DIE WELT - Die Onleihe

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DONNERSTAG, 21. JULI 2016
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Nr. 169
aut einer Umfrage glauben über 90 Prozent der
Bevölkerung, dass kleine
Notlügen schon mal erlaubt
sind, „um jemand nicht zu
beleidigen oder zu kränken“.
So wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz, die für
sich ein Abitur und ein Jurastudium erfand, um Sigmar
Gabriel nicht zu beleidigen.
Dabei hätte sich Frau Hinz in
ihrer traditionsreichen Arbeiterpartei nur als Putzfrau
oder Bergmann beziehungsweise Bergfrau ausgeben müssen, das wäre wahrscheinlich
nie aufgeflogen. Auch bei VW
gab es in der Vergangenheit
einige kleine Notlügen, weil
man den Kunden nicht enttäuschen wollte, der ja unbedingt
ein Dieselauto mit 200 PS und
den Abgaswerten eines Fahrrads kaufen wollte. Nur deshalb
wurde die kleine Schummelsoftware eingebaut, die jetzt
dem Konzern und seinem großherzigen Ex-Chef Winterkorn
so viel Ärger macht. Auch Präsident Erdogan greift aus Höflichkeit zur Notlüge. Weil er
gern eine kleine Diktatur errichten will, sich das aber nicht
zu sagen traut, tat er so, als sei
er mit knapper Not einem
Putsch entgangen. Jetzt kann
er machen, was er will, ohne
dass jemand beleidigt sein darf.
AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT; GETTY IMAGES/GOKHAN TAN; SCREENSHOT DIE WELT; BEARBEITUNG TOM UECKER
Zippert zappt
Was hat DAS mit dem
Die Ereignisse einer Woche: In Nizza sterben 84 Menschen durch einen Anschlag mit einem Lkw, in der Türkei wird ein Putschversuch niedergeschlagen und in Würzburg attackiert ein 17-Jähriger Passagiere eines Regionalzugs
ISLAM zu tun?
THEMEN
SPORT
Auch andere können
mal Meister werden:
Jürgen Klopp über die
neue Bundesligasaison
Seite 19
WIRTSCHAFT
Französische
Dessous-Hersteller
müssen kämpfen
Seite 12
KULTUR
Steven Spielberg
verfilmt Roald Dahl
Seite 24
PANORAMA
Holt die Gitarre!
Ein Treffen mit
Gunter Gabriel
Seite 26
DAX
Im Plus
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EVA MARIE KOGEL: Nach den furchtbaren Attenta-
ten der vergangenen Wochen gibt es die Tendenz,
man müsse endlich sagen dürfen, dass die ganzen
Attentate „mit dem Islam“ zu tun hätten. Diese
Forderung ist blödsinnig. Vielleicht verstehe ich sie
nicht. Können Sie mir da weiterhelfen?
HENRYK M. BRODER: Nun, es geht nicht nur um die
Täter von Orlando, Nizza, Würzburg, es geht auch
um die Täter von New York, London, Madrid, Brüssel, Paris, Mumbai, Djerba, Bali, Mombasa, Toulouse, Toronto – nur um ein paar der Tatorte zu
nennen, die mir gerade einfallen. Wenn alle diese
Täter ein gemeinsames Merkmal hätten, wenn sie,
sagen wir, Asthmatiker, Vegetarier, Anhänger einer
seltenen Kampfsportart gewesen wären, dann würden wir uns auch fragen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen ihren Taten und der Tatsache,
dass die Täter Asthmatiker, Vegetarier, Anhänger
einer seltenen Kampfsportart gewesen sind. Es
geht um ein gemeinsames Muster.
KOGEL: Welches Muster denn?
BRODER: Wenn jemand mit einer Axt auf Reisende
in einem Zug losgeht und dabei „Sieg Heil!“ und
„Heil Hitler!“ ruft, dann würden wir bestimmt
nicht fragen, ob und wann er der NSDAP beigetreten ist. Es würde reichen, dass er „Sieg Heil!“ und
„Heil Hitler!“ ruft, um ihn als Nazi zu identifizieren. Die Täter, um die es hier geht, waren alle Muslime. Das reicht, einen Anfangsverdacht zu begründen, dass ihre Taten etwas mit ihrem Glauben
oder, besser gesagt, mit ihrer Gesinnung zu tun
haben könnten.
KOGEL: Verstehe. Aber wenn Sie zu einem HalsNasen-Ohren-Arzt gehen, dann wird der Ihnen ja
auch erklären, dass es unterschiedliche Formen
von Asthma gibt. Und nur eine sehr extreme Ausprägung von Asthma dürfte einen ins Grab bringen.
