KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 L DONNERSTAG, 21. JULI 2016 ** D 2,50 E URO B Nr. 169 aut einer Umfrage glauben über 90 Prozent der Bevölkerung, dass kleine Notlügen schon mal erlaubt sind, „um jemand nicht zu beleidigen oder zu kränken“. So wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz, die für sich ein Abitur und ein Jurastudium erfand, um Sigmar Gabriel nicht zu beleidigen. Dabei hätte sich Frau Hinz in ihrer traditionsreichen Arbeiterpartei nur als Putzfrau oder Bergmann beziehungsweise Bergfrau ausgeben müssen, das wäre wahrscheinlich nie aufgeflogen. Auch bei VW gab es in der Vergangenheit einige kleine Notlügen, weil man den Kunden nicht enttäuschen wollte, der ja unbedingt ein Dieselauto mit 200 PS und den Abgaswerten eines Fahrrads kaufen wollte. Nur deshalb wurde die kleine Schummelsoftware eingebaut, die jetzt dem Konzern und seinem großherzigen Ex-Chef Winterkorn so viel Ärger macht. Auch Präsident Erdogan greift aus Höflichkeit zur Notlüge. Weil er gern eine kleine Diktatur errichten will, sich das aber nicht zu sagen traut, tat er so, als sei er mit knapper Not einem Putsch entgangen. Jetzt kann er machen, was er will, ohne dass jemand beleidigt sein darf. AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT; GETTY IMAGES/GOKHAN TAN; SCREENSHOT DIE WELT; BEARBEITUNG TOM UECKER Zippert zappt Was hat DAS mit dem Die Ereignisse einer Woche: In Nizza sterben 84 Menschen durch einen Anschlag mit einem Lkw, in der Türkei wird ein Putschversuch niedergeschlagen und in Würzburg attackiert ein 17-Jähriger Passagiere eines Regionalzugs ISLAM zu tun? THEMEN SPORT Auch andere können mal Meister werden: Jürgen Klopp über die neue Bundesligasaison Seite 19 WIRTSCHAFT Französische Dessous-Hersteller müssen kämpfen Seite 12 KULTUR Steven Spielberg verfilmt Roald Dahl Seite 24 PANORAMA Holt die Gitarre! Ein Treffen mit Gunter Gabriel Seite 26 DAX Im Plus Seite 15 Dax Schluss Euro EZB-Kurs Dow Jones 17.40 Uhr 10.142,01 1,1013 18.616,27 Punkte US-$ Punkte +1,61% ↗ –0,19% ↘ +0,31% ↗ ANZEIGE World Wide Wetter – Aus heiterem Himmel Heute um 20.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle EVA MARIE KOGEL: Nach den furchtbaren Attenta- ten der vergangenen Wochen gibt es die Tendenz, man müsse endlich sagen dürfen, dass die ganzen Attentate „mit dem Islam“ zu tun hätten. Diese Forderung ist blödsinnig. Vielleicht verstehe ich sie nicht. Können Sie mir da weiterhelfen? HENRYK M. BRODER: Nun, es geht nicht nur um die Täter von Orlando, Nizza, Würzburg, es geht auch um die Täter von New York, London, Madrid, Brüssel, Paris, Mumbai, Djerba, Bali, Mombasa, Toulouse, Toronto – nur um ein paar der Tatorte zu nennen, die mir gerade einfallen. Wenn alle diese Täter ein gemeinsames Merkmal hätten, wenn sie, sagen wir, Asthmatiker, Vegetarier, Anhänger einer seltenen Kampfsportart gewesen wären, dann würden wir uns auch fragen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen ihren Taten und der Tatsache, dass die Täter Asthmatiker, Vegetarier, Anhänger einer seltenen Kampfsportart gewesen sind. Es geht um ein gemeinsames Muster. KOGEL: Welches Muster denn? BRODER: Wenn jemand mit einer Axt auf Reisende in einem Zug losgeht und dabei „Sieg Heil!“ und „Heil Hitler!“ ruft, dann würden wir bestimmt nicht fragen, ob und wann er der NSDAP beigetreten ist. Es würde reichen, dass er „Sieg Heil!“ und „Heil Hitler!