SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Die Magie des Laufens Eva Lauterbach spricht mit ehem. Leistungssportlerin Ines Geipel Sendung: Wiederholung von Redaktion: Produktion: 20.07.2016 um 19.20 Uhr 13.06.2014 Petra Mallwitz SWR 2014 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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(..)Stehe ich oben auf der Höhe, jage, presche, stürze ich zwischen den Stoppeln und dem Himmel hindurch, über die vielen Hebungen und Senkungen der karstigen Landschaft. Vielleicht, um den Wind einzuholen.(...) Was das Laufen angeht, kann mich nichts und niemand mehr bremsen. Eva Lauterbach: Das ist ein Text von Ihnen, Ines Geipel, das ist ein bisschen eine Anatomie des Laufens und der Text sagt auch etwas über die Magie, über das Suchtmoment, was für Sie im Laufen gesteckt hat. Sie haben sich mal als keckes, hellwaches, überwaches Kind beschrieben. Heißt das, dass das schon sehr früh angefangen hat mit dem Laufen, dass Sie schon sehr früh durch die Welt gerannt sind? Ines Geipel: In dem Moment, wo die Beine und die Füße das möglich gemacht haben, ging es los mit dem „Seppeln“. Also diese hyperwachen Mädchen, die nie satt werden, im Sinne von, was für sie als Welt zur Verfügung steht. Ich war so ein nie sattes Mädchen, agil, hell in der Birne und wollte was von der Welt. Also, wenn ich heute Bilder anschaue, dieses Mädchen anschaue, die guckt mit so ganz großen blauen Augen und will und fordert was. Es war unglaublich viel Energie da. Und es gibt eine Geografie des Laufens auch in meiner Biografie, und das hat mit dem Weißen Hirsch Dresden zu tun, diese Höhen, mein Elternhaus - da muss man schon 150 Stufen hochtippeln ehe man bei der Mutter am Küchentisch ankommt, und das ist ja auch immer eine Körperarbeit. Und ich habe das so geliebt, dieses bis zur Mutter kommen und dann stramm und dann möglichst immer schneller. Ich war ja auch ein männliches Mädchen, ich hatte immer Lederhosen an, ich hatte immer schrundige Knie, ich war immer barfuß, ich hatte immer irgendwelche Narben, habe immer mit den Jungs Fußball gespielt. Also ich war unglaublich wild. Eva Lauterbach: 2 Später, als Sie älter werden, setzt sich dieses Laufenwollen oder dieser Spaß an der Bewegung fort. Ines Geipel: Ich glaube, dieses Laufen heißt, einen Zugang zu sich selber haben und dann war das für mich natürlich so ein Überlebensmedium. Also es gibt diese doch harsche Gewaltgeschichte in der Familie, es gibt diesen autoritären Vater, der sich so im Leben abhanden kommt mit Staatssicherheit und allem möglichen. Und ich lernte unbewusst, dass mir das Laufen hilft, eine enge Situation, so ein Nadelöhr zu bewältigen, zu überstehen. Und dann, ab dem Moment ging es natürlich vor allen Dingen darum, schnell zu laufen, also dann wird es so eine innerpsychische Zeichnung, so schnell zu laufen, dass du dir möglichst abhandenkommst, weil der Schmerz so groß ist. Also, aber das ist schon ein anderes Laufen als dieses Laufen als 3-, 4-, 5-, 6-jähriges Mädchen. Eva Lauterbach: Was war das für ein Schmerz? War das ein Schmerz, der in Ihrer Familie die Quelle hatte? Ines Geipel: Ja, absolut. Eine stark belastete Familie, die Eltern beinharte Kommunisten, der Vater Westagent und diese Kalte-Kriegerkonstellation hat sich natürlich als Gewaltgeschichte in die