Die Magie des Laufens

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Die Magie des Laufens
Eva Lauterbach spricht mit ehem. Leistungssportlerin Ines Geipel
Sendung:
Wiederholung von
Redaktion:
Produktion:
20.07.2016 um 19.20 Uhr
13.06.2014
Petra Mallwitz
SWR 2014
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DIE MAGIE DES LAUFENS
Textzitat:
Laufen zum Beispiel. Wenn ich flach unter meinem Körper wegtrete, nur auf meine
Füße achte, wenn ich so schnell laufe, dass ich meinen Körper hinter mir lasse, um
ihn möglichst zu vergessen, wird die immer gleiche Fläche, über die ich laufe, groß,
so groß wie eine Welt. Über die Felder rennen, sich in sie hineinarbeiten, den
Oberkörper leicht nach vorn ziehen, die Arme anwinkeln und dabei
herausbekommen, wie das ist mit der Schwerkraft, das wird zu meiner
Hauptbeschäftigung. (..)Stehe ich oben auf der Höhe, jage, presche, stürze ich
zwischen den Stoppeln und dem Himmel hindurch, über die vielen Hebungen und
Senkungen der karstigen Landschaft. Vielleicht, um den Wind einzuholen.(...) Was
das Laufen angeht, kann mich nichts und niemand mehr bremsen.
Eva Lauterbach:
Das ist ein Text von Ihnen, Ines Geipel, das ist ein bisschen eine Anatomie des
Laufens und der Text sagt auch etwas über die Magie, über das Suchtmoment, was
für Sie im Laufen gesteckt hat.
Sie haben sich mal als keckes, hellwaches, überwaches Kind beschrieben. Heißt
das, dass das schon sehr früh angefangen hat mit dem Laufen, dass Sie schon sehr
früh durch die Welt gerannt sind?
Ines Geipel:
In dem Moment, wo die Beine und die Füße das möglich gemacht haben, ging es los
mit dem „Seppeln“. Also diese hyperwachen Mädchen, die nie satt werden, im Sinne
von, was für sie als Welt zur Verfügung steht. Ich war so ein nie sattes Mädchen,
agil, hell in der Birne und wollte was von der Welt.
Also, wenn ich heute Bilder anschaue, dieses Mädchen anschaue, die guckt mit so
ganz großen blauen Augen und will und fordert was. Es war unglaublich viel Energie
da.
Und es gibt eine Geografie des Laufens auch in meiner Biografie, und das hat mit
dem Weißen Hirsch Dresden zu tun, diese Höhen, mein Elternhaus - da muss man
schon 150 Stufen hochtippeln ehe man bei der Mutter am Küchentisch ankommt,
und das ist ja auch immer eine Körperarbeit. Und ich habe das so geliebt, dieses bis
zur Mutter kommen und dann stramm und dann möglichst immer schneller.
Ich war ja auch ein männliches Mädchen, ich hatte immer Lederhosen an, ich hatte
immer schrundige Knie, ich war immer barfuß, ich hatte immer irgendwelche Narben,
habe immer mit den Jungs Fußball gespielt. Also ich war unglaublich wild.
Eva Lauterbach:
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Später, als Sie älter werden, setzt sich dieses Laufenwollen oder dieser Spaß an der
Bewegung fort.
Ines Geipel:
Ich glaube, dieses Laufen heißt, einen Zugang zu sich selber haben und dann war
das für mich natürlich so ein Überlebensmedium. Also es gibt diese doch harsche
Gewaltgeschichte in der Familie, es gibt diesen autoritären Vater, der sich so im
Leben abhanden kommt mit Staatssicherheit und allem möglichen. Und ich lernte
unbewusst, dass mir das Laufen hilft, eine enge Situation, so ein Nadelöhr zu
bewältigen, zu überstehen.
Und dann, ab dem Moment ging es natürlich vor allen Dingen darum, schnell zu
laufen, also dann wird es so eine innerpsychische Zeichnung, so schnell zu laufen,
dass du dir möglichst abhandenkommst, weil der Schmerz so groß ist.
Also, aber das ist schon ein anderes Laufen als dieses Laufen als 3-, 4-, 5-,
6-jähriges Mädchen.
