Bote der Urschweiz, 07.07.2016

12 Lehrbetriebe | Schwyz
Preisträger: Karin Schwiter (ganz rechts) und ihr Forschungsteam durften den Coreched-Preis von Bundespräsident Johann Schneider-Ammann entgegennehmen.
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Untypische Berufe
Auch Mädchen sollen
Elektrikerinnen werden dürfen
KANTON Karin Schwiter hat für ihre Forschungsarbeit den Coreched-Preis erhalten. Sie hat über
geschlechtsuntypische Berufe geforscht und will
Jugendliche dazu motivieren, Elektrikerin oder
auch Pflegefachmann zu werden.
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Mit Karin Schwiter sprach
Laura Inderbitzin
Worum geht es in Ihrer Studie?
Das Forschungsteam und ich sind der Frage
nachgegangen, wie geschlechtstypische
und -untypische Berufseinstiege zustande
kommen. Oder salopp gesagt haben wir
untersucht, warum Elektrikerinnen und
Pflegefachmänner in der Schweiz bisher
noch selten sind.
Wie sind Sie auf diese Frage
gekommen?
Man weiss heute, dass sich das Image von
Berufen als sogenannte «Frauen- oder
Männerberufe» nicht mit den Fähigkeiten
von Frauen und Männern begründen lässt.
So haben einige Berufe über die Zeit hinweg ihr Geschlecht gewechselt – beispielsweise verstand man Primarlehrpersonen
und Sekretariatsmitarbeitende früher als
männertypische Berufe. Ausserdem wer-
Ist das auch in der Schweiz
stark spürbar?
Ja, in der Schweiz ist die berufliche Segregation, das heisst die Sortierung von Frauen und Männern in bestimmte Berufe, sogar noch stärker ausgeprägt als in anderen
Ländern.
Die Schwyzer Kantonsrätin
Karin Schwiter.
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den Berufe je nach Kultur unterschiedlich
sortiert. In anderen Ländern gelten die körperlich anstrengende Feldarbeit in der
Landwirtschaft und die technikaffine IT als
frauentypische Arbeit.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir konnten aufzeigen, wo Jugendliche mit
Interesse an geschlechtsuntypischen Berufen – also zum Beispiel die Informatikerin
und der Kinderbetreuer – zusätzliche Hürden überwinden müssen. Diese Hürden
halten Jugendliche davon ab, untypische
Berufe zu ergreifen, obwohl sie eigentlich
die Fähigkeiten dafür mitbringen würden.
Was sind solche Hürden?
Jugendlichen fehlt von Anfang an der Zugang zu untypischen Berufen. In einem
zweiten Schritt werden ihnen die Fähigkei-
Lehrbetriebe | Schwyz
ten abgesprochen. Obwohl sie oft überdurchschnittliche Voraussetzungen mitbringen, müssen sie andauernd beweisen,
dass sie es ebenso gut können. Und drittens ist die Arbeit oft so organisiert, dass
sich die Jugendlichen nur schwer vorstellen können, in diesen Berufen eine Familie
zu gründen.
Wieso ist Ihnen wichtig, dass
sich das ändert?
Jede Person soll ihr Talent einsetzen können. Solange Frauen und Männern mit untypischen Fähigkeiten Steine in den Weg
gelegt werden, geht ihr Potenzial verloren.
Das schadet unserer Gesellschaft.
Wie kann man das ändern?
Einerseits gilt es, den Blick von Jugendlichen auf geschlechtsuntypische Berufsfelder zu erweitern und sie darin zu bestär-
«Viele Betriebe
arbeiten an
diesem Problem.»
ken, allfällige Talente in diesen Bereichen
zu verwirklichen. Andererseits müssen wir
in der Arbeitswelt Bedingungen schaffen,
dass eine Vielfalt an Lebensentwürfen
möglich ist.
Was heisst das für die Schule
und Berufsbildung?
Viele Jugendliche haben geschlechtsuntypische Berufe gar nicht auf dem Schirm.
