MS Telefonseelsorge Gott und die Welt

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
17.07.2016
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Matthias Bertsch
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
Eine Sendung des WDR vom 5.5.2016
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GOTT UND DIE WELT
Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!
60 Jahre TelefonSeelsorge in Deutschland
Redaktion: Theodor Dierkes
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks
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Sprecherin:
„Vielleicht kennst Du ja jemanden, dem es schon mal richtig schlecht ging. So richtig.
So schlecht, dass er sich umbringen wollte. Was sagt man dann? Wie kann man ihm
helfen?“ Mit diesen Fragen schreibt die TelefonSeelsorge Berlin e.V. jährlich einen
Schüler-Wettbewerb aus. Im Bereich Musik hat ihn im letzten Jahr der Song des 17jährigen Darko Sagarra Medina gewonnen.
Lied 1: Darko Sagarra Medina: Quelle: http://www.suizid-ist-nicht-die-loesung.de/gewinner/song_2015.html,
„Selbstmordgedanken ignorieren, um nicht das Leben zu verlieren, jeder Mensch sollte
schätzen, dass er leben und existieren darf. Es hat keinen Sinn sich umzubringen,
glaubst du, irgend jemand will das, nein, Leben hat einen Sinn und deshalb bin ich wie
ich bin, ich bin im Leben drin und appelliere an die vielen, die suizidgefährdet sind …“
Titelsprecherin:
Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!
60 Jahre TelefonSeelsorge in Deutschland
Eine Sendung von Matthias Bertsch
Sprecher:
Der Wettbewerb unter dem Motto „Suizid ist nicht die Lösung“ soll Schülern
motivieren, sich mit dem Thema Jugend und Suizid auseinanderzusetzen. Das Berliner
Krisentelefon will damit nicht nur an die rund 600 Jugendlichen, die sich in der
Bundesrepublik jedes Jahr das Leben nehmen, erinnern, sondern auch an den
Ursprung der Telefonseelsorge Anfang der 50er Jahre in London. Als Begründer gilt
der britisch-anglikanische Geistliche Edward Chad Varah, der ein 14-jähriges Mädchen
beerdigen musste, das sich das Leben genommen hatte. Bei der Beerdigung hatte er
erfahren, dass der Grund dafür Scham über ihre erste Periode war. Sie hatte sie für
eine Krankheit gehalten.
O-Ton 1, Blömeke:
„Suizide in London waren der Auslöser, dass Chad Varah gesagt hat, es kann nicht sein,
dass Menschen in einer solchen Situation nicht wissen, an wen sie sich wenden
können. Er hat dann eine Zeitungsanzeige in der Times geschaltet: „Bevor du dich
umbringst, ruf an!“ und hat seine Telefonnummer angegeben, hat seine Telefonnummer auch ins Fenster, er war ja anglikanischer Pfarrer, in seinem Pfarrhaus ins
Fenster gesetzt und so ist die 1. TelefonSeelsorge entstanden.“
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Sprecher:
Die Idee des Hilfetelefons wurde auch in der Bundesrepublik aufmerksam verfolgt, so
der Geschäftsführer der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge, Bernd
Blömeke.
O-Ton 2, Blömeke:
„Wenn man auf die Gründungen der ersten TelefonSeelsorge-Stellen in Deutschland
seit 1956 zurückschaut, merkt man, dass fast in jeder Gründung suizidale Erfahrungen
im Hintergrund standen, ob in Berlin, in Kassel, in Frankfurt, in Düsseldorf haben
Menschen mitbekommen, hier in unserer Stadt nimmt sich jemand das Leben, weiß
nicht, an wen er sich wenden soll in so ner bedrängenden Situation und haben das zum
Anlass genommen, eine TelefonSeelsorge zu gründen.“
Sprecher:
Das erste Beratungsangebot nannte sich deswegen auch Lebensmüdenbetreuung, und
dass sie in Berlin entstand, war kein Zufall: Berlin galt als Hauptstadt der Selbstmörder,
wie sie damals noch genannt wurden. Am 6. Oktober 1956 gründeten ein Pastor, ein
Arzt und einige Theologiestudenten in einer Charlottenburger Privatwohnung einen
telefonischen Notdienst nach dem Vorbild von Chad Varah. Die Telefonnummer, damals
noch eine Privatnummer, war rund um die Uhr erreichbar, bis Ende des Jahres wurden
gut 600 Anrufe gezählt.