Eva Lauterbach:
Was war das für ein Schmerz? War das ein Schmerz, der in Ihrer Familie die Quelle
hatte?
Ines Geipel:
Ja, absolut. Eine stark belastete Familie, die Eltern beinharte Kommunisten, der
Vater Westagent und diese Kalte-Kriegerkonstellation hat sich natürlich als
Gewaltgeschichte in die Familien hineingeschoben.
Und ich war ja im Inneren sehr wund und hatte dieses Laufen für mich, um zu
überleben. Ja, das war so.
Eva Lauterbach:
Das heißt, Sie haben sich nach einem solchen Lauf besser gefühlt?
Ines Geipel:
Ja, es war im Grunde der Versuch, diesen inneren Knoten auszuschwitzen, ja, über
die Bewegung. Und das war natürlich die Möglichkeit, den Körper wieder zu spüren.
Also nach bestimmten Torturen, auch herauszufinden, ob das alles noch so richtig ist
mit den Armen und den Beinen, ja. Es war ja schon eine ziemlich geharnischte
Gewalt - das war jetzt nicht eine Backpfeife, sondern da ging es schon anders zur
Sache und insofern musste ich …
Eva Lauterbach:
Bei Ihrem Vater?
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Ines Geipel:
Ja, bei dem Vater. Und insofern musste ich schon ziemlich viel laufen, um mich
wieder auf eine gute Weise zurückzuholen oder zu spüren.
Eva Lauterbach:
Sie sprechen auch immer wieder von der Sehnsucht nach Natur, also nach Feld,
Wald, Wiese. Hat das auch eine Rolle gespielt?
Ines Geipel:
Ja, unbedingt. Also, dieser Versuch in die Reinheit zu laufen, in dieses unentdeckte
organische Prinzip.
Das sage ich heute, das hätte ich als Kind nicht gesagt, aber es kommt natürlich
dazu, dass diese DDR-Kindheiten in den 60er Jahren eben auch Kindheiten ohne
Technik sind, ja, und Weißer Hirsch, Dresden, der Wald, die Dresdner Heide, die
vielen Wasserquellen da auf dem Weißen Hirsch, diese vielen Schnecken und
Höhlen und Quellen. Also da war so viel los.
Die Natur war im Grunde wirklich das Gegenprinzip zu dem innerfamiliären Raum.
Die Bewegung und die Natur haben mich in der Zeit überleben lassen, ja, eindeutig.
Eva Lauterbach:
Und das Tempo hat sich gesteigert? Sie sind immer schneller geworden?
Ines Geipel:
Ja, so wie ich gewachsen bin. Ich hatte dann relativ lange Beine auch und musste …
Eva Lauterbach:
Wie groß sind Sie?
Ines Geipel:
1,70, also ich war jetzt nicht eine wahnsinnig große Athletin - aber für eine Sprinterin... es gab deutlich kleinere Sprinterinnen.
Ich war so ein athletischer Typ, konnte immer gut und weit springen, hoch springen.
Ich habe irgendwann dann im Sport ja auch als Siebenkämpferin begonnen. Also
letztendlich hat es mich immer wieder zu dem Laufen hingezogen und in diese
Wildnis, in das Geäst auch „einbrechen“ und sich praktisch darin spüren, also in das
unentdeckte Land einbrechen. Ich glaube darum ging es, so vom Psychischen her.
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Eva Lauterbach:
Wie sehr dieses Laufen ein Thema und ein Lebensthema von Ihnen ist, kann man an
den Büchern, die Sie geschrieben haben, ablesen, wo Sie immer wieder neue
Begriffe, Worte fürs Laufen finden. Da ist von jagen, von rennen, von preschen, von
dahinflattern, von traben, von hasten, von stürzen, von flüchten und so weiter die
Rede.
Sie sind dann aber von der Familie, in der Sie sich nicht so wohlgefühlt haben,
weggekommen, mit 14, in ein Internat nach Wickersdorf. Da fängt jetzt was Neues
an. Und blieb das mit dem Laufen beim Alten?