Nizza, Würzburg, die
Unruhen in der Türkei:
Welche Rolle spielt dabei die
Religion? Ein Streitgespräch
der Islamwissenschaftlerin
Eva Marie Kogel mit dem
Bestsellerautor und
Polemiker Henryk M. Broder
über das Thema der Woche
7 SONDERSEITEN
Seite 3: Rettet die Religion!
Fürchtet die Religion!
Seite 4: Hatte Riaz A. Unterstützer?
Rätsel um die Herkunft des Attentäters
Seite 5: Die neue Strategie des IS
Europol befürchtet weitere Anschläge
Seite 6: Was Israel gegen den Terror tut
So denkt einer der Sextäter von Köln
Seite 7: Erdogan geht gegen Akademiker vor
Der Arzt schlägt dann bestimmt noch eine ganze
Reihe von Medikamenten vor, irgendwelche Sprays
und so weiter. Was aber nichts bringt: ganz laut
schreien, dass Asthma blöd ist.
BRODER: Stimmt, es gibt verschiedene Formen
von Asthma. Und verschiedene Formen von Magen-, Darm- und Lungenkrebs. Aber wenn sie alle
dazu führen, dass die Betroffenen eine besondere
Affinität zur Gewalt entwickeln, dann ist die Frage
nach dem gemeinsamen Nenner nur berechtigt.
Wir reden seit den Anschlägen von „9/11“ über
islamische Gewalt. Und um es uns einfacher zu
machen, unterscheiden wir zwischen dem Islam
(friedliche Religion) und dem Islamismus (eine zur
Gewalt neigende politische Gesinnung), als ob das
eine mit dem anderen nichts zu tun hätte, als ob es
zwischen Alkohol und Alkoholismus keine Verbindung gäbe.
KOGEL: Natürlich gibt es die, aber nicht alles, was
hinkt, ist ein Vergleich.
BRODER: Wir wollen nicht wahrhaben, dass der
Islam ein Gewaltproblem hat, das nicht erst am
11.9.2001 die Weltbühne betrat. Schiiten und Sunniten bekriegen sich seit über 1000 Jahren (und kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Dreißigjährigen
Krieg, den sich Katholiken und Protestanten in
Europa lieferten); der Krieg zwischen dem Iran
und dem Irak hat eine Million Menschen das Leben
gekostet, im algerischen Bürgerkrieg starben mindestens 200.000 Menschen. Und es waren Muslime, die Muslime töteten. Jetzt wird die Kampfzone
eben erweitert. Wir brauchen nur aus der Tür zu
treten und sind schon mittendrin.
KOGEL: Lassen wir vielleicht die armen Asthmatiker
aus dem Spiel, die haben schon genug zu leiden.
Ich verstehe einige Punkte immer noch nicht: Was
lässt Sie denn glauben, „der Islam“ habe ein Ge-
waltproblem? Was ist denn „der Islam“? Und was
mich auch noch stört: Diese Rede vom „jahrtausendealten Konflikt“, das ist doch wirklich
Quatsch, das ist historischer Determinismus. Wenn
Sie heute mit Syrern oder Irakern um die 30 reden,
dann werden eine ganze Reihe von denen sagen,
dass Konfession für sie im persönlichen Alltag
keine Rolle gespielt hat. Dass sie nicht wussten, ob
ihr Mannschaftskamerad beim Fußball Sunnit oder
Schiit oder Christ ist, oder dass es, wenn sie es
denn wussten, nicht wichtig war. Sie schreiben es
ja selber: Der Krieg zwischen Irak und Iran – da
haben sich Staaten bekriegt. Natürlich ist Konfession ein prima Mittel, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen.
BRODER: Entschuldigen Sie bitte, Frau Kollegin,
Sie fragen mich im Ernst, wie ich darauf komme,
„der Islam“ habe ein Gewaltproblem? Belieben Sie
zu scherzen? Meinen Sie vielleicht, Boko Haram sei
eine Abteilung der Heilsarmee; die Armee des Islamischen Staates (IS), der in den Nachrichten immer als „sogenannter Islamischer Staat“ bezeichnet wird wie einst die „sogenannte DDR“, habe sich
aus der Schweizergarde entwickelt? Halten Sie die
Revolutionären Garden im Iran für eine Art Friedensbewegung?