Dass sich die TelefonSeelsorge in der Bundesrepublik so schnell ausbreitete, hing nicht
nur mit dem Bedarf zusammen sondern auch mit den technischen Voraussetzungen: In
den 50er und 60er Jahren erhielten immer mehr Privathaushalte einen Telefonanschluss, das Telefon begann, sich als Kommunikationsmedium durchzusetzen. Und
schon bald wurde die Nummer nicht nur von „Lebensmüden“ gewählt sondern von
Verzweifelten aller Art. Ein häufiger Grund für Anrufe waren in den 60er Jahren
beispielsweise die so genannten Mischehen zwischen Protestanten und Katholiken.
O-Ton 3, Aus Servicezeit, WDR 1967: „Das große Revier. Frauen an der Ruhr“:
Frau: „Ich bin evangelisch und mein Mann ist katholisch.“
Telefonseelsorgerin: „Das spielt alles keine Rolle.“
Frau: „Meinen Sie nicht?“
Telefonseelsorgerin: „Nein, das spielt für unseren Fall hier … „
Frau: „Ich habe sogar, ihm zuliebe, wegen seiner Mutti, habe ich meine Kinder
katholisch taufen lassen, alle. Hätte ich mich direkt auch durchgesetzt und hätt mein
Kinder evangelisch taufen lassen, nämlich zu erziehen hat nur ne Mami die Kinder oder
(schluchzt) … Merken Sie nicht, dass ich restlos verzweifelt bin!“
Telefonseelsorgerin: „Ja, das merke ich. Weinen Sie sich ruhig mal aus.“
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Sprecher:
Der Mitschnitt aus dem WDR-Fernsehen ist eine Ausnahme, verstößt er doch gegen ein
heutiges Grundprinzip der TelefonSeelsorge: Gespräche dürfen nicht aufgezeichnet
werden, um die Anonymität der Anrufer nicht zu gefährden. Gerade für Menschen in
einer schweren Krise ist es wichtig, dass sie wissen: Hier wird nichts gegen ihren Willen
getan.
O-Ton 4, Blömeke:
„Der Ansatz von TelefonSeelsorge ist, wenn ein Mensch anruft, soll er die Kontrolle
behalten über das, was hier passiert, d.h. es soll nicht über ihn verfügt werden im
Sinne von „jetzt drohe ich damit, die Polizei zu benachrichtigen oder den Rettungsdienst zu benachrichtigen“, sondern es geht darum, hier jetzt diese Gesprächsmöglichkeit mit einem Menschen wahrzunehmen, ihm zu helfen, ihn zu entlasten, mit ihm
gemeinsam zu überlegen, welche hilfreichen Schritte können jetzt als nächstes
anstehen.“
Sprecher:
Die Anonymität ist aber nicht nur für Suizid-Gefährdete wichtig. Diese machen schon
lange nur noch einen Bruchteil der Anrufe bei der TelefonSeelsorge aus. Auch andere
wollen lieber anonym darüber reden, warum sie die Nummer gewählt haben.
O-Ton 5, Anruferin TelefonSeelsorge:
„Ich habe das nicht gerade an die große Glocke gehängt, da macht man nicht gerade
Werbung damit, dass man sozusagen von sich preisgibt, dass man so verzweifelt ist,
dass man die Seelsorge anruft, ich glaube, normalerweise wird diese auch von Leuten
angerufen, die schlimmere Sorgen haben als meine.“
Sprecher:
Gut ein Jahr lang hat die Anruferin regelmäßig die Telefonseelsorge kontaktiert, um
den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten. Am anderen Ende der Leitung waren immer
unterschiedliche Menschen, doch eines haben sie alle getan: zugehört - und manchmal
auch von sich gesprochen.