“ ruft, um ihn als Nazi zu identifizieren. Die Täter, um die es hier geht, waren alle Muslime. Das reicht, einen Anfangsverdacht zu begründen, dass ihre Taten etwas mit ihrem Glauben oder, besser gesagt, mit ihrer Gesinnung zu tun haben könnten. KOGEL: Verstehe. Aber wenn Sie zu einem HalsNasen-Ohren-Arzt gehen, dann wird der Ihnen ja auch erklären, dass es unterschiedliche Formen von Asthma gibt. Und nur eine sehr extreme Ausprägung von Asthma dürfte einen ins Grab bringen. Nizza, Würzburg, die Unruhen in der Türkei: Welche Rolle spielt dabei die Religion? Ein Streitgespräch der Islamwissenschaftlerin Eva Marie Kogel mit dem Bestsellerautor und Polemiker Henryk M. Broder über das Thema der Woche 7 SONDERSEITEN Seite 3: Rettet die Religion! Fürchtet die Religion! Seite 4: Hatte Riaz A. Unterstützer? Rätsel um die Herkunft des Attentäters Seite 5: Die neue Strategie des IS Europol befürchtet weitere Anschläge Seite 6: Was Israel gegen den Terror tut So denkt einer der Sextäter von Köln Seite 7: Erdogan geht gegen Akademiker vor Der Arzt schlägt dann bestimmt noch eine ganze Reihe von Medikamenten vor, irgendwelche Sprays und so weiter. Was aber nichts bringt: ganz laut schreien, dass Asthma blöd ist. BRODER: Stimmt, es gibt verschiedene Formen von Asthma. Und verschiedene Formen von Magen-, Darm- und Lungenkrebs. Aber wenn sie alle dazu führen, dass die Betroffenen eine besondere Affinität zur Gewalt entwickeln, dann ist die Frage nach dem gemeinsamen Nenner nur berechtigt. Wir reden seit den Anschlägen von „9/11“ über islamische Gewalt. Und um es uns einfacher zu machen, unterscheiden wir zwischen dem Islam (friedliche Religion) und dem Islamismus (eine zur Gewalt neigende politische Gesinnung), als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte, als ob es zwischen Alkohol und Alkoholismus keine Verbindung gäbe. KOGEL: Natürlich gibt es die, aber nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. BRODER: Wir wollen nicht wahrhaben, dass der Islam ein Gewaltproblem hat, das nicht erst am 11.9.2001 die Weltbühne betrat. Schiiten und Sunniten bekriegen sich seit über 1000 Jahren (und kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Dreißigjährigen Krieg, den sich Katholiken und Protestanten in Europa lieferten); der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak hat eine Million Menschen das Leben gekostet, im algerischen Bürgerkrieg starben mindestens 200.000 Menschen. Und es waren Muslime, die Muslime töteten. Jetzt wird die Kampfzone eben erweitert. Wir brauchen nur aus der Tür zu treten und sind schon mittendrin. KOGEL: Lassen wir vielleicht die armen Asthmatiker aus dem Spiel, die haben schon genug zu leiden. Ich verstehe einige Punkte immer noch nicht: Was lässt Sie denn glauben, „der Islam“ habe ein Ge- waltproblem? Was ist denn „der Islam“? Und was mich auch noch stört: Diese Rede vom „jahrtausendealten Konflikt“, das ist doch wirklich Quatsch, das ist historischer Determinismus. Wenn Sie heute mit Syrern oder Irakern um die 30 reden, dann werden eine ganze Reihe von denen sagen, dass Konfession für sie im persönlichen Alltag keine Rolle gespielt hat. Dass sie nicht wussten, ob ihr Mannschaftskamerad beim Fußball Sunnit oder Schiit oder Christ ist, oder dass es, wenn sie es denn wussten, nicht wichtig war. Sie schreiben es ja selber: Der Krieg zwischen Irak und Iran – da haben sich Staaten bekriegt. Natürlich ist Konfession ein prima Mittel, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen. BRODER: Entschuldigen Sie bitte, Frau Kollegin, Sie fragen mich im Ernst, wie ich darauf komme, „der Islam“ habe ein Gewaltproblem? Belieben Sie zu scherzen? Meinen Sie vielleicht, Boko Haram sei eine Abteilung der Heilsarmee; die Armee des Islamischen Staates (IS), der in den Nachrichten immer als „sogenannter Islamischer Staat“ bezeichnet wird wie einst die „sogenannte DDR“, habe sich aus der Schweizergarde entwickelt? Halten Sie die Revolutionären Garden im Iran für eine Art Friedensbewegung? KOGEL: Lieber Herr Broder, Ihr liebstes Stilmittel ist die Übertreibung. Sie ist fast immer lustig, aber nicht immer treffend. BRODER: Werfen Sie doch bitte einen Blick in die Kairoer Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1990. Ein bemerkenswertes Dokument, in dem klar festgehalten wird, dass Menschenrechte unter dem Vorbehalt der Scharia gelten. Ich