Ines Geipel:
(lacht) Einerseits ja. Das Laufen als das innere Band zu dem eigenen in dir auch,
also diesen Zugang und das Gefühl zum eigenen Körper und zu den eigenen
Sinnen, andererseits war diese Landschaft, diese unglaublich großen Thüringer
Wälder und die riesigen DDR-Felder. Und da konnte ich mich ausarbeiten bis zum
Umfallen. Also ich bin jederzeit, jeder möglichen Zeit nach der Schule hinten zur
Pforte raus und über die Felder wie so ein Habicht, und immer dieser Versuch so
eine Mitte, so eine Körpermitte, und so beschleunigen, dass man möglichst abheben
könnte. Also das war schon nahe am Suchtgefühl, was das Laufen anging, ja.
Ich bin gelaufen bis ich todmüde umgefallen bin vor Erschöpfung.
Eva Lauterbach:
Wie hat denn das auf Ihre Mitschülerinnen gewirkt?
Ines Geipel:
Ich habe das natürlich auch versteckt gemacht, aber ich war natürlich diejenige, die
an den Wochenenden immer in den nächsten Ort zur Kreisspartakiade oder
Bezirksspartakiade und später DDR-Spartakiade, also was es so gab an
Möglichkeiten, auch vom Internat wegzukommen.
Weil - so eine Internats-Situation mit 14, mitten in so einem dunklen schweren Wald,
ist ja nun für junge Mädchen auch nicht gerade das Gelobte Land. Wir sind
erschrocken, wenn wir mal ein Auto alle 14 Tage gesehen haben. Also wir waren
weg vom Fenster. Man hätte ja auch sitzenbleiben können, aber das Laufen war eine
große Fluchtgeschichte letztendlich in der Zeit.
Eva Lauterbach:
Und es ist, wenn man’s als Sport sieht, ist es ja kein Gemeinschaftssport, sondern es
ist was ganz Isoliertes. Hat das auch eine Rolle gespielt, dieses alleine sein, alleine
laufen?
Ines Geipel:
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Höchst individuell! Alles ohne Sprache! Wie viele Jahre im Grunde ohne Sprache immer dieses Laufen - erlebt werden. Diese Abwesenheit, letztendlich ja auch von
einer inneren Entwicklung. Du läufst und läufst und läufst, um einen Druck zu
bändigen, im Grunde um innerpsychisch zu überleben, aber in dieser ganzen
Fluchtgeschichte steckt ja nun wirklich, nachgerade nicht wirklich ein
Entwicklungsprojekt, ja. Es ist eine Zeit einer sehr verzögerten behinderten IchEntwicklung, ohne Frage.
Eva Lauterbach:
Diese Energie und dieser Enthusiasmus bleiben dann konstant. Als Sie ein junges
Mädchen sind, setzt sich das immer nach wie vor fort, dieses Bedürfnis nach dem
Laufen.
Und der Staat, in dem Sie leben, die DDR, setzte alles daran sportlich zu glänzen.
Und das scheint ja so zusammen zu passen: Sie fiebern drauf, den Sport zum
Lebensinhalt zu machen, und Sie haben das so formuliert:
Textzitat:
Ich kann mir dabei zuschauen, wie ich im Sportclub MOTOR JENA die Tür zu
meinem Internatszimmer öffne und mich stolz auf mein Bett plumpsen lasse.
Ich bin weg von Wickersdorf, ich brauche nicht Russischlehrerin zu werden, worauf
wir uns als 14-Jährige verpflichten mussten. Ich werde rennen und endlich meine
Ruhe haben. Mit ein bisschen Glück werde ich sogar Rom, Paris, London sehen
können. Jetzt fängt alles an. Ich kann mir dabei zuschauen, wie ich in mein neues
Leben hineinrenne, aber nicht, wie ich in das Verhängnis des Systems laufe, (...) wie
ich mir damals abhanden gekommen bin.
Eva Lauterbach:
Von diesem Verhängnis reden wir gleich noch.
Sie waren inzwischen 17; und Sie sollten eben für den Staat, in dem Sie lebten
laufen und vor allen Dingen siegen. Waren Sie jetzt am Ziel Ihrer Wünsche?
Ines Geipel:
Du machst die Tür auf, zu dem Internatszimmer und bist froh aus dem dunklen
Thüringer Wald weg zu sein. Ich habe ja oft gesagt, dass dieser staatliche Sport
DDR, mit allen Missbrauchskomponenten, vor allen Dingen ja die „Generation
Mauer“ trifft, die Kinder der Teilung, ja, die im Einschluss großgeworden ist.