Familien hineingeschoben. Und ich war ja im Inneren sehr wund und hatte dieses Laufen für mich, um zu überleben. Ja, das war so. Eva Lauterbach: Das heißt, Sie haben sich nach einem solchen Lauf besser gefühlt? Ines Geipel: Ja, es war im Grunde der Versuch, diesen inneren Knoten auszuschwitzen, ja, über die Bewegung. Und das war natürlich die Möglichkeit, den Körper wieder zu spüren. Also nach bestimmten Torturen, auch herauszufinden, ob das alles noch so richtig ist mit den Armen und den Beinen, ja. Es war ja schon eine ziemlich geharnischte Gewalt - das war jetzt nicht eine Backpfeife, sondern da ging es schon anders zur Sache und insofern musste ich … Eva Lauterbach: Bei Ihrem Vater? 3 Ines Geipel: Ja, bei dem Vater. Und insofern musste ich schon ziemlich viel laufen, um mich wieder auf eine gute Weise zurückzuholen oder zu spüren. Eva Lauterbach: Sie sprechen auch immer wieder von der Sehnsucht nach Natur, also nach Feld, Wald, Wiese. Hat das auch eine Rolle gespielt? Ines Geipel: Ja, unbedingt. Also, dieser Versuch in die Reinheit zu laufen, in dieses unentdeckte organische Prinzip. Das sage ich heute, das hätte ich als Kind nicht gesagt, aber es kommt natürlich dazu, dass diese DDR-Kindheiten in den 60er Jahren eben auch Kindheiten ohne Technik sind, ja, und Weißer Hirsch, Dresden, der Wald, die Dresdner Heide, die vielen Wasserquellen da auf dem Weißen Hirsch, diese vielen Schnecken und Höhlen und Quellen. Also da war so viel los. Die Natur war im Grunde wirklich das Gegenprinzip zu dem innerfamiliären Raum. Die Bewegung und die Natur haben mich in der Zeit überleben lassen, ja, eindeutig. Eva Lauterbach: Und das Tempo hat sich gesteigert? Sie sind immer schneller geworden? Ines Geipel: Ja, so wie ich gewachsen bin. Ich hatte dann relativ lange Beine auch und musste … Eva Lauterbach: Wie groß sind Sie? Ines Geipel: 1,70, also ich war jetzt nicht eine wahnsinnig große Athletin - aber für eine Sprinterin... es gab deutlich kleinere Sprinterinnen. Ich war so ein athletischer Typ, konnte immer gut und weit springen, hoch springen. Ich habe irgendwann dann im Sport ja auch als Siebenkämpferin begonnen. Also letztendlich hat es mich immer wieder zu dem Laufen hingezogen und in diese Wildnis, in das Geäst auch „einbrechen“ und sich praktisch darin spüren, also in das unentdeckte Land einbrechen. Ich glaube darum ging es, so vom Psychischen her. 4 Eva Lauterbach: Wie sehr dieses Laufen ein Thema und ein Lebensthema von Ihnen ist, kann man an den Büchern, die Sie geschrieben haben, ablesen, wo Sie immer wieder neue Begriffe, Worte fürs Laufen finden. Da ist von jagen, von rennen, von preschen, von dahinflattern, von traben, von hasten, von stürzen, von flüchten und so weiter die Rede. Sie sind dann aber von der Familie, in der Sie sich nicht so wohlgefühlt haben, weggekommen, mit 14, in ein Internat nach Wickersdorf. Da fängt jetzt was Neues an. Und blieb das mit dem Laufen beim Alten? Ines Geipel: (lacht) Einerseits ja. Das Laufen als das innere Band zu dem eigenen in dir auch, also diesen Zugang und das Gefühl zum eigenen Körper und zu den eigenen Sinnen, andererseits war diese Landschaft, diese unglaublich großen Thüringer Wälder und die riesigen DDR-Felder. Und da konnte ich mich ausarbeiten bis zum Umfallen. Also ich bin jederzeit, jeder möglichen Zeit nach der