O-Ton 6, Anruferin TelefonSeelsorge:
„Also eine der TelefonSeelsorgerinnen hat mir erzählt, dass ihre Schwester gestorben
ist oder auch ein Vater, eine Mutter, also sie haben von ihrer eigenen Betroffenheit
erzählt und das lindert ja auch gewissermaßen das Leid ein bisschen, wenn man eben
realisiert, dass das jetzt, ja, ich würde nicht sagen, normal ist, aber dass das eben
häufiger ist als man so denkt.“
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Sprecher:
Aber warum bespricht man solche Krisen nicht mit Freunden oder in der Familie?
O-Ton 7, Anruferin TelefonSeelsorge:
„Ich habe eigentlich schon viele Freunde und auch noch ein bisschen Familie, aber ich
hatte einfach das Gefühl, wenn ich so häufig über meine Traurigkeit und den Verlust
spreche, dass das die anderen belastet, und aus dem Grund war das für mich sozusagen eine Entlastung, dort anrufen zu können und mit jemand zu sprechen, der mich
eben gar nicht kennt.“
Atmo 1: Anruf TelefonSeelsorge Hagen:
Telefon klingelt: „Telefonseelsorge Hagen-Mark, guten Tag! …
Sprecher:
Mit jemand zu sprechen, der einen gar nicht kennt. Dieses Bedürfnis ist inzwischen
ziemlich groß. Im vergangenen Jahr haben die bundesweit 105 TelefonSeelsorgestellen fast zwei Millionen Anrufe entgegengenommen. Die Telefonate sind dank der
Telekom kostenlos, die Nummer ist überall in Deutschland die gleiche, wer aus dem
Festnetz anruft, wird mit der regional nächstgelegenen Stelle verbunden. Dort werden
nach jedem Anruf ein paar statistische Daten erfasst: das Geschlecht des Anrufers,
sein vermutetes Alter, die Dauer des Gesprächs, und die Themen um die es ging. Über
die Gründe für die vielen Anrufe lässt sich letztlich nur spekulieren, doch für die
Psychologin Heidrun Wiese ist ziemlich klar, was die Menschen suchen: Ein Gespräch
auf Augenhöhe.
O-Ton 8, Wiese:
„Die allermeisten die hier anrufen, wollen schlichtweg verstanden werden mit ihrer
Lebensrealität so wie sie sind, und das können Laien, Ehrenamtliche, die sind ja
ausgebildet und bringen sowieso was mit, sonst kämen sie gar nicht hier in die
Ausbildung, das können die ganz wunderbar, und die wollen extra nicht zum Arzt
gehen und mit ihrem Psychiater oder Therapeut sprechen.“
Sprecher:
Wiese bildet seit 30 Jahren bei der Berliner Telefonseelsorge Ehrenamtliche aus und
betreut sie als Supervisorin. Zwei davon sind Maike und Melanie – auch sie wollen aus
Gründen der Anonymität nur mit Vornamen genannt werden. Im Rahmen der gut einjährigen Ausbildung haben sich die beiden Frauen intensiv mit den eigenen Lebenskrisen auseinandergesetzt und viele praktische Übungen zum Thema Gesprächsführung gemacht. Seitdem sitzen sie jede Woche vier Stunden – so lange dauert eine
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Schicht - am Telefon, und hören sich die Probleme der Menschen an: Einsamkeit,
Krankheit, Trennung oder einfach nur: Angst vor dem Leben. Natürlich wollen wir
irgendwie auch helfen, sagt Maike, aber wir sind keine Therapeuten.
O-Ton 9, Maike + Melanie:
Maike: „Ich hab das schon gehabt, hab gesagt: Ich fühl mich so hilflos, dass ich Ihnen
nicht helfen kann, dann kam der Satz: Das brauchen Sie überhaupt nicht, Sie hören mir
zu, das reicht. Wo ich gemerkt hab: okay, das ist dann die Last, die ich mir selbst
auferlegt hab, es reicht völlig zuzuhören, da zu sein.“
Melanie: „Das unterschätzt man immer, dass so wenig eigentlich notwendig ist, die sind
schon so vorzeitig zufrieden, und wir denken immer: volles Programm, ich muss doch
irgendwas anbieten, aber das gehört für mich auch zu den Fallen, das ist nicht meine
Aufgabe, das ist die Aufgabe des Anrufers. Hab ich immer wieder neu zu lernen.“
Sprecher:
Maike und Melanie sind zwei von rund 8.000 Ehrenamtlichen, die die TelefonSeelsorge
mit Leben füllen, zwei typische, könnte man sagen: weiblich, über 40 und mit einem
hohen Bildungsniveau. Auch unter den Anrufern sind Frauen und Männer ab 40 in der
Mehrheit, aber im Unterschied zu den Ehrenamtlichen, von denen mehr als 60%
verheiratet sind, sind zwei Drittel der Anrufenden alleinstehend.