komme Ihnen aber gern entgegen. Wenn Sie meinen, FORTSETZUNG AUF SEITE 2 SPD-Abgeordnete verlässt Bundestag wegen Fälschung ihres Lebenslaufs Studie: Deutsche leben sehr gut Republikaner schicken Trump offiziell ins Rennen Die langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz legt nach Aufdeckung ihres gefälschten Lebenslaufs ihr Mandat nieder. Hinz habe Bundestagspräsident Norbert Lammert „um einen schnellstmöglichen persönlichen Termin gebeten“, um ihm gegenüber ihren Verzicht auf das Mandat zu erklären, teilten ihre Anwälte in Essen mit. Zuvor hatten die Anwälte bestätigt, dass Hinz wesentliche Teile ihres Lebenslaufs erfunden hatte. Demnach hat sie weder Abitur gemacht noch juristische Staatsexamina abgelegt. Nach diesem Eingeständnis hatte NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) noch am Mitt- Deutschland erreicht im internationalen Ranking für wirtschaftliches Wohlergehen sein bisher bestes Ergebnis. Nur in kleinen Ländern wie Norwegen, Finnland und den Niederlanden geht es den Bürgern noch besser. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie der Boston Consulting Group (BCG). Und der Trend geht nach oben: Die Bundesrepublik hat laut der Studie so stark aufgeholt wie kein anderes westeuropäisches Land – von Rang elf im vergangenen Jahr zieht Deutschland 2016 in die weltweite Spitzengruppe ein und belegt aktuell den vierten Rang. Seite 9 Die Republikaner haben Donald Trump offiziell als Präsidentschaftskandidaten nominiert. In der Nacht zum Mittwoch erhielt er auf dem Parteikonvent in Cleveland die nötige Mehrheit. Bundesstaat für Bundesstaat bestätigte lautstark, wie viele Delegierte er für Trump in die Waagschale wirft. Die formal entscheidenden Stimmen kamen aus New York, dem Heimatstaat des Immobilienmilliardärs. Insgesamt wurden in Cleveland 1725 Delegierte für Trump gezählt, 475 für Texas’ Senator Ted Cruz, 120 für Ohios Gouverneur John Kasich, 114 für Floridas Senator Marco Rubio, sieben für den früheren Neurochirurgen Ben woch den sofortigen Rückzug von Hinz gefordert. Auch die Bundestagsfraktion verlangte Konsequenzen. Bei der Essener Staatsanwaltschaft seien inzwischen zwei Anzeigen gegen Hinz eingegangen, hieß es dort. Derzeit werde geprüft, „ob ein Anfangsverdacht wegen eines Täuschungsdeliktes gegeben ist“. Die Bundestagsverwaltung erklärte, es gebe „keinen Ansatzpunkt für rechtliche Konsequenzen“ wegen des gefälschten Lebenslaufs. Der Bundestag veröffentliche biografische Informationen, die er von den Abgeordneten erhalte. Jeder Abgeordnete sei für die Angaben selbst verantwortlich. Seite 8 DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon 030 / 25 91 0 Fax 030 / 25 91 71 606 E-Mail [email protected] Anzeigen 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon 0800 / 93 58 537 Fax 0800 / 93 58 737 E-Mail [email protected] ISSN 0173-8437 169-29 ZKZ 7109 A 3,40 & / B 3,40 & / CH 5,00 CHF / CZ 96 CZK / CY 3,40 & / DK 26 DKR / E 3,40 & / I.C. 3,40 & / F 3,40 & / GB 3,20 GBP / GR 3,50 & / I 3,40 & / IRL 3,20 & / L 3,40 & / MLT 3,20 & / NL 3,40 & / P 3,40 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,40 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung Carson, drei für Floridas Ex-Gouverneur Jeb Bush und zwei für Kentuckys Senator Rand Paul. „Ich bin so stolz, der Nominierte zu sein“, sagte Trump. Für die Präsidentenwahl am 8. November zeigte er sich zuversichtlich. Die Annahme seiner Nominierung am heutigen Donnerstag ist eine Formsache. New Jerseys Gouverneur Chris Christie, früher Staatsanwalt, heizte in einer Art Schauprozess den Konvent kräftig gegen Hillary Clinton auf. Auf seine rhetorischen Fragen nach Clintons Verantwortung brüllten die Delegierten wiederholt rhythmisch „Schuldig!“ und „Sperrt sie ein!“. Seite 8 DW-2016-07-21-zgb-ekz- fe00488ee08292058e267c0710129b6e
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