Schule hinten zur Pforte raus und über die Felder wie so ein Habicht, und immer dieser Versuch so eine Mitte, so eine Körpermitte, und so beschleunigen, dass man möglichst abheben könnte. Also das war schon nahe am Suchtgefühl, was das Laufen anging, ja. Ich bin gelaufen bis ich todmüde umgefallen bin vor Erschöpfung. Eva Lauterbach: Wie hat denn das auf Ihre Mitschülerinnen gewirkt? Ines Geipel: Ich habe das natürlich auch versteckt gemacht, aber ich war natürlich diejenige, die an den Wochenenden immer in den nächsten Ort zur Kreisspartakiade oder Bezirksspartakiade und später DDR-Spartakiade, also was es so gab an Möglichkeiten, auch vom Internat wegzukommen. Weil - so eine Internats-Situation mit 14, mitten in so einem dunklen schweren Wald, ist ja nun für junge Mädchen auch nicht gerade das Gelobte Land. Wir sind erschrocken, wenn wir mal ein Auto alle 14 Tage gesehen haben. Also wir waren weg vom Fenster. Man hätte ja auch sitzenbleiben können, aber das Laufen war eine große Fluchtgeschichte letztendlich in der Zeit. Eva Lauterbach: Und es ist, wenn man’s als Sport sieht, ist es ja kein Gemeinschaftssport, sondern es ist was ganz Isoliertes. Hat das auch eine Rolle gespielt, dieses alleine sein, alleine laufen? Ines Geipel: 5 Höchst individuell! Alles ohne Sprache! Wie viele Jahre im Grunde ohne Sprache immer dieses Laufen - erlebt werden. Diese Abwesenheit, letztendlich ja auch von einer inneren Entwicklung. Du läufst und läufst und läufst, um einen Druck zu bändigen, im Grunde um innerpsychisch zu überleben, aber in dieser ganzen Fluchtgeschichte steckt ja nun wirklich, nachgerade nicht wirklich ein Entwicklungsprojekt, ja. Es ist eine Zeit einer sehr verzögerten behinderten IchEntwicklung, ohne Frage. Eva Lauterbach: Diese Energie und dieser Enthusiasmus bleiben dann konstant. Als Sie ein junges Mädchen sind, setzt sich das immer nach wie vor fort, dieses Bedürfnis nach dem Laufen. Und der Staat, in dem Sie leben, die DDR, setzte alles daran sportlich zu glänzen. Und das scheint ja so zusammen zu passen: Sie fiebern drauf, den Sport zum Lebensinhalt zu machen, und Sie haben das so formuliert: Textzitat: Ich kann mir dabei zuschauen, wie ich im Sportclub MOTOR JENA die Tür zu meinem Internatszimmer öffne und mich stolz auf mein Bett plumpsen lasse. Ich bin weg von Wickersdorf, ich brauche nicht Russischlehrerin zu werden, worauf wir uns als 14-Jährige verpflichten mussten. Ich werde rennen und endlich meine Ruhe haben. Mit ein bisschen Glück werde ich sogar Rom, Paris, London sehen können. Jetzt fängt alles an. Ich kann mir dabei zuschauen, wie ich in mein neues Leben hineinrenne, aber nicht, wie ich in das Verhängnis des Systems laufe, (...) wie ich mir damals abhanden gekommen bin. Eva Lauterbach: Von diesem Verhängnis reden wir gleich noch. Sie waren inzwischen 17; und Sie sollten eben für den Staat, in dem Sie lebten laufen und vor allen Dingen siegen. Waren Sie jetzt am Ziel Ihrer Wünsche? Ines Geipel: Du machst die Tür auf, zu dem Internatszimmer und bist froh aus dem dunklen Thüringer Wald weg zu sein. Ich habe ja oft gesagt, dass dieser staatliche Sport DDR, mit allen Missbrauchskomponenten, vor allen Dingen ja die „Generation Mauer“ trifft, die Kinder der Teilung, ja, die im Einschluss großgeworden ist. Eva Lauterbach: Sie sind geboren 1960. 