Und noch eine Zahl fällt immer wieder, wenn man fragt, wer das Angebot nutzt. Fast
jeder dritte erzählt im Laufe des Gesprächs, dass er oder sie psychisch krank ist. Das
hat mit der Psychiatriereform der 70er Jahre zu tun, seitdem werden viele psychisch
Kranke nicht mehr in Kliniken untergebracht sondern leben in privaten Wohnungen.
Der Umgang mit diesen Menschen ist oft nicht leicht, gibt Stefan Schumacher, der
Leiter der TelefonSeelsorge Hagen im Ruhrgebiet, zu:
O-Ton 10, Schumacher:
„Die sind oft allein, die wohnen irgendwo, vielleicht werden sie betreut, haben ne
Wohngruppe, wenn sie betreut werden sind das nur wenige Stunden, da wird halt das
Nötigste zur Verfügung gestellt, die Freunde, die sie hatten, sind oft weg, weil man sie
nicht mehr aushält, weil die sehr anstrengend sind in der Art, wie sie kommunizieren,
und es gibt eigentlich nichts, wo die integriert werden und dann ist TelefonSeelsorge
ein Ort, wo ich immer wieder Kontakt aufnehmen kann.“
Sprecher:
Kontakt aufnehmen, um nicht ins Bodenlose zu fallen.
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O-Ton 11, Schumacher:
„Da geht es nicht darum, dass die ihr Leben noch mal umkrempeln können, sondern da
geht es darum, dass die ihr Leben aushalten können oder Leben zu verkraften, oder
Leben zu balancieren und das ist dann unsere Aufgabe, und wenn wir am Ende eines
solchen Gesprächs das Gefühl haben, die Person kommt jetzt gut durch den Tag, sind
wir vollauf zufrieden.“
Lied 2: Darko Sagarra Medina (wie Lied 1)
„Ich kanns nicht verstehen, warum wollen Menschen gehen, sich das Leben nehmen
ohne es zu erzählen oder es zu gestehen, man kann doch drüber reden … „
Sprecher:
Warum wollen Menschen sich das Leben nehmen, singt Darko Sagarra Medina, man
kann doch drüber reden…
O-Ton 12, Knatz:
„Es ist leichter, wenn ich alleine bin, etwas aufzuschreiben, als zu zweit am Telefon
etwas auszusprechen. Und ich bin seit 20 Jahren da, begleite die Telefonarbeit, die
Mailarbeit und die Chat-Arbeit, beim Mailen und auch beim Chatten sind schon mehr
tabuisierte Themen dran als am Telefon, von der Prozentzahl. Natürlich gibt es auch
am Telefon Menschen, die sich umbringen wollen, aber da sind es 3 % der Anrufenden,
beim Mailen sind es 15-20 %.“
Sprecher:
Auch Birgit Knatz ist schon lange bei der TelefonSeelsorge in Hagen. Gemeinsam mit
zwei Kollegen hat sie bereits in den 90er Jahren dafür gesorgt, dass sich die Organisation dem neuen Medium Internet öffnet und eine eigenständige Mail- und ChatBeratung anbietet. Anfangs, erinnert sie sich, waren es vor allem junge Männer, die den
Chatroom nutzten.
O-Ton 13 Knatz:
„Und dort trafen sich dann Menschen, die geschrieben haben, wie man sich am besten
umbringen kann. Welches das beste Mittel ist, was das sicherste Mittel ist, was am
wenigsten schmerzhaft ist, und, und, und. Und vor 20 Jahren wollten wir nicht, dass
unter unserem Dach, sich Tipps gegeben werden, wie man sich am besten umbringt.
Wir sind ja die Anlaufstelle, die sagt: Wir wollen Ihnen helfen, und nicht: wir wollen
Ihnen helfen, wie Sie es am besten machen können.“
Sprecher:
Inzwischen ist die Onlineberatung längst ein fester Bestandteil der TelefonSeelsorge.