KOGEL: Lieber Herr Broder, Ihr liebstes Stilmittel
ist die Übertreibung. Sie ist fast immer lustig, aber
nicht immer treffend.
BRODER: Werfen Sie doch bitte einen Blick in die
Kairoer Erklärung der Menschenrechte aus dem
Jahre 1990. Ein bemerkenswertes Dokument, in
dem klar festgehalten wird, dass Menschenrechte
unter dem Vorbehalt der Scharia gelten. Ich komme Ihnen aber gern entgegen. Wenn Sie meinen,
FORTSETZUNG AUF SEITE 2
SPD-Abgeordnete verlässt Bundestag
wegen Fälschung ihres Lebenslaufs
Studie: Deutsche
leben sehr gut
Republikaner schicken Trump
offiziell ins Rennen
Die langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz legt nach Aufdeckung ihres gefälschten Lebenslaufs ihr
Mandat nieder. Hinz habe Bundestagspräsident Norbert Lammert „um einen
schnellstmöglichen persönlichen Termin gebeten“, um ihm gegenüber ihren
Verzicht auf das Mandat zu erklären,
teilten ihre Anwälte in Essen mit. Zuvor
hatten die Anwälte bestätigt, dass Hinz
wesentliche Teile ihres Lebenslaufs erfunden hatte. Demnach hat sie weder
Abitur gemacht noch juristische Staatsexamina abgelegt. Nach diesem Eingeständnis hatte NRW-Justizminister
Thomas Kutschaty (SPD) noch am Mitt-
Deutschland erreicht im internationalen Ranking für wirtschaftliches
Wohlergehen sein bisher bestes Ergebnis. Nur in kleinen Ländern wie
Norwegen, Finnland und den Niederlanden geht es den Bürgern noch besser. Das ist das Ergebnis einer neuen
Studie der Boston Consulting Group
(BCG). Und der Trend geht nach
oben: Die Bundesrepublik hat laut der
Studie so stark aufgeholt wie kein anderes westeuropäisches Land – von
Rang elf im vergangenen Jahr zieht
Deutschland 2016 in die weltweite
Spitzengruppe ein und belegt aktuell
den vierten Rang.
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Die Republikaner haben Donald Trump
offiziell als Präsidentschaftskandidaten
nominiert. In der Nacht zum Mittwoch
erhielt er auf dem Parteikonvent in
Cleveland die nötige Mehrheit. Bundesstaat für Bundesstaat bestätigte lautstark, wie viele Delegierte er für Trump
in die Waagschale wirft. Die formal entscheidenden Stimmen kamen aus New
York, dem Heimatstaat des Immobilienmilliardärs. Insgesamt wurden in Cleveland 1725 Delegierte für Trump gezählt,
475 für Texas’ Senator Ted Cruz, 120 für
Ohios Gouverneur John Kasich, 114 für
Floridas Senator Marco Rubio, sieben
für den früheren Neurochirurgen Ben
woch den sofortigen Rückzug von Hinz
gefordert. Auch die Bundestagsfraktion
verlangte Konsequenzen.
Bei der Essener Staatsanwaltschaft
seien inzwischen zwei Anzeigen gegen
Hinz eingegangen, hieß es dort. Derzeit
werde geprüft, „ob ein Anfangsverdacht
wegen eines Täuschungsdeliktes gegeben ist“. Die Bundestagsverwaltung erklärte, es gebe „keinen Ansatzpunkt für
rechtliche Konsequenzen“ wegen des
gefälschten Lebenslaufs. Der Bundestag
veröffentliche biografische Informationen, die er von den Abgeordneten erhalte. Jeder Abgeordnete sei für die Angaben selbst verantwortlich.
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GBP / GR 3,50 & / I 3,40 & / IRL 3,20 & / L 3,40 & / MLT 3,20 & / NL 3,40 & / P 3,40 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,40 €
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Carson, drei für Floridas Ex-Gouverneur Jeb Bush und zwei für Kentuckys
Senator Rand Paul. „Ich bin so stolz, der
Nominierte zu sein“, sagte Trump. Für
die Präsidentenwahl am 8. November
zeigte er sich zuversichtlich. Die Annahme seiner Nominierung am heutigen
Donnerstag ist eine Formsache.
New Jerseys Gouverneur Chris Christie, früher Staatsanwalt, heizte in einer
Art Schauprozess den Konvent kräftig
gegen Hillary Clinton auf. Auf seine rhetorischen Fragen nach Clintons Verantwortung brüllten die Delegierten wiederholt rhythmisch „Schuldig!“ und
„Sperrt sie ein!“.
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