 2. Juni 1967,
der Tag an dem der Kriminalpolizist Karl-Heinz Kurras den
Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ein Wendepunkt. Aus
anti­autoritären Happenings war
blutiger Ernst geworden.
Als an Ostern 1968, nach dem
Attentat auf Rudi Dutschke, aufgewühlte Demonstranten das
Hochhaus des Springer-Verlags in Berlin belagerten, warf
Bommi Steine. Und er war nicht
BOMMI BAUMANN
Er revoltierte gegen
die Generation der
Nazi-Väter, sah sich
als Haschrebell,
liebte Rock ’n’ Roll,
gehörte zu den
Mitbegründern der
„Bewegung 2. Juni“
– und stieg
frühzeitig aus der
Terrorszene aus
der Einzige. Bommi war oft in
der Kommune I und gehörte zu
den Gründern einer Gruppe, die
sich – als ironischer Kommentar zu den Namen studentischer
Gruppen – „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ nannte. Hannibal, Shortie,
Lethargo, Bodo, Bommi, und wie
sie alle hießen, hofften auf die
Bewusstseinserweiterung durch
Drogen, mit Parolen wie: „High
sein, frei sein, Terror muss dabei sein.“
Bommi hatte als junger Arbeiter eine natürliche Körperlichkeit und wenig Probleme
mit Gewalt. Zusammen mit dem
Studenten Georg von Rauch und
anderen beging er Anschläge
und Banküberfälle.
„Ihr habt den
ersten Schuss abgefeuert“
Zunächst nannte die Gruppe
sich nach der Guerilla in Uruguay „Tupamaros West-Berlin“,
dann „Bewegung 2. Juni“. Baumanns Begründung: „Damit
konnten wir zeigen: Ihr habt
den ersten Schuss abgefeuert.
Wenn wir irgendwann zurückschießen, ist das euer Verdienst“.
Für die Guerilla rekrutierte
Baumann Inge Viett und Verena
Becker, die später zur Rote Armee Fraktion (RAF) überwechselten. Die Gruppe legte eine
Bombe, durch die ein Bootsbauer zu Tode kam. Das war für
ihn ein erster Schock.
Im Dezember 1971 erschoss
ein Polizist in Berlin-Schöneberg Georg von Rauch. Bommi
Baumann, sein bester Freund,
stand direkt daneben. Diese
Szene hat ihn sein Leben lang
verfolgt. Die Mitglieder der
03
Mit dem Buch „Wie alles anfing“ wurde Michael „Bommi“ Baumann
über die Grenzen Deutschlands bekannt. Jetzt starb er 68-jährig
Bommi Baumann bei einer Festnahme 1970 Foto: ullstein bild
AUS BERLIN MICHAEL SONTHEIMER
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
an­archis­tischen „Bewegung 2.
Juni“ fanden die RAF elitär. Sie
waren eher chaotisch und wollten mit ihrer sozialen Basis, den
revoltierenden Jugendlichen, in
Verbindung bleiben. Baumann
war stolz darauf, dass er bei der
Aufnahme der Kreuzberger
Nationalhymne, dem „RauchHaus-Song“ von Ton, Steine,
Scherben, im Hintergrund den
Refrain mitgegrölt hatte. Doch
1972 wurde das Pflaster in Kreuzberg zu heiß, mit einem Kumpel vom „2. Juni“ machte er sich
Richtung Afghanistan auf.
Die Erfahrungen im Orient –
nicht zuletzt das Haschischrauchen in Afghanistan – machten
Baumann für den Terrorismus
unbrauchbar. Der Filmemacher
Haroun Farocki reiste 1974 nach
Niederösterreich und traf auf einem Bauernhof Baumann, der
auf der Flucht war. In drei Tagen
und Nächten entstand ein Interview, das das Kollektiv des Trikont-Verlags in München zu einem Buch machte.
„Wie alles anfing“ war das
Buch einer Generation. Authentisch, wie es kein theoretischer
Text jemals vermocht hätte, beschrieb Baumann darin seinen
Weg zum bewaffneten Kampf
und seinen Ausstieg aus dem
Terrorismus. Er sei – so Baumanns Message – aus „Furcht
vor der Liebe“ in die „absolute
Gewalt“ geflüchtet.
„Wie alles anfing“ zeigte, dass
die Revolte von 1968 kein rein
studentisches Abenteuer war,
sondern eine klassenübergreifende Jugendbewegung. Von
dem schmalen Band wurden
an die 100.000 Exemplare verkauft. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt und in New York
als Theaterstück inszeniert.
Zunächst war allerdings ein
Polizeikommando beim Münchner Trikont-Verlag eingefallen und hatte alle vorgefundenen Exemplare beschlagnahmt.
Heinrich Böll und andere Linksliberale gaben es nach einem
Verbot neu heraus. Dieses Buch
zu unterdrücken, schrieb Böll,
„ist der falscheste Weg, den man
einschlagen kann“.