Während das Telefon eher von Älteren genutzt, bevorzugen Jüngere Chatten und
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Mailen.
Atmo 2 Tastatur PC
O-Ton 14, aus Email Klientin U 25:
„Hallo, ich weiß gar nicht genau, wie ich anfangen soll. Ich weiß auch gar nicht genau,
ob es richtig ist, mir so zu versuchen, Hilfe zu holen. Ich habe auch echt viele Anläufe
gebraucht, mich hier anzumelden. Also ich fang einfach mal an: Ich fühl mich schon
seit ein paar Monaten echt schlecht. Ich glaub, dass ich an Depression leide, weiß aber
einfach nicht, wie ich mir helfen kann. Ich denke fast jeden Tag an Selbstmord und weiß
nicht, wie lang ich das noch aushalten kann.“
Sprecher:
Der Text, den Feline liest, ist ein wenig verändert, aber so ähnliche Mails erhält die 21Jährige öfter:
O-Ton 15 aus Email Klientin U 25 :
„Ich hab einfach Angst, dass ich meine Gedanken an Selbstmord irgendwann wahr
mache, weil ich keine andere Möglichkeit sehe. Deshalb schreibe ich das alles. Ich hoffe,
das klingt nicht total blöd und verrückt und hoffe, dass du mir weiterhelfen kannst.
Liebe Grüße, Antonia.“
Sprecher:
Feline ist eine von 200 jungen Erwachsenen, die bei U 25 arbeiten. Das Projekt ist vor
15 Jahren in Freiburg gegründet worden, aus einem ähnlichen Grund wie die TelefonSeelsorge: als Anlaufstelle für Jugendliche, die überlegen sich umzubringen.
O-Ton 16, Gleiniger:
„Der Großteil hat vage Suizid-Gedanken, wenn die sich bei uns melden, die Hälfte hat
ungefähr konkrete Suizid-Gedanken und dann gibt es natürlich ganz viele andere
Themen, also Gefühl von Überforderung, Probleme mit Angehörigen, selbstverletzendes Verhalten, Mobbing, das sind die Themen, die häufig auftreten, Schule, Studium,
Ausbildung, wo will ich eigentlich hin im Leben, das sind Themen, die ganz groß sind.“
Sprecher:
Anna Gleiniger leitet U 25 in Berlin, eine der sieben Zweigstellen, die das Projekt
inzwischen hat. Die Prinzipien sind die gleichen wie bei der TelefonSeelsorge: das
Angebot ist kostenlos, niedrigschwellig und anonym. Der zentrale Unterschied besteht
darin, dass bei U 25 junge Menschen beraten, so genannte Peers. Sie kennen nicht nur
die Sprache der Jugendlichen sondern auch ihre Probleme.
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O-Ton 17, Gleiniger:
„Jeder hat in seiner Jugend große Krisen durchlebt und das ist auch so der Knackpunkt: was habe ich für damals für Krisen durchlebt und was hat mir damals geholfen,
und das können die Jugendlichen, unsere Peer-Berater, sehr gut weitergeben, weil sie
eben in der Ausbildung lernen zu schauen, was hat mir damals geholfen, was hat mir
vielleicht auch nicht geholfen, die haben alle auch Krisen durchgemacht. Ich glaub, das
bringt unglaublich viel Potenzial, um dann wirklich eine gute Beratung durchführen zu
können.“
O-Ton 18, Feline:
„Ich schreib momentan mit 2 Klientinnen, und eine Klientin davon erlebt gerade in der
Schule viel Ablehnung und stellt Fragen, wo mich auch wiedererkenne, ob sie irgendwas falsch macht, warum sie von den anderen nicht angenommen wird und ob die sie
komisch finden, weil sie anders ist, oder so.“
Sprecher:
Feline kennt dieses Gefühl gut. Sie selbst hat als Schülerin irgendwann gemerkt, dass
sie Mädchen interessanter findet als Jungs.