Eva Lauterbach:
Sie sind geboren 1960.
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Ines Geipel:
1960 geboren, in Dresden.
Qua der eigenen Leistung ein Stück Welt sehen, das war ein unglaubliches Motiv für
diese Generation, und auch für mich.
Eva Lauterbach:
Ich wollte aber noch viel einfacher fragen: wie toll war das, dass Sie jetzt quasi
berufsmäßig laufen konnten, dass Sie dieses Talent ausleben können, steigern
können?
Ines Geipel:
Ich kam aus diesem schwierigen familiären Urgrund, ich war in Wickersdorf, wo ich
nicht sehr glücklich war und fühlte mich natürlich gerettet in dem Sport, ja. Endlich
DAS machen - ich konnte laufen so viel und solange ich laufen wollte.
Die Schwierigkeiten kamen erst mit den Jahren.
Eva Lauterbach:
Es gibt das Zitat von Ihnen, das haben wir gerade gehört: „Wie ich mir damals
abhanden gekommen bin, wie ich sozusagen in ein Verhängnis namens DDR
reingelaufen bin.“
Was war denn dann der Preis?
Ines Geipel:
Na der Preis war, dass die DDR ab 1974 – und deswegen meine ich das ja, dass es
diese „Generation Mauer“ so sehr trifft - ab 1974 diesen Staatsplan aufgestellt hatte,
mit der „Durch-Chemisierung.“ Das ist ja im Grunde ein großer Feldversuch.
Eva Lauterbach:
Durch-Chemisierung!
Ines Geipel:
Ja, also dass man ab Kinder 8 Jahre bis in die Nationalmannschaft hinein, 15.000
Athleten unter männliche Sexualhormone gestellt hat. Und das hat natürlich - durch
die Tatsache, dass nicht gesagt wurde worum es sich handelt hier, dass das
kreuzgefährliches Zeug ist, was man Kindern, Jugendlichen, Talenten gibt - das hat
einen hohen Preis gehabt. Und hat es ja immer noch.
Das ist ja eine Selbstradikalisierung auch: du WIRST gelaufen, ja, du hast ja SO sehr
viel mehr Körper, so sehr viel mehr Muskeln, so sehr viel mehr Kraft und läuferische
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Potenz, die ja gar nicht deine natürliche Kraft ist und bist ja in einem völlig
entgrenzten Maße unterwegs. Und das hat Folgen. Wie holst du dich wieder ein,
wenn du so über die Maßen aus dir herausgelaufen bist?
Eva Lauterbach:
Das heißt, wie haben Sie sich gefühlt?
Ines Geipel:
Unwahrscheinlich leer. Also aus dieser gesuchten hellen Mitte wurde eine leere
Mitte. Und diese Leere kann aber unwahrscheinliche Energien produzieren. Man
kann aus der Leere Weltrekord laufen.
Eva Lauterbach:
Sie haben sich ja später von der Liste, von Ihrer Erfolgsliste dieses Weltrekords,
streichen lassen. Ihr Name taucht nicht mehr auf, warum?
Ines Geipel:
Na ja, ich war im Jahr 2000 Nebenklägerin in Berlin, in dem bisher größten DopingProzess in Berlin. Es wurde klar was dieses System ist, eben dieser große
Feldversuch an 15.000 jungen Leuten. Und mit einem Rekord bleibst du ja immer
Teil dieses Systems. Das wollte ich nicht mehr. Ich finde der Preis ist schon ein
bisschen makaber.
Eva Lauterbach:
7 Jahre lange haben Sie da durchgehalten, dann gab es 1984 den Weltrekord und
1985 war abrupt Schluss. Warum?
Ines Geipel:
Na ja, ich wollte 1984 in Los Angeles abhauen, ich wollte fliehen. Ich hatte mich
verliebt in einen Mexikaner, der ist dann Olympiasieger geworden, und ich saß in
Jena, in der Nacht um 4 und sah wie er in Los Angeles gewann. Ich kam nie mehr
raus, die Staatssicherheit hatte ein Zersetzungsprogramm aufgelegt.