6 Ines Geipel: 1960 geboren, in Dresden. Qua der eigenen Leistung ein Stück Welt sehen, das war ein unglaubliches Motiv für diese Generation, und auch für mich. Eva Lauterbach: Ich wollte aber noch viel einfacher fragen: wie toll war das, dass Sie jetzt quasi berufsmäßig laufen konnten, dass Sie dieses Talent ausleben können, steigern können? Ines Geipel: Ich kam aus diesem schwierigen familiären Urgrund, ich war in Wickersdorf, wo ich nicht sehr glücklich war und fühlte mich natürlich gerettet in dem Sport, ja. Endlich DAS machen - ich konnte laufen so viel und solange ich laufen wollte. Die Schwierigkeiten kamen erst mit den Jahren. Eva Lauterbach: Es gibt das Zitat von Ihnen, das haben wir gerade gehört: „Wie ich mir damals abhanden gekommen bin, wie ich sozusagen in ein Verhängnis namens DDR reingelaufen bin.“ Was war denn dann der Preis? Ines Geipel: Na der Preis war, dass die DDR ab 1974 – und deswegen meine ich das ja, dass es diese „Generation Mauer“ so sehr trifft - ab 1974 diesen Staatsplan aufgestellt hatte, mit der „Durch-Chemisierung.“ Das ist ja im Grunde ein großer Feldversuch. Eva Lauterbach: Durch-Chemisierung! Ines Geipel: Ja, also dass man ab Kinder 8 Jahre bis in die Nationalmannschaft hinein, 15.000 Athleten unter männliche Sexualhormone gestellt hat. Und das hat natürlich - durch die Tatsache, dass nicht gesagt wurde worum es sich handelt hier, dass das kreuzgefährliches Zeug ist, was man Kindern, Jugendlichen, Talenten gibt - das hat einen hohen Preis gehabt. Und hat es ja immer noch. Das ist ja eine Selbstradikalisierung auch: du WIRST gelaufen, ja, du hast ja SO sehr viel mehr Körper, so sehr viel mehr Muskeln, so sehr viel mehr Kraft und läuferische 7 Potenz, die ja gar nicht deine natürliche Kraft ist und bist ja in einem völlig entgrenzten Maße unterwegs. Und das hat Folgen. Wie holst du dich wieder ein, wenn du so über die Maßen aus dir herausgelaufen bist? Eva Lauterbach: Das heißt, wie haben Sie sich gefühlt? Ines Geipel: Unwahrscheinlich leer. Also aus dieser gesuchten hellen Mitte wurde eine leere Mitte. Und diese Leere kann aber unwahrscheinliche Energien produzieren. Man kann aus der Leere Weltrekord laufen. Eva Lauterbach: Sie haben sich ja später von der Liste, von Ihrer Erfolgsliste dieses Weltrekords, streichen lassen. Ihr Name taucht nicht mehr auf, warum? Ines Geipel: Na ja, ich war im Jahr 2000 Nebenklägerin in Berlin, in dem bisher größten DopingProzess in Berlin. Es wurde klar was dieses System ist, eben dieser große Feldversuch an 15.000 jungen Leuten. Und mit einem Rekord bleibst du ja immer Teil dieses Systems. Das wollte ich nicht mehr. Ich finde der Preis ist schon ein bisschen makaber. Eva Lauterbach: 7 Jahre lange haben Sie da durchgehalten, dann gab es 1984 den Weltrekord und 1985 war abrupt Schluss. Warum? Ines Geipel: Na ja, ich wollte 1984 in Los Angeles abhauen, ich wollte fliehen. Ich hatte mich verliebt in einen Mexikaner, der ist dann Olympiasieger geworden, und ich saß in Jena, in der Nacht um 4 und sah wie er in Los Angeles gewann. Ich kam nie mehr raus, die Staatssicherheit hatte ein Zersetzungsprogramm aufgelegt. Eva Lauterbach: Die hatten erfahren, dass Sie fliehen wollten, wenn Sie rauskämen. Ines Geipel: Genau. Der letzte Schritt war eben so eine Operation mit einer ziemlich harten Folge. Also das war alles gar nicht mehr so lustig. Ich war im Grunde rausgefallen, aus dem Clan, aus dem Sportclan, man war der Verräter, der Gegner geworden. 