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Die Schule kann dazu beitragen, in ihren
Geschichten, Bildern und Unterrichtsthemen vermehrt auch Elektrikerinnen, Pflegefachmänner usw. sichtbar zu machen.
«Die
Familienplanung
hat einen grossen
Einfluss.»
Was muss sich in der Arbeitswelt ändern?
Wie unsere Forschung zeigt, haben Jugendliche bei der Berufsfindung bereits die
Familienplanung im Hinterkopf. Sie befürchten, geschlechtsuntypische Berufe
seien schlecht mit ihren Familienplänen
vereinbar. Hier gilt es, Arbeitsbedingungen
zu schaffen, die verschiedene Lebensentwürfe erlauben.
Was heisst das konkret?
In frauentypischen Berufsfeldern geht es
primär um angemessene Verdienstmöglichkeiten und Weiterqualifikationswege.
In männertypischen Berufsfeldern heisst
das, beispielsweise Teilzeitarbeit oder
Home­office zu ermöglichen – für Frauen
ebenso wie für Männer.
Wo gibt es konkrete Lösungsansätze im Kanton Schwyz?
Viele Schulen und Berufsberatende sind
bereits aktiv geworden. Unterrichts- und
Beratungsmaterialien werden verbessert.
Zudem gibt es spezifische Girls- bzw. Boys-
Days, Informationsabende und Projektwochen, an denen Jugendliche in untypischen
Berufen schnuppern können. Auch viele
Betriebe arbeiten bereits daran, sich auf
Mitarbeitende des untervertretenen Geschlechts besser auszurichten.
Wie setzen Sie sich persönlich
dafür ein?
Ich habe immer wieder Gelegenheit, unsere
Forschungsergebnisse an Workshops und
Weiterbildungen von Schulen, Berufsberatenden und Fachverbänden vorzustellen.
Zudem ist es mir ein grosses Anliegen, auch
die Öffentlichkeit für die Problematik zu
sensibilisieren – zum Beispiel mit Beiträgen
in Zeitungen (lacht). Ausserdem bin ich bereits an einem weiteren Forschungsprojekt
zum Thema beteiligt.
Worum geht es bei dieser Arbeit?
Wir besuchen dieselbe Untersuchungsgruppe fünf Jahre später erneut und fragen, wie Frauen und Männer in untypischen Berufen ihre Berufstätigkeit und
Familienpläne zusammenführen.
Was würde man erreichen,
wenn sich die jetzige Situation
ändert?
Ziel ist, dass alle Jugendlichen jenen Beruf
erlernen, für den sie die besten Fähigkeiten
mitbringen – ganz unabhängig von ihrem
Geschlecht.
Was würden Sie Jugendlichen
auf den Weg geben, die einen
geschlechtsuntypischen Beruf
erlernen wollen?
Untypischer Beruf: Auch für Frauen soll es selbstverständlich sein, auf dem Bau zu arbeiten.
Steckbrief
Name: Karin Schwiter
Wohnort: Lachen
Geburtsdatum: 9. November 1977
Beruf: Wirtschaftsgeografin
Hobbys: Politisieren und Diskutieren, Biken, Joggen und Lesen
Lieblingsessen: Vegetarischer
Wildteller
Lieblingsberg: Grosser Mythen –
immer wieder spektakulär
Haltet an eurem Ziel fest! Unsere Forschung zeigt, dass junge Erwachsene in
untypischen Berufen im Nachhinein häufig
hervorheben, wie glücklich sie sind, dass
sie diesen Weg gegangen sind.
Was bedeutet Ihnen der
Coreched-Preis, den Sie für die
Arbeit erhalten haben?
Er ist für unsere Arbeit eine grosse Anerkennung und hilft uns dabei, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und damit die
Chancengleichheit für die nächste Generation Jugendlicher zu verbessern.
HINWEIS
Die Schweizerische Koordinationskonferenz Bildungsforschung (Coreched) hat dieses Jahr zum
sechsten Mal den Forschungspreis vergeben. Der
Preis richtet sich an Forscher, die im Bereich der Bildungswissenschaften tätig sind. Der Preis ist mit
25 000 Franken dotiert.
Keystone