O-Ton 19, Feline:
„Ich war auf ner katholischen Privatschule, war das nicht denkbar, und hab eben
einfach die Erfahrung machen müssen, dass ich irgendwie anders bin und all diese
Dinge, in denen ich mich von anderen unterschieden hab, fand ich eben damals nicht
wertvoll oder liebenswert sondern das hat sich eher dazu verändert, dass ich es
hassenswert fast fand und versucht hab, mich anzupassen und mich gar nicht zu
unterscheiden.“
Atmo 3, Anruf + Anrufbeantworter MUTES:
„Herzlich Willkommen und Salem Aleikum beim Muslimischen Seelsorge-Telefon. Zur
Zeit sind unsere Seelsorger im Gespräch, daher bitten wir Sie, etwas später anzurufen.
Alles Gute und Salem Aleikum“ (danach Besetzt-Zeichen)
O-Ton 20, Müller in Ausbildungskurs MUTES:
„Dann sind wir vollständig in dem Falle, die Technik wird aufgebaut, wunderbar, in der
Zeit können wir noch ne kurze Runde machen. Wir haben nur noch dieses eine
Ausbildungswochenende, dann geht es ja schon in den Abschluss, ich würde gern noch
mal horchen, beim Thema Hospitation, wie ihr da auf dem Laufenden seid, ob es noch
irgendwo hakt … „
Sprecher:
In einer Hinterhauswohnung im Prenzlauer Berg in Berlin haben sich ein Dutzend
junger Muslime versammelt. Auf den Tischen des Besprechungsraumes stehen Tee und
Kekse. Man kennt sich, die Stimmung ist gelöst, das feedback zum Thema von Pfarrer
Uwe Müller fast immer positiv.
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O-Ton 21, Ehrenamtlicher MUTES:
„Die Gespräche liefen super, hab mich immer sicher und wohl gefühlt, bin immer mit
nem guten Gefühl nach Hause gegangen, ich mein, ob jetzt KTS oder MuTeS, ob der
Anrufer jetzt Franz oder Ali heißt.“
Sprecher:
KTS oder MuTeS: KTS, das ist die Kirchliche TelefonSeelsorge Berlin, die 1988 von Uwe
Müller im Osten der damals noch geteilten Stadt mitgegründet wurde, und heute in
ganz Berlin tätig ist. MuTeS ist die Muslimische TelefonSeelsorge, gegründet vor sieben
Jahren, als erstes muslimisches Seelsorgetelefon weltweit. Anfangs, erinnert sich
Müller, waren manche in der muslimischen Community gar nicht begeistert von dem
Projekt: Wozu brauchen wir eine anonyme muslimische Seelsorge am Telefon?
O-Ton 22, Müller:
„Die Kolleginnen und Kollegen vom muslimischen Seelsorgetelefon sind natürlich mit
den Erfahrungen, die sie am Telefon gemacht haben in die muslimische community
gegangen und haben in ihren Moschee-Gemeinden gesagt: passt mal auf, wir erleben
am Telefon Gewalt in Familien, wir erleben ganz viel sexuelle Gewalt bei den Anrufenden, Thema Alkoholsucht, Thema Drogensucht, Spielsucht, und dann sind die Gemeinden salopp gesagt reihenweise in Ohnmacht gefallen und haben gesagt, das kann doch
gar nicht sein das ist doch nicht islamisch, und dann haben die gesagt: Ne, aber es ist
menschlich.“
Sprecher:
Träger von MUTES ist die Nichtregierungsorganisation Islamic Relief Deutschland,
doch die christlichen Kirchen haben das Projekt mit angeschoben, und so arbeiten KTS
und MuTes in der Aus- und Weiterbildung nach wie vor eng zusammen. Die Themen der
Gespräche sind oft ähnlich, aber es gibt auch Probleme, mit denen sich Anrufer gezielt
an MuTeS wenden, unterstreicht eine der muslimischen TelefonSeelsorgerinnen.