Der
Sprachartist
Peter
Hand­ke, der sich auch gegen das
Verbot engagierte, war gleichzeitig angewidert von der „angeberischen, leeren Milieu und
Szenesprache, die eigentlich nur
noch aus paar Geräuschen be-
steht“. Gudrun Ensslin, Kopf der
ersten RAF-Generation, schrieb
unter einem Pseudonym eine
Rezension, in der sie das Buch
als „faschistisches Pamphlet“
geißelte.
Im Januar 1998 veröffentlichte der Spiegel Akten des
­Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, nach denen Baumann im Jahr 1973 einen 125-seitigen Bericht über insgesamt
94 Personen des bewaffneten
Kampfs in Westdeutschland
verfasst hatte: Darin hieß es
über Enss­lin: „Lenkender Geist
der RAF, sehr kalt, aber mutig,
fanatisch, unfraulich und lustfeindlich.“
Die Stasi hatte Baumann
beim Transit verhaftet. Er rechtfertigte seine präzisen Aussagen
damit, dass die Stasioffiziere gedroht hatten, ihn in den Westen
abzuschieben, wenn er nicht
auspacke. Die meisten Genossen
der „Bewegung 2. Juni“, die Baumann immer schon als „Großmaul“ kritisiert hatten, wandten sich nach dem Bekanntwerden der Stasi-Aussagen von ihm
ab. Der einstige „2. Juni“-Kader
und spätere taz-Redakteur und
Stasi-IM Till Meyer allerdings
und einige alte Freunde von den
„Haschrebellen“ hielten zu ihm.
Weniger als ein Jahr nach dem
Treffen in Rom verhaftete Scotland Yard Baumann im Februar
1981 in einem besetzten Haus in
Ostlondon in Hackney. Ein halbes Jahr später verurteilte das
Landgericht Berlin ihn wegen
zwei Banküberfällen und einem
Bombenanschlag auf das Berliner Landeskriminalamt zu fünf
Jahren und zwei Monaten Haft.
Der Fall der Mauer im Herbst
1989 war für den Berliner Bau-
mann eine große Freude. Monatelang wanderte er durch die
Stadt und beobachtete das Zusammenwachsen der beiden
Halbstädte, die er beide sehr
gut kannte.
Als Bauleiter arbeitete er für
die Drogentherapieeinrichtung,
in der er clean geworden war,
doch dann holte ihn seine Vergangenheit ein. Ärzte diagnostizierten eine Hepatitis C, die
meist zu Leberzirrhose oder Leberkrebs führt. Er musste seinen
Job aufgeben, und wirkte fortan
vor allem als Zeitzeuge.
Sein Buch zeigte:
Die Revolte von 1968
war eine klassenübergreifende
Jugendbewegung
Er bekam das Haus seiner
Großmutter in Potsdam restitutiert, doch die 900.000 D-Mark
hielten auch nicht ewig.
Wenn er sich vor eine Kamera setzte oder eine Bühne betrat, glich er einem englischen
Lord: Tweedjacket, Seidenkrawatte, Manschettenknöpfe. Rasierwasser Wellington von Geo
F Trumper, wie schon Winston
Churchill. Seine Kommentare
waren erfrischend und nach allen Seiten kritisch. Dass der Kapitalismus die größte Geisel des
modernen Menschen sei, daran
zweifelte er nie.
Bommi Baumann hat insgesamt sechs Jahre im Gefängnis
gesessen und dort vor allem gelesen. Nun saß er in seiner Wohnung in der Landsberger Allee
und las; in Büchern, in Zeitungen und im Internet. Die Geschichte des britischen Empire
kannte er bis in kleinste Details.
Geheimdienste faszinierten ihn.
Bis auf Zigaretten nahm er
lange keine Drogen mehr, doch
als seine Frau mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung im
Krankenhaus lag, griff er wieder zu Opiaten. Als der Richter
Baumann im Prozess gegen Verena Becker wegen des Mordes
an Generalbundesanwalt Siegfried Buback als Zeugen fragte,
warum er nach fünfzehn Jahren
wieder mit Opiaten angefangen habe, antwortete Bommi:
„Na irgend­ein Hobby hat doch
jeder.“
Opiate sind mehr als ein
Hobby, sie höhlen Menschen
aus. Sie verwandeln sie in auf
sich und die Droge bezogene
Narzissten. Im Jahr 2009 veröffentlichte er sein drittes und
letztes, teils autobiografisches
Buch „Rausch und Terror. Ein
politischer Erlebnisbericht“. Darin beschrieb er nicht nur mit
seltener Präzision die Mechanismen der Opiatsucht, sondern gab entscheidende Hinweise zur Kulturgeschichte der
Drogen in der Bundesrepublik
seit den 1960er Jahren.
„Meine Kumpels könnten einen Friedhof füllen“, sagte er
in einem Interview: Von den
„Haschrebellen“ der sechziger Jahre waren viele schon tot.
Bommi Baumanns Freunde
sagten, es gleiche einem Wunder, dass er mit seinem Lifestyle
noch am Leben sei.
Er wurde 68 Jahre alt und
starb am frühen Dienstagmorgen friedlich in seiner Wohnung
in Berlin-Friedrichshain.
1987 trat Bommi so in Talkshows auf – bevor er sich lieber in Krawatte, Weste und Anzug kleidete Foto: imago