8 Das war dann schon bitter, ja. Innerhalb von 10 Minuten - ich war immerhin Olympiakandidatin, Kaderin nannte man das ja - und innerhalb von 10 Minuten flog ich raus aus dem Sport. Und das war dann natürlich wie kalter Entzug. Man war in so einem Elitekarussell, noch dazu die Chemie und dann wusste ich gar nicht, wer ich bin, danach. Also dieser Abbruch eines Lebens. Und ich konnte plötzlich auch die Turnschuhe, diesen Schweiß, dieses Gummi nicht mehr riechen. Ich hätte von mir aus gar nicht laufen können in der Zeit. Also das war ein Lebensunterbruch, der sehr massiv war, ja. Eva Lauterbach: Wie sah denn Ihr Alltag aus da? Was haben Sie gemacht? Ines Geipel: Ja, dieser Lebenstraum oder diese Lebensidee war von einer Sekunde abrupt mir weggerissen, und ich konnte das nicht sofort ersetzen durch etwas anderes. Ich konnte jetzt nicht sagen: na gut, dann studiere ich eben. Ich wusste, dass ich observiert werde, fühlte mich bespitzelt und wurde auch bespitzelt. Es war eine Angstzeit. Ja, ich habe rumgehangen, ich habe viel geschlafen, ich habe auch viel geweint. Es gab gute Freunde, die sich gekümmert haben. Aber ich kann mich erinnern, dass ich wie ein bisschen benommen in diesen Runden saß. Und man schaute natürlich auch das System nüchterner an und realer an. Eva Lauterbach: Jetzt machen wir noch mal einen Sprung zum September 1989, da ist gerade noch die Mauer zu und wir hören noch mal einen Text von Ihnen. Textzitat: Meine Schritte hasten geduckt am Bahndamm entlang. Wohin? In welche Richtung? In die erste Wiese gleich hinterm Ort. Kriechen, horchen, robben. Die Angst tickt und macht die Wege glitschig. (..) Ich renne weiter...ich stolpere, falle. Stacheldrahtrollen. Wie komme ich durch hier? (..) Wohin laufe ich? Wovor fliehe ich? Die Nacht ist lau. Laufen, kriechen, robben. Wie das dauert (..) Es ist nicht schwer, sich in seinem Grenzwald zu verheddern. Man schlägt sich durchs Geäst, verliert bald die Orientierung. Rennen, stoppen, hocken, atemlos den Kopf anheben, robben, wieder laufen. Ein Schritt, eine Silbe, wie mein Mantra: wer werde ich sein, was mache ich hier, woran denke ich, wenn ich in der Neuen Welt angelangt bin? (...) Wie spät ist es? Drei, vier Uhr. Lauf. Komm schon. Bleib bei der Stange. Eva Lauterbach: 9 Das Laufen war jetzt auch im wörtlichen Sinne Flucht, das heißt, Sie sind alleine, zu Fuß dann von Ungarn über Österreich in den Westen gekommen. Wie kam dieser Entschluss zustande? Ines Geipel: Na ja, das hatte natürlich viel mit dem Ende der DDR zu tun. Mir hatte man die Möglichkeit zu promovieren, wieder aus politischen Gründen, weggenommen. Ich hätte, ja, Friedhofsgärtnerin oder Verkäuferin oder irgendwie sowas machen können sicherlich, aber ich hatte doch eine andere Idee, nachdem ich tatsächlich Germanistik studiert hatte, gerade so mit einigen Nöten wieder das Diplom doch bekommen habe und dann ging gar nichts mehr. Und dann habe ich gedacht: jetzt ist es der Moment, sich aus einem unstatthaften Leben herauszulösen. Und dann gibt’s immer diesen einen irrationalen Moment: du musst es dann auch wirklich machen, du musst ja auch mit dem Körper, physisch, über die Grenze. Und aus heutiger