Eva Lauterbach:
Die hatten erfahren, dass Sie fliehen wollten, wenn Sie rauskämen.
Ines Geipel:
Genau. Der letzte Schritt war eben so eine Operation mit einer ziemlich harten Folge.
Also das war alles gar nicht mehr so lustig. Ich war im Grunde rausgefallen, aus dem
Clan, aus dem Sportclan, man war der Verräter, der Gegner geworden.
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Das war dann schon bitter, ja. Innerhalb von 10 Minuten - ich war immerhin
Olympiakandidatin, Kaderin nannte man das ja - und innerhalb von 10 Minuten flog
ich raus aus dem Sport. Und das war dann natürlich wie kalter Entzug. Man war in so
einem Elitekarussell, noch dazu die Chemie und dann wusste ich gar nicht, wer ich
bin, danach. Also dieser Abbruch eines Lebens.
Und ich konnte plötzlich auch die Turnschuhe, diesen Schweiß, dieses Gummi nicht
mehr riechen. Ich hätte von mir aus gar nicht laufen können in der Zeit. Also das war
ein Lebensunterbruch, der sehr massiv war, ja.
Eva Lauterbach:
Wie sah denn Ihr Alltag aus da? Was haben Sie gemacht?
Ines Geipel:
Ja, dieser Lebenstraum oder diese Lebensidee war von einer Sekunde abrupt mir
weggerissen, und ich konnte das nicht sofort ersetzen durch etwas anderes. Ich
konnte jetzt nicht sagen: na gut, dann studiere ich eben.
Ich wusste, dass ich observiert werde, fühlte mich bespitzelt und wurde auch
bespitzelt. Es war eine Angstzeit.
Ja, ich habe rumgehangen, ich habe viel geschlafen, ich habe auch viel geweint.
Es gab gute Freunde, die sich gekümmert haben. Aber ich kann mich erinnern, dass
ich wie ein bisschen benommen in diesen Runden saß. Und man schaute natürlich
auch das System nüchterner an und realer an.
Eva Lauterbach:
Jetzt machen wir noch mal einen Sprung zum September 1989, da ist gerade noch
die Mauer zu und wir hören noch mal einen Text von Ihnen.
Textzitat:
Meine Schritte hasten geduckt am Bahndamm entlang. Wohin? In welche Richtung?
In die erste Wiese gleich hinterm Ort. Kriechen, horchen, robben. Die Angst tickt und
macht die Wege glitschig. (..) Ich renne weiter...ich stolpere, falle. Stacheldrahtrollen.
Wie komme ich durch hier? (..) Wohin laufe ich? Wovor fliehe ich? Die Nacht ist lau.
Laufen, kriechen, robben. Wie das dauert (..) Es ist nicht schwer, sich in seinem
Grenzwald zu verheddern. Man schlägt sich durchs Geäst, verliert bald die
Orientierung. Rennen, stoppen, hocken, atemlos den Kopf anheben, robben, wieder
laufen. Ein Schritt, eine Silbe, wie mein Mantra: wer werde ich sein, was mache ich
hier, woran denke ich, wenn ich in der Neuen Welt angelangt bin? (...) Wie spät ist
es? Drei, vier Uhr. Lauf. Komm schon. Bleib bei der Stange.
Eva Lauterbach:
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Das Laufen war jetzt auch im wörtlichen Sinne Flucht, das heißt, Sie sind alleine, zu
Fuß dann von Ungarn über Österreich in den Westen gekommen.
Wie kam dieser Entschluss zustande?
Ines Geipel:
Na ja, das hatte natürlich viel mit dem Ende der DDR zu tun. Mir hatte man die
Möglichkeit zu promovieren, wieder aus politischen Gründen, weggenommen.
Ich hätte, ja, Friedhofsgärtnerin oder Verkäuferin oder irgendwie sowas machen
können sicherlich, aber ich hatte doch eine andere Idee, nachdem ich tatsächlich
Germanistik studiert hatte, gerade so mit einigen Nöten wieder das Diplom doch
bekommen habe und dann ging gar nichts mehr.