O-Ton 23, Ehrenamtliche, MUTES:
„Z.B. wenn einer verliebt ist, und im Islam ist eine Beziehung so nicht erlaubt, man
muss heiraten, um eine richtige Beziehung zu führen, und das ist dann ein Problem,
weil für ihn, er sagt, ich kann mich nicht von ihr trennen, aber ich bin noch nicht bereit
zu heiraten, z.B. dann ist das sein Problem und das hat ja mit der Religion direkt zu tun,
und das hab ich ganz oft erlebt, dass Dinge, die in der Religion anders vorgeschrieben
sind, und man ein Problem hat, diese so durchzusetzen, eben so zu leben, dann
entstehen da Probleme und das belastet dann auch die Seele.“
O-Ton 24, Ehrenamtlicher, MUTES:
Es sind Kleinigkeiten, es geht auch um Slang, um kleine Begriffe, den Terminus
Technicus, und wenn man halt selber Muslim ist, dann versteht man manche Sachen
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auf Anhieb besser.“
Sprecher:
Sich verstanden zu fühlen ist immer auch eine Frage der Sprache. Jeden Dienstag
bietet MuTeS auch Gespräche auf Türkisch an und mit ein bisschen Glück können die
Anrufer auch auf Arabisch ihr Herz ausschütten. Das ist enorm wichtig, sagt Uwe
Müller, und zwar nicht nur bei muslimischen Migranten.
O-Ton 25, Müller:
„Wir haben es oft gehabt, dass Leute anrufen, die 30 Jahre in Berlin gewohnt haben
und wenn sie in einer heftigen Krise stecken, sprechen sie plötzlich auf einmal bayrisch
oder schwäbisch, also da, wo sie als Kind groß geworden sind, wenn sie über ihre
Gefühle sprechen sollen, sprechen die plötzlich entweder in ihrem Dialekt oder in ihrer
Muttersprache, also da muss schon wirklich gut beheimatet sein, wenn man sich
gefühlsmäßig über das, was ich gerade innerlich fühle, worüber ich Sorgen und Ängste
haben, das in einer Fremdsprache auszudrücken ist ausgesprochen schwer.“
Atmo 4, Telefon des Vertrauens:
Telefon klingelt, Gus auf russisch: „Telefon doveria, dobre „cenia“ … Tak … „
Sprecher:
Wie wichtig die Muttersprache ist, erlebt Maria Gus jeden Tag. Gus ist Herz und Motor
des russischsprachigen Vertrauenstelefons in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Die
aus Estland stammende Psychologin hatte bereits in Tallinn ein Vertrauenstelefon
gegründet, und als sie vor zwei Jahrzehnten nach Deutschland kam, wurde schnell
deutlich, dass durch die Einwanderung der vielen russischsprachigen Juden auch hier
ein großer Bedarf bestand. Vor 16 Jahren ging die jüdische Hotline an den Start. Das
Motto gilt bis heute: „Nicht versuchen ein Psychotherapeut zu sein! Das Vertrauenstelefon ist ein Mittel, um die Seele zu öffnen und den Schmerz herauslassen.“
O-Ton 26, Gus (stark russischer Akzent):
„Unsere Aufgabe ist zu hören, hören und zuhören, hören und verstehen und sogar
schweigen, besondere Schweigeschaft, um unsere Abonnent verstehen können: Er ist
gehört, wir verstehen seine Probleme, seine Schmerzen und das ist wichtig, clever
schweigen, mit Gefühl schweigen und wir haben kein Recht, einen Rat zu geben, wir
nehmen nur Teil um Entscheidung zu treffen, das ist Prinzip für TelefonSeelsorge und
für Vertrauenstelefon auch.“
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Sprecher:
Am Anfang riefen viele Ärzte und Ingenieure an, die sich in Deutschland plötzlich an
den Rand der Gesellschaft gedrängt sahen. Später, so die Leiterin der Sozialabteilung
in der Jüdischen Gemeinde, Olga Rosow, kam ein Generationskonflikt dazu: Die Eltern
mussten miterleben, dass ihre Kinder schneller deutsch lernten und damit besser
integriert waren.
O-Ton 27, Rosow:
„Die Eltern sind dann aus der Autoritätsrolle, fallen dann raus, und die Kinder bevormunden quasi die Eltern, weil sie die Sprache können, und da war so dieser Rollenwechsel für viele auch sehr schmerzhaft und nicht verständlich, weil in Russland oder
ehemaligen GUS-Staaten war sehr autoritärer Erziehungsstil.“
Sprecher:
Dass die Erziehungsmethoden in Russland andere waren und sind als in Deutschland,
kann Uwe Müller von der Kirchlichen Telefonseelsorge Berlin nur bestätigen. Unter
dem Dach der KTS gibt es ebenfalls eine russischsprachige TelefonSeelsorge: „Telefon
Doveria“, zu deutsch „Telefon des Vertrauens“. Es richtet sich an alle russischsprachigen Migranten, denn egal ob jüdisch oder nicht, die Probleme sind oft ähnlich. Während
die Jüngeren auf der Suche nach Arbeit in andere Länder weiter ziehen, bleiben die
Alten hier und vereinsamen.