Perspektive ist das das Entscheidende für mich, mich eben bewusst aus Verhältnissen herauszulösen. Also nicht einfach zu fliehen, sondern zu sagen: das will ich nicht mehr. Du kannst dir den Kompass mitnehmen, aber der Punkt ist ja, dass du deinen inneren Kompass auch verlierst in so einem Moment. Also, ich glaube, das ist sogar nötig, dass man diese innere Ortung verliert. Ich bin in den Westen, es gab nicht die Freunde, es gab nicht die Verwandten, ich habe dann in so einer Gesindestube in Darmstadt, rosafarbenes Dirndl, der hessischen Prinzessin immer die Weine hingestellt. Aber die sehr auch kargen Wochen und Monate, es war fast ein Jahr, eigentlich waren die nicht so schlecht. Im Grunde, das ist ein großer, notwendiger Sortierungsprozess gewesen. Und dann habe ich studiert in Darmstadt, suchte ein Stück so nach meinen Roots. Und dann bin ich irgendwann nach Berlin zurück und dann fing das mit den Büchern an. Und dann war’s eben auch aus, mit dieser Art des Laufens, was ja immer ein Weglaufen auch war, ein Fluchtlaufen war. Wenn ich mich heute bewege, und natürlich laufe ich, dann achte ich schon darauf, dass das kein Hasten mehr ist, ja, sondern dass es sich für den Körper gut anfühlt, und ich laufe, um mich wohl zu fühlen mit dem Körper, aber nicht mehr, um irgendeine Art von Geschwindigkeit zu erreichen. Eva Lauterbach: Das heißt, es ist nicht mehr so dieses unbedingte Bedürfnis und Überlebensbedürfnis, was es früher mal war, heute das Laufen für Sie? Ines Geipel: 10 Ja, ich glaube, ich habe ganz eindeutig diesen inneren Knoten ausgelaufen. Eva Lauterbach: Ist da war an die Stelle getreten, an die Stelle dieses Laufens? Ines Geipel: Ja, absolut! Eigene Bücher, die eigene Sprache. Eva Lauterbach: Die Bücher, die Sie selber geschrieben haben. Ines Geipel: Ja. Über die Jahre, das war doch ein großer und faszinierender Prozess, als Schriftstellerin, eben an bestimmten historischen Debatten mitzutun. Das hat einen ja auch gemacht. Man ist ja geworden in dieser Auseinandersetzung, das Ich ist geworden darin. Und das habe ich als einen sehr nötigen und einen sehr gesunden Prozess empfunden und damit war der Körper völlig raus aus diesem.... er hat nicht mehr diese Stellvertreterfunktion für etwas. Es ist nicht mehr dieses Hoffnungsprojekt. Ein Körper, der für DICH etwas tun muss, sondern dein Ich ist da und tut selber. Eva Lauterbach: Was heißt das, das Ich ist geworden in dieser Zeit? Wie muss man sich das vorstellen? Was gehört da alles dazu? Ines Geipel: Ja, wie ist das mit dieser Identität für ein Leben, das so viele Übergänge hat? Ein System ist zusammengerutscht, diese Zugriffe im Sport, diese Verletzung des Körpers, die schwierige Familienkonstellation. Aber wir sind in dieses Kollektiv, in dieses Wir so stark eingenäht worden und dann mit dieser Erfahrung 1989 neu zu starten und sich wirklich ein eigenes Leben zu erarbeiten. Das ist eine große, wichtige und reiche Erfahrung. Ich möchte das nicht missen. Also das brauchte eben oftmals auch dieses Laufen noch. Und mit den eigenen Arbeiten, mit auch einer Professur an so einer Schauspielschule, mit der Verantwortung auch für Studierende heute, sie zu sehen, sie wahrzunehmen, alles das ist ja reiches Leben. Und das macht es unnötig immer weiter zu hasten. 11
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