medizin - Deutsches Ärzteblatt

MEDIZIN
Differenzierung fehlt
In dem Artikel wird erfreulicherweise eine im klinischen Alltag
wiederkehrende und häufig zu diagnostischen und therapeutischen Schwierigkeiten führende abdominale Schmerzsymptomatik beschrieben (1).
Allerdings erfolgt keinerlei Differenzierung der Beschwerden
hinsichtlich eines – augenscheinlich relevanten – neuropathischen Anteils. Die empfohlenen diagnostischen lokalanästhetischen Infiltrationen lassen leider zur weiteren Differenzierung der
Schmerzgenese ebenfalls keine Aussage zu. Die im Artikel angeratenen invasiven Therapieoptionen sind aufgrund ihrer stets zeitlich begrenzten Wirkung und dem Risiko einer weiteren Chronifizierung als eher nachteilig zu erachten. Insbesondere Neurolyse
und Neurektomie können zu hochproblematischen Exazerbationen neuropathischer Schmerzen führen und entsprechen damit
nicht mehr den heute üblichen Therapieempfehlungen (2).
Aus diesem Grunde klammert die 2012 veröffentlichte Leitlinie „Pharmakologische nichtinterventionelle Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen“ die interventionelle Therapie
bereits im Titel aus, ohne dass diese in einer anderen Leitlinie
Einfluss fände (3). Auch Dworkin et al. verweisen in ihrer breiten
Übersichtsarbeit bezüglich isolierter neuropathischer Schmerzsyndrome nachdrücklich auf die fehlende standardisierte Studienlage in der Literatur, die sich primär auf Fallberichte stützt (4).
Der vom Autorenteam vertretenen Aussage „Bedenken hinsichtlich der Nebenwirkungen von Infiltrationstherapien seien
unbegründet“ muss daher widersprochen werden. Die Aussage,
dass diese bei Kindern mitunter „wiederholt notwendig“ beziehungsweise „operativ effektiv“ seien, sehe ich kritisch, nicht zuletzt hinsichtlich der häufig funktionellen Anteile bei kindlichen
Abdominalschmerzen. Angebote der konservativen Schmerztherapie, unter anderem antineuropathische Medikationen und Lokalanwendungen oder TENS, gegebenenfalls eingebettet in ein multimodales Gesamtkonzept, stellen die angemessenen Handlungsoptionen dar.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0504a
LITERATUR
1. Koop H, Koprdova S, Schürmann C: Chronic abdominal wall pain—a poorly
recognized clinical problem. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 51–7.
2. Tronnier VM, Rasche D: Neurodestruktive Verfahren in der Schmerztherapie.
Schmerz 2009; 23: 531–43.
3. Diener H-C, Weimar C: Pharmakologische nichtinterventionelle Therapie
chronisch neuropathischer Schmerzen. In: Diener HC, Maier C (eds.): Leitlinien
der Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Stuttgart: Thieme, 2012.
4. Dworkin RH, O´Connor AB, Kent J, et al.: Interventional management of neuropathic
pain: NeuPSIG recommendations. Pain 2013; 154: 2249–61.
Dr. med. Thorsten Nickel
imland Klinik Rendsburg
[email protected]
Interessenkonflikt
Dr. Nickel wurden Teilnahmegebühren für Kongresse und Reise- und Übernachtungskosten
erstattet von Firma Grünenthal und Mundipharma.
Schlusswort
Die obigen Leserzuschriften wie auch viele Kommentare und
Fragen, die uns direkt erreichten, zeigen ein großes Interesse an
diesem lange vernachlässigten klinischen Problem, dessen Behandlung noch wenig systematisch untersucht wurde. C. Lemke
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präzisiert dankenswerterweise die anatomischen Details, leitet
daraus aber keine Auswirkungen auf das diagnostische und therapeutische Procedere ab.
G. Feurle sieht die Gefahr einer zu großzügigen und oft nicht
indizierten operativen Therapie unter Verweis auf eine eigene
Untersuchungsreihe. In seinem Kollektiv waren jedoch in erheblichem Maße Patienten mit Reizdarmsyndrom beziehungsweise
Depression/Angststörungen vertreten (1). Zwar kommen auch
bei diesen Patienten Bauchwandschmerzen vor, sind aber häufig
großflächiger. Die anamnestische Angabe von Zusammenhängen
parietaler Bauchwandschmerzen mit viszeralen Symptomen
(zum Beispiel Blähungen) wie auch eine Beeinflussung durch
Nahrungsaufnahme oder Defäkation sollte stets Zweifel an der
Diagnose des Bauchwandschmerzes im dargestellten Sinne aufkommen lassen, gleichermaßen bei Patienten mit offenkundiger
Psychopathologie. In eine ähnliche Richtung geht der Kommentar von T. Nickel, der eine Berücksichtigung möglicher neuropathischer Mechanismen an der Schmerzentstehung vermisst und
vor invasiven Therapieoptionen warnt. An anderer Stelle hatten
wir schon ausführlicher auf die Differenzialdiagnose neuropathischer Schmerzen hingewiesen (2, 3). Entscheidend für die Diagnose eines Bauchwandschmerzes im Sinne einer punktförmigen
Nervenalteration – insofern beschreibt der angelsächsische
Begriff „anterior cutaneous nerve entrapment syndrome“ das
Krankheitsbild präziser – ist das streng umschriebene, maximal
2 cm große Areal, in dem der Schmerz reproduzierbar ausgelöst
werden kann, dieser ansonsten aber keine größeren flächigen Bezirke umfasst und auch in der Regel nicht ausstrahlt (allenfalls
bei Alterationen des N. ilioinguinalis beziehungsweise N. iliohypogastricus gelegentlich zu beobachten). Relevante Daten zu einer konservativen Schmerztherapie existieren nicht, waren aber
nach eigener Erfahrung bei vielen Patienten zuvor nicht erfolgreich. Dagegen führte die Injektionstherapie mit Lokalanästhetika in vielen Fällen zu einer definitiven Beschwerdefreiheit und
stellt damit aus unserer Sicht die Primärtherapie der Wahl dar.
Die Strategie für Therapieversager nach mehrmaliger, nur temporär erfolgreicher Injektion und stets identischer Lokalisation ist
unklar, hier besteht – wie im Artikel dargestellt – intensiver
Forschungsbedarf wie auch für das optimale Vorgehen bei Kindern.
Eine Operationsindikation nach einmaliger erfolgloser Injektionsbehandlung (wie von der holländischen Arbeitsgruppe verfolgt) sollte
nicht gestellt werden, vielmehr muss die Indikation zur Neurektomie
immer sehr kritisch abgewogen werden und darf keinesfalls leichtfertig erfolgen, sondern setzt eine erneute differenzialdiagnostische
Evaluation voraus.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0504b
LITERATUR
1. Feurle GE: Abdominal wall pain—classification, diagnosis and treatment suggestions. Wien Klin Wochenschr 2007; 119:633–638
2. Koop H, Schürmann C: Chronischer Bauchwandschmerz. Gastroenterol up2date
2014; 10: 129–140
3. Koop H, Koprdova S, Schürmann C: Chronic abdominal wall pain—a poorly
recognized clinical problem. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 51–7.
Prof. Dr. med. Herbert Koop
Dr. med. Simona Koprdova
Dr. med. Christine Schürmann
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Gastroenterologie, Helios Klinikum Berlin-Buch
[email protected]
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 29–30 | 25. Juli 2016