O-Ton 28, Müller:
„Es gibt viele alte russischsprachige Leute, die in ihren Wohnungen hängen, in ihren
Neubauwohnungen, und die Familienverbände auseinandergerissen sind.“
Sprecher:
Der Umgang mit Einsamkeit und Verzweiflung wird im Juli auch in Aachen im Mittelpunkt stehen – beim Welt-Kongress von IFOTES, dem Internationalen Verband der
TelefonSeelsorge. Rund 1.400 Menschen aus über 25 Ländern, die meisten Ehrenamtliche, werden sich mit der Frage beschäftigen: „Warum hilft es zu sprechen und zuzuhören“ - und das, obwohl man das Gegenüber weder kennt noch sieht?
Im Hintergrund steht dabei immer noch die Gruppe, wegen der das Krisentelefon vor
sechs Jahrzehnten ins Leben gerufen wurde, auch wenn sie längst nur noch einen
kleinen Teil der Anrufer ausmachen: die suizidgefährdeten Menschen. Der Grundgedanke im Umgang mit ihnen ist bis heute richtungsweisend für die Arbeit. Die Berline-
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rin Heidrun Wiese nennt es: im Gespräch einen Fuß in die Tür zu kriegen.
O-Ton 29, Wiese:
„Wenn jemand darüber sprechen kann, dass er sich das Leben nehmen will, wie er das
machen will, wie es ihm geht, so lange besteht noch immer die Möglichkeit, dass er die
Tür nach innen nicht schließt, also nicht wirklich verschließt, sondern dass er da noch
einen Spalt offen macht und dass dann noch ein Stück Licht rein kann, das ist eigentlich so das Wesen der Suizidprävention, über eine gute Beziehung noch ein bisschen
Licht ins Leben zu lassen. Das ist nie eine Garantie, aber das ist etwas ganz ganz
Wesentliches.“
Sprecher:
Oder, wie es das Logo des jüdischen Vertrauenstelefons ausdrückt: Zwei Telefonhörer
sind einander zugewandt und zwischen Ihnen befindet sich der Hebräische Buchstabe
„Hai“. „Hai“ bedeutet: Leben.
Titelsprecherin:
Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!
60 Jahre TelefonSeelsorge in Deutschland
Sie hörten eine Sendung von Matthias Bertsch
Redaktion: Theodor Dierkes
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks
Das Manuskript der Sendung können Sie bei unserer Serviceredaktion bestellen, aus Berlin
oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per e-mail [email protected] und zum Nachhören
oder lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de
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HINWEISE:
1. Die TelefonSeelsorge ist bundesweit kostenfrei unter folgenden Nummern zu
erreichen:
0800/111 0 111 · 0800/111 0 222
http://www.telefonseelsorge.de
2. Chat-Seelsorge im Internet:
http://chat.telefonseelsorge.org
3. Mail-Beratung im Internet:
https://ts-im-internet.de
4. Muslimisches SeelsorgeTelefon:
030/443 509 821
www.mutes.de
5. Jüdische Telefonseelsorge (auf Russisch, Mittwochs auch auf Deutsch):
Vertrauenstelefon Köln: 0221/26 18 50
Vertrauenstelefon Düsseldorf: 0211/946 85 20, -21 (Mo-Fr. 10-18h, Sonntag
13-16h)
6. Telefon Doweria. Die russischsprachige TelefonSeelsorge,
030/440 308 - 454,
www.russische-telefonseelsorge.de, Mail: [email protected]
7. U 25 Online-Suizidprävention, http://www.u25-deutschland.de/
8. Literatur über TelefonSeelsorge: http://www.telefonseelsorge.de/?q=node/25
9. Auf Draht, Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland, http://www.aufdraht.org/