Und dann habe ich gedacht: jetzt ist es der Moment, sich aus einem unstatthaften
Leben herauszulösen. Und dann gibt’s immer diesen einen irrationalen Moment: du
musst es dann auch wirklich machen, du musst ja auch mit dem Körper, physisch,
über die Grenze.
Und aus heutiger Perspektive ist das das Entscheidende für mich, mich eben
bewusst aus Verhältnissen herauszulösen. Also nicht einfach zu fliehen, sondern zu
sagen: das will ich nicht mehr. Du kannst dir den Kompass mitnehmen, aber der
Punkt ist ja, dass du deinen inneren Kompass auch verlierst in so einem Moment.
Also, ich glaube, das ist sogar nötig, dass man diese innere Ortung verliert.
Ich bin in den Westen, es gab nicht die Freunde, es gab nicht die Verwandten, ich
habe dann in so einer Gesindestube in Darmstadt, rosafarbenes Dirndl, der
hessischen Prinzessin immer die Weine hingestellt. Aber die sehr auch kargen
Wochen und Monate, es war fast ein Jahr, eigentlich waren die nicht so schlecht.
Im Grunde, das ist ein großer, notwendiger Sortierungsprozess gewesen.
Und dann habe ich studiert in Darmstadt, suchte ein Stück so nach meinen Roots.
Und dann bin ich irgendwann nach Berlin zurück und dann fing das mit den Büchern
an. Und dann war’s eben auch aus, mit dieser Art des Laufens, was ja immer ein
Weglaufen auch war, ein Fluchtlaufen war.
Wenn ich mich heute bewege, und natürlich laufe ich, dann achte ich schon darauf,
dass das kein Hasten mehr ist, ja, sondern dass es sich für den Körper gut anfühlt,
und ich laufe, um mich wohl zu fühlen mit dem Körper, aber nicht mehr, um
irgendeine Art von Geschwindigkeit zu erreichen.
Eva Lauterbach:
Das heißt, es ist nicht mehr so dieses unbedingte Bedürfnis und
Überlebensbedürfnis, was es früher mal war, heute das Laufen für Sie?
Ines Geipel:
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Ja, ich glaube, ich habe ganz eindeutig diesen inneren Knoten ausgelaufen.
Eva Lauterbach:
Ist da war an die Stelle getreten, an die Stelle dieses Laufens?
Ines Geipel:
Ja, absolut! Eigene Bücher, die eigene Sprache.
Eva Lauterbach:
Die Bücher, die Sie selber geschrieben haben.
Ines Geipel:
Ja. Über die Jahre, das war doch ein großer und faszinierender Prozess, als
Schriftstellerin, eben an bestimmten historischen Debatten mitzutun.
Das hat einen ja auch gemacht. Man ist ja geworden in dieser Auseinandersetzung,
das Ich ist geworden darin. Und das habe ich als einen sehr nötigen und einen sehr
gesunden Prozess empfunden und damit war der Körper völlig raus aus diesem.... er
hat nicht mehr diese Stellvertreterfunktion für etwas. Es ist nicht mehr dieses
Hoffnungsprojekt. Ein Körper, der für DICH etwas tun muss, sondern dein Ich ist da
und tut selber.
Eva Lauterbach:
Was heißt das, das Ich ist geworden in dieser Zeit? Wie muss man sich das
vorstellen? Was gehört da alles dazu?
Ines Geipel:
Ja, wie ist das mit dieser Identität für ein Leben, das so viele Übergänge hat?
Ein System ist zusammengerutscht, diese Zugriffe im Sport, diese Verletzung des
Körpers, die schwierige Familienkonstellation.
Aber wir sind in dieses Kollektiv, in dieses Wir so stark eingenäht worden und dann
mit dieser Erfahrung 1989 neu zu starten und sich wirklich ein eigenes Leben zu
erarbeiten.
Das ist eine große, wichtige und reiche Erfahrung. Ich möchte das nicht missen. Also
das brauchte eben oftmals auch dieses Laufen noch.
Und mit den eigenen Arbeiten, mit auch einer Professur an so einer
Schauspielschule, mit der Verantwortung auch für Studierende heute, sie zu sehen,
sie wahrzunehmen, alles das ist ja reiches Leben. Und das macht es unnötig immer
weiter zu hasten.
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